Hermann Sudermann
Im Zwielicht
Hermann Sudermann

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Der Gänsehirt.

Ich hör' Ihnen schon eine ganze Weile voll Verwunderung zu, mein Freund! Sie zeigen doch sonst – mehr noch als ich selber, das redliche Bemühen, die realen Dinge zu nehmen, wie sie sind. Woher nun plötzlich bei diesen heiklen Betrachtungen über das Gefühlsleben die bedauerliche idealistische Täuschung, der Sie sich hingeben?

Mir scheint, da hat Ihnen Ihre alles nivellierende demokratische Grundstimmung wieder einmal einen bösen Streich gespielt!

Sie behaupten, wenn ich recht verstand, daß in der Empfindungsweise der verschiedenen socialen Klassen ein tiefgreifender Unterschied nicht existiere, während das Leben uns doch tagtäglich das Gegenteil beweist. – O, es wäre ja traumhaft schön, wenn Sie recht hätten! Die Ideale der Gleichheit und Brüderlichkeit, die ich als eingefleischte Aristokratin – Sie wenigstens nennen mich so – für leere Hirngespinste halten muß, würden dann Wirklichkeit werden, oder vielmehr sie wären es schon geworden; denn das bißchen Wissen mehr oder weniger kann doch unmöglich im stande 91 sein, einen organischen Unterschied der menschlichen Naturen zu begründen!

Nein, mein Freund, die Kluft des Empfindens ist es mehr, als alle Unterschiede in Reichtum, Rang und Wissen zusammengenommen, welche die Gebildeten von dem niederen Volke trennt, so sehr, daß beide, ohne Verständnis für des anderen Thun und Treiben, gleichsam wie Bürger verschiedener Welten nebeneinander herwandeln. Wehe dem, der diese Kluft zu überspringen hofft!

Sie glauben mir nicht, Sie schütteln den Kopf? O, mein Lieber, ich spreche aus Erfahrung! Leider, leider! Und wenn ich Ihnen erzählen könnte – doch warum auch nicht? Es dämmert um uns, draußen heult der Novembersturm, und ich feiere heute das Fest meines dreißigsten grauen Haares; Stimmung genug wäre somit vorhanden, um Licht, Frühling und Jugend heraufzubeschwören.

Lassen Sie mich die Augen schließen und hören Sie hübsch artig zu: ich will Ihnen von meiner ersten Liebe erzählen. Wissen Sie, wer meine erste Liebe war? Ein Gänsehirt, ein leibhaftiger Gänsehirt! Ich scherze nicht, ich habe bittere Thränen geweint um des Leides willen, das er mir angethan, und war doch schon längst eine erwachsene und höchst respektable junge Dame.

Freilich damals, als er zuerst mein Herz in Flammen setzte, da befand ich mich noch in jener Periode meines Lebens, in welcher mein höchstes Glücksideal war: barfuß zu gehen. Ich war acht, er etwa zehn Jahre alt, ich war das Töchterlein vom Herrenhause, er der Sohn unseres Schmieds.

Am Morgen, wenn ich mit Mama und dem großen 92 Bruder auf dem Balkon Kaffee trank, pflegte er mit seinen Gänsen unten vorbeizuziehen und nach der Heide hin zu verschwinden. Anfangs glotzte er uns mit naiver Bewunderung an, ohne daß es ihm eingefallen wäre, die Mütze zu ziehen, und erst seitdem mein Bruder ihm eingeschärft hatte, es gezieme sich, der Herrschaft einen Morgengruß zu entbieten, schrie er jedesmal, die Mütze in großem Bogen um sich herumschwenkend, ein gleichsam auswendig gelerntes »Goode Morche ooch« zu uns empor.

Wenn mein Bruder gerade gut gelaunt war, erhielt ich die Erlaubnis, ihm als Anerkennung für seine Urbanität eine Semmel hinunter zu tragen, die er mir stets mit einer gewissen gierigen Angst aus der Hand riß, als wenn Gefahr vorhanden wäre, daß ich sie noch einmal zurückzöge.

Wie er aussah? Noch steht er lebendig vor mir: die schlichten, blonden Haare hingen ihm wie ein gelbes Strohdach auf die gebräunten Wangen hernieder, schlau und lustig guckten die blauen Augen darunter hervor; die zerfetzten Beinkleider hatte er bis über die Kniee aufgeschlagen, und in der Hand hielt er eine schlanke Weidengerte, in deren grüne Rinde er mit kunstgeübter Hand eine spiralige Reihe weißer Ringe hineingeschnitten hatte.

An diese Gerte heftete sich zuerst meine kindliche Begehrlichkeit. Ich fand es entzückend, ein solches Wunderwerk, das so ganz anders geartet war, als all' mein Spielzeug, in der Hand zu halten, und wenn ich mir noch ausmalte, Gänse damit jagen und barfuß gehen zu dürfen, so war der Gipfel irdischer Glückseligkeit für mich erreicht.

Selbige Gerte war es auch, welche uns menschlich näher führte. Eines Morgens, als ich, beim Kaffee sitzend, 93 ihn wieder einmal wohlgemut vorüberziehen sah, konnte ich mein Verlangen nicht länger bezähmen; ich klappte die Honigsemmel, an der ich aß, heimlich zusammen und empfahl mich eilends, um ihm nachzulaufen.

Als er mich kommen sah, machte er Halt und schaute mir verwundert entgegen; aber als er die Honigsemmel in meiner Hand erblickte, leuchtete sein Auge verständnisinnig auf.

»Willst du mir deine Gerte geben?« fragte ich.

»Nä, warum?« fragte er zurück, indem er sich auf ein Bein stellte und mit dem freien Fuße dessen Wade rieb.

»Weil ich will!« erwiderte ich trotzig und fügte ein wenig milder hinzu: »Ich geb' dir auch meine Honigsemmel.«

Er ließ den Blick verlangend auf dem Leckerbissen ruhen, meinte aber schließlich: »Nä, ich muß damit die Gäns' hüten. Aber ich werd' dir eben so 'ne machen.«

»Kannst du das selber?« fragte ich voll Bewunderung.

»Ach, das is gar nischt,« lachte er wegwerfend, »ich kann auch Flöten machen und tanzende Männer.«

Ich war so gänzlich hingerissen hiervon, daß ich ihm ohne weitere Umstände die Honigsemmel übergab. Er biß herzhaft hinein und trieb, ohne mich weiter eines Blickes zu würdigen, sein gefiedertes Volk von hinnen.

Mit neiderfülltem Herzen schaute ich ihm nach. Er durfte Gänse hüten, ich aber mußte hinaus zu Mademoiselle, französische Vokabeln lernen. Ja, das Glück ist ungerecht verteilt auf dieser Welt, dachte ich mir.

Am Abend brachte er mir die versprochene Gerte, die noch schöner war, als ich mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Sie hatte nicht allein die weißen Ringe 94 aufzuweisen, die mich an ihrem Vorbild so sehr entzückten, sie trug auch noch an ihrem dicken Ende einen kugelrunden Knopf, auf welchem durch zwei Punkte, einen Längs- und einen Querstrich ein menschliches Antlitz – ob meines oder seines, das konnte ich nicht enträtseln – abgebildet war. O ich Glückliche!

Seitdem waren wir Freunde. Ich teilte mit ihm die Leckerbissen, die mir, dem Nesthäkchen, von allen Seiten in den Schoß fielen; er widmete mir dafür die Kunstwerke, die seine flinken Finger geschaffen: Flöten, Kästchen, Häuser, Puppengeräte und vor allem seine berühmten »tanzenden Männer«, mit denen ich alsbald der Schrecken sämtlicher Hausgenossen wurde.

Hinter dem Gänsestalle fand unser allabendliches Rendezvous statt, bei dem wir unsere Gaben austauschten. Den ganzen Tag über freute ich mich darauf und beschäftigte mich in Gedanken mit meinem jungen Helden. Ich sah ihn auf der sonnigen Heide im Grase liegen und seine Flöten blasen, während ich mich mit scheußlichen Vokabeln abmarterte, und immer stärker und stärker wurde die Sehnsucht in mir, jenes Glückes, das sich Gänsehüten nennt, teilhaftig zu werden.

Als ich ihm von meinen Gefühlen Kunde gab, lachte er laut auf und sagte:

»Warum kommst nicht mit?«

Das gab den Ausschlag, und ohne weiteres Besinnen erwiderte ich: »Morgen komm' ich!«

»Aber vergiß auch nicht, zu essen mitzubringen,« ermahnte mich mein Freund. – – –

Das Glück war mir günstig. Mademoiselle hatte 95 gerade zur rechten Zeit ihre Migräne bekommen und ließ die Stunde absagen. Fiebernd vor Freude und Angst saß ich am Kaffeetische und wartete, bis er vorüberkäme. Meine Taschen waren vollgepfropft mit Naschwerk aller Art, das ich mir von der »Mamsell« zusammengebettelt hatte, und neben mir lag die Gerte, die ich heute in treuer Pflichterfüllung zu schwingen gedachte.

Da kam er angezogen! Pfiffig blinzelten seine Augen mir zu, während er sein »Goode Morche ooch« zu uns herausbrüllte, und sobald ich mich ohne Aufsehen entfernen konnte, war ich hinter ihm her.

»Was hast du mit?« war seine erste Frage. »Zwei Pfefferkuchen, drei Butterschnitten mit Cervelatwurst, eine Sardellensemmel und ein Stück Stachelbeertorte,« sagte ich, indem ich meine Herrlichkeiten auskramte. Er begann sofort zu essen, während ich stolz, mit mühsam unterdrücktem Jubel, die Gänse vor uns hertrieb.

Von dem Föhrenwalde, dessen vorderer Teil mir von meinen Spaziergängen her noch einigermaßen vertraut war, gerieten wir in immer unbekanntere Regionen. Krüppelhaftes Unterholz erhob sich zu beiden Seiten des Weges, eine unheimliches Dickicht bildend, bis plötzlich die weite, endlose Heide sich vor meinen Blicken aufthat.

Ach, war das schön, war das schön! Soweit das Auge reichte – ein Meer von Gras und bunten Blumen! Wie erstarrte Wellen zogen sich rasenbewachsene Maulwurfshügel in langen Reihen dahin. Die heiße Luft zitterte. Sie tanzte gleichsam auf der luftigen Heide. Summende Bienen machten die Musik dazu, und hoch am dunkelblauen Himmel stand die goldene Sonne.

96 Am Waldesrande lag ein Sumpf mit kleinen Tümpeln, in welchen ein graugelbes, dickliches Wasser schimmerte.

Entenflott schwamm darauf, und ringsum in dem Erdreich, welches so feucht war, daß große Wasserblasen zwischen den Gräsern hervorquollen, waren Tausende von zarten Gänsefußspuren zu sehen, so daß das ganze Terrain einem in Facetten gemusterten Teppich ähnelte.

Hier war das Paradies der Herde. Hier machten wir Halt, und während die Gänse sich behaglich in den Tümpeln sielten, jagten wir uns jubelnd auf der Heide herum, fingen gelbe Schmetterlinge und pflückten blaue Beeren.

Dann spielten wir Mann und Frau. »Elise,« die zahmste der Gänse war unser Kind. Wir hatten das arme Tier schon beinahe zu Schanden geküßt und geprügelt, als es ihm nach unerhörten Anstrengungen gelang, sich aus unseren Händen zu befreien. – Hierauf bereitete ich meinem Gatten das Essen. Ich band meine weiße Schürze ab, legte sie als Tischtuch über den Rasen und gruppierte darauf die Reste der mitgebrachten Speisen. Er setzte sich gravitätisch davor nieder, und ich für mein Teil geriet vor Freude schier aus dem Häuschen, als ich sah, mit welcher Geschwindigkeit er eins nach dem anderen vertilgte.

Die Stunden verrannen wie im Traum. Höher und höher stieg die Sonne, bis ihre glühenden Strahlen senkrecht auf uns herniederbrannten. In meinem Kopfe begann es zu rumoren, ein dumpfes Gefühl der Ermattung bemächtigte sich meiner. Auch verspürte ich erklecklichen Hunger, aber mein Gatte hatte schon alles aufgegessen. Mein Gaumen war trocken, meine Lippen fieberten. Um 97 sie zu kühlen, pflückte ich die feuchten Gräser ab und preßte sie gegen meinen Mund.

Plötzlich ertönte über den Wald her aus weiter, weiter Ferne Glockengeläute. Ich wußte wohl, was es bedeute. Es war das Mittagssignal, welches auch mich zu Tische rief. Und wenn man mich vermißte – o Gott, was würde nun aus mir werden!

Ich warf mich auf den Rasen und fing bitterlich zu schluchzen an, während mein Gefährte, in der Absicht, mich zu trösten, mir mit seinen rauhen Händen über Gesicht und Nacken fuhr.

Plötzlich sprang ich auf und jagte, wie von Furien gepeitscht, dem Walde zu. Wohl zwei Stunden irrte ich weinend in dem Dickicht umher, dann vernahm ich Stimmen, die meinen Namen riefen, und zwei Minuten später lag ich in meines Bruders Armen.

Am nächsten Morgen erschien mein armer Freund als Ver- und Entführer vor dem hochnotpeinlichen Tribunal seiner Gutsherrschaft. Er schien es als selbstverständlich zu betrachten, daß er als Prügeljunge zu figurieren habe, machte nicht den mindesten Versuch, die volle Schuld von sich abzuwälzen, und nahm die Züchtigung, die ihm mein Bruder applizierte, mit größter Seelenruhe in Empfang. Dann scheuerte er wehmütig lächelnd den schmerzenden Rücken an dem Pfosten der Veranda und suchte schleunigst das Weite, während ich mich laut schluchzend am Erdboden wälzte.

Seit diesem Tage liebte ich ihn. Ich ersann tausend Schliche und Ränke, um heimlich mit ihm zusammenzukommen, ich naschte wie eine Elster, damit er sich an den 98 Früchten meines Diebstahls erlaben könne, ich erdrückte ihn fast unter dem Schwall meiner Zärtlichkeiten, mit denen ich jene fürchterlichen Reitpeitschenhiebe ungeschehen zu machen suchte.

Er ließ meine Liebe ruhig über sich ergehen und vergalt sie mir durch rührende Anhänglichkeit und einen gesunden Appetit.

Ein halbes Jahr später trennte uns das Schicksal.

Meiner armen Mama, die sich schon lange leidend gefühlt hatte, wurde von den Aerzten die Uebersiedelung nach dem Süden anempfohlen. Sie legte das Gut gänzlich in meines Bruders Hände und zog nach der Riviera. Ich begleitete sie.

* * *

Neun Jahre sollten vergehen, ehe ich in meine Heimat zurückkehrte. Trauriger, als ich je geahnt hätte, war das Wiedersehen. In Berlin, wo ich seit dem Tode meiner Mutter lebte, hatte ein tückisches Nervenfieber mich ereilt, das mich für viele Wochen auf das Krankenlager warf. Zwar hatte ärztliche Kunst mich dem Tode abgerungen, aber aus dem blühenden jungen Mädchen war ein bleicher, kraftloser Schatten geworden. Mein Arzt verordnete mir zur Stärkung Landluft und Fichtennadelbäder, und so wurde ich denn auf die Eisenbahn gepackt und nach meines Bruders Gut transportiert.

Ich muß einen ziemlich bejammernswerten Anblick geboten haben; denn als ich daheim aus dem Wagen gehoben wurde, sah ich in den Augen der alten Instleute die hellen Thränen stehen.

99 Es ist ein eigentümliches Gefühl, sich nach langen Irrfahrten wieder einmal in der Heimat zu wissen, und zumal, wenn man so schwere Leidenszeiten überstanden hat. Eine seltsame Weichheit des Empfindens übermannt das Gemüt, man versucht auszulöschen für immerdar, was die fremde Welt einem geboten an Luft und Leid, man versucht aufs neue Kind zu werden und lang verschollenen Zauber aus dem Grabe heraufzubeschwören.

Während ich im Lehnstuhl lag und den matten Blick über die Fluren der Heimat schweifen ließ, wurde ein Schatten nach dem anderen wieder lebendig, und als erster in der bunten Schar stand – mein lieber, blondköpfiger Gänsehirt.

»Was mag aus ihm geworden sein?« – Ich fragte meinen Bruder und erhielt die freudige Nachricht, daß er zu einem schmucken, tüchtigen Burschen herangewachsen sei und seinen alten Vater, den Schmied, schon wacker ersetzen könne.

Ich fühlte, wie das Herz mir klopfte. Wohl versuchte ich, mich ob meiner Thorheit auszuschelten, aber es wollte mir nur schlecht gelingen. Die alten, lieben Erinnerungen ließen sich nicht abweisen; schließlich gab ich mich willig darein und malte mir das Bild des Wiedersehens mit aller Farbenpracht märchenhafter Romantik.

Wenige Tage nach meiner Ankunft durfte ich meine erste Spazierfahrt machen, d. h. ich wurde in einen Wagen gehoben und draußen im Walde an einem lauschigen Plätzchen in das weiche Moos gelegt.

Ich hatte mir die Stelle wohlweislich ausgesucht Sie 100 bot die Aussicht auf die Schmiede, in welcher der Gespiele meiner Jugend hauste.

Mein Bruder wollte bei mir bleiben, aber ich bat ihn dringend, sich in seinen Geschäften nicht stören zu lassen; denn das kleine Mädchen, das mich zu meiner Bedienung begleitete, reichte vollkommen aus, um mich vor Ueberfällen zu schützen.

Wer sollte auch hier im friedlichen Heimatswalde über mich herfallen?

So fuhr er denn mit dem Kutscher zum Gute zurück, nachdem er versprochen, mich innerhalb zweier Stunden abzuholen.

Dann schickte ich sogar auch meine kleine Begleiterin fort. Sie dürfe sich Erdbeeren suchen, möge aber in meiner Nähe bleiben. Jubelnd sprang sie von dannen.

Ich war allein. Gott sei Dank! Nun konnt' ich träumen nach Herzenslust. Die Föhren rauschten über mir, und von der Schmiede erscholl das dumpfe Dröhnen des Hammers. Hellauf blitzte das Feuer der Esse, und von Zeit zu Zeit glitt eine dunkle Gestalt daran vorüber. Das mußte er sein.

Ich konnte nicht müde werden, den Bewegungen seiner Arme zu folgen. Ich bewunderte seine Kraft und zitterte für ihn, wenn rings um seinen Leib die glühenden Eisensplitter spritzten.

Die Stunden vergingen. Mitten in meinen träumerischen Beobachtungen überraschte mich mein Bruder, der mich abzuholen kam.

»Nun ist die Zeit dir lang geworden?« fragte er scherzend.

101 Ich schüttelte lächelnd den Kopf und versuchte, mich ein wenig zu erheben, aber kraftlos sank ich wieder zurück.

»Hm, hm,« sagte er nachdenklich, »ich habe den Kutscher zu Hause gelassen, weil ich glaubte, dich allein in den Wagen tragen zu können, aber der Sitz ist hoch, und ohne dir wehe zu thun, würd' ich dich wohl kaum hinaufspedieren. – Du, Grete,« wandte er sich zu dem Mädchen, das sich beim Nahen des Wagens schleunigst wieder eingefunden hatte, »lauf mal zum Schmied – dem jungen, du weißt, – und sag' ihm, er möge mir helfen kommen.«

Damit warf er eine Kupfermünze auf die Erde, welche die Kleine freudestrahlend aufraffte, ehe sie von dannen lief.

Ich fühlte, wie mir das Blut heiß in die Wangen stieg. Ich sollte ihn wiedersehen – hier auf der Stelle – er sollte Samariterdienst an mir verrichten! Die Hand auf das hochklopfende Herz gepreßt, saß ich und wartete, bis – bis – – –

Ja, das ist er! Wie stark, wie schön ist er geworden! Blondes, buschiges Haar umweht das rauchgeschwärzte Antlitz, und um das kräftige Kinn rankt sich ein üppig sprossender weicher Flaum. So muß Jung-Siegfried ausgesehen haben, als er beim bösen Mime in der Lehre war.

Linkisch greift er nach seiner kleinen Mütze, die ihm so keck im Nacken sitzt, ich aber reiche ihm lächelnd die Hand und frage: »Wie geht's?«

»Wie soll's gehen? Gut!« erwidert er mit verlegenem Lachen und wischt die berußten Finger umständlich an seinem Schurzfell ab, ehe er in meine dargebotene Rechte einschlägt.

»Hilf mir das gnädige Fräulein in den Wagen heben,« sagt mein Bruder.

102 Er wischt sich die Hände noch einmal und faßt mich dann – nicht eben sanft – unter die Achseln, mein Bruder hebt meine Füße, und im nächsten Augenblicke liege ich in den Polstern des Wagens.

»Danke, danke!« sag' ich und nick' ihm lächelnd zu.

Er steht an dem Wagenschlage, dreht die Mütze verlegen in der Hand und sieht bald mich, bald meinen Bruder mit ungewissen Blicken an.

Er hat noch etwas auf dem Herzen, sag' ich mir. Wie könnt's auch anders sein? Bei meinem Anblick sind alte Erinnerungen in ihm erwacht, – er will mit dir reden von den glückseligen Zeiten, da wir in Kinderunschuld zusammen Gänse hüteten. Ah – er traut sich's nicht – die Gegenwart seines Herrn – man muß ihm ein wenig zu Hilfe kommen.

»Nun, woran denken Sie noch?« sag' ich, indem ich ihm so recht freundlich und ermutigend in die Augen schaue.

Mein Bruder, der sich mit den Pferden beschäftigt hat, kehrt sich darauf hin um und sieht ihm ins Gesicht.

»Ach so! Du willst dein Trinkgeld!« sagt er und greift in die Tasche.

Mir ist, als habe mir jemand einen Peitschenhieb versetzt. »Um Gotteswillen, Max!« stammle ich und fühle dabei, wie es mich heiß und kalt überläuft.

Mein Bruder aber hört mich nicht und reicht ihm – wahrhaftig, er wagt's! – und reicht ihm ein Markstück.

Schon seh' ich's lebendig, wie mein Jugendfreund ihm die Münze ins Gesicht schleudert, ich raffe mich mit Gewalt empor und strecke die Hände aus, um allem Unheil vorzubeugen – aber was ist das? – Nein, es ist nicht möglich, 103 und doch, doch seh' ich's mit diesen meinen Augen: er nimmt das Geldstück – er sagt: »Danke schön« – er verbeugt sich – er geht! – – –

Und ich? Ich starr' ihm nach wie einem bösen Gespenste, dann sink' ich matt aufseufzend in die Polster zurück.

So, mein Freund, hab' ich Abschied genommen von meinem Jugendtraum. 104

 


 


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