Auguste Supper
Der Gaukler
Auguste Supper

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Viertes Kapitel

Ich freue mich, wenn du mit Geistern redest,
Daß du so menschlich sprichst und hör es gern.
        Goethe.

Der sterbende Tag strahlte noch einmal in feuriger Röte auf. Überall auf dem Markt standen Gruppen schwatzender Menschen. Eine scheue Unruhe lag über ihnen, ein bedrücktes Warten, ein untätiges, halb neugieriges Bangen, das manchmal fast zur Gleichgültigkeit abflaute, um dann desto höher zu dunkler Angst emporzulodern.

Die Stunde vor dem Wagen des Fahrenden war vergessen. Hinuntergesunken als etwas Gleichgültiges, angesichts des aufsteigenden Schicksals. Viel zu früh, als wolle es ein Loch in den noch regierenden Tag fressen, wurde an der Vogtei ein Licht hinter den Fenstern sichtbar. So aufreizend, ungewohnt, unheimlich sah das aus, daß viel fragende und erschrockene Augen hinaufstarrten.

Ein untersetzter, stämmiger Mann, der einen kleinen runden Hut in der Hand trug, kam den 98 steilen Vorstadtweg herunter und bog in den Markt ein. Das ungeflochtene, stark angegraute Haar umwallte den ausdrucksvollen, für die Gestalt fast zu mächtigen Kopf. Unter buschigen Brauen leuchteten kluge, jetzt erregte Augen; kurz und fest war der Schritt.

Es grüßten ihn viele. Er dankte wohl; aber so flüchtig, als sei er nicht bei der Sache. Jetzt erblickte er das vorzeitige Licht an der Vogtei. Wie angewurzelt blieb er stehen. »Aha,« sagte er laut, »Seine Gnaden reisen also ab! Wohl in der Nacht noch. Ich dachte es.« Er lachte laut auf. »Er wird drüben bei einer hohen Regierung neue Reskripte holen gegen die Halunken, die uns die Heimat schänden.«

Irgendwo rief eine Stimme: »Sie sollen sich das Muster und Konzept dafür bei den Schorndorfer Weibern holen.«

Der Barhäuptige drehte sich hastig um. »Wer hat das gesagt?«

Die Umstehenden drückten sich durcheinander. Niemand gab Antwort.

»So wahr ich der Kreisphysikus Bardili bin, es war ein gutes Wort!« rief der Untersetzte, »aber was hilft's, wenn sich keiner dazu bekennen will!« 99

Er verharrte noch ein wenig, wie zuwartend, und ging dann sichtlich ärgerlich weiter gegen das Rathaus.

Dort kam eben der Bürgermeister die Staffel herab. Müd und abgehetzt sah er aus. Älter als vor dem Kram des Fremden. Beim Anblick des Arztes belebte sich sein Gesicht. Er winkte ihm grüßend entgegen.

Der Doktor stülpte mit jähem Schwung seinen Hut auf. »Ist Schluß für heute? Genug verwaltet und geschrieben? So wollen auch wir zwei uns nun nach einem Mausloch umtun, uns zu verkriechen, wie alle rechten Leute dieser Stadt.«

Der Bürgermeister schritt neben dem Ergrimmten aus. Sie gingen an dem Brunnen vorbei, in dessen weitem Wasserbecken ein Widerschein der grellen, abendlichen Himmelsglut lag.

»Herr,« sagte der Physikus gedämpft und bissig, »laßt das Wasser mit einem Bettlaken zudecken! Der Vogt muß nachher hier vorüber und er kann nicht Blut noch Brand sehen.«

Der Bürgermeister blieb stehen und deutete nach einem nahen Wachhaus, an dem Zimmerleute arbeiteten. »Ich tu von mir aus, was ich kann, Doktor. Aber es ist eitel Schaumschlägerei, solang uns von droben – –« 100

»Von droben,« fiel heiß der andere ein, »denket bei droben nicht an die hundsföttischen herzoglichen Schreibstuben! Denket höher hinauf! Der droben kann nicht wollen, daß Lumperei auf Erden Trumpf bleibe.«

Sie gingen stumm weiter. Es wurde dunkler. Das lohende Stück Himmel verlor den Glanz. Abendgrau verhüllte es, ein Grau, das sich nur langsam und unmerklich klären mochte zu der strahlenden Gelassenheit einer sternhellen Herbstnacht.

In den Gassen, durch die die Männer schritten, waren nur wenig Menschen. Und diese wenigen hatten etwas Huschendes. Einer in einem Schäfermantel kreuzte den Weg.

»Habt Ihr Nachrichten?« fragte der Physikus.

Der Bürgermeister seufzte. »Die Boten sind wohl zurück, aber ich weiß soviel wie zuvor. Die Verscheuchten brachten nur das mit, was sie schon hinausnahmen. Vor Angst sahen sie nichts und bildeten sich dann ein, sie hätten Schreckliches gesehen. Nach Brand rieche es allerorten, sagen sie.«

Der Kleine lachte. »Sie werden die Feigheit gerochen haben, die über alle Berge stinkt. Man kann's den Kerlen nicht verdenken, wenn von oben her das Beispiel gegeben wird. Was steht in dem neuen Reskript?« 101

»Es ist kein neues. Vier Jahre ist es schon alt und ohne Änderung aufs neue hinausgegeben.«

»Schamlos, schamlos!« knirschte der Arzt unterbrechend.

»Ja. Das fremde Kriegsvolk ist also überall passieren zu lassen. Es soll kein Widersetzen geben. In allen Forderungen seien sie zufriedenzustellen und man möge sich befleißigen, sie nicht zu erzürnen, sondern in der Güte, der Forderungen halber, auf das Beste akkordieren.«

Der Physikus blieb stehen. Es war, als müsse er nach Luft schnappen. »Pech und Schwefel,« stieß er dann rauh hervor, »so hündisch ist ja kein Hund. Und das nach vier Jahren des Sengens und Brennens!« Er stampfte auf den Boden. »Mich kann nur noch freuen, daß ich dem Kerl, dem Kurier, ein Loch in seinen Wisch gebrannt habe.«

»Das tatet Ihr?« fragte verhalten, fast bang, nach einiger Zeit der Bürgermeister.

»Ich, ja, ich! Und ich glaube, der Herrgott selber hat mich's geheißen; damit die Räuberbande doch merkt, daß wenigstens noch ein einziger Mann da ist.«

Nach langem Schweigen sagte der Bürgermeister schwer: »Oft meint man, den Herrgott zu hören, und dann war's eine andere Stimme.« 102

Der Physikus schaute von der Seite zu ihm auf. »Also Ihr auch? – Hat nicht der Zorn in Euch gekocht, als Ihr laset, daß die Gauner sechstausend Gulden Lösegeld wollen von einer friedlichen Stadt, die ihre Gulden mit redlicher Arbeit verdient? Von was sollen wir uns denn lösen, ihr fremden Schufte? Sind wir euch vielleicht schon ausgeliefert? Die Tore zu und die Männer unter Waffen; dann wird man sehen, wie hier gelöst wird.«

Er sprach so laut, fast schreiend, daß der Bürgermeister den Kopf drehte. Aber nur einer im Schäfermantel trat in eine Haustür.

»Glaubet Ihr, daß es klug ist, zu reizen, wo man wehrlos und machtlos ist?« fragte er den Erbosten.

»Klug,« fuhr der Arzt auf, »klug sind die Advokaten, die Vögte und Obervögte. Wer ein Mannesherz in der Brust hat, spuckt jetzt auf Klugheit.«

Sie gingen weiter und achteten des Weges nicht. »Wann ritt eigentlich der Kurier ab?« fragte nachsinnend der Bürgermeister.

Der andere lachte. »Eure Frage soll heißen: wann können sie da sein? Ihr braucht Euch keinen Zwang anzutun.« 103

Der Bürgermeister blickte sich um. »Wohin gehen wir? Es ist Zeit für die Apotheke.«

Stumm, fast verstimmt, schritten sie eine steile Gasse empor und standen bald vor einem großen Haus am Markt, dessen stattlicher Umriß kaum noch aus dem Dunkel trat.

Ohne den Klopfer zu heben, öffnete der Arzt mit kundigem Griff die schwere Türe, und sie traten ein.

Eine schöne geschmiedete Ampel erhellte den tiefen Flur und die eichene Treppe, die zum oberen Stockwerk führte. In ihrem Licht erglänzte das schwere Holzgeländer wie blanke Bronze und eine Anzahl schmaler Türen trat aus der weißgetünchten Flurwand. Irgendwo ertönte das leise Klöpfeln des Stößers in einem metallenen Mörser, und der starke, aromatische Geruch trockener Kräuter und duftender Öle füllte das Haus.

Der Doktor zog die Luft durch die Nase. »Nektar und Ambrosia,« sagte er, und obgleich er sie dämpfte, hallte seine Stimme wie fernes Gemurmel in dem Flur, »auch im Himmel kann's nicht besser riechen.«

»Ihr riechet Jugendzeit,« meinte, schon auf der Treppe, der Bürgermeister, »sagtet Ihr nicht, daß Ihr ein Apothekerssohn seiet?« 104

Der Doktor stieg hinter ihm empor. »Wo kein Leugnen hilft, soll man gestehen,« sagte er leise lachend, »aber es hat allezeit auch recht vernünftige, um nicht zu sagen: ganz gescheite Apotheker gegeben.«

»Wenn ich das jemals bestritten hätte,« gab der Bürgermeister ebenfalls lachend zurück, »so wäre ich hier im rechten Haus, um umzulernen.«

Im ersten Stockwerk pochte der Doktor leise an eine der dunklen Türen. Unhörbar tat sie sich auf und schloß sich wieder hinter den beiden.

Das Gemach, in dem sie standen, war nieder und weit. Eine schwere, geschnitzte Balkendecke wuchtete darüber. Die Wände waren hell, mit vielen, jetzt verhängten Fenstern. Zwei Ampeln brannten auf einem langen Tisch. Ihre Schäfte waren bronzene Lilienstengel, aus deren Blüten die Lichter brachen. Eine kostbare Decke aus flandrischem Leinen, kreuz und quer bestickt, lag auf dem Tisch; ihre Enden hingen bis auf den Boden.

Hinter dem Tisch lief eine dunkle Holzbank an der Wand hin. Die hohe Rückenlehne war durch geschnitzte Larven in Felder geteilt. Es sah fast aus wie das Chorgestühl einer Kirche.

Zwei Männer saßen dort. Der eine blickte den Ankommenden entgegen. Er hatte eine große blanke 105 Glatze und ein kluges, aber müdes Gesicht, das ein dünner Knebelbart fast allzusehr in die Länge zog. Der andere schaute nicht von dem Buch auf, in das er vertieft war. Die kleine, weiße Rundperücke, die er trug, saß ein wenig schief und stach seltsam ab von dem frischen, wenn auch nicht jungen Gesicht.

Jetzt schob er, wie erwachend, das Buch zurück und blickte auf. Seine lebendigen Augen schienen aus der Ferne zu kommen. Mit raschem Griff nahm er die Perücke ab und steckte sie in die Tasche. Sein eigenes Haar war kaum minder weiß als das erborgte, aber reich und voll. »Verzeihung,« rief er mit leisem Lachen, »ich vergaß wieder einmal die Satzung, wonach man hier keine Hüllen tragen soll.«

Der Apotheker Jakobäus, der noch mit den Zuletztgekommenen an der Türe stand, wandte sich rasch um. »Fürs Inwendige ist das gemeint, Magister, nur fürs Inwendige.«

Man wußte nicht, ob es Ernst oder Scherz war, als der Weißhaarige entgegnete: »Denen auf dem hermetischen Weg darf es kein Inwendiges und kein Auswendiges geben. Wer sagt mir den Unterschied zwischen einer kleinen Rundperücke und einer kleinen Lüge?«

Sie lachten alle; der mit der Glatze rückte auf 106 der Bank, als wolle er den Neuangekommenen Platz machen.

Aber der Kreisphysikus zog zwei Stühle unter dem Tisch hervor. Sein Hütlein warf er achtlos in eine Ecke.

»Verzeiht, ihr Herren,« sagte er, »aber heut muß ich die Ellbogen frei haben.«

»Ja,« meinte der Magister, »wo man Wahrheit sucht, kann nicht alles in einer Linie verlaufen. Da muß jede Stellung ihr Gegenüber und jeder Satz seinen Gegensatz haben.«

»Gewiß,« entgegnete der Doktor trocken, »und zuletzt gibt's ein Übereinkommen, wenn's gut geht.«

Der Apotheker nahm seinen Platz an der Schmalseite des Tisches ein. Er zog das Buch, in dem der Magister gelesen hatte, zu sich her. Mit mißbilligendem Kopfschütteln meinte er zu dem Arzt: »Bardili, Ihr seid immer ein Voreingenommener. So kommt man nicht weit.«

Der kleine Doktor fuhr sich mit allen Fingern durchs lange Haar, sagte aber nichts.

Jakobäus schlug das Buch auf. »Aha,« rief er, »gleich ein Wort für Euch, mein Lieber! Da heißt es: Wie eines unbeweglichen Wassers Spiegel sei deine Seele, so du Erkenntnis begehrst.« 107

Der Physikus lachte auf. »Steht nicht auch drin, wie man in so gottsjämmerlicher Zeit die Seele ruhig und unbewegt wie eines Wassers Spiegel erhalten kann? Wenn die Winde aus allen Ecken drüber fahren, dürfte es ein Kunststück sein. Ich meine, wir sollten uns jetzt im Scharfschießen üben, dann würde uns alle Erkenntnis bald zufallen.«

Der Apotheker schaute sich um, als suche er Hilfe. Der Magister sagte mit halbem Lächeln: »Man mochte Euch recht geben, Doktor Bardili, wenn man nicht wüßte, daß man von dem, was wir hier erstreben, nicht untüchtig wird für die Dinge des Tages.«

»Gut, gut,« winkte der Arzt ab, »ein anständiger Umweg ist ja auch ein Weg. Ich werde doch mit einem Magister nicht streiten wollen.«

Der Hauswirt hob beschwichtigend die Hand. Sein bewegliches Gesicht zuckte. Man sah ihm die schwere Besorgnis an, der heißblütige Doktor mochte, wie schon öfter, die Harmonie des Abends stören. Ablenkend hob er sein Buch, da klopfte es an die Türe.

Die Männer schauten sich befremdet an. Es fehlte niemand im Kreis. In die wässerigen Augen des Apothekers kam ein erwartungsvolles Blinken, als er zum Eintritt rief. 108

Der Fahrende trat über die Schwelle.

Er sah prüfend und gleichmütig über die Versammelten hin und schien ihre verwunderten Blicke nicht zu beachten. Wie zum Gruß griff er an sein Barett, nahm es aber nicht ab und schritt ohne weiteres zum Ofen hinüber, sich an die kühlen Kacheln lehnend, als sei dort der ihm angewiesene oder gebührende Platz.

»Wo bringt Ihr den wieder her?« fragte, leise sein wollend, aber doch hörbar, der heißblütige Doktor.

Der Hauswirt wollte erklären, aber schon klang's vom Ofen herüber: »Jean Jacque Sansasyl, Doktor von Padua. Man hat mich herbestellt.«

»Herbestellt –« berichtigte eifrig der Apotheker –»sagt nicht: herbestellt! Ich bat Euch nur, ich lud Euch ein! Wir sind hier Suchende, Lernende, und ich halte Euch für einen der Wissenden, wie ich manchen fand.«

Das dunkle Gesicht des Fahrenden hob sich. »Ah! Ihr fandet Wissende? – Sagt mir: was wußten Sie?«

Der Physikus lachte auf. »Bündig! So lob ich mir's.«

Der Bürgermeister blickte den Fremdling an: »Seid Ihr nicht der – –« 109

»Gewiß bin ich der,« unterbrach ihn mit leisem Lächeln der Gefragte.

Der seither schweigsame Kahlkopf auf der Bank schaute prüfenden Blicks nach dem Ofen. Aus seinem schmalen Gesicht, das durch den angegrauten Bart etwas Fahles hatte, leuchteten die Augen klug und still.

»Hieltet Ihr nicht vor der Krone Latwergen feil?« fragte er auf eine etwas umständliche Art, als wolle er von weither auf sein eigentliches Thema kommen.

»Gewiß hielt ich Latwergen feil,« entgegnete mit leiser Ungeduld der Fremde, »so, wie Ihr zu Zurzach auf der Messe schwarzes Tuch feilhieltet, das Euch ein dicker Pfaffe schlecht machen wollte, um den Preis zu drücken.«

Der versonnene, fast grübelnde Ausdruck in des Kahlköpfigen Gesicht wich tiefem Erstaunen. Er setzte zum Sprechen an, aber der Doktor rief ungeduldig: »Man kennt sich also. Was hindert uns dann, in medias res zu gehen!« –

Der Magister, dessen ruhiger Blick seither nicht von dem dunklen Antlitz des Fahrenden gewichen war, fragte seltsam kurz: »Doktor von Padua, sagtet Ihr?«

Die Augen der zwei Männer begegneten sich. 110 »Von Padua,« antwortete dann der Fremdling abweisend.

»Die Fakultät?«

Der Schwarze lächelte fast unmerklich. »Versiert in omni scibili, Euer Gnaden zu dienen.«

Unruhig fingerte der Hausherr am Docht des Lichtes. Er witterte etwas, das seine Sitzung zu stören drohte und wußte nicht, wie er vorbeugen sollte.

Der Magister schrieb auf dem Tisch; sein Blick folgte dem Spiel seiner Finger. Halblaut sagte er: »Einen Fronsekki kannte ich, der war aber Doktor von Bologna –«

»Ja, ja,« entgegnete mit kurzem Lachen der Fremde, »dort machen sie mehr Doktoren als Bäume im Wald stehen.«

Jetzt kam Stundenschlag vom nahen Turm. Hastig stand der Apotheker auf und trat hinter seinen Stuhl. Man spürte, wie ihm der gewohnte Brauch eben recht kam, um das Unbehagliche zu scheuchen. In einer eindringlich feierlichen Weise, die fast etwas Beschwörendes hatte, sprach er: »Unser Anfang geschehe im Namen und zur Ehre des Allweisen!«

Er setzte sich wieder und blätterte. »Von des Gregor Thaumaturg Leben und Taten handelten 111 wir das letztemal. Es ward uns augenscheinlich, daß der Mann mit Kräften schalten und walten konnte, die sonst den Menschen nicht vermeint sind.«

Halblaut fragte der Schwarze in die Pause hinein: »Wußte einer unter jenen Wissenden, die Ihr kennt, was an Kräften dem Menschen vermeint und was ihm verschlossen ist?«

Der Apotheker hob verwundert und unsicher den Blick. Alle schauten nach dem Ofen, doch kam lang keine Antwort. Dann sagte der Magister langsam: »Jener Fronsekki, dessen Namen ich vorhin nannte –«

»Ah, nun weiß ich, wen Ihr meint,« rief der Schwarze. »Mir wurde gesagt, er sei längst gestorben.«

Der Apotheker strich immerzu über sein Buch. Eifrig, ja erregt klang seine Stimme. »Das ist doch keine Frage, daß dem Menschen Grenzen gesteckt sind. Aber etliche Große brachten sie immer wieder hinter sich.«

»Gewiß,« sagte der Fremde lächelnd. »Wußten jene Wissenden, wie sie das machten?«

»Wisset denn Ihr es?« rief hörbar ungeduldig der Physikus.

Der Fahrende wandte sich zu ihm. Mit 112 seltsamer Höflichkeit, hinter der es wie ferner Spott aufklang, sagte er: »Ich bitte Euer Liebden, mich nicht zu den Wissenden zu rechnen. Wo sie die Antwort bereit haben, dämmert mir meist erst die Frage auf.«

»Ja, was habt Ihr denn in diesen Kreis zu bringen?« fragte der Heißblütige barsch.

»Ich wüßte nicht, daß ich etwas versprochen hätte,« klang kühl, ja hochmütig die Antwort, »ich hoffte, hier zu lernen, nicht zu lehren.«

In die entstandene Schwüle hinein sagte der Bürgermeister mit seiner ruhigen Stimme: »Es könnte sich ja auch so verhalten, daß ein Mensch, wie der Gregor Thaumaturg, die besagten wunderbaren Kräfte nicht im strengen Sinne besitzt, sondern daß er nur wie ein Werkzeug von ihnen benützt wird. Er könnte einer Brunnenröhre gleichen, die das Wasser nur leitet, ohne die Tiefe zu kennen, aus der es aufsteigt.«

Mit merkwürdigem Lächeln sagte der Fahrende: »Ich sehe, Ihr macht feine Unterschiede! Das tut Ihr wohl, um zu zeigen, daß man von keinem verlangen kann, daß er an einem Totenschädel das Leben sehe, das einst dahinterstand, oder auch –« er wandte sich leicht gegen den Apotheker – »an einem Extrakt die Kräuter, daraus er gezogen ist.« 113

»Verlangt Er das?« rief angreifend der Arzt.

In dem kalten Ton, den er dem Jähen gegenüber annahm, entgegnete der Schwarze: »Von mir verlange ich. Die anderen beobachte ich. Das erachte ich als die beste Praxis, um zu lernen, wenn sie auch unbeliebt ist und selten.«

Er wandte sich an den Magister: »Euer Liebden sprachen von dem Doktor Fronsekki. Wie hielt wohl er es?«

Der Gefragte stützte den Kopf in die Hand, als sinne er nach.

»Ich verlor ihn bald aus den Augen,« sagte er dann ausweichend.

»Schade,« kam es trocken aus dem Mund des Fremden.

Der Bürgermeister mischte sich wieder ein. »Ihr glaubt also, daß man sich die Kräfte, von denen hier die Rede ist, erringen könnte – –«

»Erringen sollte,« fiel kurz berichtigend der Schwarze ein und schwieg wieder.

Aus dem Physikus brach es: »Larifari! Wenn doch nicht einmal die Kräfte zu wecken sind, die den Schänder der Heimat an der Gurgel nehmen –«

»Bardili,« rief flehend der Hausherr.

»Er hat ganz recht,« entschied gelassen der Fremde, »er berührt den Punkt, auf den es 114 ankommt. So einer im Kleinen nicht treu ist, wie kann man ihm das Größere vertrauen?« –

Es legte sich ein Schweigen über den Kreis, fast so, als sei etwas Peinliches, etwas Taktloses gesagt worden. Der Bürgermeister, wie um abzulenken, begann wieder: »Aber wie wäre das zu denken: wir sind eingehegt von Gesetzen, und da meint Ihr – –« er stockte, als suche er das rechte Wort.

»Sollte ich vielleicht meinen, es sei einer der menschlichen Irrtümer, von Gesetzen zu reden, wo in Wahrheit die Welt nur voll ist von Möglichkeiten?« entgegnete wie nachsinnend der Fremdling.

»Oho,« rief der Arzt, »Er nimmt das Maul voll! Ist Er noch nie zum Exempel auf ein Naturgesetz gestoßen, das sich um unsereinen den Teufel schert?«

»In der Tat,« entgegnete der Schwarze kühl, »ich stieß noch nie auf dergleichen, doch höre ich allerorten davon reden, so daß ich denken muß, es sei die wohlfeilste Ansicht.«

»Faselhans,« murrte halblaut der Doktor.

»Ich nenne mich selbst gerne so,« entgegnete nickend der Fremdling.

Man hörte das Klöpfeln der Mörser von unten heraufklingen. Der Apotheker schaute den 115 Fahrenden an, als wolle er um Frieden bitten. »Horcht, ihr Herren,« sagte er gewollt leichten Tones, »in diesem Hause darf man nicht die Gesetze der Natur leugnen. Wir bauen unsere ganze Kunst auf ihnen auf.«

Der Schwarze lachte. »Verzeiht, ich vergaß! Erst wenn auf die Brechnuß nicht mehr das Vomieren und auf den Tee von Lindenblüte nicht mehr das Schwitzen folgt, erst dann darf man Reden führen wie ich und der, dem ich sie nachsprach.«

»Ehrlich ist Er,« sagte halb anerkennend, halb spottend der Arzt, »seinesgleichen tut sonst gern, als sei alles ureigene Weisheit.«

Der Fahrende zuckte die Achseln. »Sie bringen sich durch, so gut sie können. Ich gestehe gern, daß ich ein schwacher und armer Nachtreter bin.«

Der Physikus trommelte ungeduldig auf dem Tisch. »Ja, ja, Es hat zu allen Zeiten solche gegeben, die um der eigenen Fündlein willen das Unterste zu oberst kehrten.«

Lächelnd nickte der Schwarze. »Haben die Herren davon gehört, daß einer sagte: Wenn ihr Glauben hättet als ein Senfkorn, ihr würdet sagen zu diesem Berge: Hebe dich auf und wirf dich ins Meer, und es würde also geschehen.«

Wieder entstand die peinliche Stille, die schon 116 einmal aufgekommen war. Wie Hohn klang das leise Klöpfeln von unten.

Des Schwarzen gleichmütige Stimme fuhr jetzt fort: »Gesetze der Natur, die sich sonst den Teufel scheren um unsereinen, weggefegt von einem Senfkorn Glauben. Kein übles Fündlein!«

Der Physikus reckte sich auf. Alle hoben die Köpfe. Ein Murmeln, ein Durcheinanderreden brandete auf.

Der Schwarze hob die Stimme. »Ich vergaß, man wollte Gauklerweisheit von mir. Ich trage die in einem anderen Sack und ließ sie vor der Türe.«

»Lasset uns zu unserer Sache kommen!« bettelte fast angstvoll der Apotheker.

Der Fahrende sah ihn mit dunklem Blick an. »Ich bin's, der hier allein zu eurer Sache redet.«

»Man sprach hier nicht von Gottes Sohn,« rief ungestüm der Physikus.

»Sondern? –« fragte kurz und rasch der Fremdling.

Der Apotheker hob sein Buch. Die Stimme schnappte ihm fast über. »Wir kommen nun also an das siebente Kapitel – –«

Vom Markt herauf erscholl Wagenrollen und dumpfer Lärm. 117

Der Arzt sprang vom Stuhl. »Jetzt fährt er weg, der Hundsfott.«

»Bardili, wir sind am Gregor Thaumaturg,« flehte der Hausherr.

»Und ich bin am Vogt,« schrie der Erregte, »ein tapferer Mann wäre jetzt der echte Wundertäter.«

Der Fremdling lachte. »Vielleicht geht es Euer Liebden vor der Schwachmütigkeit des Unglaubens auf, welche Kraft der Glaube haben könnte.«

Der Hitzige wehrte ab. »Musketen und Männerfäuste, sage ich.«

»Vom Schauen in die Zukunft heißt es hier,« fing der Apotheker verzweifelt wieder an.

»Auch das könnten wir zur Zeit gebrauchen,« unterbrach ihn grimmig lachend der Arzt.

»Einen Doktor Fronsekki zum Exempel,« warf der Magister hin und schaute nach dem Ofen.

»Oder einen Giacomo Nemi, wie in Zurzach auf der Messe,« sagte leise und mit vorsichtigem Tasten der Kahlköpfige.

»Heißen könnte er wie er wollte,« meinte der Physikus, »wenn er nur ein ehrlicher Mann wäre und kein Scheunenpurzler.«

Der Fahrende lachte jetzt so, daß man seine weißen Zähne sah. Dann sagte er: »Der Glaube, der Glaube! Man hält hier nichts vom Glauben. 118 Ein Erzengel könnte keine Wahrheit reden, wenn er nirgends Glauben fände.«

»Das wäre noch schöner,« brauste der Kleine auf, »wenn die Wahrheit nicht auf eigenen Füßen stünde.«

Der Fremdling rückte an seinem Barett. Es war eine Bewegung, als wolle er etwas in sich niederzwingen. Gelassen sagte er dann: »Es wäre der Stadt Bestes, wenn dem Feind freier Durchzug gewährt und keinerlei Widersetzlichkeit begangen würde.«

»Soll das prophezeit sein?« rief spöttisch der Arzt. Und als ihm keine Antwort wurde: »Dazu braucht's des Sehers nicht. Das sagt eine hohe Regierung, und die treibt kein Geist, es sei denn der der Feigheit.«

»Bardili!« warnte der Hausherr.

Der Physikus ging hin und her. Man sah, wie es in ihm arbeitete. Der Apotheker fing laut zu lesen an: »Das siebente Kapitel. Wie es um das Wissen von fernen Dingen beschaffen sei. Ob etwa die Seele ausgehe, gesondert vom Leibe, oder ob leiblose Geister ihr das Wissen herzutragen? Ob es Geister der Abgeschiedenen seien, oder elementarische Geister, oder Engel.« Der Lesende schaute auf. »Wollet Ihr Euch nicht wieder setzen, Bardili?« 119

Der lachte. »Meinet Ihr, mir müsse schwach geworden sein?«

Der Magister sagte gegen den Ofen hin: »Jener Fronsekki meinte, daß des Menschen Seele auch im Leib ein Teil der Allseele bleibe und wohl weithin, aber doch nicht völlig, abgeschnürt sei vom Allwissen.«

Der Kahlkopf besah seine magere Hand. Leise klang's: »Giacomo Nemi sagte damals zu Zurzach, daß er von Engeln bedient sei.«

»Den plagte doch nicht die große Bescheidenheit,« meinte trocken der Physikus.

»Wer weiß,« kam es vom Ofen her;»es spielt sich mancher nur deshalb als Protz auf, weil er vor seinem eigenen Reichtum erzittert.«

Jetzt hob der Bürgermeister den Kopf. »Hier darf ich es, nein, hier muß ich es sagen: mir ist's eine Gewißheit, daß die, die wir die Toten nennen, unsere Seelen tausendfach bedienen.«

»Wie eine Mutter,« fiel der Fremde mit stiller Stimme ein.

»Ja, wie eine Mutter,« bestätigte, ihm in die Augen blickend, der Bürgermeister.

»Ist die Eure lange tot?« klang leise des Fremdlings Frage.

»Lange. Aber das ändert nichts.« 120

»Ihr sagt's. Im Zeitlosen sind's nicht die Jahre, die etwas ändern.«

Über sein Buch her fragte der Apotheker den Bürgermeister: »Wollet Ihr uns nicht mehr sagen?«

Der schüttelte den Kopf. »Hier tötet das Wort und der Buchstabe. Es sind Dinge, zart wie ein Hauch.«

»Also stark, wie das Göttliche,« ergänzte leise der Schwarze.

Der Physikus war ans Fenster getreten und hob den Vorhang ein wenig. Dann ließ er ihn wieder fallen und sagte ungeduldig: »Die Zeit vergeht, die Zeit vergeht.«

Der Kahlköpfige schaute ihn unwillig an. Halb strafend, halb beschwichtigend sagte er: »Es stehen doch Kreistruppen bereit! Auch soll ein Landsturm aufgeboten werden.«

Der Arzt ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen. Dem Fahrenden rief er zu: »Hier habt Ihr ihn nun, den Glauben, der Berge versetzt! Weiter kann man ihn nicht mehr treiben, als daß man glaubt, es seien auf der Gotteswelt Truppen zu unserem Schutze übrig. Man braucht die Landeskinder gegen Türken, Heiden und Polacken, aber nicht für die Heimat.« 121

»Freien Durchzug, das ist mein Rat!« gab der Schwarze gelassen zur Antwort.

Wie geohrfeigt erhob sich der Doktor. »Sein Rat? Wer hat Ihn um Rat gebeten? Wie kann ein Heimatloser in solcher Sache Rat geben!«

Man spürte, wie er sich in tiefe Erregung hineinredete. Hart stieß er hervor: »Ein Heimatloser ist fast wie ein Ehrloser.«

Eine Weile blieb es ganz still. Die Männer sahen vor sich nieder. Dann kam es in einer seltsamen Gemessenheit aus des Fremdlings Mund: »Ihr sagtet: fast. Es ist gut, daß Ihr dies kleine Wort nicht verschlucktet. Der Chymist weiß, was ein Kleinstes bedeutet. War es nicht Euer Liebden, der nach einem verlangte, der in die Zukunft sieht?«

»Wäret Ihr das?« rief unbesänftigt und spottend der Kleine.

Der Schwarze lachte. »Für gewöhnlich fresse ich nur Feuer und ziehe den Leuten vollwichtige Gulden aus leeren Taschen. Gauklerstücke, Ihr kennt sie ja. Aber wenn man mich irgendwo für einen Wahrsager hält, kann ich auch die Wahrheit sagen.«

»Ihr seid hier Gast und macht Euch über uns lustig,« knurrte der Doktor.

»Dafür gebt Ihr recht seltsame Gastgeschenke.« 122

»So sind wir quitt und haben nichts mehr miteinander zu schaffen,« brach es aus dem Hitzigen.

Der Fremdling schob seine Hände in die Ärmel, verbeugte sich und ging langsam zur Türe.

Stumm lauschten die Zurückbleibenden seinen verhallenden Tritten nach.

Der Apotheker schlug unwillig sein Buch zu. »Bardili, du weißt nie Maß zu halten. Mit seinesgleichen darf man so nicht umgehen. Sie sind empfindlich wie die Schnecken. Rührt man nur einen Fühler an –«

»So wird man schon schleimig,« fiel erbittert der Physikus ein.

Dann wandte er sich an den Bürgermeister. »Kommt Ihr mit?«

Der Apotheker versuchte seinen Abend zu retten. Er schlug auf das Buch, wollte anfangen zu lesen. Aber er drang nicht durch. Die weite Stube wurde leer.

Da blies der greise Hausherr eine der schönen Ampeln aus und setzte sich mit der anderen zum Lesen zurecht. Aber manchmal hob er den Kopf und war sichtlich nicht bei den Wundern des frommen Gregor. 123

 


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