Hermann Sudermann
Im Zwielicht
Hermann Sudermann

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Er will sie kennen lernen.

Also Sie sind wirklich noch hier, verehrteste Frau? Ich glaubte bereits, ich würde vergebens anklingeln, und nun find' ich Sie in wohligster Häuslichkeit, genau wie damals im Winter, als ich Sie verließ.

Was, Sie wollen überhaupt – – –?

Mit Staunen hör' ich Ihnen zu! – Daß Sie Ihre Einsiedlergelüste mit einem Walle von Vernunftgründen verschanzt haben würden, konnt' ich mir denken, doch daß Sie das Badeleben wirklich hassen . . . O, in vielem haben Sie ja recht – die elektrischen Hotelklingeln haben es entschieden auf unsere Nerven abgesehen; das pêle-mêle der Kurkonzerte vermag selbst einen so kritiklosen Musikenthusiasten, wie mich, in die Flucht zu schlagen; die Kellner sind in der That die unangenehmsten Schmarotzerpflanzen, welche unsere gesellschaftliche Treibhausluft geschaffen hat, – aber was die Fremden anlangt, die lieben Mitleidenden, vor deren kalt-zudringlichen Blicken Ihnen graust, – nein, Verehrteste, die muß ich in Schutz nehmen, um derentwillen wär' ich sogar zu einem Hymnus erbötig. – Sie 129 sind es, welche uns über den engen Gesichtskreis unseres Standes hinaus gucken lassen und uns Gelegenheit bieten, das Joch der Konvention wenigstens für etliche Wochen im Jahre abzuschütteln; sie sind es, welche die Bäder zu Jungbrunnen der Phantasie, zu Heiligtümern der Romantik machen! Dieses Aschenbrödel unserer Zeit wird ja sonst nirgends mehr geduldet, und nun wollen Sie ihm gar seine letzte Zufluchtsstätte rauben!

Ja – und selbst die Blicke, die Ihnen so sehr mißfielen! – Einstmals während der Saison in Heiligendamm beobachtete ich zwei Frauen, die sich während etlicher Tage von verschiedenen Tischen aus mit dieser kalten – nein, sogar mit feindseliger – Zudringlichkeit musterten. Die eine Hamburgerin, die andere Mexikanerin, beide schön, elegant, brünett – junonische, vornehme Gestalten. »Sehen Sie, wie die beiden sich hassen,« sagte ich zu einer Bekannten. »Sie irren,« erwiderte mir die Evastochter. »Die Blicke sind nicht Haß, sie sind Sehnsucht.« – Und richtig! – Eines Tages kamen die beiden schönen Frauen Arm in Arm zur Table d'hote. Sie trennten sich nicht mehr – ich wette, sie sind Freundinnen geworden.

Und welchen Reiz gewinnen die Annäherungen erst, wenn die eine Seite durch einen Repräsentanten des ewig Männlichen vertreten wird! Der Wegfall der konventionellen Vorstellung durch einen gemeinsamen Bekannten – wo findet sich der so rasch? – sorgt dafür, daß sie den Schein des Verbotenen, des Leichtsinnigen an sich tragen und die Phantasie um so mächtiger erregen! Wohl steht im gesellschaftlichen Kodex geschrieben, daß bei absolutem Mangel einer Mittelsperson nur der Badedirektor die Bekanntschaft zwischen 130 einem Herrn und einer Dame einzuleiten habe, aber jeder dieser Beamten wird Sie versichern, daß derartige Ansuchen nur äußerst selten an ihn herantreten. Man weiß sich eben selber zu helfen.

Sie fragen spottend nach dem »Wie?« Freilich Sie, die Philosophin, die Frau von – wie viel waren es doch? – grauen Haaren, haben für dergleichen nur ein lächelndes Achselzucken; aber nehmen Sie Ihre Mitschwestern ins Gebet, sie werden Ihnen gestehen, daß die interessantesten Badebekanntschaften stets diejenigen waren, die sich auf irgend einem ungewöhnlichen Wege als Konterbande in ihren Verkehr – nicht selten auch in ihr Herz – hineinschmuggelten.

Welch ein ergiebiges Operationsfeld für diplomatische Verschlagenheit auf der einen und für verschämte Koketterie auf der anderen Seite! Welch Ersinnen kühner Schlachtenpläne, um dem, ach! so trägen Zufall unter die Arme zu greifen; denn das brutale Drauflosplatzen mit der dummdreisten Formel: »Meine Gnädige, wollen Sie mir gestatten, daß ich mich Ihnen vorstelle?« wird mit Recht von jedem Manne verschmäht, der Geschmack und Welt genug besitzt, um beileibe nicht für einen Bonhomme gelten zu wollen.

Von den beliebtesten Methoden nenn' ich Ihnen »den Becher am Brunnen«, »das Rosensträußlein«, »das Verirren im Walde«, »Belvedere«, »das Konzertprogramm«, »das Baby« &c. Sie sind ebenso abgebraucht, wie ungefährlich, und werden von originell veranlagten Gemütern samt und sonders verschmäht.

Seine Meriten hat »der Handschuh in der 131 Westentasche«. »Pardon, mein gnädiges Fräulein, Sie haben Ihren Handschuh verloren.« – »O nein, mein Herr, Sie sehen, hier sind sie beide.« – Und zwei in Mousquetaires gehüllte, niedliche Händchen strecken sich mir entgegen. Ich spiele nun den Hilflosen, begucke den Handschuh, den ich wohlweislich in kleinster Nummer eingekauft, – sonst wäre meine Annahme ja Beleidigung – auch ein wenig zerknittert habe, um das »getragen« zu markieren, und frage sie in sehr kläglichem Tone, was damit beginnen. Sie amüsiert sich über meine Ratlosigkeit, und was sie nun auch antworten möge – sie ist gefangen.

Ebenso könnte ich »das Skizzenbuch« empfehlen. Höchst eigenartig, aber nicht gefahrlos. Ich lasse mir von einem befreundeten Maler im Laufe des Winters etliche Seiten meines Notizbuches mit Bleifederstrichen vollkritzeln oder kopiere mittels Oelpapiers einige Marssche Skizzen aus dem Journal amusant, setze mich im geeigneten Moment ihr gegenüber und beginne scheinbar eifrigst zu zeichnen. Sobald sie sich rührt, rufe ich in einem brüsken Tone, der das Resultat rücksichtsloser Begeisterung ist: »Meine Gnädige, wollen Sie noch einen Moment stille halten!« Thut sie's, so bin ich allerdings verloren, denn dann will sie auch ihr Bildnis sehen; aber natürlich thut sie's nicht, vielmehr springt sie entrüstet auf – na, und das übrige macht sich. Die vorrätigen »Studien« dienen nun als Legitimation, im Falle sie später einmal das Skizzenbuch in Augenschein zu nehmen wünscht.

Dann habe ich für meinen Privatgebrauch noch ein paar andere Trucs erfunden, die ich aber gewissermaßen als Geschäftsgeheimnis betrachten muß. – Ach Gott, man hat ja so viele Konkurrenten! –

132 Doch um wieder ernsthaft zu sprechen: selbst wenn durch Schüchternheit oder Ungunst der Verhältnisse eine Annäherung nicht zu stande kommt – was thut's? – Eine regsame Phantasie weiß aus bloßen »œillades«, aus dem geheimnisvollen Fluidum, das zwischen Fremden von Auge zu Auge herüber und hinüber schießt, edelste Lebensnahrung zu saugen, einen Nektar, süß und berauschend, wie ihn der Verkehr mit bestens legitimierten Bekannten niemals zu bieten vermag.

Sie lachen mich aus? – – – Oho, da muß ich Ihnen zum Beweise eine Geschichte erzählen, die einem Freunde von mir passiert ist.

»Wohl derselbe Freund, den Fourchambault père besaß?« fragen Sie. – Nein, nein, wirklich – doch Sie werden ja gleich selber sehen.

Wir hatten zusammen studiert – waren Couleurbrüder gewesen – dann hatten wir uns aus den Augen verloren. In vorigem Sommer fand ich ihn unversehens in Wiesbaden, wo er während der Gerichtsferien – er war seit kurzem Assessor – einen jugendlichen Rheumatismus spazieren führte. – Ein guter, ein prächtiger Junge! – Einer aus dem Geschlecht der »reinen Thoren«, die in den Urwäldern Ostpreußens noch heut nicht gar so selten auftreten. – Ein kleiner Schwerenöter dabei, der sich einbildete, mancherlei »erfahren« zu haben, und mir seine Abenteuer – welche sich durch eine verblüffende Harmlosigkeit auszuzeichnen pflegten – in Stunden der Vertrauensseligkeit geheimnisvoll ins Ohr flüsterte. Wenn ich mir dann den Spaß machte, ungläubig zu erscheinen, sah er mir mit seinen großen, blauen Augen ganz erschrocken 133 ins Gesicht und versicherte treuherzig: »Nein – wahrhaftig – du mußt nicht denken, daß ich renommiere!« Er hätte so mit seiner Hünengestalt, mit dem blonden Flaum um die Wangen zu einem Jung-Siegfried Modell stehen können.

Manchmal aber hielt er plötzlich inne und lächelte gar träumerisch und glückselig vor sich hin. – Auf meine Fragen schüttelte er nur stumm den Kopf. – Aber endlich kam es zum Vorschein: – er hatte etwas erlebt, – »erlebt, sag' ich dir, hier in Wiesbaden – kürzlich – wenige Tage, bevor du kamst, war's zu Ende.«

Und Freund Leo berichtete:

Eines Nachmittags saß er im Kurgarten am Weiher und schaute zu, wie das Sonnenlicht sich regenbogenfarbig in dem Sprühregen der großen Fontäne brach, die turmhoch vor ihm aufspritzte. Als er halb geblendet den Blick abwandte, gewahrte er ein tiefes, dunkles Augenpaar, das träumerisch auf seinem Antlitz ruhte und sich nun jählings hinter schwarzbewimperten Lidern verbarg.

Er errötete und schlug auch seinerseits die Augen nieder. – Als er nach einer Sekunde einen prüfenden Blick riskierte, sah er eine kleine, zarte, brünette Frau, die sich nachlässig in ihrem Sitze zurückgelehnt hatte und die Spitze des Sonnenschirms auf ihrem Stiefelchen tanzen ließ. – Die in olivenfarbene Seide gehüllten Formen erschienen, obwohl schlank, von entzückender Weichheit, und nicht minder weich die Umrisse des feinen, blassen Angesichts, in dem die schwarzen, voll gewölbten Augenbrauen sich herrlich abhoben. Die ganze Erscheinung war umflossen von dem Hauch jener echten Noblesse, die wie ein Parfüm von Pinaud sich nicht 134 definieren, aber desto genauer von allen Imitationen unterscheiden läßt.

Leo fühlte ein kleines Herzklopfen, welches sich steigerte, als er wahrzunehmen glaubte, daß bei einem nochmaligen Blicke, den sie – diesmal etwas hochmütig – über ihn hingleiten ließ, ein leises, ganz leises Lächeln ihren Mund umspielte. Darauf wandte sie sich zu der neben ihr sitzenden älteren Dame – dem Anscheine nach ihre Gesellschafterin – und ließ sich das Konzertprogramm reichen, in dessen Studium sie sich vertiefte, bis eine Familie, bestehend aus einem distinguiert dreinschauenden alten Herrn und zwei silberhaarigen Damen, sie mit geräuschloser Herzlichkeit begrüßte.

In ihrer Begleitung verließ sie noch vor Schluß des Konzerts den Garten, doch in der Thür des Kursaals wandte sie sich noch einmal um und ließ einen suchenden Blick über die Breite des Weihers hingleiten.

Mein Freund Leo stürzte sich in die Einsamkeit des Parkes und träumte.

In der Frühe des nächsten Tages sah er sie am Kochbrunnen. Sie trug ein sandfarbenes Morgenkleid mit roter, weitbauschiger Taille und dazu hochgestelzte, süße Pantöffelchen. Auf ihrem Antlitz lag ein drollig holder Ausdruck von Schmollen und Verschlafenheit, und als sie Leo in der Wandelbahn begegnete, sah sie ihn so kläglich an, als ob sie ihm wie einem alten Bekannten den Gram um den verlorenen Morgenschlummer klagen wolle.

Mein Freund fing die bewundernden Blicke auf, welche die eroberungssüchtigen Dandies ihr nachsandten, und fühlte sich stolz und glücklich als Bevorzugter.

135 Nun galt es bloß noch, sich ihr zu nähern. Freilich das »wie!« – Wäre die Gesellschafterin nur nicht gewesen, die hagere, alte Person, die immer hinter ihr hertrottelte.

Als er tags darauf über den Goetheplatz ging, sah er sie in einer glänzenden Karosse an sich vorüber sausen, auf dem Rücksitz eine Wärterin in magyarischer Tracht mit einem etwa zweijährigen Baby auf dem Schoße. Vor den »Vier Jahreszeiten« stieg sie aus. – Ein Gefühl dumpfer Beklommenheit sank ihm auf die Brust. – Sie so reich – so vornehm! Warum nur hatte sie ihn lächelnd angesehen?

Immerhin – wenn er ihr allein begegnete! – O, er hielt auf sich, er war kein Hasenfuß! – Und sieh! – der Himmel selber schien seinen Entschluß zu segnen, denn schon am nächsten Abend, als er im entlegenen Nerothal dahinwanderte, sah er sie langsam die Taunusstraße emporkommen – mit leise geröteten Wangen, auf die Krücke des Sonnenschirms gestützt, einen Band der »Tauchnitz Edition« unter dem Arme. Als sie an ihm vorüberging, blickte sie scheinbar achtlos vor sich hin, aber um ihren Mund spielte wieder jenes leise, rätselhafte Lächeln.

Er blieb stehen und schaute ihr nach, wie sie allgemach die Anhöhe hinanschritt und sich schließlich im Waldesschatten verlor, nach der Richtung hin, wo die griechische Kapelle ihre goldenen Kuppeln leuchtend aus dem Laubdickicht erhebt. – Dort ist es still und einsam, dort würd' es niemand gewahren, wenn er sich ihr auffällig näherte.

Um den kühnen Entschluß nicht erkalten zu lassen, eilte 136 er mit raschen Schritten hinterdrein. – Ein todesfreudiger Mut war über ihn gekommen.

Auf der Stelle, wo sie seinen Blicken entschwunden war, hielt er Umschau, doch nichts war mehr von ihr zu sehen. Dann vertiefte er sich auf gut Glück in dem dunkelnden Walde.

Wohl eine Viertelstunde war er umhergeirrt, da sieh! – die Frauengestalt, die am Fuße des Abhanges, etwa dreißig Schritte niederwärts, malerisch hingegossen im Moose ruhte – – –

Ja, sie war's.

Wie hold erglänzte der seidene Strumpf über dem zarten Knöchel, wie hob und senkte sich ihr Busen unter dem knappen Kleide!

Ein heißer Schreck durchrieselte seine Glieder.

Er war geräuschvoll durch das knackende Unterholz geschritten, und dennoch regte sie sich nicht.

Neben ihr im Moose, achtlos hingeworfen, lagen Schirm, Handschuhe und Buch.

Sie mußte eingeschlafen sein – wie anders? – und gewiß war es soeben optische Täuschung gewesen, die ihn hatte wahrnehmen lassen, daß ihr dunkles Auge für einen Moment lächelnd zu ihm emporgeleuchtet habe.

Sollte er nun im verlassenen Walde wie ein Räuber über sie herfallen? Nein, nein, um keinen Preis! Lieber im offenen Kurgarten, lieber unter den Augen von Tausenden – als sie hier in Waldeseinsamkeit aus friedlichem Schlafe reißen, sie tödlich erschrecken!

Spornstreichs eilte er von dannen – sich in 137 Ermangelung eines Besseren an dem Bewußtsein seines Zartgefühls vergnügend.

Aber morgen! Morgen wird er keine Rücksicht kennen! Morgen früh auf der Wandelbahn! Er schlief in dieser Nacht sehr wenig, war um sechs Uhr bereits am Kochbrunnen und kaufte sich die schönsten Rosen, welche die Blumenmädchen feilboten.

Und sie kam.

Ihr Blick glitt mit einem leisen Anflug von Spott über sein Gesicht, blieb für einen Moment auf den Blumen haften und wandte sich dann in die Weite.

Er erschrak – und teils um sie für ihren Spott zu strafen, teils um seinen Mut ein für allemal zu erproben, schenkte er die Rosen – einer anderen, einer ältlichen jungen Dame, die ihn schon lange mit warmen Blicken bombardiert hatte, und bei der er seiner Sache sicher zu sein glaubte.

Ob nun auch sie ihn zu strafen suchte – kurz, am Nachmittage im Kurgarten war sie von einer Schar glückstrahlender Offiziere umschwärmt, die schon seit ihrem ersten Erscheinen heimlich hinter ihr her gewesen waren und Mittel und Wege gefunden hatten, mit dem distinguierten alten Herrn bekannt zu werden, um sich durch ihn vorstellen zu lassen. Sie lachte und kokettierte mit ihnen. Leo war Luft für sie.

Das ging so wohl acht Tage lang. – Mein Freund, der anfangs vor Eifersucht gefiebert hatte, beruhigte sich allgemach, die Philosophie der sauern Trauben gewann Spielraum in seinem Innern.

Plötzlich verschwanden die Söhne des Mars aus ihrem 138 Umkreise. An der etwas verlegenen Ehrfurcht, mit welcher sie nach ihr hinübergrüßten, war leicht zu erkennen, daß man sie hatte »abfallen« lassen.

Eines Nachmittags, als Leo wie gewöhnlich dem Regenbogenspiele der Fontäne folgte, sah er wieder einmal das bewußte Augenpaar auf sich gerichtet – dunkel, tief und träumerisch wie am ersten Tage.

Er erschrak heftig, und die ältliche junge Dame wurde sofort auf kühlsten Grüßfuß gesetzt.

Noch war er sich über die Methode, in welcher er sich ihr jetzt nähern wollte, nicht einig geworden, als eines Nachmittags ein dunkelbärtiger, hoch gewachsener Kavalier an ihrer Seite auftauchte, an dessen Arm sie sich hing, und mit dem sie vertraulich lachte und plauderte.

»Ihr Mann!« sagte sich mein Freund und fühlte in demselben Augenblicke eine gewappnete Schar moralischer Grundsätze in sich erstehen. – Verheiratet wie sie war, hatte er sie seinen freventlichen Attacken ausgesetzt, und seine Gedanken gar – o! – ihm schauderte vor dem Abgrund in seinem Innern. – Auf alle Fälle: es war ein Glück, daß er ihr ferngeblieben.

Immerhin atmete er auf, wie von schwerem Banne erlöst, als er eines Morgens das dunkelbärtige Gesicht im »Adler« aus einem Fenster der Bel-Etage gucken sah. Er wohnte nicht mit ihr zusammen, war also höchstens ein Verwandter – ein Schwager vielleicht! – Aber trotz dieses Trostes konnte er sich auch fortan nicht entbrechen, den fremden Kavalier mit tiefgefühltem Neide zu betrachten. Seine aristokratischen Allüren, die Eleganz seiner Kleider beunruhigten ihn mehr denn je.

139 Er besah sich im Spiegel und zuckte indigniert die Achseln. Eine halbe Stunde später stand er in einem Modewarenmagazin und kaufte sich eine rote Westenkrawatte gleich der, welche er bei dem Beneideten bemerkt hatte. Er trug sie noch jetzt, und ich darf Ihnen nicht verhehlen, liebe Freundin, daß sie sehr schlecht zu seinem blonden Gesichte paßte.

Plötzlich war der Dunkelbärtige verschwunden. Das konnte nicht weiter auffallen. In Wiesbaden geht man ja wie im Bienenkorbe aus und ein.

Eines Abends während des Konzertes, als er, in Gedanken versunken, auf die Menge hinstarrte, die in dem weißen Lichtmeer der elektrischen Strahlen hin und her flutete, hörte er hinter sich zwei weibliche Stimmen flüstern:

»Sehen Sie die kleine, pikante Dame, die mit dem blonden Herrn vor uns kokettiert?«

»Die mit dem kostbaren Hermelinkragen?«

»Ja. Das ist die Gräfin P . . . ., die Frau des größten ungarischen Magnaten.«

Dann verlor sich das Gespräch in kleinbürgerlichem Entsetzen über die Mode, im Monat Juli Pelzmäntel zu tragen.

Eine dumpfe Ahnung ließ ihn aufschauen. – Sie war's. – Das dunkle, große Auge ruhte auf ihm – aber nicht träumerisch wie einst, nein, von hellem, spöttischem Glanze durchschimmert.

Ein nagendes Gefühl der Bitterkeit erwachte in ihm. Nun war es klar am Tage: sie machte sich lustig über ihn! Wahrscheinlich hatte sie seine heimliche Verehrung bemerkt, und – wie war es anders möglich? – er mußte ihr ja 140 lächerlich erscheinen! Sie, eine Dame der großen Welt, schön, von glänzenden Kavalieren umschwärmt – er, ein armer Teufel, ein auf Diäten gestellter Assessor aus einem ostpreußischen Hinterwaldsneste!

Er erschrak bei dem Gedanken, daß er sich ihr jemals hatte nähern wollen. – Aber seinen Stolz besaß auch er . . . Zum Ausgelachtwerden war er zu gut. – Er stand auf und rannte in dem dunkelsten Dickicht des Parkes umher.

Sie sollte fortan nicht mehr für ihn existieren . . .

Als er zwei Tage später zum Kochbrunnen ging, sah er sie vor ihrem Hotel, wie sie mit ihrer Begleitung soeben in die Equipage stieg – das ganze Kellnerpersonal mit Bücklingen um sie her. – Ein beladener Gepäckwagen wartete.

In seinem Kopfe sauste und brauste es. – Aber die Zähne zusammenbeißend, schritt er weiter.

Als er die Wandelbahn des Kochbrunnens betrat, wo die Menschenmassen hin und her wogten, erfaßte ihn ein tiefes Weh. Nie mehr sollte er hier mit Herzklopfen auf sie warten, nie mehr im Gedränge heimlich nach ihr ausspähen dürfen? – – Nein, jetzt hieß es handeln, handeln, solange es noch Zeit war.

Er riß einem Blumenmädchen sein Bündel Rosen aus der Hand, warf ihm ein Geldstück hin und eilte davon.

Die Bahnhöfe Wiesbadens liegen, wie Sie wissen, dicht nebeneinander. Vor dem mittelsten sah er den Wagen stehen – dort bog er ein.

Keuchend betrat er die Halle, als der Zug soeben abgeläutet wurde.

141 Aus einem Coupéfenster sah er das holde Köpfchen des Baby sich neigen, dahinter die Haube der Wärterin. Dorthin eilte er, sprang auf das Trittbrett und drückte den Rosenstrauß in die kleine Patschhand.

Das Kind jubelte hell auf, und in demselben Momente erschien das Angesicht der Gräfin im Hintergrunde.

Betreten fuhr sie zurück, aber schon im nächsten Augenblicke, als er mit verlegenem Stammeln den Hut lüftete, war ein helles Lächeln, halb voll Schelmerei, halb voll Bedauern, auf ihren Zügen erblüht, ein Lächeln, das da fragte: »Warum so spät?«

Sie öffnete die Lippen – in demselben Momente schob sich der Zug von dannen; aber aus der Ferne – er täuschte sich nicht – wehte zweimal ein weißes Tüchlein grüßend zu ihm herüber.

»Und was weiter?« fragte ich begierig, als mein Freund mit Erzählen inne hielt.

»Mein Roman ist zu Ende!« erwiderte er mit verklärtem Lächeln.

»Aber du stürztest doch nach den ›Vier Jahreszeiten‹«, rief ich, »du kauftest dir doch den Portier, du erfuhrst doch ihr nächstes Reiseziel, du, du – aber was frag' ich, – das versteht sich ja alles von selbst!«

Mein Freund hatte nur ein bedauerndes Achselzucken über meine brutale Weltansicht und träumte dann weiter still selig vor sich hin . . .

Nun, verehrteste Freundin, wie erklären Sie das psychologische Rätsel einer solchen Genügsamkeit?

Sie meinen, ich hätte ihn ja selber einen »reinen 142 Thoren« genannt. – Und damit glauben Sie wohl mich geschlagen zu haben?

O nein! Die Bäder sind Jungbrunnen der Phantasie. Dort kann ein jeder zum »reinen Thoren« werden – selbst wir mit unserer Philosophie und unseren berühmten dreißig grauen Haaren.

Ich wenigstens will's probieren. Ich reise morgen ab. 143

 


 


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