Auguste Supper
Holunderduft
Auguste Supper

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Der Laubfrosch als Erzieher.

Höre, Max,« sagte meine Frau kurz vor unseres einzigen Sprößlings Geburtstag zu mir, »Hellmut wünscht sich so sehr etwas Lebendiges. Ich finde das nett von dem Kind. Er hat Gemüt. Und ich meine, in erzieherischer Hinsicht – –« Aus dem Eifer meiner Gattin war unschwer zu entnehmen, daß ihres einzigen Sohnes Wunsch kräftig von ihr unterstützt werde. Und da sie Ellen Key studiert und einmal beinahe selbst einen Vortrag über die Majestät des Kindes gehalten hätte, der damals nur unterblieb, weil unser Hellmutle im spielerischen Trieb seiner Jahre der Mutter sämtliche Pailletten von dem für den Vortragsabend bestimmten Kleid abschnitt – – – da somit meine Gattin in Erziehungsfragen mir weit über ist, beeilte ich mich, ihr zuzustimmen. 212

»Gewiß,« sagte ich, »der Bub muß etwas Lebendiges haben! Er soll sich Fliegen fangen.«

Sie schaute mich an. Nicht offen und geradeaus, wie sich etwa Männer ansehen, die zu verschiedenen politischen Parteien gehören, oder Schustersbuben, die sich in der nächsten Minute die geschulterten Kundenstiefel um die Ohren hauen werden, sondern von der Seite und mit halbzugekniffenen Augen.

Und dann veränderte sich plötzlich der Ausdruck ihrer Mienen zu der sonnenklaren, strahlenden Freudigkeit, die bei ihr jedesmal dann zutage tritt, wenn ich in meiner Harmlosigkeit in ein Tellereisen getreten bin.

»Also du willst so lieb sein und willst ihm den Laubfrosch kaufen?« sagte sie in der süßen Erregung, in der sie mir jedesmal wieder zwanzigjährig vorkommt, und die auf alle meine Grundsätze wirkt wie Julisonne auf Alpenbutter.

Natürlich wollte ich den Laubfrosch kaufen. Mit tausend Freuden. Deshalb hatte ich ja vorgeschlagen, daß Hellmutle Fliegen fangen sollte. Der Laubfrosch mußte doch Futter haben!

Wir schüttelten uns die Hände. So, wie wir zwei uns verstanden – – 213

Ich nahm den Hut und ging. Wenn die gute, harmlose Frau wüßte, wie das mit den Fliegen in Wirklichkeit gemeint war! Als kaltherziges Ungeheuer kam ich mir plötzlich vor. Und ich gelobte mir, von nun an auch Ellen Key zu studieren und auch über das Jahrhundert und die Majestät des Kindes nachzudenken. Man wird milder dadurch und verliert seine natürliche Herbheit, wie die Preiselbeeren durch einen Heißwasserguß.

Einen Flaschnermeister suchte ich auf und erstand bei ihm ein Froschhaus. Es war eigentlich mehr ein Froschpalast. Freskobilder schmückten die Wände. Große, langbeinige Wasserschnaken, auf impressionistische Manier hingehauen, umtanzten Schilfstengel, die sich im Wind zu neigen schienen. Libellen spielten über blauen Wogen, und lotosartige Blüten tranken das Himmelslicht.

Selbst mich, der ich eine trockene Natur und aus dem Binnenland gebürtig bin, versetzten die Bilder in Schwung und Stimmung. Wie stark würden sie erst auf unser Fröschlein wirken!

Ich sagte im stillen schon »unser« Fröschlein, so sehr war ich jetzt durchdrungen von der Überzeugung, daß das schlüpfrige Amphibium berufen sei, 214 eine Lücke in unserem Kreis auszufüllen. Wenn man Feuer und Begeisterung für eine Sache finden will, dann muß man immer bei den Neubekehrten suchen.

Natürlich fehlte im Froschpalast die Leiter nicht, dieses unentbehrliche Requisit für den prophetischen Grünrock, ohne das seine Wundergabe verkümmern muß.

Vier Mark kostete das Häuschen. Ich fand das in meiner gegenwärtigen Stimmung und im Hinblick auf die Fresken nicht zu teuer. Dekorative Kunst steht gut im Preis.

Überdies hätte sich Hellmutle ja ebensogut ein Shetlandpony wünschen können. Es wäre ihm, der Ellen Key und seine Mutter kennt, ein Leichtes gewesen, seinen Wunsch aus dem Jahrhundert und der Majestät des Kindes heraus in einer Weise zu begründen, die mir nur noch die Möglichkeit gelassen hätte, zu bezahlen oder ein sittlich minderwertiges Exemplar von Vater zu sein. Ich gab also die vier Mark mit verhältnismäßiger Wonne aus.

Jetzt noch den Frosch! Wo bekomme ich den her? Vor der Stiftskirche wandte ich mich an einen Buben, der eben höchst kunstvolle geometrische Figuren aufs reinliche Pflaster spuckte. 215

»Höre Freund, wo kaufe ich einen Laubfrosch?«

Er sah mich an. Bös, ungeduldig, wie dereinst Archimedes vielleicht den Römer ansah, der ihm seine Kreise stören wollte.

»Do homme ist d'Hofapothek«, sagte er hart und kniffig. Die feine Ironie in seiner Antwort gab mir zu denken. Vorsichtig umging ich sein Gespucktes und überlegte mir, daß man Laubfrösche vielleicht beim Geflügelhändler kaufen könne.

Ich hatte Glück. Von der letzten Sendung südungarischer Laubfrösche war ausgerechnet noch ein Exemplar vorhanden. Ich sagte dem Mann, der mir das Tierchen vorführte, daß es nicht unbedingt ein südungarischer sein müsse. Die Magyaren hätten ohnedies in den letzten Jahren meine Sympathien verscherzt, und ich sei national genug gesinnt, um einen deutschen Laubfrosch jedem ausländischen vorzuziehen.

Der Händler zuckte die Achseln und bedauerte, nicht anders dienen zu können. Er beziehe ein für allemal südungarische, weil die die temperamentvollsten seien. Die deutschen seien viel phlegmatischer. Da bleibe jeder auf dem Status quo sitzen, und die Leiter im Froschhaus sei da lediglich Dekorationsmöbel. 216

Ich enthüllte also meinen Froschpalast, ließ den Südungarn hineinspazieren, bezahlte fünfzig Pfennig und ging.

Fünfzig Pfennig der Frosch, vier Mark das Haus. Das gemahnte mich stark an menschliche Verhältnisse. Da sitzt auch mancher in einer Hunderttausendmarkvilla, der keine zehn Mark wert ist.

Mein Sohn war schon von der Schule da, als ich heimkam. Ich stellte mein Paket im Korridor ab und wollte meine Frau bitten, es die paar Tage bis zum Geburtstag gut aufzuheben.

Aber das Hellmutle war schon drüber her.

Als ich entsetzt abwehren wollte, bedeutete mir meine Frau, daß es durchaus unpädagogisch sei, erst eines Kindes Neugierde zu reizen und dann ihm die Stillung dieser Neugierde brüsk zu verwehren. Wenn ich korrekt hätte handeln wollen, hätte ich das Paket unten in meinem eigenen Zimmer abstellen müssen, ehe es Hellmutle hätte sehen können.

Mein Sohn schien ganz der Ansicht seiner Mutter zu sein. Während er an der Schnur nestelte, die mein Geheimnis umschloß, schaute er mir mißbilligend ins Gesicht und nickte mit dem Kopf, als wollte er sagen: »Siehst du, was du für Streiche machst!« 217

So trat ich denn beschämt zurück und ließ dem Schicksal seinen Lauf.

Als die letzte Hülle gefallen war, blieb es eine kurze Zeit still.

»Aber Papaaaaa« – – sagte dann unendlich gedehnt der Sohn.

»Aber Max« – unendlich vorwurfsvoll die Mutter.

»Nanu?« stammelte ich erschrocken und fassungslos.

»So ein kleins Fröschle!« lispelte erstickt der Bub.

»So ein teures Häusle!« jammerte die Mutter.

In mir grollte es. Aber ich kenne mein Temperament und halte es im Zaum.

Gütevoll und gehalten beschwichtigte ich erst den Sohn.

»Hellmutle,« sagte ich, »die Größe ist bei den Würsten eine Hauptsache, nicht aber bei den Fröschen. Da ist das Temperament maßgebend, die Rasse, die Herkunft. Dieser hier ist ein Südungar, das ist die temperamentvollste Froschart des Kontinents. Die deutschen sind vielleicht etwas größer und etwas gediegener; aber das Temperament, mein Sohn, – das Temperament haben sie nicht. –« 218

Meines Buben enttäuschtes Gesichtchen hellte sich augenblicklich auf.

»Margotle,« wandte ich mich dann an meine Gattin, den Diminutiv stark und zärtlich betonend, »sieh diese Bilder an den Wänden des Froschhauses an! Hast du nie von der Kunst im Leben des Kindes gelesen oder gehört?«

Nun ist es bekanntlich das Beleidigendste, was man einem Kulturmenschen antun kann, wenn man von ihm voraussetzt, daß er irgend etwas nicht gelesen oder gehört haben könnte.

Meine Frau nahm ihre unaussprechlichste Miene an und sagte kalt: »Das Essen steht auf dem Tisch.«

Der Laubfrosch bekam seinen Platz am Mittelfenster des Wohnzimmers.

Dieses Mittelfenster ist der Glanzpunkt unserer Wohnung. Dorthin wurden von jeher alle Besucher geführt.

Und die sagen dann pflichtschuldigst: »Ach, wie hübsch, dieser Blick ins Grüne!«

Man sieht auch tatsächlich einen Kastanienbaum und einen grüngestrichenen Gaskandelaber. Auch fünf bis zwanzig Minuten Sonne hat man am Mittelfenster, je nach der Jahreszeit. 219

Diesen bevorzugten Platz also bekam der Südungar. Das, wonach seine Nation so sehnsüchtig verlangt, er hatte es: den Platz an der Sonne.

Ein eigenartiger Sport trat jetzt bei uns ins Leben. Die Familie fing Fliegen, oder um genauer zu sein, jagte Fliegen. Es ging dem Winter zu. Das edle Wild war sehr rar, und der vorhandene Bestand bald so kopfscheu und gewitzigt, daß die raffiniertesten Jagdmethoden nötig wurden, um zum Ziel zu kommen.

Man stellt sich die Sache viel leichter vor als sie ist.

Hellmuts Morgengruß war jetzt: »Mutter, hast eine?« sein Abendgebet: »Papa, fang eine!«

Meine Frau, der sonst die Arbeit über dem Kopf zusammenschlug, lag viertelstundenlang mit erhobener Hand im Anschlag.

Selbst Klara, die Beherrscherin der Küche, konnte sich dem derzeitigen genius loci unseres Hauses, dem Jagdfieber, nicht entziehen.

Eines schönen Abends traf ich meine Gattin in heißen Tränen, den Buben in noch heißerem Eifer über seinen Schulbüchern. Das erste war mir schmerzlich, das zweite unheimlich. Wenn mein Sohn lernte, hatte es nie etwas Gutes zu bedeuten. 220

»Was gibt's denn, Kinder?« fragte ich, banger Ahnung voll. Stärker schluchzte die Gattin, intensiver lernte der Bub.

Dann kam es schwer und bruchstückweise heraus, daß Hellmut beim Fliegenfangen den Deckel der kostbaren Punschbowle zerschlagen hatte.

»Aber Hellmutle,« sagte ich im ersten Schrecken, »wie hast du denn das nur gemacht?«

Im gleichen Augenblick bereute ich die unglückselige Frage, aber es war zu spät. Wie der Blitz stand mein Bub vor der deckellosen Bowle, hob die hohlgebogene Hand, zielte, schlug den grüngläsernen Topf von seinem Piedestal und sagte: »Soooo, Papa.«

Meine Frau schrie auf, ich schrie auf, der Bub schrie auf.

Aber das nützte jetzt nicht mehr. Die Bowle war ihrem Deckel in den Tod gefolgt. Nicht einmal hauen konnte ich den Übeltäter. Hatte ich ihn doch förmlich aufgefordert, mir den schlichten Vorgang, den ich mir bei einigem Nachdenken sehr wohl hätte vergegenwärtigen können, ad oculos zu demonstrieren.

Es ist genugsam bekannt, wie leicht der nackte, brutale Kampf ums tägliche Brot entsittlichend wirkt. 221 Nicht anders geht es im Kampf um die täglichen Fliegen.

Das moralische Niveau unserer Familie sank sichtbar unter dem Druck der Mückennot.

Hatte der Bub nachsitzen müssen, so hieß es: »Ich hab unterwegs Mucke' g'fange'.«

Kehrte Klara stundenlang nicht von ihren Ausgängen zurück, so hatte sie »Mucke' g'fange'.«

Zeigte die Tafelbutter Fingerspuren, so hatte jemand »Mucke' drauf g'fange'.«

Fehlten im Gastzimmer von den dort lagernden Winterbirnen einige, so hatte Hellmutle in dem geheiligten Raum »nur Mucke' g'fange'.«

Meine Frau, sonst die Wahrhaftigkeit selbst, redete mir vor, die nördlich gelegene, sonnenlose Wohnung schade ihrer Gesundheit, und dabei dachte sie doch nur an den größeren Fliegenreichtum einer sonnigeren Gegend.

Ich hatte vor zwei Jahren, ehe wir in unsere jetzige Wohnung zogen, den Mangel an Sonne warnend betont. Damals war mir dann bedeutet worden, daß kupferrote Möbel und Vorhänge ihre köstliche Eigenart im Schatten weit besser bewahren. 222

Daß heute nun der Laubfrosch um fünfzig Pfennig plötzlich das Übergewicht über die beträchtlich kostspieligeren Kupferroten haben sollte, das ging mir gegen mein Gefühl für Recht und Billigkeit. Ich spielte deshalb den Rücksichtslosen gegenüber den Rheumatismen meiner Frau.

Einmal an einem Samstag, als die ganze Wohnung bis auf die letzte Treppenstufe hinunter blitzblank geputzt war, brachte Sohn Hellmut ausgerechnet sieben Freunde mit, die den Laubfrosch sehen wollten.

Ich hatte zuvor keine Ahnung gehabt, daß der Bub so allgemein beliebt und mit einem großen Freundeskreis gesegnet sei.

Meine Frau machte ein sauer-sauer-süßes Gesicht und verabreichte jedem der Buben ein Stück Schokolade mit der heiligen Beteuerung, so wie heute sehe unser Fröschlein immer, immer, immer aus.

Ich mußte über das naive Weib lächeln, das mit Schokolade eine Horde Buben für ewig fernzuhalten versuchte.

Ich an ihrer Stelle hätte den Südungarn, der Tag für Tag in reizloses Hinbrüten versunken in einer Ecke saß, für sich selbst sprechen lassen und 223 hätte nur betont, daß die Schokolade ein für allemal aus sei.

Klara war in diesem Punkt die Weiterblickende.

Sie bedeutete den abziehenden Buben: »So, unseren habet 'r g'sehe'. Jetzt soll euch euer Vater au' ein' kaufe', bei uns ist kei' zoologischer Garte'.«

Unser Südungar hielt in keiner Weise, was von ihm versprochen worden war.

Stumpf, um nicht zu sagen blöd, saß er auf seinem Platz. Die Leiter schien er gar nicht zu beachten.

Nur im Fressen zeigte er Temperament.

Am Tag vor der großen Spätherbstwäsche meiner Frau fand ich Hellmut vor dem Froschhäuschen, wie er bemüht war, unseren grünen Hausgenossen mit einer Stricknadel zu dem prophetischen Sprung auf die höchste Leitersprosse aufzustacheln.

Der gemütvolle Bub wünschte seiner sorgenden Mutter zulieb die Witterungsaussichten zu verbessern.

Es ist ja schon manches Orakel, wenn auch nicht gerade mittels Stricknadel, bestochen worden; aber so rührend waren gewiß niemals die Motive.

Immer seltener wurden nach und nach die Fliegen. Das leise Summen unter der Lampenglocke, 224 das mich früher oft bis zur Wut gereizt hatte, es klang jetzt wie Sphärenmusik an die Ohren der Familie. Mit aufstrahlenden Blicken sahen wir einander an, lautlos, als gelte es, den Grizzly zu beschleichen, wurden die Stühle zurückgeschoben, unendliche Mordgier in Haltung und Mienen spähten und lauschten wir, bis das unselige Insekt lichtbetäubt oder gar flammenbeschädigt auf die Tischplatte herniedertaumelte und dort schwirrend und zappelnd Kreise beschrieb.

Dich hätten wir!

Kam aber solch ein Unglücksgeschöpf schon am heißen Glühstrumpf, statt erst im kühlen Froschmaul völlig zu Tode, so war das für uns alle ein bitterer Schlag, der uns den ganzen Abend verderben konnte. Denn aus Fliegenleichen, und wenn sie die fettesten und frischesten waren, machte sich der Südungar nichts.

Die Not stieg aufs höchste.

Hellmut war der Letzte seiner Klasse geworden. Sein, infolge des Fliegenelends tiefgedrückter Gemütszustand machte mir das verständlich.

Nur der freudige Mensch ist imstand, etwas zu leisten. Der Melancholiker lockt keinen Hund hinter 225 dem Ofen hervor. Mir wurde allmählich klar, daß man zu Notstandsmaßregeln greifen müsse.

Nicht weit von unserer Wohnung, an dem Wege, den ich täglich ein paarmal zu gehen habe, liegt ein Backsteinbau, dessen rötliche Flanke von der Novembersonne gestreift wird, wenn ich mittags um halb ein Uhr vorübergehe.

Diese sonnenwarme, rissige Mauer scheint eine Winterstation, ein Abbazia oder San Remo für allerlei Insektenvolk zu sein.

Spinnengewebe hängen verstaubt zwischen den Steinfugen, Marienkäferchen promenieren in der Sonne, da und dort putzt und reckt eine Fliege die steif und lahm gewordenen Flügel und Beine.

Aktenmappe und Stock in der Linken, den Hut unternehmend im Nacken, stand ich mittags vor der roten Wand und hielt die Rechte gezückt.

Wohl fühlte ich bisweilen die Blicke der Wanderer in seltsam mitleidiger Art auf mir ruhen, aber das Bewußtsein meines edlen Zweckes, mein tadelloses Gewissen stählten mich. Eine krabbelnde Fliege in meiner krampfhaft geschlossenen Hand ließ mich oft selig und weltvergessen lächeln auf dem ganzen Heimweg, während die dumpfe 226 Menschheit verständnislos an mir vorüberströmte. – Du ahnst es nicht! – –

»Herr Dokter, was machet Se denn eigentlich do?« fragte eines Tages in edler Wißbegierde der Schutzmann vom Revier, der mich kannte, aber nicht verstand.

»Mücken fangen,« gab ich wahrheitsgetreu zur Antwort, denn noch von meinen juristischen Studien her wußte ich, daß man die hohe Obrigkeit in jeglicher Gestalt möglichst wenig belügen soll.

Der Mann legte mir auf ganz eigentümlich zutrauliche Art die behandschuhte Rechte auf die Schulter und sagte weich wie eine Mutter: »Lasset Se 's lieber bleibe, Herr Dokter, und ganget Se heim!«

Eigentlich wollte ich eine barsche Antwort geben. So weit geht denn doch auch im lieben Deutschland die Polizeigewalt noch nicht, daß man nicht mehr seinen Mundbedarf an Fliegen ungestraft decken darf. Aber der Schutzmann stand mit unserer Klara in schleierzarten Beziehungen, und Klara ist ein Juwel.

So kam ein Kompromiß zustande: Er schaute mich lauernd, ich ihn verächtlich an, dann schieden wir.

Am andern Tag fragte mich meine Frau bei Tisch sanft und besorgt: »Mäx, fehlt dir denn was?« 227

Es ist merkwürdig: diese Frau wendet in Zärtlichkeitsfällen immer den Umlaut an. Ich habe mich früher dagegen gesträubt. Denn gerade der Umlaut »ä« scheint mir so wenig geeignet, erhöhte menschliche Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Jetzt bin ich daran gewöhnt und das »Mäx« klingt mir lieb und vertraut in den Ohren.

»Mir?« entgegnete ich verwundert, »mir fehlt nichts; aber die Leberspätzle sind halt wieder zu weich, wie meistens.«

»Waas?« rief da die Klara in hohen Tönen vom Büfett herüber, »waas, z'weich sollet die sei'? Jetzt glaub i' bald au', was d'r Schwarz sagt, und was i' d'r Frau Dokter g'sagt han.«

Ich schaute beunruhigt nach meiner Gattin, denn Schwarz war der Gestrenge, der mir gestern das Fliegenfangen verboten hatte.

Meine Frau lachte gezwungen auf. »Schwarz hat Klara gefragt, ob du ganz wohl seiest. Du kommest ihm ein bißchen überarbeitet vor.«

Ich fing im Freien keine Fliegen mehr. Der Import schlief ein.

Vor Weihnachten war's, da kam Hellmut strahlend aus der Schule heim und verkündigte: 228 »Mutterle, im Winter brauchet d' Laubfrösch gar nix zum Fresse'. Da machet se en Winterschlaf im Schlamm.«

Der ganzen Familie fiel ein gemeinsamer Stein vom Herzen. Wie wunderbarlich ist doch alles eingerichtet in der Natur! Nur wissen muß man's.

Schlamm herbei! hieß jetzt die Losung.

Mau spricht so viel vom Schlamm der Großstadt. Auch ich habe die effektvolle Wendung mit Glück und Geschick in einer sozialpolitischen Rede verwendet. Gerade hier tut sie immer brillante Dienste. Aber für Frösche, die ihren Winterschlaf halten wollen, braucht man eine andere Sorte.

Und diese andere Sorte ist gerade in der Großstadt heillos schwer zu erlangen.

Hellmutle aber trieb, weiß Gott wo, wie und mit welchen Mitteln, endlich den richtigen auf.

Das Froschhaus sollte bis zur Hälfte damit angefüllt werden. Jetzt bedauerte ich zum erstenmal, daß ich kein billigeres genommen hatte.

Der Südungar saß apathisch wie immer an seinem Plätzchen. Sogar der Schlamm, für dessen vorzügliche Qualität alle Anzeichen sprachen, ließ dieses Widerspiel südungarischer Nationaleigenschaften kalt. 229

Da deckte Hellmut in aufwallendem Gefühl eine Schippe voll des kostbaren Materials direkt auf das Fröschlein.

Zum ersten und einzigen Mal brach da das Temperament unseres Hausgenossen durch: krabbelnd und zappelnd und wühlend arbeitete er sich empor, machte einen gewaltigen Satz auf Mutters seidene Nähtischdecke, von da auf den samtenen Arbeitskorb, dann hinab auf das weiße Angorafell und hinüber auf den hellgrundigen Teppich unter dem Tisch.

Wir standen noch entsetzensstarr, als Klara, die immer Besonnene, das entflohene Ungeheuer mit der Kohlenschaufel betäuben wollte, um es dann müheloser einfangen zu können.

Die Betäubung fiel etwas kräftig aus. Der Südungar brauchte keine irdischen Fliegen mehr.

Hellmutle aber, zu dessen geistigem und sittlichem Wohl in erster Linie der Frosch angeschafft worden war, verwünschte die Naturgeschichte, die die tiefere Ursache der schlammbespritzten Tragödie geworden war.

Des Laubfrosches Leben und sein jäher Tod hatten somit nicht vermocht, in unserem Buben die Liebe zu den Wissenschaften zu entzünden. Ich aber, ich 230 rufe Ellen Key und Pestalozzi und Fröbel und meine Frau zu Zeugen auf, ob ich nicht meine Vaterpflichten getan habe?

Vier Mark fünfzig und ein Laubfroschleben hat das Experiment gekostet. Ich finde das nicht zu teuer.



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