Auguste Supper
Der Gaukler
Auguste Supper

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Zehntes Kapitel

Ein Gaukelspiel ist auf dieses Lebens Gassen,
Nie macht's mich froh und niemals kann ich's lassen.
So reiht sich langsam Jahr an müdes Jahr.
Nichts ist mir fremd und, ach! nichts offenbar.
        A. S.

Es ging gegen Mittag, als der Fahrende ans offene Tor des windigen Hofes kam. Das Nebelgeriesel, das ihm Hut und Mantel überperlt hatte, war vom Wind verjagt; doch blieb der Himmel grau und nieder.

Die jungen Katzen schlüpften am Tor aus und ein und rieben sich zutraulich an des Mannes nassen Schuhen.

Er bückte sich und streichelte die Tierchen. Leise sagte er: »Ich danke euch! Ein guter Willkomm nimmt schnell das Gift aus müden Füßen.«

Vom Hof heraus rief eine grobe Stimme: »Was ist da los?«

Zu den Katzen hingewendet, sagte der Schwarze ohne umzusehen: »Also der saubere Bruder Schäfer im Soldatenkittel ist schon da?«

Er trat an den Gartenzaun, wo aus 268 verwildertem Beet ein Rosmarinstock zwischen den Latten hindurchwuchs. Er brach ein Zweiglein, beroch es und steckte es an den Schäfermantel.

Dann betrat er den Hof und blieb jäh stehen. Der Soldat hatte Prometheus aus dem Stall gezogen und war daran, ihn zu satteln.

Dunkel vor Zorn wurde der Blick des Kommenden. Aber er zwang den Ausbruch hinunter. Beherrscht sagte er: »Willst du zum zweitenmal zum Gaulsdieb werden?«

Der andere wandte sich um. Sein Soldatenkittel lag am Boden, das schmutzige Hemd stand über der Brust offen, aus großen Löchern schauten die knochigen Schultern. Das derbe Gesicht sah gesünder, aber auch gemeiner aus als in der Nacht, eine üble Hinterhältigkeit lag darauf, die zur Frechheit wurde beim Anblick des Fahrenden.

»Halt dein Maul,« sagte er laut und grob; »du hast ja auch einen gestohlenen Mantel an.«

Der Fahrende ließ den Schäfermantel von der Schulter gleiten und warf ihn mit dem Hut dem anderen zu. »Da irrst du; ich trug ihn nur, um ihn dir wieder ehrlich zu machen.« Er trat zu dem aufwiehernden Gaul und streichelte ihn. »Tu deine Hände weg, so schnell du kannst!« herrschte er den Soldaten an. 269

Der trat zurück, als stoße ihn einer weg.

Der andere lachte. »Siehst du – –«

Der Soldat fuhr auf und machte eine gemeine Gebärde. »Du kannst mich – –«

»Ich kann dich hetzen, daß dir die Zunge aus dem Halse hängt,« sagte ruhig der Schwarze. »Hast du den Gaul verscharrt?«

Trotzig schwieg der Soldat.

Der andere lachte. »Heute nacht warst du gesprächiger. Glaube ja nicht, daß es aus dir nur redet, wenn du den Mund auftust. Mir stehst du Antwort, auch wenn du schweigst.«

Der Soldat schaute ohne Verständnis und griff wieder nach dem Sattelgurt.

Da schob ihm der Fahrende die Hand weg. »Du sollst dein Mädchen suchen gehen! Dazu braucht's keinen Gaul. Wenn du auf den Knien zu ihr rutschtest, wär's das beste.«

Jetzt trat der Pächter aus dem Stall. Über sein stumpfes Gesicht lief Unruhe, als er des Fremdlings ansichtig wurde. Scheu wollte er zurückweichen. Dann stammelte er: »Das war eine böse Nacht.«

Erregt, kurz fragte der Fahrende: »Was ist mit dem Affen?«

»Geschossen hat es – – ein Schuß –« 270

Der Schwarze trat dem Unbeholfenen näher. Seine Augen flammten auf. »Was ist mit dem Affen?«

Der Pächter, als fürchte er, geschlagen zu werden, hob den Arm übers Gesicht. »Den Hund wollte ich losmachen; einen Augenblick nur war die Stalltür offen – er ist fort.«

Aus dem Mund des Fahrenden kam ein kurzer, stöhnender Laut. Er lehnte sich schwer an den Gaul.

Plötzlich klang Kinderweinen aus dem Haus, ein kräftiges Schreien nach der Mutter Brust.

Da reckte sich der Schwarze auf und führte den Gaul in den Stall.

»Um welche Stunde war's?« fragte er ruhig den Pächter, als er wieder heraustrat.

Der atmete entspannt. »Ich schätze, nach der Mitternacht; doch weiß ich's nicht gewiß.«

»Kümmere dich selber um dein Viehzeug,« warf grob der Soldat hin und nahm den Mantel vom Boden auf. Das Rosmarinzweiglein fiel dabei auf die Erde, und er zertrat es im Schmutz.

Der Fahrende deutete darauf hin. »Du denkst ja wohl, wenn deines Mädchens Kranz zertreten sei, brauch's deinem Strauß nicht besser zu gehen?«

Dann wandte er sich an den Pächter. »Mach, daß dein Bruder in der nächsten Zeit vom Hof 271 kommt! Seinesgleichen zieht den Blitz an, wenn ein Wetter am Himmel steht.«

Er schritt gegen die Haustüre und wandte sich noch einmal um: »Wer ist bei der Wöchnerin?«

»Ihr Vater hat eine hergeschickt,« antwortete kleinlaut der Pächter.

Der Fahrende unterdrückte ein Lächeln. »Wann kam sie?«

»Vor einer Stunde schätze ich.«

»Kennst du sie?«

»Sie wird schon recht sein, wenn sie der Mesner schickt.«

»Du kennst sie also nicht?«

Der ungeschlachte Mann drehte den Kopf wie in Hilflosigkeit. Die Zunge konnte oder wollte dem nicht folgen, was in ihm vorging. Nach dem Lindenbaum sandte er einen Blick, von dem die Blätter leise zur Erde rieselten. Er sah in der Erinnerung ein kleines, liebreizendes Dirnlein unter dem Baum stehen, und auf der Bank saß ein junges Weib, das dicht vor ihrer schweren Stunde stand. Er selbst aber, der Pächter, war auch dabei, und er sagte zu dem Kind, das aus der Stadt heraufgekommen und das Töchterlein des Zeugmachers Kleinmann war: »Esther, nun werden wir auch bald ein Mägdlein haben, wie du eines bist.« 272

Darauf das Weib, sein Weib: »Ja oder ein Büblein.«

Da nahm der kleine Gast den Blütenkranz, den sie sich auf der Wiese geflochten, aus dem lockigen Haar und reichte ihn dem Weib. »Gib ihm dies.« Wie betäubt von dem fernen Bild stand der derbe Mensch und wußte nichts zu sagen. Auch daß er das frühverwaiste Mädchen dann noch ein paarmal gesehen hatte, schien ihm nicht hinreichend, um des Fremden Frage herzhaft zu bejahen.

Der Schwarze nickte dem Verstummten zu. »Du kennst sie! Sie ist eine, die ihr Kränzlein den Todgeweihten reicht.«

Er trat ins Haus und sagte noch zurück: »Sorge, daß in den nächsten Tagen kein Rauch aus dem Dach steigt. Du weißt: wenn die Jagd übers Feld geht, verrät der Hase sein Lager nicht.«

Die steile Treppe herunter kam pfeifend der Scherenschleifer. Er trug eine Wanne mit Wäschestücken. Verjüngt und verschönt sah er aus.

Der Fahrende trat zur Seite, ihn vorbeizulassen. Fast ehrfürchtig grüßte der Lange und blieb stehen.

»Ihr habt Windeln gewaschen,« sagte lächelnd der Fremdling, »sorgt, daß sie bald trocknen.« 273

Er trat mit dem Scherenschleifer wieder ins Freie, hinüber an den Garten und half ihm die Wäschestücke über den Zaun hängen. Hinter ihnen lachte der Soldat aus vollem Hals.

Auf einmal hob der Scherenschleifer den Kopf und zog die Luft durch die große Nase. »Brand,« sagte er scheu, »es riecht wie Brand.«

»Seid still,« wehrte der Fahrende, »die Windeln trocknen noch.«

Er schaute gegen den Wald hinüber. Die Wolken waren tiefer gesunken; unfrisch wie verbrauchter Odem kam der Wind über die Höhe. Zum zweitenmal pflückte der Mann sich einen Rosmarinstengel und ging ins Haus, den Langen allein an seiner Arbeit lassend.

Er trat in die Stube, wo die Wöchnerin lag. Vor ihr stand das schöne Mädchen und mühte sich, das Kind an der Mutter Brust zu legen. Es wollte offenbar nicht gelingen.

Als sie des Fremdlings ansichtig wurde, warf sie erglühend ein Tuch über die weißen Brüste.

Der Fahrende trat her und nahm das Tuch weg. Er schüttelte den Kopf. »Kind, solche Blöße ist bald gedeckt,« und er legte den Rosmarinzweig auf des Weibes Brust. Dann nahm er den Knaben und brachte ihn mit raschem, sicherem Griff zum 274 Trinken. Leises, schmatzendes Schlucken klang auf und schien die ärmliche Kammer mit Jubel zu erfüllen.

Strahlend, voll unbegrenzten Glückes schaute das junge Weib auf ihres Knaben dunklen Schopf, der sich immer inniger und zufriedener an ihr festsaugte.

Lange zog und trank das Menschlein. Wenn es ermattet nachlassen wollte, strich ihm der Fahrende mit dem Rosmarinzweig leise über die Stirne, und alsbald fing es an, mit neuer Kraft zu ziehen. Zuletzt schlief es ein, den feuchten Mund noch an der warmen Lebensquelle.

Der Mann trat zurück und winkte dem Mädchen. »Nehmt ihn nun weg! Jetzt mögt Ihr Eure Tücher bringen. Wenn das Fest zu Ende ist, kommt der Mesner mit den Hüllen.«

Schweigend und erglühend nahm sie das Kind und deckte die Mutter zu.

Der Fahrende griff nach der kleinen rauhen Hand der Wöchnerin. Es war eine ehrliche, kindliche Hand, die nichts verschwieg und nichts zu verschweigen hatte. Müd und sorglos, erschöpft und befriedigt zugleich lag sie auf der groben Decke. Leise strich er darüber hin und lächelte.

»Zu schwach, um einen Mann zu führen,« 275 murmelte er, »aber nachdem sie nun eine Mutterhand ist, werden ihr Kräfte kommen.«

Er drückte ihr den Rosmarinzweig zwischen die Finger. »Bewahre das, kleine Salome! Es wird dir helfen, deinen Sohn zu lenken.«

Esther Kleinmann schaute ihm voll Unmut ins Gesicht. Er nickte ihr zu, als wolle er sie auffordern zu reden. Als sie stumm blieb, sagte er lächelnd: »Wär's Euer Sohn – ich gäbe anderes. Die Salome braucht Rosmarin.«

Sie schüttelte den Kopf. Unterdrückt klang's: »Warum denn das Gaukelwerk?«

Er trat ihr, immer noch lächelnd, näher. »So bist du also hinter meinem Geheimnis her, schöne Esther? Du hast herausgebracht, daß ich vom großen Gaukelwerk der Welt ein winzig Stücklein zu verwalten habe?«

Stumm und ernst sah sie an ihm vorüber.

Langsam kam er ihr noch näher und fragte leis: »Siehst du so tief, oder ist dir dein Wissen im Traum gekommen?«

Scheu wich sie zurück.

Er raunte: »Vielleicht hast du dann auch von einem rasenden Schmerz, von einem abgrundtiefen Leid geträumt, das solch ein Gaukler lindern könnte?« – 276

Das Mädchen blickte verstört. Vom Bett her fragte die Wöchnerin: »Herr, was ist meine Schuldigkeit fürs Helfen?«

Er kehrte sich zu ihr. »Ich gehe jetzt meinen Affen suchen. Wenn Ihr einen Segen habt, Mutter, so gebt ihn mir dazu mit.«

Sie richtete erregt den Kopf vom Kissen auf. »So wollt Ihr fort? Dann gebt mir wenigstens noch etwas, davon mein Büblein gesund bleibt.«

Wie große Müdigkeit glitt es plötzlich über sein dunkles Gesicht. Er atmete tief auf, fast war's ein Seufzen.

Da trat das Mädchen zu dem Weib. Unwillig klang ihre leise Stimme: »Nun gab er dir doch eben Rosmarin! Was willst du denn noch mehr? Laß ihn zufrieden!«

Grußlos ging der Mann.

 

Unter einem Stadel, zwischen Gerümpel und Reisig, stand des Fahrenden Wagen. Durch den Wust hin bahnte sich der Besitzer den Weg.

Als er den Deckel auftun wollte, sah er, daß der Wagenkasten erbrochen war. Er tat einen leisen Pfiff. »Die Handschrift des Soldatenschäfers.«

Ein wüstes Durcheinander schaute ihm entgegen. Der Dieb hatte anderes gesucht, als hier zu finden 277 war, und dann im Unmut zerstört, was er nicht brauchen konnte. Zerbrochen und entleert, besudelt und verschmiert lagen Flaschen, Töpfe, Schachteln durcheinander. Dürre Kräuter hatten sich an Wässern und Essenzen vollgesogen; mit leisem Sickern fielen Tropfen auf die Erde.

Der Mann zog den starken aufsteigenden Duft in die Nase. »Da strömt sie hin, so manche gute Kraft, die hier gebunden war,« murmelte er und lehnte sich einen Augenblick wie erschöpft an den Wagen. Dann riß er sich wieder zusammen. »Es gibt nur eine Kraft des hohen Namens wert, und die ist nicht mit Kolben und mit Näpfen zu zerstören.«

Er setzte sich auf die Wagendeichsel und schaute gelassen auf das hoffnungslose Durcheinander. Kopfnickend sagte er: »Nun heißt es wieder: für Tränke, Pillen, Salben und Latwergen sorgen. Ich muß sie ihnen reichen, wie man dem zagen Kind die Fingerspitze reicht, damit es ein erstes Schrittlein wage. Ein Unterpfand, ein Zeichen geb' ich ihnen; die Kraft liegt anderswo, sie wissen es nur nicht.«

Er hob den Kopf und sah den verhangenen Himmel durch das löcherige Dach hereinschauen. »Du Namenloser,« murmelte er, »übst du nicht auch den 278 gleichen Brauch? Was du um uns gebreitet, die ganze weite Sichtbarkeit, ist's nicht dein kleiner Finger, uns dargereicht, damit wir wagen sollen, zu uns selbst, zur eigenen Kraft zu kommen? Den ersten Schritt willst du uns Ängstlichen entlocken. Sie glauben's nicht. Sie lästern solchen Glauben.«

Er sank in sich zusammen. Die Müdigkeit schien Herr über ihn zu werden. Er schaute in den grauen Tag hinaus. »Sie meinen, es sei Hochmut, so zu denken. Ich habe einen Affen zum Vertrauten und einen Gaul zum Freund; der Käfer dort am Boden, das Blatt am Baum, der Vogel in der Luft ist mir als Bruder wert – wie kann's da Hochmut sein?« –

Sein Blick wurde dunkler. »Dich glauben sie zu ehren, Unnennbarer, wenn ihnen kein Wort zu schmachvoll ist, um Menschentum in Niedrigkeit zu stoßen. Zum Ruhm des Vaters schmähen sie die Kinder und reden Schreckliches von einem Bad im Blut des Heiligsten, davon sie ehrlich werden wollen.«

Er zog seinen Mantel zusammen. Sein Gesicht sah aus, als ob ihn plötzlich friere. »Hochmut, wenn der Fuß stockt vor so Ungeheuerlichem?« –

Er reckte sich empor. »Ja, hoher Mut tut not, es zu erfassen, daß, wo ein menschlich Ich die Augen 279 erwachend aufschlägt, die Gotteskraft darauf herniederbraust zu mächtigster Erfüllung.«

Es zuckte in seinem Gesicht. »Auf Bauch und Knien möchten sie zu höchsten Gipfeln rutschen und ihre Füße schonen. Kein Wunder, daß sie niemals höher kommen als bis dorthin, wo die Schriftgelehrten streiten und der Pöbel heute Hosianna schreit und morgen kreuzige.«

Er trat an den Wagen und warf den Wust heraus. Einen unversehrten großen Kolben nahm er hoch und lachte leis. Aqua destillata! Urzeichen du, du warst dem Lumpen unheimlich. Für seinesgleichen bist du das ewig Drohende, das nie zu Begreifende, weil nichts von Fusel aus dir grüßt.«

Er goß sich das Wasser über die Hände und wusch auch das Gesicht. Dann schloß er den Deckel des Wagens.

»So,« sagte er laut, »wieder einmal ein Altes vergangen.«

Da sah er am Boden den Schädel zwischen den Scherben grinsen. Er nahm ihn hoch. »Komm, alter Freund, dich rette ich hinüber.« Oben auf den Wagendeckel legte er ihn. Dann schritt er über den Hof am Stall vorüber. Der Gaul wieherte. Er trat hinein. 280

»Dich hungert wohl? Und im Mist läßt dich der Kerl stehen?« –

Er legte rasch den Mantel ab und holte Heu. Dann fing er an, den Stand des Gauls zu säubern.

Der Pächter trat unter die Türe. Die grobe Arbeit, die er ihn verrichten sah, mochte den Fremdling in des Bauern Augen um allen Nimbus bringen.

Eine Weile sah er zu, dann fragte er grob: »Woher nahmst du das Heu?«

Der Fahrende blickte auf. »Mit wem sprichst du?«

»Das Heu brauchen die Kühe,« sagte, schnell eingeschüchtert, der Bauer.

»Du weißt wohl nicht, daß das, wovon man herschenkt, sich verdoppelt? – Was kostet dein Heu?«

Mit scheuem Blick sah ihn der Pächter an. »Wenn sich's verdoppelt, braucht Ihr nichts zu zahlen.«

Der andere lachte nicht. Er machte eine Bewegung, als schüttle er etwas Lästiges von sich ab und fuhr in seiner Arbeit fort.

Der Bauer ging aus der Türe; aber schon kam er zurück. Aufgeregt rief er in den Stall: »Sie müssen im Tal sein, man hört Lärm.« 281

Der Fahrende richtete sich auf und lauschte. Dann sagte er spottend: »Willst du den Hund nicht losmachen? Das tust du doch sonst, wenn ein Trieb in der Nähe ist.« –

Mit scheuem Blick stand der Bauer.

»Ist dein Bruder fort?« fragte der Schwarze.

Der Pächter nickte. »Er hat seinen Schäfermantel wieder, den versauft er jetzt in der Krone. Weiß der Teufel, wer ihm den verschafft hat.«

Der Fahrende stellte die Mistgabel weg und wusch sich im Stallkübel die Hände. Über die Schulter sagte er: »Da hat vielleicht wieder einmal einer gemeint, er tue ein gutes Werk, und dabei tat er nur dem Gehörnten einen Gefallen.«

Der Bauer horchte mit ängstlichem Gesicht in die Ferne.

»Mensch,« sagte der Fahrende, »weißt du nicht, daß eine Säugende und ihr Kind Mauer und Wall sind? Du kannst dir nur wünschen, daß auch die Marie bei dir unterschlüpfe.«

Er tätschelte den Gaul. »Nun gehe ich Maja suchen. Ich will sie von dir grüßen.«

Das Pferd wieherte hinter dem Davonschreitenden her. 282

Mit scheuem Blick klopfte der Pächter dreimal ans Holz, ehe er die Stalltüre zutat. Das scheucht alles Böse.

 

Von trübem Dunst umhangen stand der dunkle Wald. Zurückweisend sah er aus, als sei ihm heute kein Gast willkommen. Aber der Fahrende streifte trotzdem unter den Tannen. Die düstere, feindselige Schönheit da innen zog ihn weiter und weiter.

Leise lockend pfiff und rief er manchmal in den feuchten Dämmer hinein, wo die betupften Fliegenschwämme, die hellen Schirme wuchernder Pilze leuchteten. Der Aasgeruch der stinkenden Morchel lag in der schweren Luft. Im Gewirr halbdürrer Äste war oft ein Raunen, ein Huschen wie von scheuem Leben. Aber kein Vogelruf wurde laut, kein Getier ließ sich blicken; nur große bange Einsamkeit schien den unendlichen Wald zu erfüllen.

Immer tiefer drang der Mann ein. Die angestrengte Wachsamkeit auf seinem dunklen Gesicht wich sichtlicher Entspannung. Ein paarmal stand er und sah sich um, nicht wie ein Suchender, sondern wie ein Genießender, der sich die Seele füllt mit dem Trank der tiefen Einsamkeit.

Jetzt lauschte er. Ein fernes dumpfes Dröhnen lag zwischen den waldigen Bergen. Und nun ein 283 anderer Laut: Das harte Rattern eines Wagens klang irgendwo in der Nähe auf.

Da trat die Wachsamkeit wieder in des Schweifenden Blick. Dem Geräusch nachgehend, kam er auf einen Weg, in dessen tiefen Rinnen das Wasser stand. Binsen wuchsen da und verspätete Weidenröschen und kriechende Brombeeren. Es mochte lange her sein, seit eines Menschen Fuß, oder gar ein Wagen sich hierher verirrt hatte.

Der Fahrende stand und blickte sich um. Dann wartete er unter den Tannen. Es dauerte nicht lang, dann tauchte auf dem unwegsamen Pfad ein schwerer Gaul auf, der mit unwilligem Kopfnicken sich und ein kleines, gebrechliches Fuhrwerk vorwärtsschaffte durch klatschenden Morast. Es sah aus, als lege das starke Tier Verwahrung ein gegen solche Wege und vielleicht auch gegen das Gefährt, das einem Gaul, der sonst auf breiten Landstraßen schwere Packwagen zog, wenig gemäß war.

Oder war es ein anderes, was dem Tier nicht behagte? Auf seiner Kruppe saß, zusammengekrümmt und zitternd, Maja, der Affe.

»So dachte ich mir's,« murmelte der Mann unter den Tannen, »einen Pferderücken suchtest du, als du den Herrn nicht fandest. Es hat sich schwer 284 an dir gerächt, daß du mir zum erstenmal nicht glaubtest.«

Er ließ das Fuhrwerk näherkommen. Jetzt erst sah er, daß ein Mann und ein Mädchen darin saßen. Die Elisabeth, mit den Löckchen ums zarte, jetzt sehr blasse Gesicht, und ihr Vater, der schweigsame Handelsmann, der in der Apotheke dabeigewesen war.

In sich versunken, wie tiefermüdet, saß das Mädchen. Der Mann blickte unruhig, seine Augen suchten scheu den Wald am Wegrand ab. Jetzt trat der Fahrende aus den Tannen. Das Pferd drängte erschrocken zur Seite, der Lenker stand im Wagen auf und hob die Peitsche. Ein seltsames Fauchen ausstoßend, versuchte der Affe einen jähen Sprung und fiel dicht vor seines Herrn Füßen zur Erde.

Der Fahrende bückte sich und nach einer Weile kniete er zu dem völlig erschöpften Tierlein ins nasse Moos am Wegrand.

Wie aus weiter Ferne hörte er hinter sich den Wagenlenker sagen, der Affe sei unfern von da aus dem Wald heraus dem Gaul auf den Rücken gesprungen und habe durch keinen Peitschenhieb sich mehr vertreiben lassen.

Ein wimmernder Laut klang auf und tiefer neigte sich der Kniende. 285

Jetzt stieg das Mädchen aus dem Wagen und trat her.

»Wird er sterben?« fragte sie leise und scheu.

Der Mann hob den Kopf zu ihr und stand dann langsam auf. Vor den Affen trat er, als wolle er ihn jedem Blick verdecken. Abweisung klang in seiner Stimme, als er sagte: »Sterben? – Nein, Euer Liebster wird nicht sterben. Doch müßt Ihr eilen, hinzukommen. Er hat Euch nötig.«

Fassungslos starrte sie den Sprecher an. Der griff in seine Tasche. Das Päckchen reichte er hin, das er in der Nacht dem Soldaten abgenommen. »Dies schickt er Euch. Im letzten Treffen wurde er blessiert. Die Wunde ist am Hals.«

»Erlaubet,« sagte jetzt die bedächtige Stimme des Handelsmannes, »kommt Ihr von dort? Wo war's? Ich sah Euch doch – –«

»Ihr sahet mich zu Zurzach auf der Messe und in der Apotheke. Ich komme weit herum und bleibe nirgends, wie schlechtes Geld. – Belog ich Euch?« wandte er sich an das todblasse Mädchen.

Die stand und hielt das goldene Ringlein in der Hand, die sichtbar zitterte. Ein Strähnlein geringelten Haares, ein paar dürre Rosenblätter fielen vor ihr auf die Erde.

Der Fahrende hob beides langsam auf und 286 besah es in der offenen Hand. »Soll ich Euch sagen, wo die Rosen wuchsen?« fragte er leise das erstarrte Mädchen. Und dann zu dem Manne: »Ein Gaukler kann sich nur mit Wundern und mit Zeichen ausweisen.«

Er drückte die welken Blätter an die Stirne und murmelte: »Ein Garten auf dem Berg. Es geht Frühsommerwind durch einen großen Weidenbaum. Dort an der alten Mauer blüht die erste Rose. Ein Mädchen bricht sie ab und reicht sie einem Mann. Der steckt sie lachend – –«

Das Mädchen streckte jäh die Hand aus. Eine Blutwelle strömte bis unter das lockige Haar. »Nicht,« stieß sie hervor und es lag eine Welt von Qual, von herber Scham, von tiefer Not in diesem einen Wort.

Der Fahrende trat mitleidig auf die Erglühte zu. »Mädchen,« sagte er leise, ja innig, »er lacht jetzt nicht mehr deiner jungen Liebe. Wie seinen Engel erwartet er dich. Er hat den Schritt zum Mann indes getan.«

Langsam, ohne daß sie es wußte, liefen der Tieferregten die Tränen übers Gesicht.

Er sah sie voll Güte an. »Kind, dir tropft das Wasser noch. Es gibt auch Leid, das einem das Feuer aus den Augen schlägt.« 287

Er wandte sich zu des Mädchens Vater, dessen faltiges, schmales Gesicht voll dunkler Sorgen war. »Fahrt immer zu! Die ganze Höhe ist leer. Nicht einmal die Straße hier oben braucht Ihr zu meiden. Ihr kommt den Welschen in den Rücken, wenn Ihr den Eidam sucht.«

»Woher wisset Ihr?« – fragte unsicher der Mann, »wer schickt Euch?«

Ein kurzes Lächeln lief über des Schwarzen Gesicht. »Die Bösen sind des Guten stärkste Boten. Ich bin wohl auch darunter.«

Er nahm das Mädchen an der Hand und führte es an den Wagen. Sie folgte willenlos.

»Fahrt zu!«

 

Am Wegsaum saß der Fahrende, den sterbenden Affen im Schoß. Leise streichelte seine Hand das glatte Fell.

Das Tierchen lag ohne Regung, mit geschlossenen Augen. Die Zungenspitze blickte durch die Zähne, wie in Schelmerei, in leisem Grinsen.

Über den kleinen Kopf streichelnd, flüsterte der Mann: »Du klagst nun wohl ein dunkles Schicksal an, Maja, und doch war's deine Angst, die dich ins Elend jagte. Ich sandte dir mein helfend Mahnen durch die Nacht; zum erstenmal hast du mir 288 nicht geglaubt. Du bist zu menschenähnlich geworden neben mir.«

Zart bettete er das Tier in seinem Schoß anders. Dabei fühlte er als ein Hartes das Horn in seiner Tasche und legte es zur Seite. Sein Blick haftete daran und wurde dunkler.

»Als ich dies füllte, Maja, war jene Sicherheit in mir, die ruhig übers Meer schreitet. Wo ist sie hin? –«

Er deckte die Hand über des Äffchens Gesicht. »Grinse nicht! Es war so ohne Grenzen groß und herrlich, als mein und meiner Trauten Kraft und Glaube ineinanderschlug. So weit kommst du nicht mit.«

Er nahm die Hand weg und schaute in das kleine Gesicht. »Ich war dir Herr und Meister, war dir Gott. Als du mir untreu wurdest, war dein Schicksal besiegelt.«

Er betastete die eingefallene Brust, in der das Herz kaum mehr zu spüren war. Dann fiel sein Blick wieder auf das Horn, das nebenan im Moos lag. Er nahm es in die Hand. »Was man an Gaukelwerk mir abgerungen in all den Jahren – dies hab ich nie damit vermischt. Von einer hohen Stunde hörte ich nicht auf zu träumen; von einer Stunde, die mich ehrlich spräche vor aller Augen.« 289

Er schüttelte das Horn und roch daran. »Du warst mir wie ein Unterpfand, daß ich meinen letzten Meister und er mich nicht preisgegeben in aller Wirrnis.«

Der sterbende Affe stöhnte leise, der zierliche Körper zitterte wie vor Frost. Behutsam deckte der Fahrende einen Zipfel seines Mantels über ihn.

»Ach, daß du leiden mußt! Ja, auf der blinden Furcht, die keinen Glauben kennt, steht immer Leiden. Die Welt ist voll davon.«

Wieder betrachtete er das Horn, als könne er nicht davon loskommen.

»Es wird wohl seine Kraft verloren haben in all den toten Jahren. Schade drum! Auch dies vertan –«

Des Äffchens Augendeckel zitterten, die kleinen Glieder streckten sich, als gehe es ans letzte.

Tief beugte sich der Mann über das Tier. »Nichts mehr ist mein, Maja, kannst du nicht bleiben?« Es klang wie Schluchzen. Dann richtete er sich auf und fingerte an dem Deckel der Dose. Noch einmal ließ er ab.

»Regula,« murmelte er und schloß die Augen. Verfallen war sein Gesicht. Dann schaute er wie ein Erwachender auf. »Sie sind hier alle aus jenem Nazareth, wo man zwar lüstern ist nach 290 Wundertaten, doch ohne Kraft, um Kräfte herzurufen. Wo man nur spottend fragt: Ist das nicht der und der? – Bleibt nur der Affe noch.«

Er schraubte an dem Deckel. Ein leiser, pfeifender Laut, wie wenn Luft entweicht, wurde hörbar. Des Mannes Hände zitterten, als er jetzt das Horn an des sterbenden Tieres Nase hielt. Oder war der Affe schon tot? – Ein seltsamer Geruch lag in der schweren Luft. Das Tier blieb ohne Regung. Nichts zeigte darauf hin, daß es empfand, was mit ihm geschah.

Ein heißer Glanz war in des Mannes Augen, ein Flehen fast, wie er so in das Gesicht des Affen blickte.

Plötzlich lief ein Zittern durch den kleinen Körper. Ein jähes Zucken dann. Die wimperlosen, glashellen Augen taten sich weit auf. Und jetzt richtete sich das Tier auf und saß schwankend, wie von einem mächtigen Strom durchpulst, auf seines Herrn Knie. Minutenlang dauerte das. Dann kollerte es tot zur Erde.

Ohne sich zu rühren, saß der Einsame. Dann legte er den Kopf neben den kleinen Kadaver ins feuchte Moos und weinte.

Als er sich aufrichtete, lag die Dämmerung über dem nebelumwobenen Wald. Er griff nach dem 291 Horn und fing an, damit im moorigen Waldgrund ein Loch zu scharren.

»Regula,« murmelte er, »was ich herübergerettet aus meiner stolzen Zeit, das war noch gut, um einem Affen sterben zu helfen und ihn zu begraben.«

Er bettete das Tier in die Grube und warf das Horn dazu. Mit seinen Händen glättete er die Erde.

Dann tauchte er in den Wald. 292

 


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