Auguste Supper
Der Gaukler
Auguste Supper

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Zwölftes Kapitel

Die Kugel rollt. – Wer stieß sie in die Bahn?
Wer lenk sie auf dem Weg? Wer hält sie an?
        A. S.

Im Süden der Stadt, wo feuchte, von Herbstnebeln überwogte Wiesenstreifen sich am Fluß hinzogen, wo die paar Häuser einer Vorstadt in dürftigen Gärten standen, die am Fuß des nahen Berghanges emporkletterten, um Sonne zu suchen, dort führte eine Straße talauf.

Ein Stück weit war sie reizlos mit kahlen Rändern, die in den nassen Wiesen verliefen. Dann aber schlüpfte sie zwischen bunte, üppige Hecken, an denen Pfaffenhütchen, die länglichen Beeren der Berberitzen, die überreifen Dolden des Holunders, die brennendroten Hagebutten leuchteten. So zog sie zwischen Fluß und Berg talauf, gehorsam den Windungen ihrer Begleiter folgend, umwoben von der weltfernen Stille der waldigen, engen Täler, über denen der müde Schrei des Habichts in der grauen Luft verklang.

Aber plötzlich war sie laut und belebt. Lärmend 312 zogen die welschen Scharen talauf, die Stadt, in der nur ein einziger Giebel rauchte, in aller Eile hinter sich lassend.

Mürrische, böse, drohende Gesichter blickten in den trüben Tag; unterdrückte und laute Flüche, erregtes Geschimpfe lief durch die Reihen. Die Halbvertierten knurrten, weil man ihnen einen erhofften fetten Bissen aus den Fängen genommen hatte.

Teilnahmslos, im Sattel zusammengekauert, ritt weit voraus der Kapitän, den Kurier hinter sich.

Über der kleinen, gekrümmten Gestalt und dem gelben Gesicht lag es wie hoffnungslose Erstarrung, als sei es diesem Fiebernden gewiß, daß er immer, immer so fortreiten müsse, bis in die Unendlichkeit hinein.

In der verschonten Stadt, über der seither die stumme Verstörtheit der Angst gelegen, herrschte nun die aufgeregte Verstörtheit der Freude. Man kam noch zu keinem freien Aufatmen, man fand sich noch nicht zurecht, man schlug sich noch mit dem zermürbenden Gedanken herum: ist es ein Hinterhalt, der uns gelegt ist, ein Traum, aus dem man erwachen muß?

Man wollte dankbar sein und hatte doch noch nicht die Kraft dazu; man wollte Freude zeigen und 313 zeigte nur Unrast, man wollte jubeln und lärmte nur.

Wie aus dem Boden gestampft, waren plötzlich wieder viel mehr Menschen in der Stadt. Waren sie hereingekommen, oder, wie Mücken im Frühlingssonnenschein, aus Ritzen und Ecken gekrochen?

Das Feuer, das die Horden in das stattliche Haus der Drimmer gelegt, es schien, wie durch ein Wunder, von selbst zu erlöschen. Nur schwarzer Qualm, der sich über die Stadt senkte, aber keine Flamme, war zu sehen.

Ein paar Kühne fingen zu spotten an: den Welschen sei der Zunder naß geworden. – Das war eine Redensart, die bedeutete, daß einem der Mut ausgegangen sei. Andere schüttelten dazu die Köpfe und schwiegen. Die Gassen, die Plätze wurden wie durch Zauber belebt und die Wirtshäuser füllten sich mit allerlei Gästen.

Auch in der Krone war plötzlich Betrieb, so totenstill sie noch eben gewesen. Aber es waren nicht die Herren, die sonst im Nebenzimmer zusammenkamen; es waren Gestalten vom Schlag des Christian Günther, des Soldatenschäfers, der in der Stube das große Wort führte.

Die Schenkin ging ab und zu. Ihre blühende Gestalt, ihr frisches Gesicht war überschattet; aber 314 nicht von Trauer um den toten Herrn, sondern von einer dumpfen Ungeduld, einer schmälenden Enttäuschung.

Unwirsch bediente sie die zusammengewürfelten Gäste, die ihr vorkamen wie der schale Bodensatz von dem schäumenden Becher, der ihrer abenteuerlustigen Seele vorenthalten war durch den eiligen und glatten Durchzug der Fremden.

Spöttisch hörte sie zu, wenn der Soldatenschäfer erzählte. Er war überall dabei gewesen, auch heute, bei dem Durchmarsch. Er stand daneben, als auf das höllische Pochen am Tor aufgemacht wurde und als der welsche Kapitän wie der Teufel nach dem Maire geschrien habe. Der Maire, das sei bei den Welschen der Bürgermeister. –

Laut lachte das Mädchen. »Du mußt ja wissen, wie sie in der Hölle pochen und wie die Teufel schreien,« rief sie über den Tisch.

»Halt dein Maul!« sagte der Günther und erzählte weiter. Der Bürgermeister sei gleich dagestanden und der Doktor Bardili und noch ein paar. Auf die habe der Welsche hineingebrüllt; aber sie hätten ihn gar nicht verstanden.

Dann sei auf einmal der Schnurrant dagewesen, der seinen Karren droben eingestellt habe auf seines Bruders Hof. 315

»So« – sagte gedehnt die Magd, »der wieder? –«

»Kennst du den?« fragte der Günther.

Sie zuckte die Achseln. »Er ist sein Bier noch schuldig.«

Der habe den Welschen gut verstanden, fuhr der Erzählende fort und zwinkerte mit den Augen, denn der könne allerlei, was andere Leute nicht können. Der habe alles zwischen den Herren ins reine gebracht, wie der Fuchs zwischen den Hennen. Eine Minute nachher habe schon das Drimmersche Haus gebrannt. – Er lachte laut.

Die Lauschenden griffen nach ihren Gläsern. Sie wußten nicht recht, auf was die Geschichte hinauswollte. Ein dünner Schneidergeselle, der erst seit ein paar Wochen in die Stadt verschlagen war, rief aufgrölend: »Leben soll er!«

Lärmend und johlend leerten sie ihre Gläser und schütteten den letzten Rest auf den Boden.

Das Mädchen schlug auf den Tisch. »Narren seid ihr, daß ihr auf so einen trinkt.«

»Was geht's dich an, wir trinken, auf wen wir mögen.«

Sie lachte auf. »Kaum war der in der Stube gewesen, da konnte der Kronenwirt sterben und hat es doch seit März nicht können.« 316

Es wurde still. Die Halbbetrunkenen blickten nach der Türe, als werde der Tote dort erscheinen.

Unbehaglich war ihnen plötzlich. Der Schneider fragte tonlos: »Wo liegt er?«

Sie deutete über die Achsel. »Der Franz hütet ihn; ihr braucht keine Angst zu haben.« Und sie sah mit spöttischem Blick auf die Erschreckten.

Jetzt fiel in der Ferne ein Schuß. Das Tal dröhnte. Die Verstummten schauten auf. Kam das Wetter zurück?«

Keiner fragte es. Ihr Lärmen, ihr Lachen holten sie wieder hervor und die Schenkin lief mit frischgefüllten Gläsern.

 

Oben am Berg beim Waldrand standen in des Bürgermeisters Garten die hohen Malven still und todbereit. Müd hingen die Sonnenblumen über den Zaun und der starke Duft der Reseden lag in der feuchten Luft. An der Eberesche fielen langsam die Beeren von den schweren Dolden und die sommersatten Blätter dazu.

Es war ein zögerndes, ein schwermütiges Sterben nach dem überreichen Blühen dieses Jahres, und die graue, raucherfüllte Luft über dem Tal vollendete die leise Trauer.

In einer kleinen, vom flammenden Gerank der 317 wilden Rebe überschütteten Laube saß eine Frau und las. Sie las in dem Buch, in dem, so oft die Zeiten wild und drohend waren, Menschenaugen sich Ruhe holten und Trost, oder doch wenigstens erleichternde Tränen, weil da drin von einem geschrieben steht, der mehr gelitten hat als alle.

Die Frau mußte uralt sein. Ihr Gesicht, ihre Hände waren gefurcht und zerknittert, schneeweißes Haar kam unter der Haube hervor, leise wackelte der Kopf. Sie war so vertieft in ihr Buch, das vor ihr auf dem feuchten Tische lag, oder war sie so schwerhörig, daß sie sich durch den hellen, den wachsamen Ruf eines Finken nicht stören ließ.

Aber drüben, am anderen Ende des Gartens unter der Eberesche, stand ein Mädchen, die hörte den kleinen, warnenden Vogel. Rasend fing ihr Herz zu klopfen an. Sie wagte nicht, den Kopf zu wenden und nach der Gartenpforte hinzuschauen. Wer sollte kommen jetzt, als er, auf den sie mit Zittern und Beben wartete, der Herr des Gartens, ihr Herr, der sie über die Stunde der Gefahr mit seiner alten Anastasia hier heraufgeschickt hatte.

Und nun war sie vorüber, die Stunde der Gefahr, nun kam die andere Stunde, die Stunde der Seligkeit. Anders konnte es nicht sein. – – Esther Kleinmann drückte die Hand aufs Herz, das wilde 318 Hämmern zu besänftigen. Tief atmete sie, als wolle ihr die Brust zerspringen.

Vorbei – vorbei die Angst!

Doch als sie es dachte, wußte sie, daß es nicht wahr sei. Daß die Angst noch lebte, noch irgendwo lauerte, daß ihr Herz, ihr Wissen noch voll sei davon.

Ein Schritt knirschte. Scheu wandte das Mädchen den Kopf. Dann wurde ihr Blick dunkel, wurde feindselig.

Der Fahrende stand vor ihr.

Stumm waren die beiden, stumm, wie Gegner, die sich messen. Des Mädchens bleiches Gesicht färbte sich langsam. Des Mannes Züge waren blaß, verstört, voll unterdrückter Erregung.

»Was tust du da, Mädchen?« stieß er rauh hervor, »habe ich dir nicht geboten, auf die Wöchnerin zu achten?«

Sie reckte sich auf. »Ich wüßte nicht, daß Ihr mir etwas zu gebieten hättet.«

Der Schwarze trat ein wenig zurück. Seine Augen wurden tiefer, glänzender. Aus seiner Stimme schwand das Rauhe.

»Nicht zu gebieten, schöne Esther; ich sagte falsch. Gebeten hab' ich Euch, Ihr wißt es doch.«

Des Mädchens Blick wurde unsicher. »Das 319 Weib liegt gut; ihr Mann ist doch bei ihr und jetzt wohl auch ihr Vater; er sprach davon, hinaufzugehen.«

»Ach so,« sagte leise der Schwarze, »hat er dann nicht dazugesetzt: so Gott will und wir leben? So heißt's doch irgendwo –.«

Sie schaute ihm in die Augen. »Was meint Ihr?« klang es bang.

Er lächelte flüchtig. »Mädchen, du weißt gut, was ich meine. Tief innen in dir ist das klare Wissen. Ich hab's in mir – in welcher Schule brauchst du nicht zu hören – ein wenig mehr herauf ans Licht gehoben. Ich weiß nicht mehr als du; doch weiß ich mehr von diesem meinem Wissen, als du von deinem. Drum glaub' mir doch!« Es lag ein dringendes Bitten, ein Flehen fast in seinen leisen Worten.

»Ihr meint –« setzte sie an und schwieg dann wie erschreckt.

Er nickte und blickte in die Ferne. »Deine Seele spricht das aus, was stockend deine Lippen scheu verschweigen. Wie oft ist's so! Und weil die Ohren nur den Lippen lauschen, läßt nach und nach die Seele dies ihr Sprechen. Sie wird es müd, zu reden, wo niemand hört. Darum die Stumpfen, die Nichtwissenden, wohin der Blick auch fällt. 320 Bringst du den Mut nicht auf, zu wissen, was du weißt? –«

»Was wollt Ihr denn von mir?« fragte sie unfrei, scheu, ungeduldig.

Er schaute ihr ins Gesicht. »Sagte ich es nicht? Hinauf auf den windigen Hof sollst du gehen, die Wöchnerin zu warten, für dich ist hier kein guter Platz.«

Sie glühte auf. »Der Bürgermeister hat mich heraufgeschickt.«

Er nickte. »Dann wirst du also bleiben. Wirst keine andere Stimme hören, nicht die in dir, nicht die aus mir. So darf ich gehen.«

Ferne Bangigkeit in Blick und Stimme fragte das Mädchen: »Wie fandet Ihr herauf?«

Er zog den Mantel zusammen. Mit leisem Lächeln kam's: »Du weißt auch dies und scheust dich, es zu wissen. Als ich den Weg zum ersten Male ging, war's dunkle Nacht. Vielleicht gefiel er mir so gut, daß ich jetzt wieder kam.«

Bleich und stumm sah sie ihm ins Gesicht.

Er senkte die Augen. »Du sagtest: Spion? –«

Sie schwieg noch immer und rührte sich nicht.

Er trat ihr ein wenig näher. Leise kam's: »Steig eine Stufe tiefer in dich selbst hinab! Dorthin, wo du an mich glaubst.« 321

Sie tat einen Schritt zurück. Wie in Abwehr hob sie die Hand.

Er schüttelte den Kopf. »Du willst es nicht wahrhaben. Du schmähst, du fürchtest mich und alles nur, um nicht glauben zu müssen, daß du an mich glaubst.« Er lachte auf. »Wenn schon die Auserwählten so verzerrte und verrenkte Seelen haben – was Wunder, daß die Vielen Krüppel sind im Innern.«

Als sie noch immer schweigend an ihm vorübersah, kam er ihr wieder näher. Ruhig, eindringlich, sachlich klang seine dunkle Stimme: »Mädchen, man kann nicht lieben, wie du liebst, ohne daß die große Klarheit in die Seele kommt, die Kraft, zu glauben.« – Er atmete tief und fuhr, als sie stumm blieb, fort: »Ich weiß, man nennt meist Glauben, was aus der großen Dunkelheit herauswächst, aus Dumpfheit, Angst, Verlangen. Der echte ist der Sohn der Liebe, der großen Klarheit.«

Bleich und reglos stand das Mädchen. In ihren Augen glänzte etwas auf, als finde sie eine Antwort.

Da fiel in der Ferne ein Schuß und das Dröhnen füllte den Talgrund.

Der Fahrende zuckte zusammen. »So bald schon?« sagte er verloren. Dann schritt er ohne Gruß der Gartenpforte zu. 322

Dort stieß er fast mit dem Bürgermeister zusammen, der von der Stadt heraufkam. Erhitzt sah der eilig Emporgestiegene aus, sein Atem ging rasch, seine Stirn war noch schwer umwölkt von der eben verlebten Stunde.

Unruhig und wenig erfreut blickte er auf den Fremdling. »Ihr?« sagte er überrascht, »was tut Ihr hier oben?«

Der Schwarze trat zur Seite. Mit seltsamem Lächeln gab er zur Antwort: »So, oder ähnlich, grüßt man mich überall. Ich suchte etwas, Euer Liebden, und fand es einmal wieder nicht.«

»Was habt Ihr in meinem Garten zu suchen? –«

Der Fahrende zuckte die Achseln. »Weiß ich's? – Es trieb mich hier herauf, da ging ich. Ich habe längst folgen gelernt.«

Unwillig wollte der Bürgermeister entgegnen, da trat das Mädchen her. Ein scheues Glück und zugleich eine ferne Bangigkeit lag auf dem schönen, blassen Gesicht. Unbewußt grüßten ihre Augen den Geliebten. Stumm gab er ihr die Hand und hielt sie fest. Sie standen und schauten nach dem Tal, schauten und bangten und wollten nichts wissen von diesem Bangen. Lauschten und wollten nichts wissen von diesem Lauschen. 323

Ein dumpfer, ferner Lärm kam aus der Tiefe.

Auf einmal trat der Fahrende her und deutete hinab.

Aus den Vorstadthäusern quoll Rauch. Nicht der friedliche blaue Rauch der Abendsuppen.

Ganz kurz nachher heulten schon die Glocken auf, gellend, verzweifelt.

Unterdrückt, mit rauher Stimme, sagte der Fahrende zu dem Mädchen: »Ihr hört – der Mesner ist nicht bei seiner Tochter. Geht, geht!«

Sie antwortete nicht. Starr, ohne Leben sahen ihre Augen auf die Stadt hinunter.

Der Bürgermeister ließ ihre Hand los und blickte um sich wie ein Erwachender, den ein böser Traum für einen Augenblick freigibt.

»Geh,« sagte er merkwürdig ruhig, »sie dürfen dich hier nicht finden.« Und dann, nach der Laube deutend, wo die Alte, der wohl kein Laut in ihre Stille drang, immer noch versunken in der Bibel las: »Nimm sie mit; ihr müßt beisammen bleiben!«

Es war eines jener Worte, die man erst überm Berg als Vermächtnisse erkennt.

Er ging auf die Pforte zu. Sein Blick fiel noch einmal auf den Fremdling. Nachdenklich fragte er: »Sagtet Ihr nicht damals bei dem alten Jakobäus in der Apotheke –« 324

Der Schwarze winkte ab. »Denkt nicht an das, was ich sagte! Jetzt kommt die Zeit für das, was Ihr dazumal bekennen mußtet.«

»Was meint Ihr? –«

»Fällt's Euch nicht ein? Ich will Euch dran erinnern, wenn – –«

Ein wüster, heulender Lärm klang dicht unter dem Garten auf. Aus der Stadt hörte man Schüsse, Schreie, Brüllen. Rauch qualmte überall auf. Das Glöcklein der Kapelle über der Brücke fing entsetzt zu wimmern an.

Jetzt blickte auch die Alte von ihrem Buch auf. Ihre fernsichtigen Augen erfaßten, was die Ohren nicht hörten: daß das vorbeigezogene Wetter furchtbar zurückgekommen war.

Ihre zitternde Hand schlug die Bibel zu. Jetzt sprach der Herrgott in seiner anderen Sprache, die sie auch so oft schon gehört. Festen Schrittes ging sie den Weg entlang auf die anderen zu.

Der Fahrende deutete auf sie hin. »Mädchen, Ihr tut nichts für Euch; aber um ihretwillen werdet Ihr gehen. Noch ist es Zeit. Der Wald ist nah und überall Geklüft.«

Der Bürgermeister trat noch einmal, zum letztenmal, zu der Todbleichen. Es war jene Ruhe in ihm, die äußerlich der Blindheit gleicht. »Er hat 325 recht,« sagte er überredend, »auch Stasia darf nicht in ihre Hände fallen. Geh! Es ist ja nicht für lang!«

 

Erst spät erfuhr man, wer den Schuß getan und damit das Furchtbare ausgelöst hatte.

War da über einen sonst so ruhigen und besonnenen Mann, wie den älteren der Drimmersöhne, den Bruder des abenteuernden Leutnants, plötzlich die Wut gekommen. die flammende Empörung.

Es wird immer schlimm, wenn ein Mensch, der stets Maß gehalten, stets Grenzen gekannt und anerkannt hat, durch irgendein Letztes hinausgestoßen wird ins Maß- und Grenzenlose.

Dieses Letzte war für den erstgeborenen Drimmer, der herb und still unter dem Leid um den trotz allem geliebten Bruder litt, der brennende Giebel seines Elternhauses gewesen.

Ein Haß, der alle Besonnenheit verzehrte, peitschte ihn empor zu der unseligen Tat.

Weit draußen vor der Stadt, wo bei einer düsteren alten Walkmühle, in der die Tuche gewalkt wurden, Fluß, Berg und Weg eine scharfe Windung machten, wo ein mit dichtem Buschwerk bedeckter Abhang hart über der einsamen Straße 326 hinzog, dort stellte sich der rachedürstende, verblendete Schütze ins Versteck.

War kein guter Geist in der Nähe, der dem sinnlos Erregten die klare Ruhe hätte zurückgeben können? Der ihm vielleicht die wehmütig stille Pracht der herbstbunten Hecken, das leise, gelassene Ziehen des dunklen Wassers, das Gleiten und Schweben der stillen Nebelstreifen auf den Flußwiesen, das stumme Huschen der kleinen Vögel im Buschwerk gezeigt und ihn so zur Besinnung gebracht hätte?

Ach nein! An jenem Nachmittag waren die guten Geister weit weg vom waldigen Tal. Oder es waren ihnen, wie so oft, die Augen verhalten und die Hände gebunden. Oder aber trugen sie gar, was ja auch kein Sterblicher weiß, die scheußlichen Masken von Greuel und Untat, um darin zu vollbringen, was nötig ist? – So fiel der unselige Schuß.

Der Kapitän wankte einen Augenblick auf dem Pferd. Die düstere, schon von der frühen Dämmerung berührte Landschaft schien ihn anzugrinsen. Er sah Blut. Sein eigenes Blut, das ihm vom Arm über die Hand rieselte.

Langsam richtete er sich im Sattel auf. Es war, als scheuche die jähe Schröpfung sein Fieber und 327 den unleidlichen Druck, der ihm wie eine unerbittliche Faust im Nacken gelegen war auf dem Ritt durchs Tal.

Ehe sich die verwilderten Scharen von der Überraschung, von dem jähen Verstummen über den Schuß aus dem Hinterhalt erholt hatten, schallte ein lauter, ein fast freudiger Befehl über sie hin, ein Befehl, für den sie seine Ohren und nur zu willigen Gehorsam hatten. Wie ein bitterböses Respondieren klang darauf das jubelnde Aufheulen der Horde.

So war es gekommen, daß das abgezogene Gewitter ins Tal zurückkehrte.

 

In des Bürgermeisters Garten ist die Mauer unter dem stolzen Ebereschenbaum von plündernden Händen zerwühlt, das deckende Gehänge der Arabis zertreten, die stillen Beete verwüstet, die Laube zusammengerissen.

Über all der Zerstörung weint ein schwerer, zu kaltem Regengeriesel sich verdichtender Nebel.

Weint er wohl auch um den Mann, den eine vertierte, von dem verräterischen Schmiedsknecht angeführte Rotte da oben gefangengenommen und wie einen Verbrecher weggeschleppt hat? Weint er um ein schönes, tiefes, zerstörtes Menschenglück? 328

Drunten die Stadt ist ein Feuermeer, über dem die schwarzen, stinkenden Rauchschwaden wogen.

Längst sind die großen Glocken verstummt. Ist ihnen die Zunge ausgeschmolzen? Ist der Glöckner geflohen? Die kleine in dem Kapellentürmchen wimmert noch fort, wie ein Kind, das ins Weinen gekommen ist und kein Ende finden kann. Wer ist dort Glöckner?

Hörst du es nicht, du Großer, du Siebenschühiger, den der Schmied den Allerweltshelfer nannte? Hörst du nicht, wie jeder bange Schlag des kleinen Glöckchens ruft: Komm, komm, komm!

Der Mann mit dem versengten Bart, dem rußigen Gesicht, den wunden Händen, den stieren, verzweifelten Augen sucht seine Liebste und findet sie nicht. Nur die Esther und die alte Anastasia findet er erschöpft am Waldrand und bringt sie in Sicherheit; von der kleinen stillen Sara wissen die beiden nichts.

Wie kam er wieder hinunter in das Glutmeer? – Er weiß es nicht. Wie ein Gaul, der, dem Feuer entrissen, sich wieder hineinstürzt, so mußte er hinab in die verlorene Stadt.

Das Glöcklein ruft, das Glöcklein fleht.

Der Große irrt über die Brücke; er starrt in das Wasser, das zu glühen scheint, er sieht die kleine, 329 uralte Brückenkapelle still, friedlich, unberührt von all den Schrecknissen.

Da ist ihm, als rufe drüben von der anderen Kapelle das Glöcklein: Bete, bete, bete! – –

Und es kommt eine große Ruhe über ihn, ein klares Überlegen, ein sicheres Wissen. Sein stierer Blick wird lebensvoll, wird weich, sein irrender Schritt fest. Er eilt über die Brücke.

Warum schweigt jetzt plötzlich das Glöckchen? –

Die starken Arme des Kleinmann haben die Glöcknerin an sich gerissen, haben sie hinausgetragen aus dem schon brennenden Heiligtum, hinaus – irgendwohin, wo nicht Glut, nicht Entsetzen, nicht Verzweiflung ist.

Sie hat sich nicht anders zu helfen gewußt, die einsame kleine Sara, als sich an das Glockenseil zu hängen und so dem Liebsten, dem Retter ihre fürchterliche Not und Bedrängnis zu klagen, ihn zu sich herzurufen, herzuzwingen.

Und nun ist er gekommen und die Not zu Ende.

 

Draußen am Fluß, wo der Nachtwind die Rauchschwaden wegtreibt, sind Pferde angepflockt. Soldatengäule und Beute aus den Ställen der Stadt. Auch des Kronenwirts schwere Rosse 330 scharren dort den nassen Grund, steigen und schlagen und wiehern.

Sie haben scheue, heiße Augen, denn auch das frömmste Roß kann nicht ruhig ins Feuer sehen. Oder haben sie noch anderes erblickt als Flammen und Glut? Noch Schrecklicheres, das sie nicht mehr vergessen können?

In einer preisgegebenen Stadt nimmt jeder, was ihm zufällt.

Der goldbetreßte Kurier fand leicht die stattliche Krone wieder.

Nicht ganz so leicht die junge, gefällige Schenkin.

Im Roßstall, in der dunklen Häckselkammer hatte sich die Erschreckte verkrochen. Vielleicht hätte sie der Suchende nicht aufgespürt, wenn nicht das Scheusal von Roßknecht vor der Türe gelegen wäre, wie ein Wächterhund, dem in den Augen geschrieben steht, daß er etwas behütet.

Und wie ein armer scheuer Hund schlich sich der Knecht zur Seite vor dem Peitschenhieb des Goldglänzenden. Auf eine große Kiste setzte er sich, die in der Einfahrt stand, und er wimmerte vor sich hin in Schmerz und Hilflosigkeit.

Aus der Häckselkammer klang ein Schrei, ein Kichern, ein Rascheln.

Der Ungeschlachte saß, und seine irren Augen in 331 den tiefen Höhlen gingen hin und her wie eingekreiste Tiere, die in Verzweiflung ein Entkommen suchen.

Das Haus erdröhnte von Getöse; Flammen schlugen aus einem Schuppen. Der Knecht fing zu zittern an. Dann lief er nach der Tür der Häckselkammer und brüllte: »Feurio, Feurio!«

Das war die letzte gütige, die letzte mitleidige Regung in dem Unseligen. Dann wurde er vor dem, was er sah, zum Ungeheuer.

Das Paar da drinnen taumelte auf. Am Kamisol, im Haar des Kuriers hing der Häcksel, sein Gesicht schimmerte fahl und verzerrt, das Gold an seinem Kleid erglänzte leise.

Hinter ihm mit offenem Mieder und gelöstem Haar das Mädchen, dem jede entfesselte Leidenschaft das junge, blühende Gesicht entstellte.

Da kam in des Knechtes Blick das Furchtbare. Er hob seine großen Hände. Unbeholfen war die Bewegung. Es sah aus, als müsse er erproben, ob die gewaltigen Pranken ihm gehorchten.

Des Mädchens gellender Schrei erstarrt in Grausen.

In der Umschlingung seiner goldenen Schnüre verröchelte der Schlanke. Dann warf sich ein Tier auf das Mädchen. 332

Im Gaulstall tobten die Rösser. Der Knecht torkelte auf und machte sie los. Sie stierten ins Feuer und wollten nicht aus dem Stall. Seine harte Faust führte die Zitternden hinaus auf den Markt und ließ sie frei mitten in dem entsetzlichen Getümmel. Sie rasten durch eine feuerhelle Gasse, die sich vor ihnen auftat. Er lachte hinter ihnen her wie über einen guten Spaß. Dann trat er in die Einfahrt zurück.

Schreiende, fluchende Soldaten drängten die Stiege herunter. Sie schleppten die Kronenwirtin mit. Bleich, mit hartem Gesicht, schaute die Frau über den Haufen, als wolle sie sagen: Tut mit mir, was ihr wollt – ich habe schon Schwereres erlebt.

Als sie den Knecht erblickte, rief sie ihm eine kurze Frage zu.

Er deutete stumm auf die große Kiste.

Jetzt stürzte draußen vor der Einfahrt das schwere Schild mit der funkelnden Krone aus der Höhe. Waren es Übermütige, waren es die Flammen, die es losgemacht? –

Wild brüllten ein paar Getroffene auf, und der Knecht schlug sich auf die Schenkel und lachte.

Die Schenkin streifte an ihm vorüber auf den Markt hinaus – er schien sie nicht zu sehen. Die 333 glut- und raucherfüllte Luft, der Funken- und Aschenregen konnten ihm nichts anhaben. Langsam, wie ein Müßiger, ein Feiernder, trat er in den Hof, wo die Ställe loderten. Da fiel sein Blick auf die Stelle, wo er den Rosenbusch abgehauen hatte und wo nun große Steine die Wurzeln deckten und schützten. Er schaute wie ein Erwachender um sich und wimmerte auf. Das jähe Entsetzen vor den Schrecknissen der Stunde war plötzlich da.

Hastig trat er in die Einfahrt und schlug an der Kiste den Deckel zurück. Etwas Formloses zerrte er heraus, etwas, von dem Grauen ausging. Mit der Leiche seines Herrn auf der breiten Schulter torkelte er davon. – Man sah nie wieder etwas von dem Paar.

 

Draußen am Fluß, wo die Gäule angepflockt sind, klingen Hornsignale. Der scharfe, spitze Ton hat etwas Unerbittliches, das erschreckt bis ins Innerste.

Aus der verlorenen brennenden Stadt fällt böser Schein auf die nächtlichen Wiesen, die zertrampelt und aufgewühlt sind wie nach einer Schlacht. Hin und her irrende schreiende Gestalten werden noch abenteuerlicher, als jetzt die qualmenden Pechfackeln aufflammen. Man sieht erhitzte, böse, und 334 man sieht bleiche, stille Gesichter in der unruhigen Lohe.

Der kleine Doktor Bardili, der greise Apotheker, der gepflegte Magister und noch ein paar Männer aus der Stadt stehen in engem, schweigendem Kreis. Stehen mit gesenkten Köpfen wie Geschlagene. Was sollen sie noch reden, nachdem sie bei einer unwürdigen Gerichtsszene, die jedem guten Recht Hohn sprach, die letzte Kraft aufgeboten haben, um Hans Wakker, den Bürgermeister, aus den Klauen eines ungezügelten, von keinen Bedenken gehemmten Feindes zu reißen? – Sie haben Geld, sie haben Bürgschaft, sie haben jeder den eigenen Kopf angeboten; der kleine Doktor hat sich mit verstörtem Gesicht und versagender Stimme erboten, den unseligen Schützen ausfindig zu machen und auszuliefern; er hat seine eigene Schuld betreffs des eingebrannten Löchleins bekannt, hat all seinen Haß gegen den Feind frei verströmen lassen, nur um den Freund zu retten und für ihn in die Bresche zu treten – nichts hat den starren Sinn des welschen Kapitäns brechen können, der auf seinem verfluchten »Recht« bestand, den Maire der Stadt zu bestrafen für verübten Verrat.

Noch einmal gellen die Hornsignale. Man sieht jetzt dort den Kapitän an seinen angepflockten Gaul 335 gelehnt. Er hat die rechte Hand verbunden, den Arm in der Schlinge.

Immer noch sieht sein kleines gelbes Gesicht unter der zurückgeschobenen Mütze belebt aus, immer noch durchpulst vom heißen Strom der Rachgier, der krankhaften Wut.

Jetzt ruft er etwas. Ungeduldig klingt die scharfe, dünne Stimme. Soldaten auf scheuen Gäulen sprengen weg und kommen wieder. Ihre kurze Meldung erpreßt ihm einen Fluch. Dann lacht er auf. Es sind wohl noch Weiber in der Stadt, da kann er lang auf seinen schlanken Adjutanten warten. Und hinterher wird dessen Gaul wieder hinken.

Der Schnurrant fällt ihm ein, der das sonderbare Wort gesprochen. Was aus dem Kerl geworden sein mag? Beim Einmarsch am Tor trieb er sich noch herum, tat noch Dolmetscherdienste, wenn etwas unklar blieb.

Ob er wohl im Dienst der Stadt stand, weil er so dringend zum eiligen Durchmarsch mahnte? – Hatte der Andere recht, der ihn für einen Spion gehalten? – Ach was! Ein Scheunenpurzler, wie sie dutzendweis durchs Land und mit den Soldaten ziehen. Er wartet noch eine Weile, dann gibt er einen Befehl. 336

Lachende Profosen lassen eine Gasse formieren, eine lange schreckliche Gasse am Fluß entlang. Sie verteilen die Ruten und machen die Witze, die dabei üblich sind.

Bald wird das Schauspiel beginnen.

Die schweigenden Männer dort in der dunklen Gruppe wenden sich weg. Wenn man sie schon zwingt, dabei zu sein, sie werden sich nicht zwingen lassen, das Unmenschliche mitanzusehen.

Ein erschütternder Laut erklingt und verhallt wie eine Unwirklichkeit. Der Doktor hat aufgeweint.

Sie blicken weit flußauf, wo die lautlose Dunkelheit ist, die barmherzige Nacht, die menschenleere Stille. Ihre Augen suchen den Himmel; aber der ist verhängt, und kein Licht aus den anderen Welten sendet einen tröstlichen Strahl herunter. Mit stummem Schreien beten die Erschütterten ins Dunkel hinein.

Die Fackeln, die jetzt zahlreicher aufflammen, machen kaum hell. Schwerer Qualm ballt sich um die steigenden und sinkenden Flammen, Qualm, in dem ein düsteres Glühen ist, als leuchte er in sich selbst und nur für sich.

Weit abseits, wo am Fluß die alten Schwarzerlen ragen, steht ein gebundener Mann. Niemand 337 außer dem Wachtsoldaten scheint sich um den Einsamen zu kümmern. Er ist ein Gerichteter, ein Ausgestoßener, mit dem man fertig ist.

Der wachthabende Soldat ist betrunken und macht seine Scherze. In einem Haufen Gerümpel, der unter den Erlen liegt, wühlt er wie ein Schatzgräber. Dann kommt er lachend angetorkelt und bringt dem Gefangenen eine nasse, halbtote Maus. Er habe einen Beichtvater aufgegabelt, sagt er, falls der Maire noch beichten wolle.

Vielleicht hört der Bürgermeister gar nicht. Er schaut dem leisen Ziehen der Rauchschwaden zu, die unter den dunklen Ästen sich fangen und sich wie ein Schleier in die Bäume hängen.

Eine schwarze Gestalt faßt jetzt den Soldaten am Arm und nimmt ihm seine zuckende Beute ab.

Des Fahrenden flüsternde Stimme sagt: »Habe Dank, Freund! Du hast recht: auch einer Maus kann man beichten, wenn niemand sonst da ist. Aber nun geh! Ich bin jetzt gekommen, und zum Beichten muß man allein sein.«

Der Soldat reißt die Augen auf. Er ist zu betrunken, um mit sich ins klare zu kommen. Willenlos, schluckend und lachend läßt er sich abseits führen. Auf einen zerrissenen Sattel torkelt er 338 nieder. Behutsam setzt der Fahrende die zitternde Maus auf den zerwühlten Boden.

»Danke deinem Schöpfer,« murmelte er, »wenn du nicht mit Menschendingen beladen wirst.«

Dann richtet er sich auf und tritt zu dem Gebundenen.

Ist des Bürgermeisters Gesicht in Stunden so gealtert, oder zeichnet der verzerrende Fackelschein die scharfen Linien, die tiefen Schatten? Und ist es dieser Fackelschein, der auch des Fahrenden Züge verändert? Der sie überleuchtet, als liege nur noch Schmerz und Güte darauf? –

Leise sagt jetzt der Schwarze: »Verstand ich in der Apotheke recht, so rühmten Euer Liebden, daß Eure tote Mutter stets um Euch sei zum Dienst?«

In des Bürgermeisters Augen glänzt etwas auf, als blicke er in fernes Licht. »Was wollt Ihr?« fragt er kurz, doch ohne alle Schärfe.

»Ich will Euch sagen, daß ich um Eurer toten Mutter willen vor Euch stehe. Sie nahm auch mich in ihren Dienst für Euch – seit Jahren schon.« Langsam, fast zögernd sagt es der Schwarze.

Der Bürgermeister antwortet nicht. Die letzten Stunden haben ihn still gemacht und haben jedes Verwundern von ihm genommen.

Der Fahrende schaut ihm in die Augen. »Wißt 339 Ihr, wie mächtig sie sind, die von drüben? Ihr Sehnen wird unser Wille, ihr Wille unsere Tat. Sie sind die Hand und wir der Handschuh.«

Drüben in der Stadt lohen mächtige Flammen hoch empor und werfen roten Schein herüber. Die Gesichter der beiden Männer sind angestrahlt von der Glut und sehen fremd, fast überirdisch aus.

»Ihr kanntet meine Mutter?« fragte jetzt leise der Bürgermeister.

Über des anderen Züge geht ein Lächeln. Ein Lächeln, als hätte der Mann Törichtes gefragt.

»Ich lebte aus Eurer Mutter wie sie aus mir.«

Der Bürgermeister wehrt sich nicht gegen das auf ihn Eindringende. Er spürt plötzlich, daß er immer von einer großen, einzigartigen Liebe seiner jungen, frühverlorenen Mutter gewußt hat, von einer Liebe, bei der er nie an den fremdgebliebenen Vater denken konnte. Wie hellsichtig geworden gehen seine Gedanken, seine Augen in die Vergangenheit hinein. Er findet nichts, was diesen Fremdling Lügen strafen könnte. Nun er mit allen nebensächlichen Dingen des Lebens endgültig abgeschlossen hat, sieht er plötzlich große, einfache, klare Linien.

»Ihr glaubt mir?« fragt seltsam schlicht der Fahrende und wartet keine Antwort ab. Still fährt 340 er fort: »Seit Eure Mutter von mir ging, bin ich ein Armgewordener, ein Zurückgesunkener. Sie hatte mich emporgeglaubt, da lebte ich aus dem Vollen. Nun schaue ich nach Brocken aus, wo ich sie finde. Auch hohe Kraft erstirbt, wenn nicht ein echter Glaube ihr die Wurzeln feuchtet.«

»So liebte sie Euch?« murmelte der Bürgermeister, das »So« betonend.

Der Fahrende scheint das nicht zu hören. Mit einem seltsamen Lächeln fährt er fort: »Manchmal reicht jetzt noch ihre Glaubenskraft herüber und peitscht die meine auf. Sie will: Ihr sollt nicht durch die Ruten.«

Der Bürgermeister hebt einen Augenblick den Kopf. Etwas Beunruhigendes hat ihn gestreift. War's eine Hoffnung, war's ein Mißtrauen? Dann schaut er stumm auf die Kette, die an seinem Fuß glänzt.

Dunklen Tons sagt der Fahrende: »Mein bißchen Kunst, mein bißchen Kraft hab' ich umsonst vertan im Dienste Eurer Stadt. Doch aus den Ruten könnte ich Euch helfen.«

»Ich fürchte den Tod nicht,« entgegnet leise und unbehaglich der Bürgermeister.

»Nein,« sagt der Schwarze kopfschüttelnd, »den Tod fürchtet keine erwachte Seele; ich sprach nur 341 von der eklen Schmach der Ruten. – Um Eurer Mutter willen –,« setzt er mit kaum hörbarer Bitte hinzu.

Der Gefangene schaut auf, belebt, unruhig geworden. Es ist, als greife alles Abgetane noch einmal nach ihm. Nicht als ein Geschändeter sterben, als Opfer und Spott einer vertierten Rotte!

Kopf und Herz hatte er sich fruchtlos zermartert um einen Ausweg. Auf Gott und Menschen hatte er vergeblich gehofft und dann sich in sein furchtbares Schicksal ergeben.

Nun fühlt er sich aufs tiefste erschüttert und kommt doch nicht hinüber über einen letzten Widerstand gegen den fremden, seltsamen Helfer.

»Führe uns nicht in Versuchung!« zieht es ihm durch den aufgeschreckten bangen Sinn. Oder hat er es laut gesagt? –

Der Fahrende greift in den Mantel. Die Hand, die jetzt ein kleines Fläschchen hochhält, zittert.

Fast unhörbar sagt er: »Ein paar Tropfen, und Ihr seid erlöst von allem Übel. So heißt doch die nächste der Bitten? Aber Glauben – Glauben mußt du haben, Sohn der Regula Mussa!«

Dringend, wie heißes Mahnen oder Flehen, klingen die Worte. Bleich stehen die Männer voreinander. 342

Da wirbelt gellend eine Trommel unter den Fackeln.

Der Tod!

Der Bürgermeister greift nach dem Gebotenen.

Im Rauchgewoge unter den Erlen verschwindet ein schwarzer Mantel.

Der Soldat auf seinem zerrissenen Sattel taumelt aus Rausch und Schlaf empor.

Drüben über der Brücke stürzt die brennende Kapelle zusammen. Die Stadt liegt in Schutt und Asche. 343

 


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