Hermann Sudermann
Im Zwielicht
Hermann Sudermann

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»Où est l'homme?«

– – Und so glaube ich Ihnen denn den Beweis geliefert zu haben, verehrteste Freundin, daß der alte Kampf zwischen Glauben und Wissen sein Ende nie erreichen wird. Die Menschheit wird ihr lebelang die Kantsche »doppelte Buchführung« beibehalten müssen, und auch in Zeiten, die weniger mittelalterlich sind, als die unseren, werden Religion und Naturerkenntnis –

Sie schütteln das Haupt, Egeria? – Bauen Sie so fest auf die Macht des reinen Gedankens, dessen Panier Sie hochhalten, allen Toilettenfähnchen und Waschzetteln zum Trotze?

Wie sagten Sie eben? – Die Frauen? – Ach, was! – Die Frauen, meinen Sie, sollten den alten Kampf in die Hand nehmen? Das intuitive Ahnungsvermögen, das Ihrem Geschlecht in so hervorragender Weise eigen ist, soll uns über die dialektischen Schwierigkeiten hinweghelfen, in deren Abgrund noch jeder philosophische Geist rettungslos versank? Ja, teuerste Freundin, im Labyrinthe der Taktfragen, der Menschenbeurteilung, der natürlichen 157 Lebensführung glaub' auch ich so fest an diese mystische Spürkraft der Frau, daß ich mich ihr willenlos unterwerfe – nota bene: wenn mir nur irgend Gelegenheit zur Unterwürfigkeit geboten wird – kommen wir aber in das Reich des Begriffes, das in wesenlosem Scheine vor uns liegt, öd und grenzenlos wie das Arktische Meer, welches der kalte Schein der Mitternachtssonne beleuchtet, kommen wir in diese schöne Gegend, so gestatten Sie mir, dem Manne, daß ich mich als den Stärkeren fühle und die Führung übernehme.

Sie zucken die Achseln? Sie sind gewillt, das Arroganz zu nennen? – Hm! – Sie wissen, daß, wenn wir irgendwo in der Männerwelt etwas Geheimnisvollem, Unerklärtem und scheinbar Unerklärbarem auf den Grund kommen wollen, wir zu allererst fragen müssen: »Où est la femme?« Nun das Gegenstück! Wenn ich irgendwo eine Frau voll und ganz in einem beliebigen Gedankenkreise aufgehen sehe, wenn ich bemerke, wie sie in Gesellschaft irgend einen abstrakten Satz mit Inbrunst und Energie verteidigt oder angreift, so frage ich mich stets: »Où est l'homme?« Tausend gegen eins: ein Wesen männlichen Geschlechts steckt stets dahinter.

Sie fordern Beispiele? Gut! – Da ist der Kreis unserer beiderseitigen Bekannten. – Soll ich Sie an Frau Doktor O. erinnern, für die jedes Wort Vischers ein Evangelium ist, oder an die Baronin E., die, selber unlogisch vom Wirbel bis zur Zehe, sich für die logischen Probleme Stuart Mills begeistert? Sie lächeln. Sie haben mich verstanden. – Und weiter! Soll ich Ihnen von den Professorstöchterlein erzählen, die den Homer auswendig können und Papa die Examenarbeiten der Schulamtskandidaten korrigieren helfen? 158 Als ich in Königsberg studierte, habe ich selber eines dieser süßen Wesen kennen gelernt, seitdem gehe ich ihnen mit Vorliebe aus dem Wege. – Und mehr noch! Von meiner Cousine Ella, die sich als Schülerin der Selekta die Doktorarbeit ihres Lieblingslehrers über die Katharsis des Aristoteles von mir ins Deutsche übersetzen ließ – es wurde mir sauer genug, sowohl wegen meiner Liebe zu Ella, als auch wegen des schlechten Latein – bis hinauf, oder sagen wir hinunter zur verblühten Betschwester, welche sich durch die Spitzfindigkeiten des abgeschmacktesten Dogmas hindurchschlägt, weil der junge Seelsorger mit dem blauen Erlöserauge und dem wohlgeölten Haupthaar es predigt, überall finden Sie meinen Satz bestätigt.

Und Sie selbst, verehrteste Frau! Wissen Sie wohl, welches der erste Baustein unserer Freundschaft war? Sie schütteln den Kopf! Besinnen Sie sich noch auf den ersten Besuch, den ich in Ihrem Hause machte? In schwarzem Kleide – Sie trugen noch Trauer um Ihren Gemahl – ernst und bleich kamen Sie mir entgegen. Ihrer Hand entfiel ein Buch, vor dem Sie gesessen. Ich hob es auf und las: »Kants Kritik der reinen Vernunft«. Ich muß wohl ungezogen genug gewesen sein, ein wenig zu lächeln, kurz, Sie wurden rot und sagten mit einer Treuherzigkeit, die mich rührte und Ihnen mein ganzes Herz zu eigen machte:

»Er hat es so sehr geliebt.«

Ja, sehen Sie, liebe Freundin – – –

Wie? Sie werden ernst? Bei Gott, ich habe nicht geahnt, daß ich trübe Erinnerungen in Ihnen wachrufen würde! – Lassen Sie mich Ihnen rasch eine kleine, lustige Geschichte 159 erzählen. Sie mag auch als Beleg für meinen Satz gelten. Freilich – nun, Sie verstehen mich.

Besinnen Sie sich wohl noch auf den exotischen Attaché mit dem endlos spanischen Namen, – man nannte ihn gemeinhin den schönen Don José – dessen Bilder vor etlichen Jahren die Albums der Damen und die Schaukästen der Photographen bevölkerten? Ich will Ihnen berichten, in welcher Weise dieser Mann befruchtend auf Religion und Wissenschaft gewirkt hat. Sie lächeln. Auf beide zugleich? fragen Sie. Ja wohl, auf beide zugleich. – Es ist rührend.

Wir waren mitten in der hohen Saison. Die Wogen des gesellschaftlichen Lebens gingen hoch. Zwischen Frau v. S. und Frau v. R., von denen jede gern als Königin der Saison gegolten hätte, war eine heftige Fehde entbrannt. Beide empfingen am Sonnabend, und da sie denselben Cirkel um sich versammelten, so können Sie sich das übrige an den fünf Fingern abzählen.

Keine von beiden wollte weichen. Der Attaché, der als gewiegter Diplomat die Vermittelung übernommen hatte, lief täglich dreimal hin und her – Zeit hatte er ja zur Genüge – allein seine Künste scheiterten an der Eifersucht der beiden Frauen, und schließlich wurden die Verhandlungen gänzlich abgebrochen.

Die Luft war mit Elektrizität geschwängert, man erwartete irgend einen Blitzstrahl.

Da, mitten im Trubel des Karnevals wurde die Gesellschaft durch eine rätselhafte Büßerlaune der Frau v. S. in Erstaunen versetzt. Wohl hatte sie schon seither bisweilen frömmlerische Neigungen gezeigt, aber so prononciert ins Lager der Betschwestern überzugehen – ei, ei!

160 Um es kurz zu sagen: Frau v. S. hatte eines schönen Tages die Intimen ihres Kreises zusammenberufen und nach einer glänzenden Rede über die religiöse Versunkenheit des Proletariats – »man« machte ein wenig in socialer Frage – dieselben aufgefordert, sich an der liturgischen Abendandacht zu beteiligen, welche unter ihrer Aegide an jedem Dienstag – dies war der beste Tag, »man« hatte Verwaltungsratssitzung – in der im fernsten Osten gelegenen Magdalenenkirche stattfinden sollte. Die anwesenden Damen waren sofort mit dem üblichen Enthusiasmus bei der Sache und hofften im stillen, sich durch Geldbeiträge loskaufen zu können.

In allen Salons sprach man bewundernd von dem religiösen Unternehmen der Frau v. S., und von Zeit zu Zeit fand sich auch jemand, der behauptete, »draußen« gewesen zu sein, wurde aber stets durch ein ironisches Lächeln in die Schranken zurückgewiesen. Ein Besuch in der Magdalenenkirche im »strapazenreichen« Monat Januar und dazu noch zur Zeit der Dinerstunde – das lag einfach jenseits der Grenzen der Möglichkeit.

Frau v. S. aber wob einen Heiligenschein um ihr aschblondes Haupt, dessen mystische Reflexe berückend in die Männerherzen strahlten.

Frau v. R. war wütend – so wütend, daß etliche besonders scharfsinnige Beobachter zu argwöhnen begannen, hier walte ein Geheimnis ob, das sich nur durch allerintimste Rivalität erklären lasse.

Man nannte unter anderen Don José, – aber wo nannte man ihn nicht? – und zudem: war Frau v. R. nicht bekannt als Freigeist, als Philosophin, die Hartmann 161 citierte und sogar »die Welt als Wille und Vorstellung« gelesen haben wollte? Jedenfalls war sie nicht dazu angethan, der Religion ohne Kampf den Platz zu räumen, und in der That begann sie sich alsbald bitter über die Nichtigkeit und Gedankenlosigkeit des gesellschaftlichen Treibens zu beklagen, die schon so weit gediehen seien, daß man sich abgewöhnt habe, die pietistischen Koketterien gewisser Damen gebührend lächerlich zu finden. – Hier müsse etwas gethan werden, um der drohenden Verflachung Einhalt zu gebieten – die Wissenschaft sei der Rettungsanker – an sie müsse man sich klammern. . . . »Und wissen Sie was? Wir lesen fortan an irgend einem Tage der Woche in intimem Kreise ein philosophisches Buch. Das wird uns Anregung bringen und die geistige Frische wiedergeben. – Welches Buch? – Denken wir nach! – Richtig, da ist Buckle, ein bahnbrechender Geist – und so modern, ach, so modern! Lesen wir Buckle! Und an welchem Tage? – Dienstag hat Frau v. S. ihre famosen Liturgien – also wählen wir als Gegenstück den Freitag. Das wird sie ärgern.«

Gesagt, gethan! Die Einladungen ergingen und wurden mit Enthusiasmus aufgenommen. Jedermann empfand plötzlich »geistige Leere« und wollte sich »anregen« lassen.

Der Kampf zwischen Glauben und Wissen hatte begonnen, und fast schien es, als solle letzteres den Sieg davontragen; denn am nächsten Freitag war der Salon der Frau von R. überfüllt von wissensdurstigen Gemütern, die alle auf etwas ungeheuer Pikantes gefaßt waren. Man las das erste Kapitel, dessen Ueberschrift beginnt: »Von der Beschaffenheit der Quellen zur Erforschung der Geschichte.«

162 Frau v. R. war so sehr von heiligem Eifer ergriffen, daß sie dem Vorleser keine einzige der trockenen Anmerkungen schenkte und sogar darauf drang, daß die griechischen Citate aus Plato und Diogenes Laertius gewissenhaft übersetzt und erläutert würden. Nachdem man drei Stunden lang heroisch daran gearbeitet hatte, das Gähnen zu unterdrücken, ohne in der weihevollen Stimmung durch den geringsten Imbiß gestört worden zu sein, entfernte man sich, äußerlich hoch entzückt, innerlich fest entschlossen, sich lieber rädern zu lassen, als am Freitag Abend diesen Boden wieder zu betreten.

Nichtsdestoweniger glaubte man es seiner Bildung schuldig zu sein, von Thomas Buckle ebenso, wie von Frau v. R., mit der größten Verehrung zu reden. Man identifizierte die beiden gewissermaßen, wie wenn die brünette Salondame mit dem heißen Blick und der girrenden Stimme an der Konzeption der »Geschichte der Civilisation in England« einen nicht zu unterschätzenden Anteil gehabt hätte.

Der Kampf zwischen Glauben und Wissen blieb somit unentschieden – – –

Drei Wochen waren seither verflossen, da geschah eines Freitag abends ein Wunder. Eine Dame klingelte an der Wohnung der Frau v. R., und diese Dame war niemand anders, als ihre Gegnerin und Rivalin Frau v. S.

Die öffnende Zofe maß sie mit verwunderten Augen, denn seit jener verhängnisvollen Vorlesung pflegte um diese Stunde die Schwelle verödet zu sein.

Mit einer Ausnahme freilich!

»Melden Sie mich der gnädigen Frau,« sagte die Besucherin, der Zofe ihre Karte übergebend, und warf einen 163 finster spähenden Blick nach der Garderobe hin, an deren Haken ein eleganter Herrenhut neuester Pariser Fasson und ein atlasgefütterter Ueberzieher hingen. Sie mußte beide kennen, denn als sie dieselben gewahrte, zuckte sie merklich zusammen.

»Die gnädige Frau lassen bitten,« sagte die Zofe, in das Entree zurückkehrend.

Ein eigentümliches Lächeln umspielte die Lippen der Frau v. S., als sie den Salon betrat, der in traulichem Halbdunkel, von einer purpurn umschirmten Lampe träumerisch erleuchtet, vor ihr lag.

Frau v. R. hatte sich erhoben, um den seltenen Gast zu begrüßen. Ihre Wangen glühten in dunkler Röte, und über das rosige Ohr hingen in reizender Verwirrung ein paar ihrer schönen, kastanienbraunen Löckchen herab.

Sie war nicht allein. Hinter ihr stand – Don José und studierte mit vieler Aufmerksamkeit die Arabesken des Teppichs.

»Die Religion macht der Wissenschaft ihren Besuch,« sagte Frau v. S, sich tief vor der Hausfrau verbeugend. »Ah, Don José, Sie auch hier?« wandte sie sich zu dem Attaché, der noch immer nicht wagte, den Blick vom Boden zu erheben. »Sie versicherten mir doch neulich, Sie seien nicht zu den Heiden übergegangen?«

Dann warf sie sich in einen Fauteuil, und ein Lächeln der liebenswürdigsten Nachsicht auf den Lippen, fuhr sie fort: »Doch bitte, lassen Sie sich nicht stören. Ich bin begierig auf die Weisheit, die Ihr Philosoph Ihnen predigt. Und vielleicht, vielleicht lass' ich mich bekehren!«

Die Blicke der Hausfrau und Don Josés kreuzten sich, 164 glitten hilfesuchend nach dem Bücherschrank hinüber und senkten sich dann auf die Tischplatte nieder, auf welcher ein halb zerpflückter Veilchenstrauß, eine zerbrochene Busennadel und ein lässig hingeworfener Herrenhandschuh – aber kein Buckle lag.

»Wir hatten noch nicht begonnen!« sagte Frau v. R., sich mühsam fassend.

»Ah, Sie warteten auf mich, nicht wahr?« erwiderte Frau v. S. mit hellem Auflachen und ergriff, gleichsam spielend, die zerbrochene Nadel.

Die war der Krawatte Don Josés entfallen.

* * *

Es war am Dienstag der darauf folgenden Woche.

Schon den ganzen Tag über hatte es gestürmt, geregnet und geschneit, und am Abend schien das Unwetter noch ärger zu werden. Die Scheiben der Gaslaternen klirrten im Sturme, die Flammen flackerten ängstlich, und zwischen den Steinen des Pflasters glitzerten blanke Pfützen.

Es war die Stunde des Feierabends. Die Werkstätten hatten soeben zur Ruhe gepfiffen. Auf den Straßen des Viertels drängten sich dürftig gekleidete Arbeiter, die in die erstarrten Fäuste hauchten, und bleiche Fabrikmädchen, welche die dünnen Tücher über die Zöpfe zogen, um sich vor den eisigen Tropfen zu schützen.

Aus den Schnapsläden drang wüstes Schreien. Darein hallte von Zeit zu Zeit gedämpftes Orgelrauschen, welches der Lärm immer wieder erstickte. Es kam aus der danebenliegenden Magdalenenkirche, deren massiver Bau in schwarzen Umrissen zum Nachthimmel emporstieg. Aus ihren Fenstern 165 fiel matter Lichterschein. Die liturgische Abendandacht hatte soeben begonnen.

Auf dem Trottoir, nahe der Kirche, stand mitten im Sturme eine dichtverschleierte Dame, deren elegante Erscheinung gar seltsam mit dieser Umgebung kontrastierte. Das fiel auch den Vorübergehenden auf. Die Fabrikmädchen musterten sie mit Blicken stumpfer Neugier, und einer und der andere der Arbeiter erlaubte sich, ihr mit frecher Gebärde unter den Schirm zu gucken. Dann sandte sie jedesmal einen unruhigen Blick nach der anderen Seite der Straße hinüber, wo eine vornehme Karosse wartend stand – aber sie rührte sich nicht vom Platze.

Jedem Wagen, der dahergerollt kam, blickte sie mit ängstlicher Spannung entgegen und schien enttäuscht, wenn er vorüberfuhr.

Da – gegen ein halb sieben Uhr – näherte sich in langsamem Tempo eine dichtgeschlossene Droschke, die ungefähr dreißig Schritt vor der Kirche Halt machte. In atemloser Hast eilte die Dame nach jener Stelle hin und stand bereits neben dem Gefährt, als dessen Schlag sich öffnete und eine gleichfalls dichtverschleierte Dame ihren Fuß auf das Trittbrett setzte.

Die Blicke der beiden trafen sich . . .

»Die Wissenschaft macht der Religion ihren Gegenbesuch,« sagte die Wartende, mit tiefer Verbeugung ihren Schleier emporschlagend. Die dunklen Augen der Frau v. R. leuchteten triumphierend darunter hervor.

Die Dame auf dem Trittbrett stieß einen Schrei aus und wankte; doch schnell gefaßt sprang sie herab und schlug den Schlag hinter sich zu. Allein der Blick der anderen 166 war schneller gewesen, er hatte im Innern eine Männergestalt entdeckt, die in der dunkelsten Ecke des Hintersitzes zusammengekauert dasaß.

»Nun, steigt Don José nicht auch aus?« fragte sie sehr freundlich, sich zu der Ankommenden wendend.

Allein der Kutscher schien eine andere Ordre erhalten zu haben. Er fuhr spornstreichs mit ihm von dannen.

* * *

Sie sehen, meine verehrteste Freundin, so war der exotische Attaché mit gleichem Opfermute für die beiden feindlichen Mächte des Glaubens und des Wissens thätig.

Wer schließlich den Sieg davongetragen? – Ich weiß es nicht.

Wie dem auch sei: le diable n'y perd rien. 167

 


 


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