Hermann Sudermann
Im Zwielicht
Hermann Sudermann

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Des Hausfreunds Sylvesterbeichte.

Gott sei Dank, verehrteste Frau, daß ich wieder in Ruhe in meinem Plaudersessel bei Ihnen sitzen kann. Der Festtrubel ist vorbei, und Sie haben wieder ein wenig Muße für mich.

O diese Weihnachtszeit! Ich glaube, ein böser Dämon hat sie extra deshalb erfunden, um uns Junggesellen zu ärgern und uns die Wüstenei unserer heimatlosen Existenz in ihrer ganzen Oede vor Augen zu führen. Denn was anderen eine Quelle des Jubels ist, wird uns zur Qual. – Gewiß, gewiß, wir sind ja nicht alle einsam – auch uns blüht meistens jenes Glück des Beglückens, auf dem das Geheimnis der Feststimmung beruht, aber die reine Freude des Mitgenießens wird uns vergällt, teils durch eine Dosis Selbstironie, teils durch jene säuerliche Sehnsucht, die ich im Gegensatz zum Heimweh das »Eheweh« nennen möchte.

Warum ich nicht gekommen bin, Ihnen mein Herz auszuschütten? fragen Sie mich, Sie mitleidige Seele, Sie, die Sie Trost in demselben reichen Maße spenden, wie andere Ihres Geschlechtes niedliche Bosheiten. Ja, aber die Sache 105 hat ihren Haken. Wissen Sie nicht, was Speidel in seiner reizenden Plauderei »Einsame Spatzen« sagt, die Sie mir in richtiger Ahnung meines Seelenzustandes am dritten Feiertage zuschickten? »Der echte Junggeselle,« sagt er, »will nicht getröstet sein, er will, einmal unglücklich, auch den Genuß seines Unglücks haben.«

Neben dem »einsamen Spatz,« den Speidel schildert, gibt es noch eine Spezies des Hagestolzentumes, den »Hausfreund«. Ich meine nicht jenen gewerbsmäßigen Familienverderber, dem der gleißende Wurm im Auge lauert, derweil er sich's am gastlichen Herde bequem macht; ich meine den guten Onkel, den ehemaligen Schulkameraden Papas, ihn, der das Baby auf den Knieen schaukelt, während er Mama das Zeitungsfeuilleton mit Auslassung indecenter Stellen sittsamlich vorliest.

Ich kenne Männer, die ihr ganzes Leben in dem Dienste einer Familie aufgehen lassen, deren Freundschaft ihnen zu teil ward, Männer, die wunschlos an der Seite einer schönen Frau daherwandeln, die sie heimlich vergöttern.

Sie zweifeln? Ah so, das Wort »wunschlos« ist's, woran Sie Anstoß nehmen. Sie mögen nicht unrecht haben. In den Tiefen jedes, auch des zahmsten Herzens liegt wohl ein wilder Wunsch, aber – wohlverstanden – er liegt in Ketten.

Da möchte ich Ihnen zum Exempel von einem Zwiegespräch erzählen, das vorgestern am Sylvesterabend zwischen zwei alten, uralten Herren geführt worden ist. Woher ich die Kunde davon nahm, das lassen Sie mein Geheimnis bleiben, und, bitte, erzählen Sie's auch nicht weiter. Also ich darf beginnen?

106 Denken Sie sich als Scenerie ein hohes, altväterisch möbliertes Zimmer, trübselig erhellt durch eine grünbeschirmte, impertinent blanke Hängelampe, wie sie unsere Eltern vor der Petroleum-Aera in Gebrauch hatten. Der Lichtkegel, der von der Flamme ausgeht, fällt auf einen runden, weißgedeckten Tisch, auf dem die Ingredienzien einer Neujahrsbowle stehen, während sich genau im Mittelpunkte einige niedergesickerte Oeltropfen breit machen.

Halb schon im Schattenreiche des grünen Schirmes saßen meine beiden alten Herren, vermorschte Ruinen aus längst vergangener Zeit, beide zittrig in sich zusammengesunken, beide aus trüben Augen mit dem stumpfen Blick des Alters vor sich hinstarrend. Der eine, der Hausherr, ein alter Militär, wie Sie an seiner straff geschnürten Halsbinde, dem spitzigen, halb ausrasierten Schnurrbart und den martialisch gerunzelten Augenbrauen auf den ersten Blick erkannt hätten, hielt das Steuer des Rollstuhls, in dem er kauerte, wie einen Krückstock in beiden Händen. Nichts regte sich an ihm, wie die Kinnbacken, die mit der Bewegung des Kauens unaufhörlich auf und nieder klappten. Der andere, der neben ihm auf dem Sofa saß, eine hohe, hagere Gestalt, auf dessen schmalen Schultern ein eckiger, breit gestirnter Denkerschädel thronte, sog spärliche Rauchwölkchen aus einer im Ausgehen begriffenen langen Pfeife. In den tausend Fältchen seines glatten, ausgetrockneten Gesichtes, das ein Kranz schneeweißer Locken umrahmte, barg sich ein stilles, weiches Lächeln, wie es nur der Friede der Entsagung dem Greisenantlitz aufprägt.

Beide schwiegen. In der lautlosen Stille vermischte sich das leise Brodeln des verbrennenden Oeles mit dem 107 leisen Brodeln des Tabakssaftes. Da begann im dunkeln Hintergrunde die Wanduhr mit heiserem Schnurren die elfte Stunde anzumelden.

»Das ist die Zeit, in welcher sie die Bowle zu brauen pflegte,« sagte der Mann mit dem Denkerkopfe. Seine Stimme klang weich und zitterte ein wenig.

»Ja, das ist die Zeit,« wiederholte der andere. Der Ton seiner Worte war herb, als halle das Schnarren des Kommandos darin wieder.

»Ich hätte nicht gedacht, daß es so traurig wäre ohne sie,« fuhr jener fort.

Der Hausherr nickte und kaute weiter.

»Sie hat uns vierundvierzigmal die Neujahrsbowle gemacht,« begann der andere aufs neue.

»Ja, so lange ist's her, daß ich hier in Berlin wohne und du als Hausfreund bei uns verkehrst,« sagte der alte Soldat.

»Im vorigen Jahr um diese Zeit,« fuhr der andere fort, »waren wir noch so fröhlich beisammen. Sie saß dort im Lehnstuhl und strickte Socken für Pauls Aeltesten und beeilte sich sehr, denn sie müsse noch bis zwölf Uhr fertig werden, sagte sie. Und sie ward's auch. Und dann tranken wir und sprachen ganz gemütlich vom Tode. Und zwei Monate später wurde sie richtig hinausgetragen. – Du weißt, ich hab' ein dickes Buch über die Unsterblichkeit der Idee geschrieben – hast's nie leiden mögen – ich kann's auch nicht mehr leiden, seit deine Frau tot ist. Mir ist die ganze Weltidee keinen Pfifferling mehr wert.«

»Ja, sie war eine gute Frau,« sagte der Gatte der Verstorbenen, »sie hat redlich für mich gesorgt, und wenn 108 ich morgens um fünf Uhr zum Dienst 'raus mußte, ist sie stets noch vor mir aufgestanden und hat gesehen, daß der Kaffee gut war. Freilich, ihre Fehler hatte sie ja auch! Wenn sie mal mit dir ins Philosophieren kam – na!«

»Du hast sie eben nie verstanden,« murmelte der andere. Um seine Mundwinkel zuckte es wie verhaltener Groll; aber der Blick, den er lange auf dem Freunde ruhen ließ, war sanft und traurig, als wohne in seiner Seele geheimes Schuldbewußtsein.

Nach einer Weile des Schweigens begann er:

»Du, Franz, ich muß dir etwas erzählen, etwas das mich schon lange wurmt, und das ich unmöglich ins Grab hinübernehmen kann.«

»Na, schieß los,« sagte der Hausherr und ergriff die lange Pfeife, die sich an seinen Rollstuhl lehnte.

»Es hat sich einmal – zwischen mir und deiner Frau was – zugetragen.«

Der Hausherr ließ die Pfeife wieder fallen und starrte den Freund mit weitgeöffneten Augen an.

»Mach' keine Witze, Doktor,« sagte er dann.

»Es ist mein bitterer Ernst, Franz,« erwiderte dieser, »ich hab's mehr denn vierzig Jahre mit mir herumgetragen, aber nun ist's endlich Zeit, daß ich mit dir ins reine komme.«

»Willst du etwa sagen, daß die Tote mich betrogen hat?« rief jener ergrimmt.

»Schäme dich, Franz,« sagte der Hausfreund mit seinem milden, wehmütigen Lächeln.

Der alte Soldat brummte ein Weniges vor sich hin und steckte dann seine Pfeife in Brand.

109 »Nein, sie war rein, wie der Engel Gottes,« fuhr jener fort. »Die Schuldigen sind du und ich. Hör' mich an. Das sind nun dreiundvierzig Jahre: du warst eben als Hauptmann zu uns nach Berlin kommandiert worden, und ich dozierte an der Universität. Daß du dazumal ein toller Vogel warst, das weißt du.«

»Hm,« sagte der Hausherr und erhob die zitternde Greisenhand, um seinen spitzigen Schnurrbart zu drehen.

»Da war eine schöne Schauspielerin mit großen schwarzen Augen und kleinen weißen Zähnen – weißt du noch?«

»Ob ich weiß. Bianka hieß sie,« erwiderte jener, indem ein welkes Lächeln über sein verwittertes Lebemannsgesicht hinzog. »Mit den kleinen weißen Zähnen konnte sie beißen, beißen, sage ich dir!«

»Du hintergingst deine Frau, und sie ahnte es. Aber sie schwieg und duldete für sich allein. Du merktest nichts davon, aber ich that's. Sie war das erste Weib, das ich seit meiner Mutter Tode kennen gelernt hatte. Wie ein leuchtendes Gestirn war sie in mein Leben getreten, wie zu einem leuchtenden Gestirne schaute ich zu ihr empor. Ich gewann den Mut, sie nach ihrem Kummer zu fragen. Sie lächelte und meinte, sie fühle sich noch körperlich leidend, denn, besinne dich, dein Paul war kurz vorher geboren worden. – So kam der Sylvesterabend heran – heute vor dreiundvierzig Jahren. – Ich hatte mich gegen acht Uhr eingefunden, wie gewöhnlich. Sie saß und stickte, und ich las ihr vor, während wir auf dich warteten. – Eine Stunde verging nach der anderen. – Du kamst nicht. Ich sah, wie sie unruhig wurde und zu zittern begann, und ich zitterte mit ihr. Ich wußte wohl, wo du stecktest, und fürchtete, du könntest 110 in den Armen jenes Weibes die zwölfte Stunde vergessen, die jetzt näher und näher rückte. Sie hatte zu sticken, ich hatte zu lesen aufgehört, ein fürchterliches Schweigen lastete auf uns. Da sah ich, wie eine Thräne sich langsam unter ihren Wimpern hervorstahl und auf die Stickerei niederfiel. Ich sprang auf und wollte hinaus, um dich zu holen. Ich fühlte mich im stande, dich mit Gewalt von der Seite jenes Weibes zu reißen. Doch in demselben Augenblicke fuhr auch sie von ihrem Platze empor, demselben Platze, auf dem ich jetzt sitze.«

»Wo wollen Sie hin?« rief sie. Unsägliche Angst malte sich in ihren Zügen. »Franz herbeischaffen,« sagte ich. Da schrie sie laut auf: »Um Gotteswillen, bleiben Sie wenigstens bei mir, verlassen Sie mich nicht.«

»Und sie stürzte auf mich zu, legte ihre Hände auf meine Schulter und verbarg das thränennasse Angesicht an meiner Brust. Ich bebte am ganzen Leibe, denn noch nie hatte ein Weib so nahe an mir gestanden. Aber ich bezwang mich und sprach tröstend auf sie ein, – und sie war ja des Trostes so bedürftig. – Bald darauf tratst du ein. Du sahst nichts von meiner Verwirrung, deine Wangen brannten, in deinen Augen lag eine liebestrunkene Müdigkeit. – Sieh, seit jenem Sylvester war eine Wandlung in mir vorgegangen, die mich erschreckte. Seitdem ich ihre weichen Arme an meinem Halse gefühlt, seitdem ich den Duft ihres Haares eingesogen, war das Gestirn vom Himmel gefallen, und an seiner Stelle stand vor meinem verzehrenden Blicke, schön und liebeatmend – das Weib. Ich schalt mich einen Schurken, einen Betrüger, und um mich vor meinem Gewissen halbwegs wieder zu sühnen, ging ich ans Werk, 111 dich von deiner Geliebten zu trennen. Glücklicherweise hatte ich einiges Vermögen. Sie war mit der Abfindungssumme zufrieden, die ich ihr bot, und –«

»Alle Wetter,« fuhr der alte Freund überrascht dazwischen, »also du bist schuld daran, daß Bianka mir jenen rührenden Abschiedsbrief schrieb, worin sie erklärte, sie müsse mit brechendem Herzen auf meine Liebe verzichten?«

»Ja, ich bin schuld daran,« sagte der Hausfreund, »aber höre weiter. Ich hatte geglaubt, mir mit dem Gelde meine Ruhe erkaufen zu können, aber dem war nicht so. Immer ärger wühlten die wilden Gedanken mir im Gehirn. Ich vergrub mich in meine Arbeiten – es war das die Zeit, in welcher ich den Grundgedanken zu meiner »Unsterblichkeit der Idee« konzipierte, aber alles das verhalf mir nicht zum Frieden. – Und so verging ein ganzes Jahr, und der Sylvesterabend kam aufs neue heran. Wiederum saß ich mit ihr an diesem Platze. Du warst diesmal zwar zu Hause, aber du lagst schlafend auf dem Sofa im Nebenzimmer. Ein lustiges Diner in eurem Kasino hatte dich müde gemacht. Und wie ich so neben ihr saß und mein Auge auf ihrem blassen Angesichte ruhen ließ, da übermannte mich die Erinnerung mit unbesiegbarer Gewalt. Noch ein einzig Mal wollte ich ihr Haupt an meinem Halse fühlen, noch einmal wollte ich sie küssen und dann untergehen. Unsere Blicke trafen sich für einen Augenblick; mir war's, als leuchtete in ihrem Auge ein heimliches Verständnis auf. Da hielt ich mich nicht länger, ich stürzte ihr zu Füßen und verbarg mein brennendes Gesicht in ihrem Schoße.

»Wohl zwei Sekunden mochte ich regungslos dagelegen haben, da fühlte ich, wie ihre Hand sich kühl auf meinen 112 Scheitel legte, und hörte, wie ihre Stimme weich und sanft die Worte sprach:

»Brav sein, lieber Freund!«

»Ja, brav sein! Nicht den Mann betrügen, der so vertrauend im Nebenzimmer schläft! Ich sprang auf und schaute mit verstörten Blicken um mich. Da nahm sie ein Buch vom Tische und reichte es mir hin. Ich verstand sie wohl, schlug die erste beste Seite auf und las ihr vor. Was ich gelesen habe, weiß ich nicht, die Buchstaben tanzten mir vor den Augen; aber allgemach legte sich der Sturm meiner Seele, und als es zwölfe schlug, und du mit verschlafenen Augen zur Gratulation hereinkamst, da war's mir, als liege jener sündige Augenblick weit, weit weg in einer längst verflossenen Zeit.

»Seit diesem Tage wurde ich wieder ruhiger, ich wußte ja, daß sie mich nicht wieder liebe, und daß ich nichts als Mitleid von ihr zu hoffen habe. Die Jahre vergingen, deine Kinder wuchsen heran und verheirateten sich, wir dreie wurden alt. Du ließest die dummen Streiche, schicktest die fremden Weiber zum Teufel und lebtest nur der einen, wie auch ich. Daß ich aufgehört hätte, sie zu lieben, das ist wohl unmöglich, aber meine Liebe nahm andere Formen an, sie streifte die irdischen Wünsche ab und ward zur Geistesgemeinschaft. Du hast oft gelacht, wenn du uns philosophieren hörtest. Hättest du aber geahnt, wie meine Seele dann mit ihrer in eins zusammenfloß, du wärest sehr eifersüchtig geworden. Und nun ist sie tot, vielleicht sind wir zweie ihr bis zum nächsten Sylvester nachgefolgt; daher ist's hohe Zeit, daß ich mich meines Geheimnisses entlaste und dir sage: »Franz, ich hab' mich einst an dir versündigt; verzeih mir!«

113 Er streckte dem Freunde bittend die Hand entgegen; dieser aber sagte unwirsch: »Ach, Schnickschnack! Hat sich was zu verzeihen! Was du mir Neues beichtest, wußt' ich schon lange. Sie hat mir das vor jenen vierzig Jahren schon alles selber erzählt. – Und nun werd' ich dir auch verraten, warum ich so viel den fremden Weibern nachgelaufen bin bis in mein Alter hinein: weil sie mir zu gleicher Zeit gestand, daß du die einzige Liebe ihres Lebens seiest.«

Der Hausfreund starrte ihn schweigend an, die heisere Wanduhr aber meldete – Mitternacht. 114

 


 


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