Auguste Supper
Der Gaukler
Auguste Supper

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Siebentes Kapitel

Ist sie vergebens durchgewacht,
Weil nirgends Sternenglanz, –
Wie, oder bringt mir diese Nacht
Den Tau für meinen Kranz? –
        A. S.

Im Rathaus hatte, solange der Bürgermeister und der Physikus am Tor waren, die Ampel einsam fortgebrannt.

Die Zurückkehrenden schauten zu den matthellen Fenstern auf.

»Wakker,« spottete herb der Doktor, »Ihr habt da der Stadt für einen halben Heller Öl vertan.«

Der Bürgermeister lachte nicht. Den Kopf erhoben, sagte er nachdenklich: »Euch geht es also auch wie mir: Jetzt, da das Abschiednehmen in der Luft liegt, drücken die kleinsten Untreuen oder Versäumnisse.«

»Weiß Gott,« gestand der andere, »mir ist, als hätte ich eine lange Liste auf dem Kerbholz. Wenn die bösen Tage kommen, schilt alles, was Pack ist, auf Gott und Welt. Was aber nicht Pack ist, fängt dann an, bei sich selber aufzuräumen.« 184

Am Fuß der Rathausstaffel blieb der Bürgermeister stehen, um dem Kleinen den Vortritt zu lassen. Aber der winkte ab. »Ihr braucht mich nicht und es ist besser so. Bei manchem Werk sind drei zu viel.«

Er ging mit kurzem Gruß davon.

Der Bürgermeister stieg zögernd empor. Unruhe war in ihm, Spannung, die er nicht scheuchen konnte.

Die öde Stube grüßte ihn fremd, als sei sie verändert, als hocke irgend etwas Unbekanntes in den Winkeln.

Er setzte sich und wartete.

Das Regengeriesel, das leise Glucksen der Dachrinne redete und redete zu ihm. Sein einsames Warten faltete sich auseinander, wie eine Wunderblume.

Es war jetzt kein Warten mehr, war ein Erwarten voll tiefer Sehnsucht. Kam etwa in der einschläfernden Stille ein Traum herbei, den Mann zu krönen? Oder war hier ein Erdenwanderer in seinem Aufstieg in die Nähe des Gipfels gekommen, wo plötzlich sich der Ausblick herrlich weitet? –

Es war ihm, als sehe er heute zum erstenmal seines Daseins Sinn enthüllt und darüber hinaus, 185 über alles Irdische hinweg, noch strahlende Fernen, unbegangene, lockende Wege.

Und indes er so in die Ewigkeit hineinschaute, lag ihm die jugendschöne Esther an der Brust, für immer ein Teil von ihm und seinem Geschick.

Als er nach langer Zeit von seinem Sitz aufstand, zitterte die Hand, die sich auf den Tisch stützte.

Hatte er eben den Fittich rauschen gehört von jenem Engel, der die Todgeweihten stärkt, oder was war's gewesen? –

Die Ampel knisterte. Er schaute nach dem Öl und goß dann nach.

Mitternacht schlug's vom Turm.

Einen der Blechkasten auf dem Tisch hob er auf. »Schwer für Mädchenarme,« dachte er in scheuer Zärtlichkeit und stellte ihn zurück. Den Deckel tat er auf. Siegel, Petschafte, Papiere lagen drin. Zu oberst ein kleines Päckchen in graue Leinwand eingenäht. Er nahm es hoch und lächelte. Das waren die Schätze, die Anastasia, seine vielerfahrene, treue alte Magd, zusammengesucht und ihrem Herrn übergeben hatte, daß er sie in der Stunde der Gefahr mit dem zu bergenden Gut der Stadt verstecke.

Von dünnen Silberlöffeln, von ein wenig altem Schmuck klirrte es da drinnen. 186

Plötzlich schnitt er den Zwirn entzwei. Der Helfer dieser Nacht sollte seinen Dienst nicht ohne Lohn tun.

Seine Augen suchten. Schuhschnallen lagen da, gut für Männerschuhe. Er schob sie weg. Ein dünnes Ringlein nahm er auf und steckte es langsam an den kleinen Finger. Es war zu eng und ging nur bis zum zweiten Glied. Doch ließ er es so.

Das Übrige wollte er zusammenpacken; da weitete sich sein Blick. Irgend etwas hatte ihn gestreift, ein ferner Hauch, ein fremdes Klingen. Nach einer Dose tastete er versonnen, die wie ein abgebrochenes, mit Deckel versehenes Kuhhorn aussah.

Er nahm sie auf und trat näher ans Licht.

Ein roter Streifen lief unter dem Deckel rund um das Horn, darauf standen halbzerstörte, verschnörkelte Schriftzeichen. Er fing zu entziffern an; aber er brachte nichts zusammen als: ich und du.

Die Hand sank ihm. War das nicht genug, nicht letzte Höhe? Entziffere eine ganze wirre Welt mit allen ihren krausen Zeichen – das »ich und du« ist das Beste, was du finden kannst, das Klarste, Letzte. Er raffte sich zusammen. Den festgeschraubten Deckel versuchte er zu öffnen. Er saß wie 187 angeschmiedet. Man mußte wohl einen besonderen Griff wissen, ihn aufzutun.

Es pochte leise an der Türe.

Der Mann warf Anastasias Schätze in den Kasten und schloß den Deckel. Dann ging er, zu öffnen.

In regentriefendem Männermantel stand Esther Kleinmann auf der Schwelle.

Die Zwei sahen sich kurz, fast scheu oder feindselig in die Augen.

»Also doch Ihr –,« murmelte der Mann.

Sie trat zögernd ein. Die nasse Kapuze streifte sie vom böszerzausten Haar. Ihr Gesicht war blaß, vom Regen überrieselt.

»Er ist noch nicht zurück,« klang es scheu.

Tief atmete der Mann; seine Stimme war hart und fremd.

»Es ist schon reichlich spät. Ich sagte doch: um Mitternacht.«

Sie senkte stumm den Kopf.

Der Bürgermeister sah zur Seite. »Versucht, ob Ihr den Kasten dort heben könnt!«

Sie trat gehorsam an den Tisch. Ihre kraftvollen Arme nahmen ohne viel Mühe die Last hoch. Da glitt ihr der schwere Mantel von den Schultern. Der Mann kam herbei. Es war ihm, als 188 ströme herbe Frische von der schlanken jungen Gestalt im dunklen Kleid.

Den Mantel nahm er auf und legte ihn über den Tisch. Seine Stirne rötete sich. »Esther,« kam es rauh aus seiner Kehle, »geht wieder heim. Ich muß doch bis morgen warten, bis Euer Bruder da ist.«

Erschrocken sah sie ihn an. Dann stieg langsam Hilflosigkeit, Verstörtheit in ihren klaren Blick. »Morgen,« stammelte sie bang, »wer weiß, was morgen ist – – –«

Rasend klopfte plötzlich ihr junges Herz. Heiße Betäubung fiel über sie, ein rettungsloses Versinken, eine selige Wehrlosigkeit.

Wie kam sie an des todblassen Mannes Brust? Wie lange lag sie da, die Arme fest um seinen Hals geschlungen? – –

Der schwere Schlag der Turmuhr dröhnte auf.

Herz an Herz, Leben in Leben kamen zwei Menschen aus seliger Ewigkeit zurück in die bange Erdenstunde.

»Herzliebste du,« murmelte erstickt der Mann, »vielleicht für Not und Tod.«

Dunkler Glanz war in ihren Augen. Sie legte inniger den Kopf an seine Brust.

Die Ampel knisterte, als wolle sie mahnen. 189

Noch einmal schlug jetzt der Bürgermeister den Deckel von Anastasias Schätzen zurück. Das Ringlein war ihm vom Finger geglitten. Er fand es nicht mehr in dem Kasten und nicht auf Tisch und Boden. Er mußte etwas hinunterzwingen, einen Schmerz, ein dumpfes Ahnen; dann bot er lächelnd dem Mädchen die gesamten Schätze dar, damit sie wähle.

Sie griff nach der Dose. Neugierig betrachtete sie das Geschenk und versuchte zuletzt, den Deckel zu öffnen.

»Du mühst dich umsonst,« meinte der Mann, »man muß da wohl einen Zauber wissen.«

Sie schaute ihm ins lächelnde Gesicht, und währenddem ging unter ihren Händen der Verschluß auf. Ein fremder durchdringender Geruch entströmte der Öffnung.

»Ein Riechfläschlein,« sagte sie freudig überrascht.

Der Mann blieb stumm. Seltsames geschah ihm. Fernste Kindheitstage, das entlegenste Land seiner frühesten Jugend, Dinge, die sonst nie in seinem wachen Bewußtsein gewesen, wurden auf den Wellen des fremden Duftes aus rätselhafter Tiefe emporgetragen, emporgespült. Das Schönste war seine Mutter, eine Gestalt voll Liebreiz, 190 mädchenhaft, zart, hell gekleidet. Er sah erschütterndes Leid über ihr feines, blasses Gesicht gebreitet, sah ihre dunklen Augen auf sich gerichtet, auf einen kleinen, blondköpfigen Knaben, dem sie ein Horn ans lauschende Ohr hielt.

»Hörst du,« klang ihre weiche Stimme, »das Meer rauscht da drinnen.«

Ein schwerer Atemzug hob des Mannes Brust. So nah wie eben war ihm die unbekannte Mutter nie gewesen. So deutlich hatte er nie gespürt, daß über ihrem fernen kurzen Leben etwas lag, das durch die knappen Erzählungen und Schilderungen der alten Anastasia nicht restlos geklärt wurde.

Er fuhr sich über die Stirn. Es war jetzt nicht die Zeit, dem Undurchschauten nachzugrübeln. Gewaltsam riß er sich ins Heute zurück.

Bald darauf schüttelte der Nachtwind, der durch die Eberesche in des Bürgermeisters Garten ging, Tropfenschwall über zwei gebückt arbeitende stumme Gestalten. Glühende Beeren fielen dabei in Menge. Wo der Fuß darauf trat, gab's eine blutrote Lache.

Große Liebe macht sorglos, wie kleine vorsichtig macht. Die beiden bedachten nicht, daß auch eine Nacht wie diese mit der einen Hand schenken und schützen, mit der anderen hinterlistig verraten kann. 191

Vor der Wachtstube am Tor stand der Schäfer in der Regennacht. Er horchte eine Weile, klopfte dann und trat ein, als sich nichts rührte. »So lobe ich mir die Wächter,« murmelte er; »wer Türen schließt, zeigt, daß er mehr an den Schlosser glaubt als an den lieben Herrgott.«

Dunstige Wärme füllte die Stube. Eine Ampel qualmte auf kleinem Tisch, und vor dem Ofen in der Ecke beleuchtete matter Feuerschein umhergestreutes Reisig. An der Wand auf schmaler Pritsche schlief, leicht röchelnd, der Soldat.

Der Eingetretene nahm den regenschweren Mantel ab und hängte ihn zusamt dem Hut an den Ofen. Dann tat er das kleine Fenster unfern der Pritsche auf, damit die Nachtluft den Qualm scheuche.

Kühler Hauch streifte den Schlafenden, und er röchelte stärker und unruhig.

Den schlanken Körper reckend, schritt der Fahrende hin und her, als wolle er sich Bewegung machen in dem engen, schwülen Raum.

»Weiß der Kuckuck,« murmelte er, »man hat Mühe, mit des Schäfers Kleid auch den Schäfer von sich abzutun. Ein feiger Lump steckt in der Kluft, man spürt's in allen Knochen. Der Gottesnarr tut gut, sich davor zu scheuen.« 192

Er zog sich einen Schemel unterm Tisch hervor und setzte sich so, daß er den Schlafenden im Auge hatte. Sein Blick war jetzt unverwandt auf den Liegenden gerichtet, und bald schon fing der an, den Kopf auf der Pritsche hin und her zu werfen.

Befriedigt nickte der Fahrende: »So dachte ich mir's.«

Er schaute weg. Schaute einer zierlichen Maus zu, die aus dem Reisig beim Ofen hervorkam. Er griff in seine Tasche und streute Krumen aus. Das Tierchen schnupperte und fraß.

Leise lachte der Mann. »Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden. Sie würden dort nichts aus meinen Händen nehmen, wenn ich im glatten Wams und nicht mit schwarzem Mantel und Hokuspokus käme. Friß ruhig! Es sind die Brosamen, die von Majas Tisch fielen.«

Die Maus schien zu horchen. Aufrecht saß sie, das Schwänzchen um sich ringelnd.

»Soll ich dir etwas von der kleinen Äffin erzählen? Ich habe sie in einem Kuhstall gelassen. Es ist zu wetten, daß ihr das nicht paßt. Einsam fühlt sie sich da und von ihrem Herrgott – das bin ich – verlassen. Dann fängt sie an, sich und den Kühen zu lausen und an den Kuhschwänzen zu schaukeln. So 193 treibt sie's, wenn sie Sehnsucht hat und Bangen.« Er scharrte mit dem Fuß. Die Maus enthuschte.

»Du brauchst nicht zu hören, wenn ich sage: ›So treib' auch ich seit je manchen Unfug aus Sehnsucht und aus Bangen. Da fühlt man sich allein gelassen im dunkeln fremden Stall und tut dann leicht, was man nicht sollte und wollte.‹«

Der Regen schlug jetzt mit leisem Klatschen in die Stube, so daß der Fahrende das Fenster schließen mußte. Er setzte sich nieder und sah dem Tropfenspiel an der Scheibe zu. Dunkler Ernst schattete über sein Gesicht und machte es alt.

Da erschien die Maus wieder.

Er nickte ihr freundlich zu. »Ach so, du willst noch mehr wissen und noch mehr fressen, schon ehe du das andere recht verstanden und verdaut? – So machte ich's in meiner Jugend auch, und ach – vielleicht auch jetzt noch! Man heißt's: Erkenntnis suchen.«

Er streute neue Krümchen aus der Tasche, und ein paar rote Beeren kamen ihm in die Finger. Er warf beides hin. »Da nimm, was ich habe.«

Die Maus beschnupperte die Beeren und fraß sie nicht.

»Was hast du daran auszusetzen? Sie sind ganz frisch vom Baum und wahrlich nicht 194 gestohlen. Sie sind mir in den Schoß gefallen, ich weiß nicht wie. So kommt das Beste immer zu mir her.«

Das Tierchen fing im Reisig zu spielen an und ringelte den Schwanz.

»Ja, ja! Ein wenig Schöntun, ein wenig zierliche Bettelei, damit meint man zu rühren. Hier! Friß den letzten Abfall! Das Bäuchlein mag dir davon schwellen. Ist erst der Bauch geschwellt, so schwillt auch bald die Brust. Ach, kleiner Freund, ich selber kenne das. Solang man Besseres nicht hat, ist's gar nicht zu verachten.«

Irgendwo hallte ein Schuß, irrte schwer zwischen Bergen und Wäldern und rollte aus wie ferner Donner.

Der Mann horchte mit gerunzelter Stirn. »Maja,« sagte er dann ins Weite hinaus, »nicht zittern, es ist nichts.«

Aus dem Reisig vor dem Ofen kam jetzt mit der ersten eine zweite Maus.

Der Sitzende lachte. »Ei, siehe da, schleppst deinen Trautgesellen mit herzu! Willst du die Brosamen oder meine Weisheit mit ihm teilen? Gemeinhin teilt man Weisheit lieber als das Brot. Sie ist ja auch wie ein Regenwurm: wer sie entzweischneidet, verdoppelt sie. Vom Brot hört man 195 das seltener, und wenn man es hört, so glaubt man es nicht.«

Die Mäuse huschten. Es war ein flinkes, hübsches Spiel auf den grauen Dielen, dem der Mann versunken zuschaute.

Nach langer Zeit sagte er: »Du heißt wohl Regula Mussa, du Kleine, Feine, Zärtliche? – Sag: hält dich dein Kumpan auch recht in Ehren? Sagt er zu jedem Wind, der fernher streicht: Tu meiner Liebsten, tu meiner süßen Knospe doch kein Leid! He – sagt er das? –«

Es war, als ersticke das Geflüster in einem Seufzer, und der Mann stand auf, so schwer, als seien ihm auf seinem niederen Sitz die Glieder eingeschlafen. Wie wenn er Bilder scheuchen wollte, fuhr er sich langsam über Stirn und Augen.

Windverweht kam Stundenschlag durch die Nacht. Der Fahrende trat unten an die Pritsche. Als unter seinem Blick der Schlafende unruhig wurde, hob er ihm erst den einen Fuß hoch und dann den anderen. Solange tat er das, bis des Soldaten Atem immer unruhiger und zuletzt ein Keuchen wurde.

Murmelnd kamen die Befehle aus des Fahrenden Mund: »Hinunter diesen Felsenweg! Jetzt dort den Berg hinauf! Die Schlucht hinab und 196 über den Bach! Das Maul aus dem Wasser, Bestie! Stolpere nicht immer, sonst reiße ich dich hoch, daß dir die Zunge aus dem Halse hängt.«

Auf die Lippen des Hingestreckten trat Schaum. Dann kam ein schreckliches Gewieher.

Jetzt wandte der andere die Augen ab und trat zurück.

»Wäre ich nicht barmherziger als du, feiger Tropf,« murmelte er, »so wäre dir des Gaules Schicksal sicher.«

Die verkrampfte Gestalt auf dem Lager keuchte wie gehetzt. Ein paar streichende Bewegungen brachten Entspannung. Abgewandt, das Tropfengeriesel am Fenster beobachtend, setzte sich der Fremdling.

Kurz und rasch, aber doch ruhiger atmete der Schläfer. Nach einiger Zeit richtete er sich auf und warf den Kopf hin und her wie ein unruhiges, zu kurz gehaltenes Pferd.

Dann brach es gurgelnd aus ihm heraus: »Wasser!«

Der Fahrende schüttelte stumm den Kopf.

Plötzlich taumelte der Soldat von der Pritsche auf, stürzte zum Fenster und riß es auf. In viehischer Gier leckte er die Nässe von den Scheiben und vom Sims. Dann wankte er wieder auf sein Lager. Die aufgepeitschten Kräfte hatten ihn verlassen. 197

Wie leblos lag er mit geschlossenen Augen. Der Fahrende trat vor ihn und betrachtete ihn unverwandt.

Auf einmal fing der Liegende an, in der Tasche seines Wamses zu suchen. Aufgeregt tat er es und hastig; aber seine Augen blieben dabei geschlossen. Wie von bösem Traum trat ihm Angst aufs beschmutzte Gesicht.

Ein zerknülltes kleines Päckchen zog er hervor.

Der Fahrende nahm es und lächelte. »Die Feiglinge sind am gehorsamsten,« flüsterte er, das graue lappige Papier in seiner Hand besehend und befühlend.

Da kramte zum zweitenmal der Soldat in der Tasche und zog ein goldenes Ringlein hervor.

»Ach so,« murmelte der Fremdling, »das gehört dazu. Du hast es stehlenshalber herausgenommen. Du bist als Liebesbote so trefflich wie du als Reiter bist.«

Er schob das Ringlein vorsichtig in das Päckchen und steckte beides in die Tasche. Dann setzte er sich wieder schweigend und wartend.

Eine der Mäuse kam aus dem Reisig und versuchte, an der Pritsche hochzuklettern. »Laß ihn schlafen,« gebot leise der Mann, »solang er schläft, ist er wenigstens kein Halunke und gehorcht.« 198

Es war so still und schwül und dämmerig in der Stube, daß auch den Fahrenden der Schlaf überfiel.

Aber bald raffte er sich wieder auf und erhob sich. Den Mantel legte er um und trat an die Pritsche. Derb schüttelte er den nun ruhig Schlafenden. »He, es ist Zeit, aufgewacht!«

Es war eine mühselige Sache, dieses Wecken, und lange kam kein bewußter Blick in die stieren Augen des Soldaten.

»Geh zum Teufel!« war dann sein erstes Wort.

»Soll ich in deinem Mantel zu ihm gehen, damit er mich für dich nimmt?« fragte der Fahrende.

Der Soldat wandte den Kopf und betrachtete den Mantel.

»Wie kommst denn du dazu –,« begann er grob.

»Leicht zu sagen,« fiel der andere ein, »du mußtest ihn in der Krone lassen, als du die letzte Zeche nicht bezahlen konntest.«

»Das hat die Magd, das Luder, dir verraten.«

Der Fremdling zuckte die Achseln. »Weiß ich's, wer alles mir verrät? Du selbst schreist vieles in die Luft; dann sind da Mäuse – –«

»Wo? –« rief der Liegende und bäumte sich jäh auf. 199

»Das sind die echten Soldaten, die sich vor Mäusen fürchten,« sagte verhalten der Fahrende, »du solltest dein Mädchen bei dir haben, die Marie, damit sie, wenn du schläfst, die Mäuse von dir scheuche.«

Stumm, mit scheuen Augen starrte der Verwirrte, und der andere fuhr leiser fort: »Ein wenig sauer würd' es ihr geschehen. Dein Kind wird bald die Wand beschreien; schon ist die Wiege auf dem windigen Hof bestellt und bereitet. Einstweilen liegt eines Scherenschleifers kleiner Junge darin, sie warm zu halten.«

Dumpfe Ratlosigkeit war, die Frechheit zudeckend, über des Soldaten Gesicht gebreitet. Er versuchte sich aufzurichten und sank wieder zurück. »Bleib liegen!« gebot streng der Fahrende, »und sag jetzt: wann und wo gab dir dein Leutnant das Päckchen?«

Jähen Griffs fuhr der Soldat nach der Tasche.

»Laß nur, ich habe es schon, dazu den Ring, den du daraus zu stehlen im Sinn hattest. Wo kam's zum Treffen?«

In verstörtem, trotzigem Schweigen lag der Soldat.

»Weißt du, wie stark der Feind war und wer angriff? –« 200

Keine Antwort.

»Nun,« ermunterte der Fahrende, »ein wenig reden könntest du wohl. Die Feiglinge und Drückeberger sind es ja immer, die nachher gern das Maul aufreißen.«

»Durst,« stöhnte der Mensch.

»Ja, Durst hatte dein Gaul, und du ließest ihn nicht das Maul im Bache kühlen, erinnere dich!«

»Du mußt der Teufel selber sein.«

»Ach nein, nur dann und wann sein ungeschickter Diener. Es war ein frischer, sprudelnder Bach, ein klares, kaltes Wasser, davon dein Gaul nur einen Schluck begehrte, weil ihm die Kraft schon zu versagen drohte.«

»Was willst du von mir – was soll ich? –«

»Aha, du machst wohl nicht zum erstenmal einen Handel,« sagte mit gelassenem Lächeln der Fremdling; »woher kamst du, wie lang rittest du? –«

»Was weiß ich. Im Badischen drüben. Es ging zu wie in der Hölle.«

»Du mußt nicht von der Hölle reden wollen. Kein Feigling ist ihr jemals nahgekommen. Sie ist eine Sache für die Kühnen, die ihren Gaul nie rückwärtsreißen. Wer führte übrigens dein Regiment und wer den Feind?«

Der Soldat gab keine Antwort. 201

»Ist der Welsche herwärts auf dem Marsch?«

»Wasser!« ächzte der Soldat.

»Wasser hätte dein Gaul verdient. Doch auch du sollst es dir bald verdienen. Ich werde jetzt den Torwart aus dem Schlafe klopfen. Er schläft ohnehin fester, als heutzutag die Wächter sollten. Er muß dir für einen Spaten sorgen. Draußen liegt der tote Gaul im Regen, als sei er nur ein ekles Aas. Und war doch eine königliche Kreatur. Ehe der Morgen kommt, darfst du ihn verscharren um einen Becher Wasser.«

»Ja, den Teufel,« knurrte erbost der Soldat.

»Nein, den Gaul! Den Teufel können erst ganz Wenige entbehren, und du bist nicht darunter. Eigentlich sollte ein ehrlicher Mann das edle Tier eingraben. Aber weil dein Durst so groß ist, soll Gnade vor Recht ergehen.«

Er stülpte den Hut auf. »Hast du mir noch etwas zu sagen, Christian Günther? –«

Als keine Antwort kam, ging er hinaus.

Im dürftigen Schimmer der Helle, die aus der Wachtstube kam, sah er den toten Gaul liegen.

Er trat hinzu und nahm den Hut ab. Lang stand er so, dann wandte er sich und klopfte stark am Tor.

Es dauerte geraume Zeit, bis oben ein Fenster klang, und noch länger, bis der alte Kohler mit 202 einer Laterne auftauchte. Scheltend hob er sie vor dem Schäfer hoch.

»Was ist denn schon wieder los? Was willst denn du mitten in der Nacht? Wer bist denn du? –«

Der Fahrende ließ den Alten eine Zeitlang knurren. Es lag fast etwas Behagliches darin, wie in der gefahrumdrohten Nacht seine Taubheit diesen Wächter so sorglos machte, als liege die Welt im Frieden.

»Du kennst mich doch,« schrie ihm der Fahrende ins Ohr, »ich bin doch der, der mit Seiner Gnaden dem Bürgermeister kam. Ich soll dir Meldung machen, daß der Musketier seinen Gaul verscharren soll, eh der Tag heraufkommt.«

Der Wächter schwenkte die Laterne gegen den Kadaver hin. »Ein schwer Stück Arbeit.«

»Sauber muß die Grube sein! Könnest ihm ja helfen, sagt der Bürgermeister. Im nassen Boden ist gut graben.«

Auf dem heißen Blech der Laterne zischten die Regentropfen. Der Wächter sah vor sich hin, als besinne er sich.

Wieder näherte da der Fahrende seinen Mund dem Ohr des Alten. »Der Physikus meint, du seiest in diesen Zeiten ans Tor zu alt. Du kannst ihm zeigen –« 203

»Der –,« unterbrach, lebendig geworden, der andere, »der weiß ja nicht einmal etwas für meines Weibes Brusthusten.«

Leise lachte der Fremdling. »Sie soll doch die thorazische Tinktura nehmen, elfmal im Tag einen Tropfen auf elf Tropfen Wasser.«

»So etwas nimmt sie. Die Esther hat's ihr gebracht.«

»Die Esther! Treibt sie die Kunst?«

Der Alte zupfte den Docht der Laterne hoch und schüttelte die Finger, als hätte er sie verbrannt.

»Sie treibt alles, den Leuten zu helfen. Die pumpt den Teufel an und fragt nicht um den Zins, wenn sie weiß, daß ein anderer das Geld braucht.«

Der Schäfer nickte. Dann schrie er dem Alten ins Ohr: »Wie hoch der Zins ist, erfährt ein jeder zu seiner Zeit. Sorgt, daß der Gaul gut untern Boden kommt; der Morgen wird bald da sein.«

Er ging ins Dunkel hinein. 204

 


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