Auguste Supper
Holunderduft
Auguste Supper

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Die Aussicht vom Galgenberg.

Im Grünen Baum sind die Tische leer bis auf zwei. Am frühen Nachmittag ist dort nicht Wirtshauszeit, besonders nicht an Tagen, wenn die Sonne heiß über die Höhe geht und die rissige Erde der Kraut- und Kartoffeläcker nach der Haue schreit.

An einem der Tische sitzt ein junger Städter in Touristentracht. Seine Schuhe sind bös verstaubt wie von weitem Weg, sein Basthut mit dem verschwitzten Band liegt neben ihm auf der schmalen Bank, auf deren anderem Ende die gestromte Katze in der Wirtin Nähkorb schlummert.

Der zweite Gast des Grünen Baumes sitzt an einem andern Tisch und ist von anderer Art. Ein weißhaariger Mann mit krummem Rücken, eckig, dürr, hemdärmelig. Er hat sich zurückgelehnt auf seinem Stuhl, nur sein Kopf hängt vornüber im 128 Halbschlaf. Seine haarige Rechte umklammert das Bierglas mit dem schalen Rest, seine Lider heben sich zuweilen mühselig und nutzlos, um schnell wieder zuzusinken.

Außer dem Schwirren der zahllosen Fliegen an den besonnten, geschlossenen Fenstern ist kein Laut in der niederen Stube zu hören.

Auf einmal fährt der Städter auf und zieht die Uhr. Er wischt sich über die Stirne und reckt sich, als müsse er sich gründlich wach machen, dann ruft er nach der Wirtschaft.

Der Alte am andern Tisch schrickt zusammen, hebt den Kopf und schaut verschlafen drein. Dann schwenkt er den braunen Rest in seinem Glas und trinkt ihn aus.

Langsam schiebt er den Stuhl zurück und steht auf, als eben der Wirt in die Stube tritt.

»Ja, was ist, Kaspar, schon weiter?« ruft er seinem weißhaarigen Gast zu.

Der Alte nimmt die Kappe vom Tisch und nickt. »Ja, b'hüt Gott!« sagt er ganz kurz und geht davon.

Der Wirt kehrt sich zum zurückbleibenden Städter und rechnet mit ihm. Und mitten im Rechnen kommt es ihm: »Beim Blitz, jetzt hat der Kaspar sein Bier nicht bezahlt.« 129

Er tritt an den Tisch, an dem der Alte gesessen, und sieht nach, ob dort nicht die paar Groschen liegen. Aber es ist nichts da.

»Herrgott,« sagt er da halb lachend, halb ärgerlich, »der Kaspar ist neunundsiebenzig, da darf kein Wirt mehr stunden.«

»Rechnen Sie mir das Bier des Alten auf«, meint der Städter ebenfalls lachend.

Aber der Wirt schüttelt den Kopf. »Es war nur Spaß. Der Kaspar ist mir gut genug.«

Dann aber, als der Fremde auf seinem Wunsch beharrt, läßt er sich das Bier bezahlen.

Danach tritt er mit dem jungen Gast vor die Türe und zeigt ihm mit umständlichen Gesten und noch umständlicheren Worten, in welcher Richtung dessen nächstes Wanderziel liege, und welches der kürzeste Weg sei.

Der Städter schwenkt dankend den Hut und schreitet die staubige Gasse hinunter. Ein paar Gänse schnattern hinter ihm her, als wollten sie sich auflassen über einen Menschen, der an solch heißem Tag ohne zwingenden Grund in die Weite wandert. 130

* * *

Der Mann läßt die letzten Häuser hinter sich und schreitet an dem Weiher vorüber, der grün ist von wuchernder Wasserpest, und um den schlechtbestockte, einseitige Pappeln stehen.

Nicht sonderlich frisch und rüstig greift er aus. Allzu lähmend liegt die Hitze über der Welt.

Lähmend auch für ihn, den Marschgewöhnten, der jede freie Stunde nützt, um ins Land hineinzustreifen, so weit ihn eben die Füße tragen.

Zuweilen steht er still, liest die Karte oder sieht hin über die gewellte, reizlose Gegend, die nur einen einzigen überragenden Punkt aufweist, einen waldlosen, eiförmigen Hügel, in dessen Flanken tiefe Wunden gerissen sind durch die gelben Brüche, aus denen man den Lehm für die nahe Ziegelei gräbt. »Der Galgenberg« heißt die Höhe auf der Karte. Kniehoch steht in den wegnahen Wiesen das schnittreife Gras. Wenn der heiße Wind darübergeht, wogt es in weitgezogenen Wellen, aus denen hohe, samentragende Stengel überragend schauen.

Da und dort sieht man Leute gebückt an der Arbeit. Die Hauen gehen auf und nieder in den Furchen der Äcker. Stäubend bricht die Scholle, und dem Tod verfallen liegen in den Spuren der Arbeitenden die 131 sonnenseligen Ackerwinden, zähe Quäcken und blühender Löwenzahn. Der Mann hat jetzt den Hut weit zurückgeschoben und den Wanderstock über den Rücken zwischen die Arme gelegt. So kämpft er gegen die Müdigkeit an, gegen das Schlaffwerden, das ihn mehr und mehr niederzwingen will.

Aber endlich, als ein breitästiger Apfelbaum am Straßenrand steht und seinen Schatten über einen grasigen Rain wirft, kann er nicht länger widerstehen. Stock und Hut fliegen ins Gras, und der Wanderer legt sich dazu, so lang er ist.

Wohlig dehnt er sich und schiebt die Arme unter den Kopf. Wozu denn eilen? Der Junitag ist lang und am Abend marschiert sich leichter. Reicht's heute nicht ans Ziel, so reicht's doch morgen. Es ist ja nicht, als ob die Tage zur Neige gingen.

Auf einmal fällt ihm der Alte ein, dem wegen seiner neunundsiebenzig Jahre der Wirt nicht stunden will. Wie seltsam muß das sein, so nahe an der Tür zu stehen, die hinausführt aus der sonnigen Welt, wohin, wohin? Die Jungen sehen vor sich, ob mit Recht oder mit Unrecht, den langen, unabsehbar langen Weg; jene Alten aber wissen, daß es sich nur noch um eine kurze Strecke handeln kann. 132

Dem Liegenden ist es auf einmal leid, daß er mit dem Weißhaarigen in kein Gespräch gekommen ist. Neunundsiebenzig! Mehr als drei Vierteljahrhundert sind an diesem Manne vorübergegangen und große, reichgefüllte Zeiten darunter. Und nun, da sein Pfad kurz geworden ist, wird er wohl alle Lebensbeute gesichtet und klar in sich tragen, damit er sie geordnet vorweisen kann, wenn am Ausgang die große Zollrevision kommt.

Merkwürdig nahe aneinandergereiht sieht der Liegende plötzlich alles Vergangene. Wenn sich nur ein Dutzend solcher Neunundsiebenzigjähriger die Hände reichen, dann langt es schon fast über ein Jahrtausend hin.

Wie mag es damals ausgesehen haben hier oben?

Und plötzlich fällt dem Nachdenkenden ein, daß die Gegend, deren öde Reizlosigkeit er vorhin im müden Schreiten still bekrittelt hat, Kämpfe gesehen und Blut getrunken habe, wieder und wieder.

Er richtet sich auf und legt die Hände um die Kniee. Dort, hinter den Ackerbreiten, muß die Mulde liegen, in der fränkische und alemannische Streitäxte gedröhnt und Römerschilde geblinkt haben. Auf diesen 133 Äckern haben später Morgensterne gefunkelt und ritterliche Schwerter gegen Bauernsensen geklirrt.

Das wellige Land hütet wohl noch da und dort die Gebeine der Gefallenen, wenn sie nicht schon zermürbt unter den Hauen der Arbeitenden un die Winde stäuben.

Der Galgenberg dort drüben, an dessen Fuß die Ziegelei liegt, muß einen trefflichen Überblick geben über das Gelände.

Alle Müdigkeit ist bei dem Liegenden verschwunden. Quer durch Felder und Wiesen hin schreitet er der fernen Anhöhe zu.

Ein paar Weiber richten sich von ihren Hauen auf und lehnen sich schwer auf den Stiel. Unter den weißen Kopftüchern hervor, die wie Schutzdächer weit über die Gesichter ragen, sehen sie verwundert hinter dem Eindringling her und rufen: »Do ist kei' Weg.«

Aber der lacht nur und strebt seinem Ziele zu.

Zähe Hecken der Hainbuche und blühende Pfaffenhütchen stehen unten am Rande des Hügels.

Der Schreitende bahnt sich einen Weg hindurch und steigt langsam am Hang hinan.

Große Risse klaffen in dem trockenen, gelben Boden. Silberdisteln wuchern dazwischen und wilder, 134 duftender Thymian. Die Hitze strahlt von der Erde zurück, und sie trägt mit sich die Kunde von den fernen Dingen, die dazumal geschehen sind.

Bald ist der Steigende oben. Er findet kein flaches Plateau, wie er vermutet hatte. Runde, fast kraterförmige Einsenkungen sind da, in denen Büsche wilder Rosen wachsen. Da und dort sind große, tief ockergelbe Steine aufeinandergeschichtet. Die Buben des Dorfes mögen hier wohl gespielt und diese Trümmer fester Burgen hinterlassen haben.

Der Mann strebt dem andern Rand des Hügels zu. Dort muß die weitere Aussicht sein.

Ein mächtiger Holunderbusch steht da in Blüte. Die weißen Sternchen stäuben im leisen Windhauch.

Und hinter dem Busch sitzt der Alte vom Grünen Baum, unverwandt ins Land starrend.

Die spitzen Knie hat er hochgezogen und die haarigen Hände draufgelegt. Das dunkelfarbige, scharfe Gesicht hat etwas Mumienhaftes, wie es so reglos gegen den grellen Himmel steht.

Der Städter tritt heran und lüftet den Hut. Er ist eigentlich gar nicht erstaunt, den Alten hier zu finden. Es scheint ihm fast, als habe der ihn herauf gerufen. 135

Langsam wendet jetzt der Weißhaarige den Kopf und nickt. Und dann sagt er in einer fremden, gebrochenen Art: »Ich habe gedenkt, daß Sie 'eraufkommen.«

»Wie konnten Sie das denken?« fragt lachend der andere.

»Was man denkt, das denkt man«, erwidert der Alte. Und dann sitzen die beiden nebeneinander unter dem blühenden Strauch und schauen über das Land, über das die Schatten ziehender Wolken lautlos gleiten wie streichelnde Hände.

Der Städter sucht die Mulde, in der das Blut floß, und er berechnet die Wege, die die Gewappneten genommen haben müssen. Mühsam zerrt er am Heute, das festgeklebt über dem sonnigen Land liegt, und unter dem er ein wechselreiches Gestern begraben weiß.

Und vom weitentlegenen Einst kommt er herüber auf die halbvergangenen Tage, die der Alte noch gesehen haben muß.

»Neunundsiebenzig Jahre sind Sie?« fragt er unvermittelt.

»Woher weiß Sie das?« gibt der Alte verwundert zur Antwort. 136

»Was man weiß, das weiß man«, entgegnete nun lächelnd der Städter.

Der Weißhaarige scheint das in Ordnung zu finden. Er nickt langsam. »Neunundsiebenzig! Viele Jahr das! lange Jahr! Und doch kurze Jahr! Gestern – heut – aus!« Eine kleine Geste der dunklen Hand begleitet die leisen Worte. Die Holundersternchen flattern auf die sitzenden Männer, auf die harte, rissige Erde.

»Sie sind kein Deutscher?« fragt nach langer Zeit tastend der Jüngere.

»Italiano«, entgegnet kurz der andere.

Dem Städter steigt ein stilles Leuchten in die Augen.

»Ich kenne Ihr Land. Bin zweimal dort gewesen.«

Der Alte streckt plötzlich die Knie und reckt sich auf.

»Auch in Pietole, Provinz Mantua?« fragt er fast gierig.

Aber als der andere verneinend das Haupt schüttelt, da sinkt er wieder zusammen.

Vorsichtig will der Städter weiter fragen. Aber der Alte richtet sich jetzt ächzend von seinem Sitz auf. »Ich habe nicht Bier zahlt im Grüne Baum, 137 hab's vergessen. Ich gehe jetzt bezahlen. Sonst sagen der Wirt: welsche Spitzbub.«

Ein Lächeln, halb bitter, halb belustigt, steigt in dem scharfen Gesicht auf und verschwindet wieder.

»Wenn es sonst nichts ist,« sagt der Städter, »das Bier habe ich bezahlt.«

Ein großes, fast mißtrauisches Erstaunen malt sich auf den Zügen des alten Mannes. »Mein Bier? Sie kenne' mich doch nicht.«

Der andere lacht, um nicht verlegen zu werden. »Den neunundsiebenzig Jahren zulieb, die Sie auf dem Rücken schleppen, hab ich's getan. Es ist ja nicht der Rede wert.«

Ein langer, sonderbarer Blick aus des Alten Augen trifft den Sprechenden.

»Oh, ja,« sagt er zäh und langsam, »es ist immer der Rede wert, wenn ein Mensch gut ist gegen anderen.« Und, wie um militärisch zu grüßen, fährt er an den bloßen Kopf: »Grazie Signore, grazie!«

In dem Jüngeren ist ein Unbehagen, eine Beschämung, als habe man ihn auf feine Weise einer Taktlosigkeit überführt. Im Bestreben abzulenken, deutet er über das sonnige Land hin: »Hübsch ist der Blick da oben«, sagt er eifrig und doch gedankenlos. 138

Der alte Mann setzt sich langsam wieder nieder und nickt. »Ist schön, hinzusehen über alles. Dort liegt Pietole. Dort Mantua.« Dann breitet er beide Hände aus und deutet ringsum. »Reisfeld da, viele Risotto. Dort das Feld gehört mein Vater und mein Bruder.«

Die alten Augen, die in den dunkeln Höhlen liegen, flimmern wie im Widerschein ferner, sonniger Gefilde.

Der Städter kann nicht reden. Des Italieners leise, gebrochene Worte drücken ihm das junge Herz seltsam zusammen.

»Ist schöne Land, mein Heimat, schöne Land«, murmelt der Greis und wendet den Blick nicht von der Ferne.

Da schüttelt der Jüngere seine Scheu ab und fragt: »Wie kamen Sie denn heraus zu uns?«

Der Alte gibt nicht sogleich Antwort. Dann sagt er einförmig: »Mit viele Landsmann. Eisenbahn bauen. Geld verdienen. In Pietole könne viele Mann nicht Geld verdienen. Viel arme Leut. Aber schöne Land.«

»Und nachher, nach dem Eisenbahnbau, warum sind Sie da nicht wieder heimgezogen wie die meisten Ihrer Landsleute? –« 139

Es ist, als ob jemand dem alten Mann einen Stoß auf den gekrümmten Rücken gegeben habe. Mit einer zuckenden Gebärde sitzt er aufrechter da, und das Flimmern in den Augen wird zu einem harten Glanz.

»Wieviel hat mein' Zech' gemacht in Grüne' Baum?« fragt er rauh.

»Zwanzig oder dreißig Pfennig«, entgegnet ganz erstaunt der Städter und sieht dem Alten ins Gesicht.

Da trifft ihn ein böser Blick. »Das ist nicht dem Kaspar sein Sach', alles sagen, für dreißig Pfennig«, wirft der Welsche hart und kurz hin.

Der andere schüttelt den Kopf. Verwunderung und Ärger kämpfen in ihm. Aber ehe er etwas sagen kann, spuckt der Alte aus, als sei ihm etwas sehr Bitteres in den Mund gekommen. Und dann greift er nach des Fremden Arm und schüttelt ihn, indem er nach der flachen Mulde deutet, in der vor Zeiten das Alemannen- und Römerblut geflossen ist.

»Wissen der Herr, was dort passiert ist?«

Der Städter macht sich los, erstaunt und überrumpelt.

»Dort sind Deutsche und Welsche hintereinander gewesen«, sagt er mit dem raschen, nur halb 140 bewußten Wunsch, die blutige Wirrnis jener Zeit vor dem unwissenden Alten so auszubreiten, daß der sie verstehen kann.

Das harte Gesicht des Italieners scheint noch dunkler zu werden.

»Sie wissen! Warum dann fragen? Ich war dabei. Kaspar war dabei. Kann nit mehr heim nach Pietole.«

Wie im Krampf zieht's dem Alten den bartlosen Mund zusammen, die Flügel der langen, schmalen Nase zittern.

Der Städter ist verwirrt, betroffen. Dann lacht er gezwungen auf. »Ach Unsinn,« sagt er, »die Händel, die ich meine, die sind schon vor mehr als tausend Jahren ausgefochten worden.«

Langsam wendet sich der Kopf des Welschen dem Redenden zu. Es bleibt ganz still und die weißen Blütensternchen stäuben auf die Männer.

Dann hebt ein schwerer Seufzer des Alten schmale Brust. »Weiß nicht,« sagt er leise und heiser, »weiß nicht, wie's war vor tausend Jahr. Weiß nur, wie's war vor vierzig. Steht in kein Buch, steht nur da drinne.« Er deutet auf die Brust und dann auf die verwitterte Stirne. 141

Der Jüngere mag nicht fragen. Er fühlt, daß er da vor einem Tor steht, das nur von innen zu öffnen ist und außen keine Fuge hat. Stumm und bedrückt schaut er hinab zu der Mulde, durch die die Ackerbreiten laufen wie grüne und gelbe Bänder.

Da fängt der Alte von selber wieder an. »Sie habe mein Bier bezahlt in Grüne Baum. Sie denken: alte Kerl ist arm. Ich red' mit Ihne'. Red' sonst nit viel. Red' nit viel mit Bauer hier. Ich bin nit arm. Hab' Geld verdient bei Eisenbahn und bei andere Bau. Hab' immer gespart. Nix Wirtshaus, nix Frauezimmer, nix Lumperei. Nur hitzig Blut, Herr, hitzig Blut.

Da ist der Pietro gewesen. Mein Landsmann. Mein Schwester daheim ihre Schatz.

Mein Schwester sagt: Kaspar, sieh auf Pietro!

Und da ist Pietro ein Lump, Herr, ein Lump.«

Mit scharfen, fast stechenden Augen sieht der Welsche auf den andern, als heische er ein Urteil, eine Zustimmung. Dann blickt er weg und läßt den Kopf sinken. »Hat getrunken, der Pietro, ist Frauezimmer nachgelaufen.

Hat Händel gegeben mit Bauern dort unten. 142 Ich komm dazu. Ich hab' große' Zorn. Ich stech' Pietro tot dort unten.«

Hastig, wie in nachzitternder Leidenschaft spricht der alte Mann, und es ist, als ob aus harter Schlackenkruste züngelnde Flammen hervorschlügen. Die müde Kühle der neunundsiebenzig Jahre vermag noch immer nicht die Glut von einst zu decken und zu löschen.

Der junge Städter weiß nichts zu sagen. Alemannenkämpfe und Römersiege kommen ihm gegen dieses fremden Mannes knappumrissenes Leben vor wie gemalte Kulissen voll wilder Pracht gegen das einförmige Land ringsum.

Anders grüßt jetzt die Mulde herauf, die Blut getrunken hat.

Der alte Italiener hebt den dürren Arm und deutet weit hinaus, wo hohe Schornsteine undeutlich aus dem Dunst der Ferne ragen.

»Dort bin ich gesessen zu meine Straf. Acht Jahre lang.

Mein Schwester daheim ist gestorben in Jammer. Dem Pietro sein Schwester lebt. Ich kann nicht heim. Bleib in Deutschland. Immer Geld verdienen für Pietro sein Schwester. Bis sterben. Dann heim nach Pietole!« – 143

Abgehackt spricht der Mann. Stoßweise, wie das Blut aus dem Herzen kommt. Seine alten Augen hängen am flimmernden Horizont, als suchten sie die Heimat hinter Bergen und Wolken.

* * *

In der Abendkühle hat der Städter sein Wanderziel erreicht. Er nimmt die Karte vor, um den Weg des langen Tages noch einmal zu übersehen.

Unter den Galgenberg macht er einen mächtigen Punkt und schreibt hinaus an den weißen Rand: Für dreißig Pfennig Aussicht bis nach Pietole, Provinz Mantua.



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