Auguste Supper
Der Gaukler
Auguste Supper

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Sechstes Kapitel

Verkleidet geh ich hin; den armen Rock
Des Pilgers oder Schäfers zieh ich an.
Ich schleiche durch die Start – – –.
        Goethe.

Das Tal herab fuhr Regenwind. Die Dunkelheit lag schwer über der Stadt. Der Fluß rauschte anders als sonst. Es war Angst in seiner Stimme, all die Menschenangst, die zwischen den Bergen braute. Die Laternen in den Gassen schwankten ohne Licht an ihren Ketten. Wenn der Wind hart an sie stieß, ächzten sie auf. Wie Schemen und Gespenster reihten sich die Häuser, drohend stachen die Giebel in den nächtlichen Himmel.

Das Siechenhaus, jenes stattlichere Gebäude nahe der Brücke, hatte dunkle Fensterreihen. Es war leergefegt, denn die Kranken, die kein guter Glaube hatte heilen können, standen auf und wandelten, als der Glaube an das nahende Böse in ihnen aufflammte. Die kleine Kirche oder Kapelle daneben, mit ihrer einzigen Glocke im niederen Türmchen, schaute ergeben nach dem dunkelziehenden Wasser. 153

Drüben über der Straße, mit der Rückseite an den Berg gelehnt, stand das schmale, spitzgiebelige Häuschen des Tuchmachers Kleinmann, das der riesige Mann nach der Eltern frühem Tod mit seiner schönen Schwester allein bewohnte. Vom oberen Stockwerk führte ein kurzer Steg hinüber zu dem kleinen, dem Berg abgerungenen Garten, der mit seinem kärglichen sandigen Boden die Mühe nur dürftig lohnte, die die junge Esther auf ihn verwandte.

An diese kümmerliche Scholle stieß der gleich kümmerliche Garten der Schmiede, die ihre rußige Werkstatt unfern auftat.

In die Schmiede war die blasse Sara zu kurzer, glückloser Ehe verschlagen worden. Sie, die keine Tochter der bergigen Stadt war, fand sich schwer zurecht in dem engen Tal und noch schwerer in der Lebensgemeinschaft mit dem Schmied, dem die Waise auf viel fremden Zuspruch hin, unwissend und nahezu willenlos gefolgt war.

Des Schmiedes früher Tod nahm wohl einen dumpfen Druck von dem jungen Weib, aber er ließ sie zugleich ohne Halt, ohne Rat, ohne sicheren Boden unter den Füßen.

Da nahten ihr, wie jedem Schwankenden, zwei Gewalten, eine dunkle und eine lichte. 154

Der Knecht, der am Amboß stand und sich schon als Herr der Schmiede aufspielte, war ein starker, selbstsicherer Mensch, nach dem ein müdes und haltloses Weib wohl die Hände ausstrecken mochte. Er fing an, der einsamen Meisterin Blicke und Worte zuzuwerfen, unter denen sie heimlich erzitterte. Die Funken, die sein starker Arm aus dem glühenden Eisen schlug, schienen in ihre halberstarrte Seele zu fliegen und wollten da einen Brand entfachen, wie sie ihn nie zuvor gekannt hatte. Mit stillem Triumph spürte und nützte es der Freche.

Benommen, voll eines dumpfen Fühlens, das halb Angst, halb angefachte Glut war, stand das einsame Weib diesem Heißen, Gefährlichen gegenüber. Sie wäre dem Knecht wohl als sichere Beute anheimgefallen, wenn nicht die andere, die lichte Gewalt auf dem Plan erschienen wäre.

Das war in dem kümmerlichen Gärtchen, wo die Witfrau zur Frühlingszeit mit den Geschwistern vom Nachbargarten zusammentraf. Philipp Kleinmann, der Riese, half ihr, das Wasser herzutragen, mit dem sie ihre sprossenden Blumen begoß. Dieses Wasser löschte das ungute Feuer, das sie zu verzehren drohte. Der ruhige Tuchmacher mit seinem zarten, fast kindlichen Herzen, wand mühelos dem frechen Schmied die Beute aus der Hand. Da 155 wurde die voreilige Sieghaftigkeit des Knechts zu Tücke und Haß, von dem die Gegenspieler in ihrem sprossenden, verschwiegenen Glück, das sie sich selbst noch nicht eingestanden, wenig oder nichts merkten.

Es war noch nicht spät am Abend und doch lag schon tiefe, beklemmende Stille über den leeren dunklen Gassen.

Ein Mann kam von der Brücke her und klopfte am kleinen Haus der Geschwister um Einlaß. Hinter ihm, von ihm unbemerkt, hatte sich der Schatten des Schmiedsknechts vom Tor der Schmiede gelöst, war ihm gefolgt und wieder ins Dunkel getaucht.

Im Hausflur nahte ein Schritt. Eine Mädchenstimme fragte: »Wer klopft?«

Leise kam darauf die Antwort: »Tut nur auf, Jungfer Esther!«

Nun standen sich im engen Flur der nächtliche Gast und das Mädchen gegenüber. Die brennende Leuchte in Esthers Hand zitterte plötzlich.

Hans Wakker, der Bürgermeister, nahm den Hut ab. Sein Gesicht war sehr bleich. Das Gesicht eines Sorgenvollen, Beschwerten.

Jetzt leuchteten seine Augen flüchtig auf. »Ihr seid also noch da, Jungfer; nicht ausgerissen, wie die meisten?«

»Wohin sollte ich?« fragte sie leise dagegen. 156

»Nun, in die Wälder, in die Höhlen; was weiß ich, wo sich alle verkriechen.«

»Ist Eure Anastasia fort?«

»Meine Stasia« – er lachte kurz – »wie könnt Ihr fragen! Sie hat mich nie verlassen, seit ich lebe.«

Das Mädchen stellte die Leuchte ab. »Wo es für Stasia recht ist, mag es doch auch für mich recht sein,« murmelte sie abgewandt.

Stumm sah der Mann sie an. War eben ein Windhauch über die Saiten in seinem Innern gefahren, oder woher kam dies plötzliche heimliche Klingen?

All die Jahre her war dieses schöne stille Mädchen dagewesen, wie eine Blume, die schweigend am Wege steht. War eben erst ein Blick auf sie gefallen, der sie und ihre Herrlichkeit entdeckte? Oder hatten die Augen längst gesehen und nur die Seele wollte es seither nicht recht wahrhaben?

Der Mann hatte zu wissen gemeint, daß diese Junge, Kraftvolle, seiner alten und oft müden Magd Anastasia als freundliche töchterliche Hilfe beisprang, so oft es nottat; nun stieg dahinter ein anderes auf, wie die fernen strahlenden Firne ihre schimmernden Herrlichkeiten hoch über alles Niedere her zeigen. 157

»Die Allertreuesten sind noch da,« sagte er erstickt.

Das Mädchen stand an der Wand, als suche sie Deckung. Die blonden, langen Flechten, wohl schon für die Nacht zurechtgemacht, hingen ihr über die Schultern.

In tiefster Verstörtheit murmelte sie: »Ich fürchte mich nicht.«

Den Mann durchschauerte es, daß ihm jäh die Hände kalt wurden.

»Esther,« sagte er mit enger Kehle, »es kann um Euer Leben gehen.«

Klanglos, kurz, kam's zurück: »So mag's.«

Auf der Gasse wurde ein Schritt laut.

Wie ein Windstoß das Spiel der Schmetterlinge auseinandertreibt, so zerriß der harte Klang das Namenlose, das Strahlende, das eben noch das Herz des Mannes umgaukelt hatte.

Er horchte. In seinen Augen war der Glanz erloschen.

Der Schritt draußen verklang.

»Ist Euer Bruder da?« fragte er kurz.

Sie sah ihn an. Ruhig klang's: »Mit des Kronenwirts Gäulen ist er in der Frühe fort, die Frau Altbürgermeisterin wegzubringen.«

»Und noch nicht zurück?« 158

»Auch Doktor Bardilis Frau und Kinder nahm er mit; es war ein ganzer Wagen voll.«

Ein kleines Lächeln ging über des Mannes Gesicht. »Sieben Stück; da blieb für Euch nicht Platz. Aber die Schmiedswitib, die Rotfelderin, wird er doch mithaben?«

»Die will bleiben, wo er bleibt,« entgegnete rasch das Mädchen.

Sie sahen sich in die Augen. Es war fast wie Feindseligkeit.

Jetzt sagte der Mann kühl: »Schicket mir Euren Bruder aufs Rathaus, sobald er zurück ist. Ich brauche einen zuverlässigen Mann, der mir heute nacht noch einen Dienst tut, von dem niemand wissen soll.«

»Wenn er kommt, ist ihm keine Stunde zu spät, aber – –«

»Ihr habt ein Aber?«

»Er wird wohl auswärts den Tag abwarten, die Gäule zu schonen.«

Unruhig blickte der Bürgermeister auf. »Das wäre mißlich. Es sind nicht viele mehr in der Stadt, die ich bitten könnte, bitten möchte –«

»Ein Mann muß es wohl sein?« fragte das Mädchen mit sachlicher Ruhe.

Er sah sie an. Unbewußt fragte sein Blick: Bist 159 du schon fertig mit dem von vorhin? – Schon wieder ganz unbefangen? –

»Ihr, Esther?«

Sie nickte. Herbe Kühle lag um sie her, Abweisung fast.

Der Mann stülpte den Hut auf. »Ist er um Mitternacht nicht zurück, so kommt! Lieb wäre mir, wenn niemand darum wüßte.«

»Es soll niemand darum wissen,« murmelte das Mädchen und tat ihm die Türe auf. Der Luftzug löschte die Ampel.

Er ging ohne Gruß. Sie stand lange reglos im Finstern.

 

Im Rathaus, in des Bürgermeisters Amtsstube, schimmerte Licht. Der bläßliche Schein erhellte das weite Gemach nur spärlich. Die schweren, nüchternen Aktenschränke standen halbgeleert, mit offenen Türen. Ein langer schmaler Tisch lief mitten durch die Stube, darum reihten sich Stühle mit hohen, schöngeschnitzten Lehnen.

Der große Ofen mit seinen hellgelben Kacheln wärmelte noch leise vor sich hin von all dem Papierwerk, das nach und nach in ihm verbrannt worden war. Das trug einen schwachen Schimmer von Behagen in den sonst wenig behaglichen Raum. 160

Aktenstöße lagen auf Tisch und Stühlen; aber nicht unordentlich, sondern wohlgeschichtet und mit Bedacht zurechtgelegt. Eine Reihe großer neuer Blechkasten glänzten im schwachen Ampelschein, als seien sie von Silber.

Der Bürgermeister stand von seinem Sitz auf und schob sie auf dem Tisch zusammen.

Langsam wanderte er in dem dämmerigen Gemach auf und ab und unvermerkt kamen auch seine Gedanken ins Wandern. Längstversunkenes stieg herauf, Kindheit, erste Jugend wurde lebendig. Weit fort, auf nordischer Heide, war er einst zum Bewußtsein erwacht.

Der Tag, da er mit tiefer Seligkeit im kleinen Herzen die unsäglich schöne und unsäglich fremde Sache »Welt« auf sich eindringen fühlte, stand auf. Summende Bienen waren damals da und blühendes Heidekraut und wollige Schafe.

Und dann tauchte ein Holunderstrauch auf, mit weißen Blüten überdeckt. In seinem Schatten, auf kleiner Bank, eine Frau in weißem Kleid. Lächelnd, schön, jung, stumm; ein Spielzeug unbekannter Art in ihren blassen Händen. –

Es klopfte.

Der Bürgermeister kam von weither zurück und rief zum Eintritt. Der Physikus trat über die 161 Schwelle. Er grüßte kurz und warf sein feuchtes Hütlein auf den Tisch.

»Es regnet,« rief er, »vielleicht hängt der Himmel einen Vorhang vor unser Tal, daß die Räuberbande den Eingang nicht findet.«

»Da müßte es schon Schmiedknechte regnen,« meinte leise lächelnd der Bürgermeister.

»Aber nicht die Sorte, wie sie die Rotfelderin hat! Der Kerl gefällt mir nicht.«

»Was tat er Euch?«

»Nichts, nichts. Er streicht nur um die Ecken, wie die Katzen. Katzen bei Nacht soll der Teufel holen.«

»Ihr seid unwirsch aufgelegt.«

»Soll ich singen? Soll ich vielleicht das schöne Liedlein singen: In meiner Heimat ist ein Rosengarten –?«

»Ich kenne das schöne Liedlein nicht,« sagte lächelnd der andere.

»Nicht? – Das Liedlein kennt Ihr nicht, wo die Mädchen alle wie die Rosen sind und die Männer wie die tapferen Ritter? Schade, schade; das solltet Ihr kennen! Es klingt nie schöner, als wenn alles aus den Toren stiebt, die Rosen und die tapferen Ritter.«

Sie blieben stumm. Der Bürgermeister setzte 162 zum Sprechen an und schwieg dann doch wieder. Man hörte jetzt das glucksende Plätschern in der Dachrinne dicht vor den Fenstern.

»Was meldeten eigentlich die letzten Boten?« fragte der Doktor nach langer Zeit.

Der Bürgermeister zuckte die Achseln. »Die Wälder voll von Flüchtenden, die Luft voll Rauch.«

Der Physikus stampfte auf den Boden. »Rindviecher!«

Hans Wakker schritt auf und ab. Jetzt fragte er: »Sagt, Bardili, was hofft Ihr eigentlich? Warum ginget Ihr nicht mit den Euren? So, wie die Sache liegt, ist nichts aufzuhalten.«

Der Arzt warf sich auf einen der schönen Stühle. Er legte den Kopf in die Hand, so daß ihm die langen Haare in die Stirne fielen. »Was hofft denn Ihr? Warum bleibt denn Ihr?«

»Bei mir ist es etwas anderes; mir ist die Stadt befohlen.«

Der Physikus warf die Haare zurück. »Befohlen, ja! Mir befiehlt mein Blut, nein, mir befiehlt mein Herrgott, wenn's um die Heimat geht.«

Der Bürgermeister trat ans Fenster, gegen das die Nacht ihr schwarzes Antlitz drückte.

Nach langer Zeit fragte der Arzt: »Also gutwillig werdet Ihr die Tore zum freien Durchzug 163 auftun? Den Marder werdet Ihr in den Hühnerstall lassen?«

Hans Wakker wandte sich um. »Soll ich, wie ein Knabe, leere und schwache Hände zu Fäusten ballen? Der schwarze Vagant mag kein großer Prophet sein; aber in diesem Stück weiß er doch wohl das Rechte.«

Ein erzwungenes Lachen klang auf. »Ach so, der Schützling des Jakobäus? Wer doch auch solch ein kindliches Gemüt hätte, wie der Apotheker! Und auch Euch hat es also der Schwarze angetan?«

Der Bürgermeister winkte ab. »Nachdem mir Recht und Macht aus den Händen gewunden ist, kann ich nur noch tun, was Regierung und Stadtvolk wollen.«

»Regierung!« fuhr der Kleine auf, »sagt: eine Handvoll selbstsüchtiger Hohlköpfe! Und Stadtvolk? – Wir und noch ein paar Männer sind jetzt Stadtvolk. Alles andere ist Fluchtvolk, Gesindel, Zigeunerpack, das umherstreift. Und wir sollen keine Stimme haben? kein Recht? Nur Feigheit wäre der Trumpf dieser Zeit?«

Der Bürgermeister sah stillen Blicks auf den Erregten. Leise sagte er: »Ich glaube, für jeden kommt einmal eine Zeit der gebundenen Hände. 164 Was man in ihr lernt, wird zu einem Guthaben für später.«

»Torheit!« brauste der Doktor auf, »gebundene Hände sind des Teufels Gaukelwerk. Ein rechter Mann hat nie gebundene Hände. Und das Guthaben! – Haha – wer den Teufelsbetrug nicht durchschaut, macht Schulden vor unserem Herrgott und der weiß sie einzutreiben.«

Man hörte jetzt etwas, wie ein fernes Hornsignal.

Beide lauschten.

Der Physikus lachte auf. »Vielleicht schickt noch ein anderer Mareschal um Lösegeld, sie haben solcher hohen Herren ja mehr als rote Hunde.«

»Oder eine Büberei,« sagte der Bürgermeister, »die gedeiht immer da, wo die Angst ist.«

Der Arzt ging im Zimmer hin und her. »Man war gegen den Kerl mit den Goldborten viel zu höflich,« wetterte er, »hätte ich nicht das Loch in den Wisch gebrannt, des Magistrats Antwort wäre fast wie eine Zusage gewesen.«

Der Bürgermeister spürte, wie sich der andere quälende Unruhe vom Herzen reden wollte. Aber er gab keine Antwort.

Das erregte den Erregten. »Tut den Kohler vom Tor! Der Kerl ist zum Wächter zu alt! War 165 das eine Art, einen Welschen mir nichts, dir nichts in die Stadt zu lassen!« rief er zornig.

Hans Wakker schüttelte den Kopf. »So, wie die Dinge uns aufgezwungen sind, dürften die Alten, die Gelassenen an den Toren am Platz sein. Der Kohler ist treu und er kennt keine Furcht.«

»Sagt: er sieht keine Gefahr.«

»Das ist vielleicht das gleiche,« meinte mit trübem Lächeln der andere.

»Ja, ja,« brach es streitsüchtig aus dem Kleinen, »es liegt jetzt so in der Luft, daß kein Unterscheiden mehr ist zwischen Dummheit und Mannheit.«

Der Bürgermeister tat, als hätte er nicht gehört. Ganz anderen Tones begann er: »Doktor, Ihr wißt, wie es vor nicht sechzig Jahren der unseligen Stadt erging. Verwüstet, geplündert, verbrannt, blieben ihr nicht einmal die Urkunden aus Vätertagen.«

Der Kleine fuhr sich durch die Haare. Sein Grimm war in eine neue Bahn gelenkt. »Ja, ja, das ist's! Wie elendes Krautwerk ohne Wurzeln sollen wir gemacht werden. Jeder unserer Feinde weiß, daß nur noch für den Mist taugt, was nicht Wurzeln hat. Wir sollen die Taten der Väter 166 vergessen, weil daraus die Kraft der Kinder und Enkel erwächst.«

Der Bürgermeister nickte. »Man hat damals versäumt, das Wichtigste wenigstens zu verbergen, wenn man es schon nicht verteidigen konnte. Ich möchte nicht noch einmal den gleichen Fehler machen.«

Er deutete über die Blechkasten hin. »Da drinnen ist das Nötigste geborgen. Außer mir und dem, der mir beim Eingraben hilft, sollt nun auch Ihr um Lebens und Sterbens willen wissen, wohin ich's zu bringen gedenke.«

»Wer hilft Euch?«

Die Frage lag nahe. Aber dem Bürgermeister war es, als müsse er sie unwillig zurückweisen. Er biß sich auf die Lippen, dann sagte er zögernd: »Ich bat Philipp Kleinmann, den Tuchmacher.«

Der Arzt nickte. »Unantastbar,« murmelte er.

Es blieb eine Zeitlang still. Dann meinte der Kleine: »Wenn ich einen noch verläßlicheren Helfer nennen sollte, so könnte ich mich nur auf die Schwester besinnen.«

Der andere machte sich an der versagenden Ampel zu schaffen.

»Wann?« klang jetzt des Kleinen Frage.

»Nach Mitternacht.« 167

»Wo?«

»In meinem Garten. Er liegt außerhalb. Der Weg ist steil. Keiner geht ihn leicht aus Übermut.«

»In einer offenen und leeren Stadt dürfte sich der Übermut sehr breit machen.«

»Ein Mäuerlein ist dort. Gänsekresse hängt über die Steine.«

»Arabis albida,« warf leise der Doktor ein, der ein großer Pflanzenfreund und ‑kenner war.

»Sie deckt alle Fugen im Mauerwerk mit verfilztem Gewirr.«

Der Arzt legte jetzt seine Hand auf einen der Blechkasten. »Vielleicht einstens, wenn man längst mit des Doktor Bardili Knochen Äpfel von den Bäumen wirft, werden deutsche Männer deutsche Habe anders schützen. Wir aber müssen sie in alte Mauern stopfen und Bienenfutter drüber wachsen lassen.«

Es klang ein so erschütternder Schmerz, eine so tiefe Bitterkeit aus der Rede, daß der Bürgermeister sich wieder stumm zum Fenster kehrte. Nach langer Zeit wandte er sich um. »Noch eins,« sagte er leise, »und auch das soll um Lebens und Sterbens willen sein: Ihr kennt meine alte Stasia. Sie geht nicht von mir. Wenn ich von ihr gehen müßte, wäret Ihr für sie da? –« 168

Der Doktor hob den Kopf. »Ihr kennt meine Hausfrau und meine sieben Kinder. Teils jung, teils jünger. Mit List und Gewalt habe ich sie dem Philipp Kleinmann auf den Wagen geladen, daß er sie flußaufwärts unterbringe. Wenn ich von ihnen ginge – wäret Ihr für die Meinen da? –«

Sie reichten sich stumm die Hände.

Regenrauschen war jetzt laut zu hören. Ein fernes Donnergrollen. Sie horchten hinaus. Plötzlich sagte der Bürgermeister: »Lachet nicht, Doktor, mich quält, was mich nie gequält hat.«

»Sprecht!«

»Es ist nicht Eigenliebe, ist nicht –«

»Sprecht!«

»Es gehen ja Tausende dahin, wie wenn ein welkes Blatt vom Wind verweht wird. Aber seit ich hier in der Stadt eine Heimat gefunden habe –«

»Sprecht!« sagte zum drittenmal der Arzt, als der andere stockte.

Der Bürgermeister gab sich einen Ruck. »Nur Anastasia weiß das Rechte über mein Leben. Sie ist über die Achtzig hinaus. Wenn mein Mund und der ihre sich schließt, wäre es, als sei ich nie gewesen.« 169

»Es ist keine Unnot, daß Ihr erzählt,« ermunterte mit auffallender Ruhe der Doktor.

Der Bürgermeister setzte sich und stützte den Kopf in die Hand. »Mein Großvater war einer von denen, die Ihr verachtet. Ein Heimatloser.

Der große Krieg hatte den Obristen Mussa herumgewirbelt. In einem Scharmützel im Thüringischen ließ er den linken Arm. Auf einsamem Gehöft begrub man das Glied unter einem Stein. Nach Jahren ritt der Einarmige wieder zur Stelle. Der Krieg war vorüber. Über den Platz ging der Pflug, der Stein war verschwunden. Aber wo einer einen Teil von seinem Leibe ließ, heißt es, da kommt er nicht los.

Auf dem Gehöft war ein Besitzer, der auch nicht sein Lebtag Bauer gewesen war. Der Oberst sprach mit ihm von diesem und jenem und dann vom Krieg. Darüber sank die Nacht.

Des Einarms Gaul stand in einem guten Stall, der Gast blieb auf dem Hof.

Der Bauer war selbst jahrelang ein Schweifender gewesen, Reiter erst, dann Reiterführer. Sein Name klang dem Einarm gut und hell in den Ohren, wenn ihn der Besitzer jetzt auch verhüllt und verändert hatte. Eine junge Tochter erblühte 170 auf dem Hof. Der Gast sah sie. Johannistrieb kam über den Einarm. Er vergaß, daß die beste Kraft Leibes und der Seele in wilden Zeiten vertan war, und warb um das halbe Kind. Das Mädchen, die Tochter einer namenlosen Toten, und in der unwirtlichen Einsamkeit des Gehöfts von heißem Durst nach Leben und Erleben erfüllt, erlag nur allzu rasch dem seltsamen Werber. Knirschend sah es der Hofbauer. Er verwünschte zu spät den Gast und die Gastfreundschaft. Er mußte sein junges, heißblütiges, einziges Kind dem Einarm zum Weibe geben.

Ein Mädchen wurde dem ungleichen Paar geboren. Nach weiteren achtzehn Jahren war dies Mädchen, Regula Mussa, meine Mutter.«

»Ihr reitet schnell,« warf der Doktor ein.

Der Bürgermeister blickte nicht auf. »Möchtet Ihr, daß ich verweilen sollte bei all dem Leid, der Verirrung und Verwirrung, die den unglückseligen Ehebund erfüllten? – –

Der Vater meiner jungen Großmutter starb bald. Sein ganzer Besitz kam an meinen Großvater. Eine Hand aber, die, wie die des Einarms, keinen Kameraden hat, kann nicht viel halten. Das schöne, wilde Weib konnte die fehlende Hand nicht ersetzen. Ihre Lebensgier war nicht gestillt. Sie 171 griff nach Dingen –« er unterbrach sich; – »ich habe nicht zu richten. Die Großmutter starb, als meine Mutter zehn Jahre alt war. Der Oberst machte den Hof zu Geld – –«

»Der Narr,« warf hitzig der Doktor ein.

Der Bürgermeister nickte. »So sieht es aus, von hier, von heut gesehen. Wie es der alternde Mann damals sah, können wir nicht wissen. Aufs neue ein Heimatloser, zog er mit seinem Kind und der Magd Anastasia umher, bis die Tochter von ihm in die Ehe ging. Dann, nach meiner Mutter frühem Tod – –«

»An was starb sie?« fragte kurz der Arzt.

Der Bürgermeister atmete tief. Dann sagte er schwer, fast widerstrebend: »Sie ist in meiner Erinnerung wie ein Saitenspiel, das langsam Klang um Klang verlor. Alles mündete zuletzt in Stille ein. Das war ihr Sterben. Mehr weiß ich nicht. Es soll die Milch ihr in den Kopf gestiegen sein bei meiner Geburt, sagt Stasia.«

»Euer Vater?«

»Ich kannte ihn nicht.« Es klang etwas Schroffes, Zurückweisendes in der kurzen Antwort.

Der Doktor schrieb auf dem Tisch. Ohne aufzusehen sagte er: »Ich kann mir das Weitere denken. Der Großvater nahm sich des Enkels an. Wenn 172 den Jungen die Zügel entgleiten, müssen die Alten wieder zupacken.«

»Ich kam auf die Schulen,« entgegnete der andere ablenkend, »das Studium der Rechte hielt mich fest. Daß es mich dann in dieses Tal verschlagen hat, ist mir selbst wie ein Wunder.«

»Und der Oberst?« fragte der Doktor.

»Er liegt neben seinem Kind begraben,« kam leise die Antwort.

Draußen hatte der Regen nachgelassen. Der Arzt nahm sein Hütlein vom Tisch. »Hängt Euren Mantel um,« sagte er ermunternd, »es ist noch lang bis Mitternacht. Wir wollen nach den Toren sehen. Es taugt nicht, zu hocken und zu warten! Da fallen einen die Gedanken an wie die hungrigen Wölfe.«

Der Bürgermeister willfahrte. Sie gingen langsam den dunklen Flur entlang. In die Finsternis hinein sagte der Doktor leise: »Wenn das, was Ihr unter die Gänsekresse legen wollt, so gut verwahrt ist, wie alles, was Ihr mir erzählt habt, so holen wir's unversehrt hervor, wenn das Wetter vorbei ist.

Der andere gab keine Antwort. 173

 

Die Männer gingen durch dunkle Gassen. Ihr Gespräch kam stoßweise wie der unruhige Wind, der um die Ecken strich und manchmal einen Schäfermantel faßte.

In Flussesnähe kamen die Sprechenden. Auf den Wiesen besser oben, die jetzt nichts waren als ein stiller Fetzen Nacht, hatten sie vor kurzem noch mit Bürgern und Bürgerssöhnen Waffenübungen gemacht. Aber die Männer, mit denen sie sich mühten, waren alles andere eher als willig und begeistert. Der Bann dunkler Hoffnungslosigkeit, dumpfen Verzagtseins lag über ihnen, und das Erquälte und innerlich Tote des angefangenen Werks ließ sich nicht überwinden.

Der glühende Wille und Glaube der Lehrmeister prallte daran ab wie ein Geschoß an einem Berg von Watte.

Da warf der heißblütige Doktor die Sache hin und rief: Wo man den Hund zum Jagen tragen muß, ist schon die Jagd vertan. – Jetzt standen die beiden Männer und dachten an die klägliche Sache. Klang eben nicht irgendwo Hufschlag auf? Nun brandete wieder schwere Stille, gehoben von dem Rauschen des Wassers, gegen sie her. Und dann unterdrückter Lärm, Klopfen, Unruhe.

Sie eilten vorwärts, der Brücke, dem Tor zu. 174 Eine Laterne glühte auf. Der Torwart Kohler trat ins Freie. In das Knarren des Torflügels hinein rief eine abgehetzte, rauhe Stimme: »Alter Esel! Sollst an der Pest verrecken! Einen so lang nicht einzulassen.«

Man sah jetzt einen Reiter, der vom Pferd glitt. Er und sein zitterndes Roß waren fahl von der Laterne beleuchtet. Die Buntheit einer bös zerfetzten Montur war zu erblicken.

Der Physikus trat hinzu und schrie auf: »Einer vom Regiment Baden-Durlach!«

Jetzt taumelte der Soldat. Er lehnte sich an die rasend arbeitende Gaulsflanke. Mit dem Ärmel fuhr er sich über das nasse Gesicht. Der Arzt war schon bei ihm. »Du bist der Christian Günther vom windigen Hof, der sich mit dem Drimmer hat anwerben lassen.«

Der Erschöpfte nickte nur; er konnte nicht antworten.

»Wo ist dein Leutnant?« klang es schreiend.

Der Soldat riß sich mühsam zusammen. »Der Drimmer,« gurgelte er, »der liegt im Stoppelacker.«

In der Hilflosigkeit seiner zitternden Ungeduld stampfte der Doktor mit dem Fuß. »Mach's kurz!« stieß er hervor, »ist's zum Treffen gekommen?« 175

Ohne daß jemand darauf achtete, trat jetzt aus dem Dunkel heraus ein Schäfer von der anderen Seite an den Gaul.

Der Soldat stammelte etwas, dann knickten ihm plötzlich die Knie ein und er sank zusammen.

»Wasser, Kohler!« gebot jetzt mit seltsamer Ruhe der Doktor, »Wasser oder Wein, was du zur Hand hast.«

Als belebe ihn schon der Gedanke an den Trunk, schaute der Zusammengesunkene auf. »Alles ist hin,« stammelte er, »kein Herzog und kein Markgraf kommt gegen die Welschen auf. Der Teufel hilft ihnen.«

Der Torwart hatte seine Laterne auf den Prellstein gestellt und war weggelaufen. Der Regen rieselte wieder und der schwache Lichtschein hellte kaum die Umrisse aller Gestalten auf.

»Wein,« gellte es hinter dem Pferd hervor, »Wein!«

Der Doktor wollte sich nach dem unsichtbaren Rufer wenden, da sah er, daß der Soldat Hilfe brauchte. Er kniete sich zu ihm.

Mit vollem Becher nahte der Torwart.

Der Schäfer trat hinter dem Gaul hervor und entriß dem Mann den Trank. Er goß sich die Hand voll, er flehte das zitternde Tier an, zu trinken, er 176 schüttete ihm Wein über Nase und Maul. Er tat das alles, als sei er allein mit der sterbenden Kreatur.

Der Soldat, jäh belebt, tat einen heiseren Schrei. In unmenschlicher Gier taumelte er auf. Er stürzte sich auf den Schäfer, der den Becher hielt.

Ein Stoß ließ ihn zurücktaumeln. »Bestie,« zischte es unter dem Schäferhut hervor, »gottverlassene Bestie!«

Das Pferd wimmerte jetzt leise auf. Vielleicht war es ein letztes Wiehern, zu dem die Kraft nicht mehr reichte; ein letzter Dank an einen Menschen.

Der Schäfer schlang den Arm um den Gaulskopf. Ein unsagbar klagender Laut zitterte durch die Luft. War's von dem Tier – war's von dem Manne? – Tot brach der Gaul zusammen.

Erstarrt, wie von Entsetzlichem berührt, verharrten alle.

Jetzt tauchte der Schäfer im Dunkel unter, eingeschluckt von der Regennacht.

Der kleine Doktor sah ihm nach. »Wer war der Kerl?« murmelte er benommen. Dann beugte er sich über den Kadaver und behorchte das totgepumpte Herz. »Nichts mehr,« stellte er fest, und in seiner Stimme schwang Erschütterung. 177

Zwischen den Gaulsfüßen lag der leere Becher. Des Arztes Hand ertastete ihn und nahm ihn auf. Da riß ihn der Soldat an sich und schlürfte wild daran. Dann schleuderte er ihn ins Dunkel, dem Schäfer nach.

»Verfluchtes Aas,« kam es schrill aus vertrockneter Kehle.

»Holet Wasser, Kohler,« klang jetzt des Bürgermeisters ruhige Stimme auf, »Wasser, nicht Wein.«

Der Soldat setzte sich auf den Kadaver und winselte.

»Steh Er da auf!« befahl der Bürgermeister, »setze Er sich auf den Prellstein!«

Der Torwart schleppte einen Krug Wasser her.

Der Soldat setzte an, und es war nun ein einziges gieriges Ziehen, Schlucken, Glucksen, als fließe ein Strom in einen Abgrund.

»Halt,« rief der Arzt und riß ihm den Krug weg, »es kann dein Tod sein, du Narr.«

Ins Dunkel hineindeutend, wo der Schäfer untergetaucht war, fragte der Bürgermeister den Torwart: »Kanntet Ihr den?«

Der schwerhörige alte Mann, dem die Tüchtigkeit seiner Jugend längst in eine vorsichtige Schlauheit ausgemündet war, nickte. »Der Schäfer kam 178 mit Euer Gnaden,« sagte er halb fragend, halb erklärend, als wisse er selbst nicht recht, um was es ging.

Der Soldat, der stehend getrunken hatte, ließ sich wieder auf den Gaul fallen. Ein heftiger, stoßender Schlucken befiel ihn.

»Weg von dem Gaul sollst du!« schrie der Doktor.

Es war, als sei der Soldat von der Wassersflut betrunken. Seine Augen traten bösartig heraus. »Was geht dich mein Gaul an!« grölte er.

Der Doktor fuhr auf. »Dein Gaul! Seit wann haben sie Gäule, die Musketiere?«

Sinnlos frech schrie jetzt der Soldat: »Sitzet Ihr auf Euren Ohren, daß Ihr nicht hört? Sagt' ich nicht, der Drimmer braucht keinen Gaul mehr, der liegt im Stoppelacker. Hätt' ich sollen den Gaul den Welschen lassen und zu Fuß kommen?«

Die Maßlosigkeit des Ausfalls besänftigte den Doktor. Er lachte auf.

»Nein, nein,« rief er, »das deutsche Gesindel muß jetzt durchweg beritten gemacht werden, damit es ausreißen kann. Aber vielleicht das kannst du mir sagen, du Memme: ob dein Leutnant noch lebt.«

»Gelebt hat er noch,« klang es mürrisch. 179

»Also nur blessiert?« drängte fast flehend der Kleine.

»Was weiß ich,« entgegnete schluckend der Mensch, »das Blut lief ihm über – –« er vollendete nicht und stieß plötzlich schnarchende Laute aus, wobei ihm der Kopf auf die Brust fiel.

»Greif Er mit an, Kohler!« gebot gelassen der Arzt und faßte den Besinnungslosen unter den Armen. Sie trugen ihn hinein auf die Pritsche im Torhaus.

Als sie wieder heraustraten, stand der Bürgermeister vor dem toten Tier, fast wie in Gebet versunken. Er wandte sich ab und hörte mit an, was der Physikus dem Wächter einschärfte für den Fall, daß dem Soldaten etwas Besonderes zustoße, oder daß er vor Tagesanbruch erwache.

In Dunkel und Regengeriesel hinein gingen die Herren ihren Weg zurück.

»Soll man den Kerl laufen lassen?« fragte plötzlich leise der Doktor.

»Den Schäfer? –«

»Ach was! Den Ausreißer, den Lumpen, den Günther.«

»Ein Feigling mehr oder weniger,« entgegnete der Bürgermeister gelassen. 180

Der Doktor glitt auf einem nassen Steine aus. Es war, als ob das seine wogenden Gedanken zum Überlaufen bringe. »Ja,« brach es aus ihm, »mag der feige Hund laufen! Ein zerschleißendes Hemd versucht man nicht zu flicken, es wäre schad um den Zwirn. Er soll zu seinesgleichen gehen, die sind ja hier nicht schwer zu finden. Dann kann sie der Teufel meinetwegen truppweis holen, wie der Hecht die Grundeln.«

»Wie kommt nur dieser Schäfer –«

»Ach was,« unterbrach der Doktor und ließ sich nicht aus der Bahn bringen, »der Lump ist schon lang kein Schäfer mehr! Bei seinem Bruder, dem Pächter, drückte er sich als Knecht herum, bis ihn der Drimmer mitnahm zu den Soldaten. Ein Früchtlein fand hier das andere.«

Der Bürgermeister berichtigte des anderen Irrtum nicht. Nach langem Schweigen sagte er: »Ich kenne von den Drimmern nur den älteren Bruder, den Friedrich.«

»Laßt Euch daran genügen!« stieß der Doktor hervor, »der Johann Christian ist nichts fürs Kennenlernen. Vor sechsundzwanzig Jahren habe ich ihm – Gott sei's geklagt! muß ich sagen – ins Leben herein verholfen. Bei seiner Geburt hat ihn scheint's wollen ein gnädiger Herrgott ersticken 181 lassen, und ich Esel fuhr dazwischen! Viel bitteres Leid wäre den Seinen erspart geblieben. Ich fühl' mich schuldig um dieses Patenkind –«

»Also darum habt Ihr ihn so sehr ins Herz geschlossen?« fragte leise der Bürgermeister.

Der Doktor hustete und sagte nichts.

»Er scheint ein unruhiger Bursche gewesen zu sein.«

Jäh stand jetzt der Physikus. Man hörte seinen lauten Atem. Erschütterung schwang hindurch, als es aus ihm herausbrach: »Sagt nicht: gewesen! Das hört sich an, als gehe der Wind über ein Grab. Er war seither ein Tunichtgut; aber vor dem Feind ist er sicher ein Mann geworden. Kein Drimmer ist ein Lump. Sonst hätte sich auch die Elisabeth nicht an ihn gehängt.«

Er schlug sich auf den Mund. »Da klatsch ich Liebesgeschichten aus wie ein altes Waschweib. Aber die zwei – die zwei! –«

Dann, wie über seine tiefe Bewegung erbost: »Daß man aus dem Hund, dem Günther, nichts Rechtes herausbringen kann! Aber ein paar Stunden muß man ihn jetzt schlafen lassen. Ein Stein könnte eher erzählen als er. Morgen früh werde ich ihn wecken, wie ihn noch keiner geweckt hat.«

»Das wird der Kohler besorgen.« 182

»Der Kohler! – Der sieht nicht mehr und hört nicht mehr. Der hockt bei seinem Weib und hilft ihr husten und vergißt, daß unten einer auf der Pritsche liegt. Horch! – –« unterbrach er sich, »rasselte nicht ein Wagen? Kommt da vielleicht der Kleinmann zurück –?«

Der Bürgermeister spürte jähen Unmut. »Ich höre nichts,« sagte er horchend, und dann, ohne zu wissen, daß er fremde Worte nachsprach: »Der Kleinmann wartet auswärts den Tag ab, die Gäule zu schonen.«

Sie gingen weiter und der Regen strömte stärker.

Den Schäfer, der irgendwo untertauchte, sahen sie nicht. 183

 


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