Auguste Supper
Der Gaukler
Auguste Supper

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Drittes Kapitel

Mit diesen Menschen umzugehen
Ist wahrlich keine große Last.
Sie werden dich recht gut verstehen,
Wenn du sie nur zum Besten hast.
        Goethe.

Der Marktplatz der Stadt war ein langgestrecktes Viereck. Vor uralten Zeiten schon von menschlicher Zähigkeit dem Berghang abgerungen, war er später notdürftig eingeebnet, notdürftiger gepflastert worden. Hochgegiebelte Häuser umstanden ihn so eng, daß die ausstrahlenden Gassen kaum den Weg hindurch fanden.

Sie waren wenig stattlich, diese schmalen Häuser, und böse Zeiten schienen sie so verängstigt zu haben, daß sie sich wie Schafe beim Gewitter aneinanderdrängten.

So hatte es das Rathaus leicht, unter ihnen aufzufallen. Seine breite Front hatte sich Raum geschafft, der Giebel entfaltete sich reich und schön, das dunkle, starke Gebälk wirkte vornehm und stattlich. Ein offenes Untergeschoß war Durchgang nach dahinterliegenden bergigen Gassen und gab zugleich trockenen Raum für den Fruchtmarkt. 65

Den Platz davor schmückte ein alter Brunnen, der oben vor der Apotheke seinen Zwillingsbruder hatte. Jahraus, jahrein sahen die gedrungenen Wappenlöwen der niederen Schäfte zu, wie die Mädchen Eimer und Gelten füllten und wie sich Spatzen und Buben auf der feuchten steinernen Brüstung balgten.

Gleich dem Rathaus auf der Bergseite, aber von der profanen Häuserzeile zurück, stand auch die Kirche. Über mächtige Steintreppen blickte ihr Chor auf den Markt. Schiff und Turm schienen sich an den Berg zu lehnen. Die heiligen Mauern waren von dunklen Schicksalen gezeichnet. Überall traten neue Steine wie Flickflecke aus dem alten Mauerwerk und bezeugten, daß die kriegerischen Zeiten in bösem Übermut vor dem friedlichen Bau nicht haltgemacht hatten.

Auch die Linden, die den Chor umstanden, schienen an einer quälenden Vergangenheit zu leiden. Ihr Wuchs war eher gedrückt und ins Breite gezogen, als frei, stolz und hoch.

Links neben der Kirche und erhöht wie sie, stand der nüchterne Bau der Vogtei. Rechts das weitläufige, aber kühle Spezialat mit seinem, dem Berg abgerungenen Garten.

Zwischen Kirche und Spezialat war das winzige 66 Mesnerhaus eingeklebt. An ein Vogelnest, oder an einen lustigen Steinmetzenscherz gemahnte es. Jetzt hing die flammende Pracht des sich früh verfärbenden wilden Weins darüber und die kleinen blanken Fenster blickten daraus hervor wie zwinkernde Äuglein.

Ein steiler, böser Weg führte am Spezialat vorüber in eine hohe Vorstadt und weiter hinauf nach den Weilern, Gehöften und Dörfern der Hochfläche.

Auf diesem Weg verhallte mancher derbe Fuhrmannsfluch und es hieß, das Spezialat sei an den steilen Anstieg gebaut, damit diese Flüche eines Gegengewichtes nicht ermangelten.

Leer lag der Markt im Sonnenglast. Man spürte ihm das angstscheue Getümmel der Nacht nicht mehr an und man sah am breiten Rathaus nicht, daß in ihm die Lichter um einer bangen Sache willen bis in den späten Morgen hinein gebrannt hatten.

Am unteren Marktbrunnen, fast vor der Kronentür, dem Rathaus gegenüber, stand der Wagen des Fahrenden. Der Gaul war ausgespannt, der Affe turnte an der Deichsel und freute sich der strahlenden Wärme.

Neben ihm, bisweilen ein kurzes Wort an ihn 67 richtend, kramte der Herr im offenen Kasten des Wagens. Das dunkle Gesicht war undurchdringlich und veränderte sich nicht, als allmählich ein Kreis Neugieriger auftauchte.

Jetzt rief ein gebietender Laut den Affen auf seines Herrn Schulter. Ein Brett wurde vom Wagenkasten her auf den Brunnenrand gelegt. Darüber breiteten die hageren Hände ein schwarzes Tuch. Flaschen, Büchsen, Näpfe, Schalen entnahm der Mann dem Wagen. Die umfangreicheren stellte er selbst auf das Tuch, die kleineren mußte der Affe an Ort und Stelle bringen.

Flink und fast unheimlich geschickt tat das Tier alle Griffe. Seine Augen rollten dabei und manchmal zeigte es blitzschnell die rote Zunge. Die Schwatzenden unter den Neugierigen verstummten vor dem seltsamen Treiben.

Langsam vergrößerte sich der Kreis. Manchmal hob der Fahrende den Kopf. Aber er schien dann weit über die Umstehenden hinweg zu sehen.

Stumm fuhr er fort in seiner Arbeit.

Zuletzt legte er mit besonderer Feierlichkeit einen weißen Schädel mit grinsenden Zahnreihen neben all die Salben, Tinkturen und Tränke. Schweigend, den Ellbogen aufgestützt, den Kopf in die Hand gelegt, saß er dann lange auf der 68 Wagendeichsel, und der Affe, mit starren, ins Weite gerichtete Augen, hockte auf seiner Schulter.

Die Umstehenden fingen an zu murmeln, zu lachen, zu schwatzen. Viele taten gelangweilt; aber sie gingen nicht. Neuhinzukommende fragten, was eigentlich da los sei. Da waren es die Gelangweilten, die spotteten und sich doch zugleich wichtig machten mit ihrem Wissen und ihren Beobachtungen.

Plötzlich tat der Affe einen mächtigen Satz in den Wagenkasten und brachte eine Schelle hervor, die er so toll schwang, daß die gellen Klänge übereinanderstürzten als ungeordneter Schwall.

Wie ein Erwachender hob der Fahrende den Kopf und stand langsam auf. Nach dem Himmel schaute er und sagte etwas.

Ein Gemurmel ging durch die Umstehenden. Eine Stimme rief: »Wird's jetzt bald?« –

Mit einem eintönigen, sonderbar leblosen und doch durchdringenden Tonfall fing der fremde Mann jetzt an, seine Waren aufzuzählen. Eine Reihe seltsamer, ihnen unverständlicher Namen warf er den Horchenden hin und dazu schilderte er die Schäden und Gebresten, für die seine Schätze zu verwenden seien.

Sein fremdes Deutsch, sein unpersönliches, 69 kaltes Reden, das er über die Köpfe hin in die Luft zu richten schien, machte seltsamen Eindruck auf den verstummten Kreis. Dieser dunkle Geselle war anders als die Marktschreier, die sonst kamen, und er flößte Scheu ein, die langsam in Begehrlichkeit überging.

Ein Müller in mehlbestaubtem Kittel war der erste, der den Mut fand, als Käufer näherzutreten.

Mit einer heiseren, vielleicht durch Trunk verdorbenen Stimme klagte er, daß ihm der Wind, der durch die kalte Schlucht an seiner Mühle vorüberstreiche, ein tückisches Ohrenweh gebracht habe, das keinem Mittel weichen wolle.

Des Fahrenden Augen hefteten sich forschend und eindringend auf diesen ersten Kunden. Er mochte in dem breiten Gesicht nicht viel Gutes lesen. Ganz nahe beugte er sich über den schwarzgedeckten Tisch zu dem Manne hin und murmelte: »War es der Wind, so werde ich dir Öl geben vom Caryophyllus aromaticus. Ist es aber die Geschichte mit dem Getreide aus den Säcken der Kundschaft, so kann nur Urea von der Didelphys helfen. Darum besinne dich wohl!«

Der Mehlbestaubte schaute hilflos drein, wie überrumpelt. Dann sagte er scheu: »Gebt von beidem!« 70

Der Fahrende reichte ihm zwei kleine Näpfe und nannte den Preis, über den der Käufer sichtlich erschrak.

»Ja, ja,« murmelte der Fremdling, »oleum allein wäre dich billiger gekommen,« und er machte eine Bewegung mit der Hand, die hochmütig über den Müller hinwegging und den nächsten Käufer herbeirief.

Es war dies eine grauhaarige, verwachsene Alte, neben der sich ein Mann in der Schürze der Gerber herzudrückte.

Diese beiden sahen sich feindselig ins Gesicht, als möchte jedes das andere vom Platze drängen.

Jetzt kreischte das Weib: »Gebt diesem da etwas gegen den jachen Zorn, der aus den Leuten gefährliche Narren macht!«

»Ja,« schrie aufbrausend der Gerber, »und die alte Vettel braucht eine Salbe für den Besenstiel.«

Ein paar im Kreis lachten. Aber der Fahrende verzog keine Miene. Mit einer kühlen Ruhe sagte er: »Ich möchte euch beiden gerne dienen, denn ich sehe, was euch not tut. Doch ist ein Gesetz, daß ein jeder für sich selbst fordern muß, nicht einer für den andern.«

Da zog sich der Gerber fluchend zurück. »Ich warte, bis das Luder weg ist.« 71

Die Alte grinste hinter ihm her. »Es wird besser sein; denn was dir not tut, das darf kein anderer hören.«

Jetzt wandte sie sich ohne Scheu an den Fremden. »Gebt mir eine Salbe für meinen Rücken. Er schmerzt und wird immer krümmer!«

»Gern,« sagte leise der Fahrende, »aber allzuviel helfen wird sie nicht. Dieses Sichkrümmen kenne ich; da will Erde zu Erde und man kann nicht dawidertun.«

»Zu was ist Er dann ein fahrender Doktor?« rief das Weib laut und ärgerlich.

»Ja, das frage ich mich täglich,« entgegnete mit kurzem Lächeln der Fremde und winkte dem nächsten.

Ohne Hast und fast ohne Anteilnahme verkaufte der Schwarze jetzt an die Herzudrängenden seine Schätze. Sein Gesicht blieb dabei hochmütig und verschlossen, nur manchmal blitzte kurz etwas auf, das Spott sein mochte und schnell wieder verflog.

Als der Handel abzuflauen drohte, hielt er mit spitzen Fingern eine Dose hoch: »Hier haben wir eine feine Paste, gewonnen aus dem Kraut Hepatica. Sie nützt gegen die Schäden der Leber, Cholämie, Hyperämia. Insonderheit tut sie Dienste gegen Febris biliosa, daran fast jeder zuweilen 72 leidet aus Anlaß großen Ärgers, Zornmut, Angst vor Kommendem.« –

Auf der nahen Rathausstaffel, wo er seither als aufmerksamer Zuschauer gewartet hatte, ließ ein kleiner Mann das Geländer los und stieg bedächtig die steinernen Stufen herab. Er führte einen schwarzen, zottigen Pudel an kurzem Strick.

Ein Hüne von Gestalt war dicht neben ihm gestanden und rief nun hinter ihm her: »Zechel, ist's bei dir Ärger, Zornmut oder Angst vor Kommendem?«

Der Kleine tat, als höre er nicht. Mit seinem Hund steuerte er durch die sehr gelichteten Reihen gegen den Kastenwagen hin.

Es war dies Ezechiel Adler, der Mesner und Schneider, der als ein Einsamer das lustige Häuslein neben der Kirche bewohnte. Der Pudel nur teilte seine Häuslichkeit und war, wenn auch nicht sein einziger, so doch sein bester Freund.

Das Männchen war schmächtig, beweglich, aber nicht ohne die Würde seines Amtes. Das Gesicht, so blaß es war, sah nicht eigentlich krank aus, sondern nur mitgenommen von starkem Erleben. Die dunklen Augen hatten einen klugen, aber oft müden Blick; die große Nase sprang fast herrisch vor; aber der schmallippige Mund strafte sie Lügen. 73

Der Mund sprach von Herzeleid und Verzichten, die Nase von Lust zum Leben. Der Mund war ergeben, die Nase stellte Ansprüche. Der Mund war ein frommer Mesnersmund, die Nase eine weltfrohe Musikantennase.

Denn vor seiner Mesnerszeit hatte der Mann neben Nadel, Schere und Ellenmaß auch die Fiedel gehandhabt und allerlei tönende Instrumente, wie man sie braucht zu Taufe und Hochzeit, zu Tanz und Kirmes. Aber das liebste von allen klingenden Dingen war ihm dazumal ein singender Mädchenmund gewesen. Damals stimmten in seinem jungen, hübschen Gesicht noch Mund und Nase zusammen. Der herbe Mißklang stellte sich erst ein, als sein blühendes Weib, seine Judith, früh starb und als ihm von einer geliebten Kinderschar nur das jüngste, ein kleines Mädchen, zurückblieb. Bald darauf zog er ins Mesnerhaus, verbrannte die Fiedel und trug ein schwarzes Käppchen über dem verstörten, aus Melodie und Harmonie gebrachten Gesicht. – Doch war das alles nun schon lang her.

Schweigend und beobachtend stand jetzt der Kleine, dem jener Hüne unvermerkt gefolgt war, vor den ausgelegten Waren. Der Fahrende musterte prüfend Herrn und Hund. 74

Der Große trat lachend neben den Mesner. »Was besinnst du dich? Weißt du nicht, wo dir's fehlt?«

Die Musikantenaugen in dem Mesnergesicht blitzten in das von blondem Bart umrahmte, gutmütige Gesicht des Fragers. »Nach einem Tränklein will ich mich umtun, von dem eines Tuchmachers Fürwitz vergeht,« sagte der Kleine anzüglich.

Der Hüne war ungekränkt. »Du machst mir nicht weis, daß das alles ist.«

»Nicht alles. Die Paste suche ich noch, von der meines Spezials Franzosenangst aufhört, so daß er mich nicht mehr alle Augenblicke läuten heißt.«

»Läutet immerhin!« sagte über den Tisch her der Fahrende, »ist's heute noch unnütz, so kann's doch morgen schon nötig sein!«

Eine Stille kam auf. Der Fremdling hatte nach dem Gespenst gedeutet, das irgendwo nach der Stadt hergrinste.

Der Affe fing jetzt an, Salben und Näpfe in den Wagen zurückzutragen, als halte er das Geschäft für beendigt. Da legte des Mesners Pudelhund den Kopf interessiert auf den Tischrand und fing an zu knurren. 75

Erschrocken riß ihn der Herr zurück, aber der Fahrende fuhr den Kleinen an: »Weiß Er nicht, daß sein Pudel auf einem Auge am Erblinden ist?«

Der Mesner rückte an seinem Käppchen. »Das ist's, um was ich da bin, Euer Gestrengen. Wenn Eure Waren nicht den Menschen allein vermeint sind, so – –«

»Den Menschen allein vermeint,« unterbrach ihn barsch der Fremde, »hat Er schon einmal gehört, daß der Herrgott für den Menschen allein die Säfte steigen läßt, die von Gebresten helfen? Ja, weiß Er vielleicht, wo er anfängt, der Mensch? Oder wo er aufhört? Füchse und Geier und Schweine sah ich schon auf Menschenfüßen gehen. Und aus stummen Tieren schrie mir der Mensch entgegen. Rede Er also nicht einfältig! Wo hat sein Hund sich das Übel geholt?« –

Der Mesner stand wie ein Gemaßregelter. Scheu erklärte er: »Wenn die Türe an des Herrn Spezialis Garten offen steht, macht er sich dort hinter die Katzen –«

Der Fahrende wandte sich an den Hund. »Wie unklug von dir. Es kann dich das Licht deiner Augen kosten. Man setzt nicht offene Kraft gegen die Krallen der Hinterlist.«

Da klang plötzlich eine helle Stimme zürnend 76 aus dem Hintergrund: »Sollen sich die Katzen vielleicht ohne Widerwehr erwürgen lassen?«

Der Fahrende schaute auf. Das Mädchen von gestern sah er neben jener blassen Frau stehen, die aus dem Fenster der Schmiede gegrüßt hatte. Er tat, als erkenne er die zwei nicht wieder. Sein Blick musterte die ungleichen Gestalten. Auf der Stirne der Jugendschönen lag streitbare Entrüstung, aus den stillen, dunklen Augen der Kleineren, Verblühenden, sprach ängstliche Scheu, als bange sie für die kühne Freundin.

Der Hüne sagte überrascht zu dem Mesner: »Die zwei sind auch da.«

Die Ähnlichkeit zwischen dem Großen und dem schönen Mädchen sprang in die Augen. Sie mußten Geschwister sein. Aber des Mannes Gesicht war einfacher, landläufiger, als das des Mädchens. Was dort Gutmütigkeit und Rechtlichkeit war, zeigte sich hier erhöht zu etwas adlig Besonderem, das die frische Schönheit durchleuchtete.

»Ihr liebt Katzen?« fragte der Fahrende beiläufig gegen das Mädchen hin.

»Ich sage, sie haben das Recht, sich zu wehren.«

Der Fremdling, als habe er nicht gehört, fuhr fort: »Wer die Katzen liebt, der liebt den Mann, das ist alte Weisheit.« 77

Eine flammende Röte des Unwillens trat auf das Mädchengesicht.

Ungeschickt, aber allen guten Willens voll, warf die kleinere Gefährtin hin: »Sie hat doch keinen Mann und will auch keinen Mann.«

Jetzt schaute die Große mit einem rätselhaften Blick auf die Freundin, deren reiche braune Flechtenkrone ihr an der Schulter lag. Aber sie sagte kein Wort.

Der Fahrende blickte mit zusammengekniffenen Augen die Schöne an. »Sollte sie wirklich keinen wollen?« murmelte er versonnen.

Die Mädchengestalt straffte sich. Stumm, abweisend sah sie in die Ferne.

Der Mann fing an, etwas in einer Schale zu zerdrücken und zu rühren. Leise Befehle ergingen an den Affen und der trug Fläschchen und Dosen herzu. Der Pudel wurde erregt und knurrte an seinem Strick.

Der Fahrende hielt dem Mädchen die Schale hin. »Davon so viel geschluckt als ein Mohnsamen groß ist, und ein Berg von Jammer sinkt zusammen. Wollt Ihr den Führerlohn in dieser Münze?«

Sie schaute ihn an. »Ich dachte, Ihr rührtet eine Salbe für den Pudel.« 78

Er stellte die Schale weg und mischte etwas anderes. »Ihr habt recht,« sagte er kurz.

Jetzt griff er nach einer leeren Muschelschale und strich sie voll mit einer fetten Salbe. Dem Mesner reichte er sie hin. »Hier! Damit reibt Er dem Hund beide Augen ein. Rund herum und bis hinauf ans Stirnbein. Beide, sage ich, nicht nur das schlimme! Beim Frühglockläuten muß Er's tun, und kein Wort darf Er dabei reden.«

Der Mesner gab kläglich zu bedenken: »Wie kann ich das, wenn ich doch läuten muß?«

Der Fremde zuckte die Achseln: »Wie Er es macht, ist seine Sache.«

Das Mädchen wandte sich in freundlicher Güte zu dem Ratlosen: »Ich werde kommen und einreiben.«

»Das läßt der Hund nicht zu, wenn ich dabei nicht mit ihm reden darf.«

»So werde ich läuten und Ihr salbt den Hund,« tröstete die Schöne.

Der Fahrende lachte. »Und den Preis? Macht Ihr auch dafür keinen Preis?« –

Sie tat, als hätte sie nicht gehört. »Habt Ihr auch etwas für den Brusthusten?« fragte sie kurz und sachlich.

»Für Euch?« – 79

»Nein, für die Kohlerin, des Torwarts Weib, dort drüben.« Sie winkte leicht mit der Hand.

Er lachte laut: »Ich glaube doch, ich sagte schon, es sei die Regel, daß jeder nur für sich fordern darf. Ihr hört ja wohl nicht gern auf meine Worte?« –

»Das Weib ist alt und schwach,« entgegnete sie unerschrocken.

Er goß einen braunen Saft in ein Fläschchen und reichte es ihr. »Für andere wenigstens habt Ihr zu mir Vertrauen. So will ich eine Ausnahme machen für Euch. Ich sah es längst, daß Ihr die seid, für die ich eine Ausnahme machen muß. Gebt einen Tropfen Tinktura auf elf Tropfen Wasser. Elf Tropfen Tinktura dürfen an einem Tag genommen werden. Habt Ihr verstanden?«

Sie gab keine Antwort und griff nur nach ihrer Tasche, einem alten ledernen Ding, das ihr seitwärts am Gürtel hing.

Da sprang blitzschnell der Affe herbei und riß es ihr aus den Händen. Wütend bellte der Hund; aber er konnte den Frechen an seinem Tun nicht hindern. Hastig, als wolle er jedem Dazwischentreten zuvorkommen, räumte der Affe aus. Einen kleinen Knäuel grauleinenen Fadens, ein Nadelbüchslein, zerknülltes Papier warf er achtlos beiseite und nahm dann mit drolliger Behutsamkeit 80 ein Beutelchen hoch, zwischen dessen Maschen es klirrte.

Die Schöne war kaum erschrocken und nicht zurückgewichen, indes ihre Gefährtin aufkreischte. Mit trotzigem Lachen folgte sie den flinken Bewegungen des eifrigen Tieres.

Als aber der Affe jetzt an dem Beutel zu nesteln anfing, und als zwischen den weiten Maschen heraus flammendrote Beeren auf das schwarze Tuch und zwischen die Töpfe und Flaschen rollten, da griff sie hastig und sichtlich erregt nach dem entrissenen Eigentum.

Der Fahrende nahm die Beeren auf, legte sie auf die flache Hand und betrachtete sie aufmerksam.

»Ebereschenbeeren,« sagte er dann leise und, obgleich er das Mädchen dabei ansah, wie für sich, »die sind in des Bürgermeisters Garten gewachsen, wenn ich recht sehe.«

Des Mädchens Gesicht war plötzlich erblaßt. Etwas wie Hilflosigkeit flackerte in ihren Augen auf. Dann stieß sie hervor: »Was ist meine Schuldigkeit?«

»Nichts,« entgegnete leis der Fahrende, »mit den roten Beeren da ist alles bezahlt.«

Sie starrte ihn einen Augenblick an, dann trat sie stumm, wie erschreckt zurück. 81

Des Hünen frische Stimme erklang jetzt: »Wenn schon man heut auch für andere bei Euch verlangen kann, so gebt mir etwas, davon das Herz leicht und der Kopf frei wird.«

Die Schmiedswitib glühte da plötzlich auf und das Müde und Welkende an ihr war völlig verschwunden. Vorwurfsvoll und zugleich glücklich sah sie an dem Großen empor. »Laßt das doch, Philipp!« stammelte sie verwirrt und kindlich.

Er lachte. »Wißt denn Ihr, für wen ich das Zeug einhandeln will?«

Der Fahrende sprang der Hilflosigkeit der Beschämten bei. »Das Zeug,« rief er barsch, »das Zeug! – Man treibt hier keine Possen. Wenn Er keinen Glauben hat, was tut Er da? –«

Der Große war nicht eingeschüchtert. »Keinen Glauben? Wer sagt denn, daß ich keinen Glauben habe? – Einen guten sogar habe ich. Ist's nicht so, Frau Sara? –«

Prüfend betrachtete der Fahrende die Braunhaarige.

»Sara heißt Ihr?« fragte er leise. »Nun, dann werdet Ihr noch spät einen Sohn haben.«

Wieder glühte sie auf. Ein Glanz und zugleich eine tiefe Verstörtheit war in ihren stillen Augen. 82

Der große Tuchmacher kam ihr diesmal zu Hilfe. »Sie ist eine Witfrau,« sagte er mit mitleidigem Eintreten.

»Aber sie wird es nicht bleiben,« entgegnete trocken der Schwarze.

Jetzt lachte der Große auf. Auch in ihm lebte hell das ferne Wissen, daß diese Sara Rotfelderin aus der Schmiede nicht immer Witwe bleiben werde. Gerade dieses ferne Wissen war es ja, das ihm täglich das Herz froh machte wie starker Wein. Aber das alles nützte ihm nichts, solang das Herz der zarten Frau, das Herz dieser Vielgeprüften und Freudeentwöhnten, immer traurig, ihr Kopf immer schmerzend blieb, wie es zur Zeit war!

Frischweg fragte er: »Was habt Ihr gegen das Kopfweh?«

Der Fahrende schob die Hände in die Ärmel. Halb weggewendet sagte er: »Kopfweh gibt es vielerlei. Eines kommt aus Magen und Gedärmen, eines aus Geblüt und Nerven, eines von den Augen und das vierte und übelste aus bösen Fluiden.«

Des Großen Gesicht wurde ratlos. Da sagte die Schmiedswitwe leise: »Gebt ihm fürs vierte und übelste.« 83

»Ich dachte mir's,« entgegnete der Fahrende und mischte etwas, das er dann dem Tuchmacher reichte.

»Und nun noch etwas, davon das Herz froh wird,« bat dieser kurz.

Der Fahrende nickte vor sich hin. »Ihr werdet den Trank meinen, von dem Vergessen kommt?«

»Denselben,« bestätigte der Große gelassen.

Jetzt ging ein seltsam müdes Lächeln über des Fremden dunkles Gesicht. »Ausverkauft.«

Der Tuchmacher schüttelte den Kopf. Halb Bedauern, halb Unglaube lag in seiner Gebärde. »Alles weg?« fragte er.

Der andere griff in seine Manteltasche. Eine Dose, die aussah wie ein abgebrochenes und mit Deckel versehenes Kuhhorn, zog er hervor. Er drehte sie in der Hand, hielt sie flüchtig hoch und steckte sie wieder in die Tasche. »Ein letzter Rest,« murmelte er.

»Ist der nicht feil?« erkundigte sich der Große.

Der Fahrende maß den Frager mit dunklem Blick. »Ihr könnt den Preis nicht zahlen.« Dann, als er das Bedauern auf des Tuchmachers offenem Gesicht sah: »Trinkt Branntwein, Mann, wenn Ihr vergessen wollt, der stellt sich billiger.« Und er wandte sich weg und trat hinter seinen Wagen. 84

Der Kreis der Käufer löste sich jetzt auf. Auch die Geschwister, der Mesner und die Schmiedswitwe gingen. Der Pudel erwürgte sich fast an seinem Strick, so zog es ihn zurück zu dem Affen. Mit trippelnden und flinken Schritten nahte jetzt noch ein Kunde dem Stand des Fahrenden. Schon von weitem rief er: »Gott grüß das Handwerk! Hat Er auch etwas für einen Apotheker?«

Der Fremdling erkannte die helle Greisenstimme. Er betrachtete sich das runde, bartlose, alte Gesicht mit den hängenden Tränensäcken und den grau überbuschten, wässerigen Augen, den weichen, rotgeäderten Wangen.

Kurz, fast abweisend sagte er: »Ist es ein zünftiger, so will er nichts von mir; ist's aber einer von Gottes Gnaden, so braucht er nichts.«

Ein kleines krähendes Lachen des Greises erklang. »Oho, oho! Kann Er das so genau auseinanderhalten, die zünftigen und die von Gottes Gnaden?«

»Einen anderen Unterschied weiß ich zwischen den Apothekern nicht,« gab der Fahrende zurück.

»Sagt meinetwegen: es gibt gelernte und es gibt geborene,« ereiferte sich der kleine Alte, und er beugte sich über die Tiegel und Töpfe, nahm da einen hoch, besah, beroch, schüttelte, gab dem Totenschädel 85 einen gelinden Stoß, als wolle er seine Nichtachtung ausdrücken, und behielt zuletzt einen gläsernen Kolben in der Hand, dessen klare perlende Flüssigkeit lange betrachtend.

Der Fahrende sah schweigend zu. Als aber jetzt der Greis den Kolben öffnete und beroch, lachte er auf.

»Wenn es auf die Nase allein ankäme,« sagte er, »dann müßte man die Hunde zu Apothekern machen.«

Der Greis stellte den Kolben weg. Ein nachsinnender, vom billigen Spott des Fremdlings unberührter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Daphne,« murmelte er tastend. »Cortex? – – etwa selbst destilliert?«

Der Gefragte nahm den Kolben in die Hand. Er sprach lange nichts. Seine Augen schauten in die Ferne.

Dann kam ein Gemurmel: »Märzwind, Schneewind. Der grüne Hang ist naß. Windröschen blühen und Scharbockskraut. Haselwurz glänzt in der Lichtung.«

Er schauerte zusammen, als sei ihm kalt. Dann sagte er mit seiner gewöhnlichen Stimme: »Es ist ja keine Tinktura von echter Art, sie hätte denn ihre ganze Heimat in sich, daraus sie von Gnaden des 86 Schöpfers destilliert ist. Wer sie in der Hand hält, sollte nicht erst um ihren Namen fragen müssen.«

Der Greis lachte. »Euer Hokuspokus wohl, der zum Geschäft gehört? Ich bin Jakobäus, der Apotheker, – Stadt- und Landapotheker –,« ergänzte er lächelnd seine eigene Rede, »mir braucht Ihr nichts vorzumachen.«

Der Fahrende lehnte sich an den Wagen und steckte die Hände in die Ärmel. »Zuckerbäcker oder Koch hättet Ihr werden sollen,« sagte er unbewegt, »wenn Ihr nicht gelten laßt, was ich Euch darlegte. Kochen, ausziehen, stoßen, pressen, zusammenrühren, das macht noch keinen Apotheker.«

»Aber blauen Dunst reden macht ihn auch nicht,« rief, aus der Ruhe gebracht, der Kleine.

»Nein, das macht ihn auch nicht,« klang es leise, »sagt, hat Euch nicht zweimal in Eurem Leben ein schweres Leid getroffen?«

Des Greises Augen blinzelten. »Wie meint Ihr?«

»Ich meine, das Euch abzuspüren, das konnte die Sache sein, um die es geht.«

»Ihr kennt mich?« fragte betroffen der Greis.

»Ich sehe Euch zum erstenmal, wie Ihr meine Tinktur zum erstenmal in der Hand hieltet. Aber ich kenne Euch besser als Ihr sie.« 87

»Woher –?«

»Ja, woher! Sollte ich vielleicht inwendig die Türen und Fenster fleißiger offen halten, als es hier herum üblich ist?«

Der Kleine stieß jetzt den Stock auf den Boden. »Wenn Ihr inwendig so viel Licht habt, solltet Ihr auch wissen, daß ich in aller Ehrlichkeit herkam, um vielleicht etwas zu lernen. Es ist mir eine alte Wahrheit, daß man an Hecken und Zäunen lernen kann. Manchen Quacksalber kannte ich, der war an Weisheit den Doktoren über.«

Der Fahrende bewegte sich leicht, als wolle er eine Verbeugung machen. Ein Lachen huschte flüchtig über sein dunkles Gesicht.

»Seid Ihr noch länger in der Stadt?« fragte, ein wenig aus der Fassung gebracht, der Greis, als ihm keine Antwort wurde.

»Ich muß das erst meinen Affen fragen,« entgegnete lächelnd der Fremdling.

Der Kleine fühlte sich verhöhnt. Er schüttelte unmutig den Kopf. Aber dann bat er doch: »Solltet Ihr bleiben, so sucht mich auf! Mein Haus sah schon mancherlei Gäste.«

»Ja, ja,« murmelte der andere, »gehet hin auf die Landstraßen und an die Zäune und führet die Lahmen und Blinden herein.« 88

»Ihr habt einen klugen Kopf,« sagte nach einer Weile der Greis gekränkt, »aber sonst ist etwas in Euch nicht zum Besten.«

Der Fahrende schaute ihm ins Gesicht. »Wißt Ihr das sicher? Ihr, der Ihr Asarum nicht von Daphne unterscheiden könnt? –«

Der Kleine griff sich an die Stirne. »Asarum, das war's! Daß mir's nicht einfiel! War mir doch, als ob ich Frühling rieche.«

»Also doch Frühling und wenigstens nicht eitel Latwergen! Ganz seid Ihr nicht zum Apotheker verdorben. Auch zu anderem könnte es Euch reichen. Ich will gelegentlich in Eurem Hause einkehren.«

Eifrig hob der Kleine seinen Stock und deutete den Markt empor. »Dort oben, wo die Bilder unter den Fensterreihen gemalt sind. Ihr seht's von hier aus nicht, doch – –«

Mit einem Lachen unterbrach ihn der andere: »Wie könnt Ihr wissen, was ich sehe! Ich möchte kaum für die eigenen, geschweige denn für fremde Augen bürgen.«

Der Greis schwieg eine Weile wie ein Gescholtener. Dann sagte er halblaut: »Am Abend jeden Mittwochs kommen wir in der Apotheke zusammen. Wissende, Glaubende. – – Wollt Ihr?« 89

»Ich bin kein Wissender,« murmelte der Fahrende, »und nach Glaubenden wandere ich mir umsonst die Füße wund. So lebe ich von der Hand in den Mund, ein Faselhans –«

Der Greis konnte nicht entgegnen. Weiber traten her und handelten fast gierig um einen Salbentopf.

»Ich erwarte Euch,« rief er da halb bittend, halb befehlend und ging mit seinen kleinen emsigen Schritten davon.

Als hätte sie dort auf des Apothekers Abgang gewartet, kam vom Rathaus herüber, rasch und scheu herschreitend, ein Mädchen. Sie war mittelgroß, zart, jung, mit feinem blassen Gesicht, das von hellen Haarflechten umgeben und etwas sommersprossig war. Um Schläfen und Wangen spielten rötlichhelle Löckchen. Die großen goldbraunen Augen blickten jetzt unruhig, verscheucht.

In sichtlicher Scheu und doch mit dem Willen, Sicherheit vorzutäuschen, ergriff sie einen der wenigen Kolben, die noch auf dem schwarzen Tuch standen. Die lateinischen Worte auf dem großen angebundenen Zettel las sie halblaut und sprach sie ungeschickt aus, als lese sie Französisch.

Den Sprachklängen nachhorchend fragte der 90 Fahrende höflich: »Die Demoiselle ist für das Alamodische?«

Das Mädchen sah ihn an und stellte erschrocken den Kolben nieder. Sie war die Tochter einer Mutter, deren Liebe für alles Fremde und Undeutsche wie ein dunkler Schatten über dem Leben im Vaterhause hing. Die stolze Frau fand sich nicht in der kleinen stillen Stadt zurecht, in die sie der Gatte geführt hatte. Fremd blieb sie und ihr seltsamer Ehrgeiz war, die fremde Sprache in ihrem Haus einzuführen und zu pflegen. Den einzigen Sohn gab sie hinaus zur Erlernung fremder Handelsschaft; die einzige Tochter hielt sie unter dem Druck ihres harten Wesens und den Gatten hatte sie längst zu einem verschlossenen, einsamen Mann gemacht, der nur seinen Geschäften und der verschwiegenen Liebe zu seinen Kindern lebte.

Dem Mädchen war es, als habe ihr der Fahrende mit seiner kurzen Frage eine Larve vom Gesicht gerissen. Die offensichtliche Verstörtheit, mit der sie herbeigekommen war, wurde noch größer.

Hilflos klang's: »Ich meinte, es sei Latein.«

Der Mann lachte. »Das meinte ich auch. Aber wie Ihr es laset, klang es alamodisch. Nun – unsereiner muß jede Sprache verstehen, klinge sie, wie sie wolle.« 91

Er nahm den Kolben in die Hand, den sie weggestellt hatte, las den Zettel und sagte: »Es dürfte nicht das sein, was die Demoiselle sucht.«

»Wie wißt Ihr?« fragte sie verwirrt. Und dann heftig: »Nennet mich nicht Demoiselle. Es ist mir verhaßt. Ich heiße Elisabeth. Sagt Jungfer Elisabeth.«

Es brach etwas aus ihr heraus, was Verwirrung und Schüchternheit niederschlug, weil es stärker war als beides.

Der Mann freute sich heimlich der Durchsichtigkeit ihres jungen Wesens.

»Euer Name ist schön,« lobte er, »er steht Euch wohl an. Auch Euch wird jede Lüge unvermerkt zu einer Wahrheit, wie Eurer heiligen Namensschwester, als sie Bettlerbrot zu Rosen umlog. Ihr kennt doch die Geschichte?« –

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht? Vielleicht kann ich sie Euch ein andermal erzählen. Sagt: machen Euch Eure Sommerflecken, Ephelides genannt, Sorge? Deshalb seid Ihr doch gekommen? Oder wolltet Ihr das nur zum Vorwand nehmen?«

Sie starrte ihn fassungslos an. Ihr lauteres Wesen streckte die Waffen. »Man hat – es gibt – jemand hat gesagt, daß es Tränke gibt,« stammelte 92 sie und man las die Qual herber Scham in ihrem feinen Gesicht.

»Ja,« sagte halblaut und an ihr vorüberblickend der Fahrende, »Liebestränke.«

Sie nickte stumm und sah ganz erloschen aus.

Der Mann fing an, etwas in einer Flasche zu mischen.

»Wie alt?« fragte er kurz.

»Bald achtzehn,« stammelte sie leise.

»Nicht Ihr! Wie alt ist der, für den Ihr den Trank wollt?«

Sie erglühte. »Er ist – ich weiß nicht – vielleicht sechsundzwanzig.«

Der Fahrende ließ die Hände sinken. »Das ist übel, wenn Ihr nichts Genaues wißt. Solche Tränke darf man nicht aufs Geratewohl mischen. Besinnt Euch wohl und steht mir Rede.«

»Was müßt Ihr alles wissen?« fragte sie kleinlaut.

»Ich muß wissen seinen Namen, Stand, Alter, wenn auch nicht auf den Tag genau. Dazu, ob er helle oder dunkle Haare hat und zuvörderst die Mischung seiner Humore.«

Hilflos schaute sie drein. Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen. »So muß ich's lassen.«

Der Mann schüttelte die Flasche. Zu engmaschig 93 für dieses scheue Fischlein hatte er das Netz genommen. Er lenkte ein. »Sagt mir frisch, was Ihr wißt, so werde ich Euch sagen, wie weit ich helfen kann.«

Sie setzte ein paarmal an, ehe sie sprechen konnte. Fast unhörbar kam's: »Johann heißt er. Johann Christian Drimmer. Sein Stand ist – – er ist fort zu den Soldaten. Seine Haare sind dunkel, aber nicht sehr. –«

Abgewandten Blicks lauschte der Fahrende. Jetzt holte er eine Strähne seines eigenen, schwarzgefärbten Haares unter dem Turban hervor, wickelte sie um den Finger und fragte: »Nicht so dunkel wie dieses? –«

»Nein,« versicherte sie eifrig und belebt, »lange nicht so dunkel. Fast hell –«

Der Mann unterdrückte ein Lächeln. »Wie steht es dann mit der Mischung seiner Humore?«

Sie schaute hilflos drein. Der kaum gewonnene Mut zerrann wieder.

»Was meint Ihr? Ich weiß nicht –?«

Der Fahrende hustete. »Sogar das weiß Sie nicht? Und ist doch eine so einfache Sache! Wenn die Jungfer einmal nach Bologna oder Padua kommt, – dort können es ihr die Spatzen auf den Dächern sagen. Nun noch das eine: Ist er schön oder häßlich?« 94

»Schön,« rief sie rasch.

»Das ist gut. Denn die Tränke für die Häßlichen führe ich nicht. Sie sind noch nie bei mir verlangt worden.« Er mischte jetzt und schüttelte, besah und beroch, und der Affe sah ihm dabei auf die Finger.

Auf einmal trat sichtliches Erschrecken auf das Mädchengesicht. Drüben, am Rathaus, stieg ein schlanker, noch junger Mann die steinernen Staffeln herunter. Hans Wakker, der Bürgermeister.

Der Fahrende begriff rasch, daß seiner Käuferin eine Begegnung jetzt unerwünscht war. Er reichte ihr die Flasche. Aber schon trat der Bürgermeister herzu und grüßte die Jungfer.

Sie konnte kaum danken und nicht aufsehen. Verstört suchte sie in ihrer Tasche nach Geld.

Endlich schaute sie mit dem Mut der Verzweifelten in des Fahrenden Gesicht: »Ich habe nichts bei mir, so muß ich's lassen.«

Der Bürgermeister trat nahe zu der Verwirrten. »Kann ich Euch aushelfen? Verfüget nur!«

Sie sah ihn blutbegossen und ratlos an, da klang des Fahrenden Stimme laut und fast scharf: »Ich bin längst bezahlt. Ihr bekommt noch heraus!« Und er gab ihr zu der Flasche noch eine kleine Münze.

Sie nahm beides wie im Traum und ging. 95

Die Männer sahen ihr nach. »Es ist ihr schwer zu helfen, sie hat den Glauben nicht an die eigene Sache,« murmelte der Fahrende so, daß der andere es hören mußte.

»Was fehlt ihr?«

»Ihr wißt, daß der Arzt schweigt,« kam kurz die Antwort.

Der Bürgermeister betrachtete den aufgelegten Kram auf dem schwarzen Tuch. Eigentlich war er nur herzugetreten, weil er das Mädchen, die Tochter einer der ersten Familien, da hatte stehen sehen. Jetzt nahm er den Totenschädel hoch. »Wo stammt der her?«

»Ich denke, aus einer Mutter Schoß,« entgegnete mit Achselzucken der Fahrende.

»Ich meine, wem er angehörte?«

»Vielleicht unsersgleichen –«

Die Augen der beiden Männer trafen ineinander. Es war fast etwas Feindseliges da.

»Wie kam er in Euren Besitz?«

Der Fahrende schob die Hände in die Ärmel. Als hätte er nicht verstanden, sagte er: »Das ist eine absonderliche Sache mit den Schädeln! Wer sich angewöhnt, den weißen Knochen schon unter Haut und Fleisch zu sehen, der sieht auch leicht Haut und Fleisch an solchen weißen Knochen.« 96

Dann nach einer Weile zu dem Bürgermeister: »Also Ihr seht nichts?«

»Die Zähne deuten auf Jugend,« meinte der.

»Ihr seid am Buchstabieren,« entgegnete mit kurzem Lachen der Schwarze, »bis zum Lesen ist's noch eine Strecke.«

»Ihr lest wohl fließend?«

»Ich will nicht sagen, daß ich nicht oft stocke,« antwortete der Fremde ernsthaft, »doch bin ich übers Buchstabieren längst hinüber.«

Mit einem flüchtigen Gruß ging der Bürgermeister seines Weges und der andere sah ihm seltsam lächelnd nach. 97

 


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