Auguste Supper
Holunderduft
Auguste Supper

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Begegnung

Als Simon Schwarz von Breitenfeld Hochzeit machte mit der Lina vom Engelhof, die den kurzen Fuß und den langen Geldbeutel hat, da war unter den drei Musikanten einer, den ich nie zuvor gesehen zu haben glaubte.

Im Hirsch zu Breitenfeld war das Fest bereitet.

Mich hatte kein Mensch geladen. Aber schon im dunklen Mütterschoß sei ich ein Kerl gewesen voll Fürwitz, der nicht Ruhe gab, bis er seine Nase in den hellen Tag und in das Treiben der Lebendigen stecken durfte.

Das ist nachher nicht besser geworden, eher schlimmer.

Bis dann der große Nasenstüber mich scheuer machte und vorsichtiger, wenn er auch nicht vermochte, den alten Adam ganz in mir zu töten. 74

Als mein seliger Vater, der ein verständiger Mann war, solche Neigung an mir wahrnahm, sagte er: »Bub', du mußt ein Scherenschleifer werden. Die klopfen an alle Türen, ohne daß man sie hinauswirft.«

Meine Mutter aber widersprach.

Sie war nicht das, was man verständig nennt.

Nur das eine Taschenspielerstücklein, das man »fröhlich leben« heißt, das hat sie fertig gebracht.

Ich kann nicht weitererzählen, was sie über mich und meine Art zum Vater sagte.

Es waren eigentümliche Worte, die, obgleich sie alle an den großen strengen Mann gerichtet schienen, doch unversehens zu mir herhüpften, mich mit einer Hand streichelten und mit der andern bös an den Ohren nahmen.

Linde Worte, die glatt eingingen und dann inwendig ätzten wie Höllenstein.

Gelobt ward ich. Aber das Lob war wie die Hechel für den dürren Flachs: es zauste, indem es rein machte.

Vater und Mutter sind tot.

Ich bin kein Scherenschleifer geworden. Mein Vater wird nicht zürnen, daß ich mich mehr an die 75 Worte der Mutter gehalten habe als an seinen Rat.

Jetzt, da ich heller sehe, weiß ich ja, daß auch er, wenn er ganz besonders verständig handeln wollte, nicht seinem eigenen Kopf, sondern dem der unverständigen Mutter folgte.

Ich bin Notar. Mein Bezirk reicht über sieben Berge hin. Just so weit, als Schneewittchen laufen mußte, um Asyl zu finden.

Auch ich bin nach besagtem Nasenstüber einem Haß davongegangen. Manchmal befällt mich ein jähes Mißtrauen, er könne meine mühsam verwischte Spur ergattern und mir unter irgendeiner Vermummung nahe kommen.

Darum reiße ich die Augen immer weit auf, wenn ich Gestalten sehe wie den Musikanten.

Gestalten, die fremd unter den freundlichen Zwergen von Breitenfeld einhergehen und verlockende Ware auf dem Rücken tragen, die man hierzuland nicht haben kann, und deren Reiz ich kenne aus früherer Zeit.

Ich schnüffle und taste dann und strecke halb ängstlich und halb begehrlich die Fühler meiner Seele aus. 76

Der fremde Musikant saß an einem kleinen Tisch im Hirschensaal zwischen seinen beiden Kollegen. Ich kenne die Zwei. Sie sind Besenbinder von Profession. Vettern, soviel ich weiß.

Ihre Sippe ist in der Gegend verstreut wie der Löwenzahn an einem sonnigen Rain. Jeder Lenz bringt neue Triebe.

Der eine, der mit der Klarinette, hat einen schönen Wald durch seine lange, dünne Gurgel gejagt. Jetzt bindet er Besen aus den Reisern, die an den noch vorhandenen Hecken wachsen. Sein Weib trägt sie in hochgeschichteten Bündeln weit ins Land.

Der andere, der Flötist, treibt die gleiche Hantierung. Nur mehr ins Große. Er hat neun oder zehn lebendige Kinder, die alle im Geschäft tätig sind. Das heißt, die Hälfte davon fabriziert Bürsten, die andere Hälfte Besen.

Auch ihm ist die Leber leicht trocken. Doch nicht so sehr wie seinem Vetter. Er bringt auch diesen immer wohlbehalten heim, wenn das Tagwerk schwer war.

Zwischen diesen beiden saß heute ein dritter mit einer Geige. Um eines Hauptes Länge größer denn alles Volk war er. Aber er saß schlapp, mit rundem Rücken 77 und vorgeneigtem Kopf, so daß er nicht aufragte zwischen den andern.

Lange Haare fielen ihm in dunklen Strähnen auf die Stirne. Das Kinn sprang auf die Geige vor. Der Mund war kniffig zusammengezogen, die Schläfen eingesunken.

Seine Augen hätte ich gerne sehen mögen; aber er schaute nicht auf solang er spielte, und in den Pausen zechte er mit seinen Kunstgenossen.

Ich fragte den Brautvater und den Bräutigam, wo sie den Geiger aufgetrieben hätten.

Sie lachten und zuckten die Achseln. Die andern zwei hätten ihn mitgebracht, weil drei besser Musik machen können als zwei, und weil es bei der Lina ihrer Hochzeit aufs Geld nicht ankomme.

Zum kreischenden Toben wuchs gegen die Nacht hin die Lustbarkeit im dichtgefüllten Saal.

Ich blieb. In meiner Ecke saß ich und kam nicht los. Ich komme nie los, wenn es so um mich brandet. Wie einer, der am Meer sitzt und den Blick nicht lassen kann vom Wellenspiel, so bin ich dann.

Ich fühle, wie mein Gesicht sein Lachen trägt wie eine Larve, hinter der man geborgen ist. 78

Die von meinem Bezirk, die sagen dann: »Der Herr Notar ist ein umgänglicher Mann.«

Ich muß denken, wie bescheiden, wie leicht zufriedengestellt diese Leute sind. Nur das bißchen Lachlarve wollen sie sehen, dann strecken einem alle die Hände hin.

Auf einmal gab's bei der Musik eine Stockung.

Ich hatte eben nicht auf die drei dort unten geachtet und wußte nicht, um was es sich handelte.

Die Klarinette hörte ich etliche einsame Bockssprünge in das Gewühl hinein machen, dann verstummte auch sie.

Ein brodelnder Lärm war um den Musikantentisch, zu dem die Paare hindrängten.

Und plötzlich sah ich über den roten und keuchenden Burschen- und Mädchenköpfen ein bleiches, hageres Gesicht auftauchen, das mit einem lebendigen und einem gläsernen Auge seltsam starr zu mir hersah.

Ein Geigenbogen fuchtelte unruhig in der Luft, um sich dann wie ein eingelegter Pfeil auf mich zu richten, und eine heisere Stimme rief durchdringend durch all den Spektakel: »Der Mann muß hinaus!«

Eine sonderbare, jähe Stille folgte diesem Schrei. 79

Ich selbst erhob mich halb in meiner Ecke und sah hinter mich, als ob da etwas sein könne.

Und dann ging ein gröhlendes Gelächter los.

»Des 'scht doch d'r Herr Notar, unser Notar! Des 'scht doch d'r nobelst im ganze Saal«, schrie einer.

Die heißen Gesichter wandten sich alle zu mir her. Lauter vertraute, freundliche Gesichter, die ich von manchem Fest und manchem Alltag her kannte, wie sie mich.

Der Musikant ließ den Blick nicht von mir. Seine hohe, dürre Gestalt schwankte. Er hatte scharf getrunken. Auf einmal warf er seine Geige auf den Tisch, daß sie dröhnte.

»Hinaus muß der, ihr Esel, ihr Bauernlümmel, hinaus! Er ist ein Spion, er paßt uns auf!«

Und unter dem kreischenden Lachen und Toben der Paare schob sich der lange, blasse Mensch hinter dem Tisch hervor und drängte gegen meine Ecke her.

Sie nahmen ihn am Arm; sie taten, als wollten sie ihn zurückhalten. Aber es war da kein richtiger Ernst dabei. Ich sah wohl, wie in ihren Augen, in ihren lachenden Gesichtern der Funke aufglühte, der, wo er frei lodern darf, eine weite Arena in Blut und Feuer hüllt. 80

Ich stand langsam auf. Die Lachlarve behielt ich fest vor dem Gesicht. Es war mir, als sei sie wie Helm und Visier, und ich könne sie nötig gebrauchen.

»Himmeldonnerwetter,« sagte ich auf Breitenfeldisch, »der Kerl hat einen Rausch.«

Wie brausender, jubelnder Zuruf klang's um mich.

»Einen . . . rausch!« gröhlten die einen.

»Drauf, drauf!« brüllten lachend hinten im Saal einige andere.

Näher her arbeitete sich der betrunkene Mann.

Unverwandt schaute ich ihm entgegen. Den Menschenblick, der die unvernünftigen Bestien zwingt, hielt ich ihm hin wie eine starrende Lanze.

Das Lachen aber, das ich um den Mund behielt, war zugleich der Zaun gegen die andern, daß auch sie mir nicht zu nahe auf den Leib rücken möchten.

Den Schoppen Wein, der ungetrunken vor mir auf dem Tisch stand, schob ich ohne hinzublicken dem Gemeindepfleger zu, der neben mir saß, und der schon den ganzen Nachmittag für mich getrunken hatte als ein getreuer Nachbar.

Der Musikant hielt seine Hände vorgestreckt. Lange, bleiche, schmale Hände, die lose in den 81 knochigen Gelenken saßen. Schlapp sah das aus, fast lächerlich. Und dabei so hilflos, so wehmütig hilflos, daß ich fast mitleidig denken mußte: »Kerl, wie willst denn du mit solchen Händen mich und das Leben packen?«

Da gab ihm einer, irgend eine zarte, breitenfeldische Seele, einen Puff, daß er mit Vehemenz auf mich herschoß, wie der Sperber auf die Taube stößt.

Ein Lachen ging durch den festlichen Kreis. Am fröhlichsten lachten ich und die Weiber.

Und dann standen wir voreinander.

Es war da aber auf einmal kein Weindunst und kein Lampenrauch mehr. Auch kein Hirsch von Breitenfeld, kein Gemeindepfleger, der sich aus meinem Glas besoffen hatte, keine gröhlende Bande, die Hochzeit feierte, wie nur der homo sapiens dies hohe Fest begeht. Es standen da zwischen Himmel und Erde im unendlichen Raum zwei Seelen voreinander, die Gott der Herr nackt und rein erschaffen hatte, und von denen für Sekundenlänge alle die Fetzen abfielen, die der Erde Not und Versuchung und der Erde Lüge um sie geschlungen hatte. Alle diese Fetzen, die aus der einfachen Seele den 82 komplizierten Menschen, den Bettler und den König, den Notar und den berauschten Musikanten machen.

Heiß wie in Haß oder in Bitterkeit und Qual war des Fremdlings eines Auge auf mich gerichtet. Das andere, das tote, gläserne, glotzte vorüber.

Wenn nicht alles dagegen spräche, würde ich sagen, wir seien tausend Jahre lang Auge in Auge gestanden. Tausend Jahre von jener Sorte, die vor Gott sind wie ein Tag und wie eine Nachtwache.

Aber wie gesagt, die Umstände sprechen dagegen.

Die holdselige Braut mit dem zarten Sinn und dem großen Geldbeutel trat ungestüm her und nahm den Musikanten am Arm.

»Sie,« schrie sie gellend, »was glaubet Sie denn eigentlich? Aufspiele sollet Sie! Do derfür send Sie zahlt, net fürs Händel a'fange'!«

Das war ein weises Wort zur rechten Zeit.

Ich ließ die bändigenden Augen von dem Feind, um sie bewundernd auf die Vermittlerin zu richten.

»Du,« kreischte da der Musikant und schüttelte das Weib oder die Jungfrau, man weiß das dort oben nie so sicher, rauh ab, indem er mir eine seiner bleichen Hände auf die Achsel legte, »du sollst mir nicht nachschnüffeln, du! Das macht mich rasend, 83 daß du immer hinter mir her bist! Laß mich! sag ich dir. Laß mich! oder es gibt ein Unglück!«

Heiser, leidenschaftlich stieß der fremde Mann die Worte hervor, wie in höchster Not und Erregung. Seine Sprache klang nordisch. Sein verzerrtes Gesicht war nicht vom Typ der sieben Berge.

Ich stand unbeweglich. Ein trüber Schmerz war in mir. Ein Schmerz, wie ihn vielleicht ein ehrlicher Zöllner fühlt, wenn er merkt, daß man ihn entgelten läßt, was gewissenlose Standesgenossen vielleicht (ich sage nur vielleicht) verschuldet haben. Oder ein Schmerz, wie er vielleicht (ich sage nur vielleicht) den Sensenmann anpackt, wenn er sehen muß, daß alle, alle sich mit Grauen von ihm wenden, auch die, zu denen er als milder Freund kommen will.

Und wie ich diesen Schmerz im Innern spürte, da ließ ich plötzlich müde die Lachlarve vom Antlitz sinken und streckte die Hände aus, dem Fremden zu.

»Recht so,« krakehlte neben mir der Gemeindepfleger, »no Ernst g'macht mit so freche Kerle!«

Aber ehe meine Hände einen festen Punkt fanden, schlug jetzt der Musikant die seinigen vors Gesicht, taumelte auf die Bank nieder, legte den Kopf auf den Tisch und weinte laut und bitterlich. 84

Es war nun ein großer, allgemeiner Jubel im Hirschensaal. In Schichten, die sich ablösten, drängten die lieben Leutchen vor, um ihren zusammengesunkenen Mitbruder zu sehen.

Der Flötist, ein sachkundiger Mann mit viel klarem Blick, schrie, man solle dem Kerl einen Eimer kalt Wasser ins Genick schütten.

Der Klarinettist aber verwies ihm solches, hielt sich am Tischeck, weil er nicht mehr allein stehen konnte und lachte, daß ihm die Tränen kamen. »'s besoffe Elend hot er, der arm Teufel! Gebet ihm z'trinke, daß er drüber nüber kommt!«

Und mitleidig trugen alle dem Schluchzenden ihre Gläser her, ließen sie zusammenklingen, daß solcher Ton den Hingesunkenen wecken möchte, und riefen nach neuem Wein und Musik.

Ich aber suchte meine verlorene Larve, fand sie nicht mehr und ging davon, weil ich mich schämte, so nackt unter den vielen Leuten zu sitzen.

»Der hot gnug für heut!« »Dem ist's Angst worde« und Ähnliches hörte ich hinter mir herklingen. Kann sein, daß auch einer besser oder schlechter von mir sprach. Ich horchte nicht darauf. 85

Das war die Hochzeit des Simon Schwarz mit der Lina vom Engelhof.

Die Zwei hausen, wie es das fröhliche Fest erwarten ließ.

Lange noch nach jener lustigen Nacht war mir's, als hätte ich ein Gift im Leib, das mir über die sieben Berge her in die Einsamkeit sei heimtückisch zugetragen worden.

Den Flötisten habe ich später nach dem Geiger gefragt.

Er spuckte aus. »Was weiß i! E verhungerter Preuß, wo letzte Sommer bei der Badmusik do hunte mitgspielt hot. Sie hänt ihn no müsse ins Spital do, wege – –« er machte lachend die Gebärde des Becherhebens, »und dort han i ihn kenne glernt, wo i drunte glege be, wege meim Knöchelbruch. D'r Fritz und i, mir hänt wölle han, er soll mit zu de Hochzeite aufspiele. Aber er hot's bloß eimol do. Domols, wo er auf Sie los ist. Am andere Tag ist er fort. Er hot große Mucke im Kopf ghät, der Hungerleider – –«

* * *

Ich habe einen alten Strumpf, in den sammle ich Geld. Meine Mutter hat das auch getan. Als 86 ich ihr einst aus der Fülle meiner Weisheit heraus klarlegte, wie man seine Geldgeschäfte auch auf andere, klügere Weise betreiben könne, da hat sie den Kopf geschüttelt und abgewunken.

»Laß nur,« sagte sie, »ich müßte ja dann viel zu viel denken an mein Geld. Und alles Geld, dem man eine Ehre antut, das wird frech und sitzt einem auf die Brust wie die Katze dem Wickelkind. Ich stopfe alles in den alten Strumpf und denke, es seien Hafenscherben, dann habe ich meine Ruh.«

So sprach meine Mutter, die nicht verständig war.

In jenem Sommer, als der Simon Schwarz von Breitenfeld vor Gericht stand, weil er sein Eheweib grün und blau geprügelt hatte, war der Strumpf, in den ich sammelte, prallvoll.

Da führte ich aus, was lange wunsch- und traumweise in mir gespukt hatte: ich fuhr ans Meer.

Jahr um Jahr habe ich, ein gewitzigter Mann, dem draußen Leid geschehen, hinter den sieben Bergen gehaust.

Durch die kühlen Schluchten, wo einsame Wasser über glatte Steine rinnen, bin ich gewandert. An schweigenden Hängen, wo die Tannen wie ernste 87 Wächter stehen, bin ich hingeklettert und habe zu jedem Fuchs im Steingetrümmer, zu jeder Ameise im Sand, zu jedem Eichhorn in den Wipfeln Bruder gesagt.

Mit denen von Breitenfeld und ihren Gesippen habe ich gearbeitet und gefeiert, habe von all ihrem Leid einen herzhaften Schluck genommen, von all ihrer Freude am Schaum genippt.

Eine Hecke habe ich um mein schlichtes Haus gepflanzt, habe eingeheimst wo und wann meine Garben reiften, und habe gesagt zu meiner Seele: »Liebe Seele, du hast jetzt eine Heimat und einen sichern Ort; freue dich also und sei zufrieden!«

Aber manche Seelen sind wie manche Bestien: Zureden hilft nichts. Sie müssen die Peitsche oder frische Brocken haben, sonst geht das Murren und Knurren nicht aus.

Die Reise ans Meer, aus den sieben Bergen heraus, das war ein Brocken, auf den sich meine Seele mit Freudenfauchen stürzte.

Nordwärts hat mich der Zug getragen.

Erst durch vertrautes Land. Durch die rußige Stadt, wo ich mir den Haß geholt, der mich in die Berge getrieben hat. 88

Dann durch die fremde, weite Welt.

Erntezeit war's. Draußen in der Tiefebene stand die heiße Sonne über reifen Ährenfeldern, die wogten wie ein goldenes Meer.

Menschen sah ich an der Arbeit, den Segen zu bergen.

Aber den Schweiß, der ihnen dabei von den Stirnen troff, den sah ich nicht; und ich hörte nicht das Keuchen ihrer Brust, nicht ihr Seufzen in der sengenden Mittagsglut.

So sah denn alles aus wie eitel Freude und Lustbarkeit, wie ein glückseliges Dahinnehmen aus gütigen Schöpferhänden, die die Garben mühelos darreichen dem, der lachend danach greift.

Und weil meine Augen so fröhlich über die strahlende Welt gingen, habe ich es nicht übers Herz gebracht, sie aufzurütteln aus ihrem Frohmut. Den Gedanken, die wie graue Schlangen herankrochen, habe ich auf die Köpfe geklopft, daß sie sich in ihre Höhle zurückzogen und bin mit den Augen allein durchs lachende Land gefahren.

Und dann sah ich Windmühlen am Horizont. Riesige schwarze Vögel, die mit den Flügeln schlugen.

Ich habe gelacht und habe zu meinen Augen 89 gesagt: »Schaut nur, schaut! Bei uns zu Hause sind die Mühlen wie nasse Ottern, die mit breiten Füßen im Wasser patschen.«

Große Städte kamen dann mit wimmelnden Menschenmassen.

Wie der Weißling über den Kohl, so gaukelten meine Augen über alle diese Gesichter und suchten ein Plätzchen, wo sie sich festsaugen möchten.

Aber der weiterbrausende Zug machte dem Suchen ein Ende, wie ein Windstoß dem hastigen Flattern der Falter.

Und dann war da das Meer.

Ich bin erschrocken dran, denn des Wassers ist mächtig viel, und wenn die Sonne darauf scheint, so sind der flirrenden Wellchen wohl Millionen und Milliarden.

Ein Wort meiner Mutter fiel mir ein, das sie anwandte, sowohl wenn ein Wetter am Himmel stand, als auch wenn Nachbars Kuh nicht kalben konnte; wenn sie die Sterne stehen sah über unserem großen, stillen Garten und wenn die Butter im Rührfaß sich nicht ballen wollte; wenn der Tod an ein junges Leben rührte und wenn im Kohlgarten der Raupenfraß war – – immer sagte sie dieses 90 Wort, das mir einfiel angesichts des Meeres, das schwer gegen die Ufer rollte: »Herr, was ist der Mensch?«

Über einen schmalen Steg bin ich zu Schiff gegangen. Vor mir und hinter mir drängten die Menschen wie Schafe, die den Donner rollen hören.

Ich hätte gerne gerufen: »Laßt mir doch Zeit; laßt mich meine Schritte bedächtig setzen, denn ich komme von den sieben Bergen her und bin nie über den Rand der festen Erde hinausgetreten!« Aber alle diese Leute sahen aus, als ob sie keine Augen und keine Ohren, als ob sie nur Ellbogen zum Drängen und Füße zum Rennen hätten. Viele Stunden lang bin ich dann ganz vorne im Schiff gestanden. Ganz allein.

Der Wind kam mir ins Gesicht, frisch, voll junger Kraft, als sei er noch nicht weit gelaufen, als liege die Höhle, in der er wohnt, ganz nahe.

Leise, begrüßende Worte sprach er zu mir, denn er kennt mich und ich kenne ihn, und dann auf einmal, als nur noch Meer und Himmel zu sehen war, da schwoll seine Stimme an zu dem donnernden Kommando: »Helm ab zum Gebet!«

Ich weiß nicht, was hinter mir die andern taten. Eine weiße Mütze sah ich neben mir über Bord ins 91 Meer wirbeln, und ich dachte: »Der, dem diese Mütze gehört, der hat's wie der Kuhhirt von Breitenfeld: der langt erst nach der Kappe, wenn man sie ihm vom Kopf geschlagen hat.«

Wie grüner Glasfluß, der das letzte Unreine auf seinen Wellenkämmen ausschäumt, wogte das Meer. Am Schiffsbug sprudelte es wie klirrende, weiße Scherben. Möwen schossen vorüber und ließen sich weiter draußen nieder auf die Wasserberge, die sie schaukelnd trugen, wie eine Hoffnung die müde Seele trägt.

Senkrecht wie ein Lot schickte ich meine Gedanken hinab in die gläserne Tiefe, über die das Schiff sorglos dahinglitt. Ich sah eine dunkle Welt voll wundersamer Formen, sah all die abenteuerlichen Gebilde, die wie erstarrte Teufelsgedanken aus der Sonne Bereich in die Tiefe verwiesen sind, daß sie die Sterblichen nicht schrecken sollen.

Hunger und Durst spürte ich. Aber ich mochte meinen Posten nicht verlassen. Ich redete meinen Eingeweiden zu: »Schwingt euch nur wenigstens heut' einmal auf zu einem höheren Standpunkt! Wenn im Winter der Hirschwirt in Breitenfeld wieder Metzelsuppe hält, dann sollt ihr schwelgen dürfen.« 92

Eine Zeitlang hielt der Zuspruch vor. Dann aber ging das unvernünftige Rumoren wieder an, bis meine Seele mürb ward und nachgab. »Herr, was ist der Mensch! –«

Auf einer einsamen Insel hoch droben im Norden bin ich an Land gegangen.

Es war ein schlüpferiger Steg, auf dem ich hinausmußte. Wuchtig und schwer setzte ich die tastenden Füße.

Da lachten zwei, die hinter mir gingen und sagten: »Erst will er nich rein, dann will er nich rauß.«

Da kam mir's zum Bewußtsein, daß ich nicht mit Wind und Meer und den Ungeheuern der Tiefe allein auf der Welt sei, und ich freute mich, daß es auch Menschen gab.

Im Ufersand stand ich bis an die Knöchel und wartete, bis alle sich verlaufen hatten. Weit draußen entglitt das weiße Schiff meinen Blicken.

Ich war allein am Meer.

Über den Strandhafer in den einsamen Dünen ging der salzige Wind. Ich sah, wie die zitternden Halme sich gegen mich neigten. Da beugte ich mich nieder und fragte lautlos: »Kennt ihr mich denn, daß ihr euch mir so entgegenstreckt?« 93

Ein Knirschen wie von rieselndem Sand, ein leises Klirren gab mir Antwort: »Ja, wir haben immer von dir gewußt, wir haben immer auf dich gewartet.«

Grau wurde das Meer, als sei Asche und Sünde hineingeworfen. Ganz weit draußen, wo der Himmel auf den Wassern lag, sprangen weiße Schaumkronen auf wie Rosse mit silbernen Mähnen. Zu mir her sah ich sie nicken und grüßen, zu mir her drängten sie vor in breiten, schäumenden Reihen.

Einsam stand ich. Von der stummen Kreatur umgrüßt und umsprungen, wie ein langentbehrter Herr von freudetanzenden Hündlein.

Ein leiser, stolzer Schauer rieselte über mich hin. Das Haar gab ich dem Wind, und mit freier Stirne sah ich zu, wie das Meer mit tausend Zungen demütig den Sand zu meinen Füßen leckte.

Herr, das ist der Mensch. – –

* * *

Ich wohnte dort im Norden in einem Hause, das hatte ein Dach wie aus wundervollen trockenen Seehundsfellen. Schwarzgrau, pelzig, weich und dick lag es über den kleinen Fenstern und den niederen, blutroten Hauswänden. 94

Die Fischerswitib, der das Haus gehörte, war ein hageres, wortkarges Weib mit weißen Haaren unter schwarzer Haube. Ihr Gesicht war wie eine welke Frucht, die Hände schmal und lang, die dürren Arme schlenkerten beim Gehen.

Das sah nicht nach Tatkraft und Willen aus, aber nach einer unendlichen Zähigkeit, die dem Zerren des gewalttätigen Lebens standhält, wie eine breitenfeldische Sonntagsbrezel den begehrlichen Zähnen der Zeitgenossen.

Eine reine, gewählte Sprache hatte das Weib, wenn sie zu mir redete. Was sie mit ihresgleichen sprach, verstand ich nicht.

Diese Zweisprachigkeit machte sie mir rätselvoll und fremd, so offen sie auch mit ihren kühlen, grauen Augen in die Welt und mir ins Gesicht sah.

Ich habe auf der Insel ein Leben geführt wie der liebe Gott in Frankreich, der dort auch nicht stark von den Leuten inkommodiert wird, weil sie nicht viel hinter ihm suchen.

Wenn die Sonne emporkam und mit schrägen Strahlen das Wattenmeer und die Halligen streifte, dann stand ich schon dort, wo am flachen Ostufer eines Nordlandhelden einsamer Hügel im 95 Roggenacker meiner Wirtin liegt, und dehnte die Brust dem frischen Wind entgegen.

Der Tau lag über dem uralten Grab, und vor den Gängen der wilden Kaninchen, die den Hügel durchwühlten, hingen glitzernde Nester der Erdspinnen. Dürftige Blumen von dürftigen Farben standen zitternd in der Morgenkühle, die dünnen Roggenhalme schauerten, und weit draußen schauerte das blutige Meer.

Und dann: »Aus einer güldnen Tür kam eine güldne Frau herfür.« –

Weitum im flachen Land war nichts, was sie früher hätte grüßen können als mein Gesicht, das ihr entgegenschaute vom Hügel des Toten aus.

»Frau Sonne, da stehe ich und warte dein.«

Wir taten uns aber alle zusammen, die wir zur Stelle waren: das Meer mit den Halligen, die Roggenhalme, die zitternden Blumen, das uralte Heldengrab und ich, der Mensch, und vereint jauchzten wir der güldenen Frau entgegen.

Es waren aber untertags viele Leute auf der Insel, die wimmelten zu ihrer Zeit hervor wie die Bienen, wenn die Sonne aufs Flugloch scheint.

Gegen Norden und Westen, wo das freie Meer 96 in starken Wogen rollt und die Sanddünen wie ein mächtiger Gebirgszug aus all der Flachheit aufsteigen, da lagen die Inselgäste im warmen Sand, plätscherten im Meer, bauten Burgen mit bunten Wimpeln und suchten Muscheln aus dem nassen Tang. Ich bin manchesmal durch ihre Reihe gegangen, schüchtern wie ein Eindringling, der hinter sieben Bergen hervorkommt. Zuweilen aber auch unverfroren wie ein Zollwächter, der ein Recht hat zu fragen: »Wo stammt ihr her, und welche Fracht habt ihr geladen?«

Da habe ich Breitenfelder getroffen aus aller Herren Länder und auch andere, denen ich im Bogen aus dem Weg ging.

Wenn aber die Sonne im Meer versunken und die letzte Glut verlodert war, dann blieb ich einsam zurück im rieselnden Sand.

Da lag ich mit offenen Augen in der sinkenden Nacht und horchte auf das klirrende Rieseln. Mein klopfendes Herz wußte, daß ich an der Sanduhr der Welt lag, in der die Körnlein rinnen, bis der Ewige zum letztenmal das Glas gestürzt hat.

In breiten Fluten strömte das Meer ans Land und wieder zurück, wie das Blut eines ruhelosen Herzens. 97

Aus der dunklen Weltentiefe kam der Nachtwind empor. In schwarzen Fetzen flatterte die Finsternis hinter ihm her, und es hub rings ein Raunen an, das kein Glücklicher versteht und kein Unglücklicher vergißt.

Und ein einsamer Mensch lag inmitten.

* * *

Der Mittag ging über die Insel. Männiglich schlief und verdaute.

Nur ich und mein Schatten, der lächerlich kurz und schwarz vor mir herglitt, waren wach und streiften draußen umher.

Den niederen, ewig windgeschüttelten Roggenfeldern erzählte ich von fernen Stammesbrüdern, die ihre volleren Ähren stolz auf mannshohen Halmen wiegen.

Weite Heideflächen, auf denen fremde Blumen um schwarze, moorige Löcher standen, durchquerten ich und mein Schatten.

Und so, im planlosen Schlendern, bin ich zu der Windmühle gekommen, neben der der grasige Platz liegt mit dem wackeligen Zaun. So und nicht anders. – 98

Ich habe dir nicht nachgeschnüffelt, du! Gewiß nicht. Wenigstens wollte ich's nicht. Was kann ich für das, was ich tue, ohne daß ich's will? Was kann ich für meines Herzens Pochen? Was kann das Meer dafür, daß es ans Ufer schlägt?

Reich deine Hände her, die bleichen, schmalen, die so lose in den Gelenken hängen! Mißtraue mir nicht länger!

Lasse dich grüßen, du! Ich habe es ja doch in deinem einen Auge gelesen, daß wir Brüder sind!

Die Windmühle stand abseits vom Dorf auf einem Hügel, den ein Breitenfelder als Tiefebene bezeichnet haben würde.

Knarrend drehten sich ihre beiden Flügel im Wind, und sie hätten mich, der ich nach meiner Weise allzunah herzutrat, fast an die frechen Ohren geschlagen.

Der Müller kam unter die Tür und sah mich an, wie ein Breitenfelder einen Hottentotten. Neugierig halb und halb verächtlich.

Und er sagte etwas, was ich nicht verstand.

Mehlstaub hatte der Mann am Kittel und zwei kluge, ruhevolle Augen im faltigen Gesicht.

Wenn ich aber solche Menschenaugen sehe, dann 99 tu ich wie der Schwimmer tut, der gute Strömung spürt: ich lasse mich tragen, wie mich's trägt.

Auf einem umgestürzten Karren sind wir nebeneinander gesessen und vor uns war der grasige Platz mit dem schlechten Zaun und darin zwei eingesunkene Hügel mit harten Erdschollen um den Rand.

Der Müller sah erst zur Rechten, wo das Wattenmeer ans flache Ufer spült und sagte: »Da fand man den einen.« Dann deutete er zur Linken, wo der freie Ozean gegen die Dünen flutet und setzte hinzu: »Und da den andern.«

Wir sprachen lange nichts mehr. Kleine, blaue Falter spielten über den beiden frischen Gräbern der Namenlosen, die da als die ersten auf dem neuen Kirchhof für Angeschwemmte tief und gut auf der sonnigen, einsamen Insel schlafen.

»Haben Sie die Toten gesehen?« fragte ich leise.

»Den einen«, sagte er langsam. »Ich habe ihn helfen herauftragen vom Strand, als der Claus Petersen ihn gefunden hatte beim Fischen.«

Er schwieg, als sei nun hinlänglich von der Sache geredet. Die da oben haben schon genug, wenn unsereiner erst anfängt. 100

»War er jung, war er alt?« fragte ich hartnäckig weiter. Der Müller schüttelte den grauen Kopf. »Wer spürt dem nach? Wer will das sagen? Die Fische waren schon an ihm. Ein gläsernes Auge hat er im Kopf gehabt und in der linken Hand eine Geige, als hätte er sich da dran festgehalten als es hinabging. Sie haben sie ihm wegnehmen wollen; aber er hat sich eingekrallt gehabt, daß nichts zu machen war.«

Ich saß und rührte mich nicht.

Die paar Jahre, die paar Länder, die zwischen heute und des Simon Schwarz Hochzeit lagen, schrumpften mir unter den Händen weg.

Fragen konnte ich nicht mehr. Was bedurfte ich weiter Zeugnis? Gellt es doch heute noch in meinen Ohren: »Du schnüffelst mir nach, immer schnüffelst du mir nach!« Und das einzige Auge sehe ich flammen in Bitterkeit und zorniger Qual.

Zu seinen knarrenden, sausenden Flügeln ging der Müller.

Ich aber trat an den Lattenzaun. Mein langgewordener Schatten fiel über den Hügel des Geigers. Und die Fiedel in den schmalen, toten Händen 101 hörte ich klingen, als wär's in Schadenfreude und Triumph, daß er mir doch entkommen.

Die blauen Falter tanzten nach der Fiedel Weise, und ich machte mich davon wie ein Genasführter.

Hinter mir schlich als ein müdes Hündlein stumm mein Schatten.



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