Marie Tihanyi Gräfin Sturza
Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau
Marie Tihanyi Gräfin Sturza

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VII.

Nach Empfang von Freds Brief hatte Frau von Ellissen einen dringenden Ruf an Miß ergehen lassen. Sobald sie sie herbeieilen sah, so gut es ihre armen, schwergewordenen Beine gestatteten, führte sie sie in ihr Zimmer. Stella turnte indessen in der Halle, die ihr dazu reserviert war, am Trapez, mit Handeln, am Reck, Übungen, die ihren Körper geschmeidig machten und entwickelten, ihn zur Äußerung einer Lebenskraft anspornten, deren Reflex auch in ihrem Intellekt zum Ausdruck kommen mußte.

Der Vesuch von Miß war eine Erholung für Frau von Ellissen, die durch Stellas stetes plötzliches Auftauchen fortwährend zusammenschreckte. Das junge Mädchen verfolgte sie durchs ganze Haus, als ob sie sie mit ihrer Gegenwart, mit ihrem Geplauder quälen wollte.

»Kommen Sie schnell, Miß, ich habe Ihnen so viel zu sagen.«

Miß ahnte wohl, daß sich hinter der bleichen Stirne der jungen Frau ein großer Kummer verbarg. Schon lange fürchtete ihre verständige Freundschaft die traurige Stunde. Auch ohne Miras Geständnis ahnte sie das zärtliche Geheimnis, das sie wie eine Schuld verbarg. Sie wäre auch weiter gar nicht darüber erschrocken, da sie, die Reine, auch an die Reinheit der Liebe dieser beiden so vertrauten Wesen glaubte, hätte sie nicht Stellas despotischen Charakter gefürchtet. Sie sah einen Konflikt heraufbeschworen, wenn sich das junge Mädchen in den Kopf setzte, Fred für sich zu erobern.

Daher war ihr auch, bei Frau von Ellissens ersten, etwas verlegenen Worten sofort alles klar und sie konnte in ihrem Herzen, wie in der Wage der hohen Gerechtigkeit die Rechte und Pflichten eines jeden gewissenhaft abwägen. Es fiel ihr nicht schwer, Frau von Ellissen zuzustimmen, daß diese es sich selbst schuldig sei, das schwere Opfer zu bringen.

»Wenn Sie statt um zwei Jahre älter, um zwei Jahre jünger wären, meine sehr Verehrte,« erklärte sie ihr, »dann würde ich Ihnen sagen, Sie haben unrecht, nicht schon lange die ehrlichen Liebeserklärungen Seuriets anzunehmen. Aber ich verstehe, daß Sie vor den zukünftigen Gefahren einer nicht passenden Vereinigung zurückgeschreckt sind. Gewiß – Sie stehen jetzt in Ihrer vollsten Schönheit – alles vereinigt sich in Ihnen, ein Herz zu berücken... Freds Charakter ist schwach ... und zwei Jahre, Sie haben nicht unrecht, machen viel aus! Die Frau altert schneller, als der Mann. Ein Gelübde hält Sie zurück! die Furcht, eines Tages von ihm nicht mehr geliebt zu sein! So drängt sich ein loyaler Entschluß auf und das einzige, was ich möchte, ist, Sie getröstet zu sehen. Denn schließlich – man muß ein Ende machen! Fred wird sich Ihnen eines Tages entziehen – er wird heiraten!«

»Er würde bei mir ausharren,« erwiderte die junge Frau bebend, »davon binn ich überzeugt, wenn nichts seine Ruhe störte, denn er liebt mich.«

»Aber er liebt Sie – zu tief –, Sie haben mirs gestanden. Und da Sie seinen Wünschen nicht nachkommen werden, wird er sich für immer von Ihnen entfernen; während gerade seine Anhänglichkeit an Ihnen in dem vorgeschlagenen Verhältnis ein reines Glück bringen kann.«

Die junge Frau seufzte, ohne zu antworten: ihre Hochachtung vor der bewunderungswürdigen, seelischen und körperlichen Jungfräulichkeit dieses idealen alten Mädchens hinderte sie, die grausamen Erschütterungen ihres Herzens zu verraten, das eine neue Eifersucht quälte.

»Würden sie nicht von ihm,« fuhr die Miß fort, »alles haben, was Sie wünschen, die zärtliche Zuneigung, das fast tägliche Beisammensein und, noch mehr, die Kinder, deren Mutter Sie beinahe wären? Ja, ich finde geradezu, daß Ihnen das Leben ein Wohlwollen entgegenbringt, wie es für so viele andere ein gleiches nicht hat!«

»O, liebe Miß, sprechen Sie mir nicht vom Wohlwollen des Lebens – ich darf nicht klagen. Und doch, ich leide, leide entsetzlich!«

»Bedenken Sie,« sagte das alte Fräulein gradheraus, »um wieviel schrecklicher Ihr Leid wäre, wenn Sie diesen jungen Mann anders geliebt hätten? Dann wäre nicht ihr Herz allein zerrissen, sondern Ihr ganzes Sein.«

»Und wenn ich mich vergessen hätte, ihm mein ganzes Sein geboten!«

»Mira! nein – das glaub' ich nicht. Gott hat Sie beschützt, denn trotz aller, übrigens so natürlichen, Versuchungen, sind Sie ohne Fehl geblieben. Welche Befriedigung müssen Sie in dieser Stunde empfinden, die unabwendbar schlagen mußte! Sie würden sich demjenigen, der Ihnen allzusehr angehört hätte, aus Anstand und aus Achtung für sich selbst, verpflichtet sehen! Vergessen Sie nicht, Sie waren die Gattin von Stellas Vater! Danken Sie Gott, teuere Ungläubige, der Sie zärtlich aber keusch werden ließ, und bereiten Sie ruhig selber, mit ihren eigenen Händen, diese Heirat vor, die die beste Lösung der Frage bietet.«

»Werde ich den Mut dazu haben?« murmelte Frau von Ellissen.

»Sie müssen ihn haben. Sie müssen es wollen. Und vor allem, nur einzig Sie können dieses Projekt zur Durchführung bringen. Die Auseinandersetzung muß zwischen Fred und Ihnen allein stattfinden. An Ihnen ist es, ihn durch eine überzeugte feste Sprache zu diesem Ende zu führen, dem glücklichsten, ich wiederhole es, für Sie alle drei: für ihn, der mit seinem schwachen und und weichen Charakter im Zusammensein mit Ihnen den teuren Einfluß, den liebevollen fast mütterlichen Schutz finden wird, den niemand anderes ihm leihen kann, als nur Sie; für Stella, deren Herrschsucht, ihrer selbst unbewußt, unter der Einwirkung Ihres Verzichtes sich mäßigen wird, die sich weniger frei fühlen wird, obgleich sie daran denkt, gegen eueren beiderseitigen würdigen Ernst mit den äußersten Mitteln anzukämpfen; und für Sie endlich, die sich bald daran gewöhnen wird – die dahinfließende Zeit beruhigt manches Verlangen, glauben Sie mir! – gewöhnen wird, nicht mehr unerfüllt vergöttert zu sein, sondern geliebt und zärtlich verehrt von jenem, der Ihnen das ganze Glück seines Lebens verdanken wird.«

»Aber wenn Stella ihn nicht liebt!« rief die junge Frau.

»Lassen Sie doch, kümmern Sie sich nicht darum – sie liebt ihn auf ihre Art – und ich glaube, daß Stella ihn nicht nur lieben, sondern ihm auch als Gattin – Treue bewahren wird!«

»Sie glauben? – Oh! wenn ich wüßte, wenn ich nur die Wahrheit erfahren könnte, wenn es mir möglich wäre, in ihre Seele zu blicken.«

»Ich glaube, Sie verkennen sie. Sie ist aufrichtig bis zur Grausamkeit!« sagte die Miß.

»Sie halten sie – nur für aufrichtig? –«

»Ja. – Sie – nicht?«

»Ich fürchte, Miß!«

»Man muß nicht fürchten, sondern hoffen. Man muß die Welt für besser halten als sie vielleicht ist. Ein bißchen Optimismus und viel Barmherzigkeit, und das Übel, das man fürchtet, verflüchtigt sich und das Gute, das man wünscht, geht in Erfüllung.«

»Ich habe große Angst...« hauchte noch die junge Frau.

»Das ist nicht das Mittel zum Siege. Ah! wenn Sie so beginnen, dann sind Sie von vornherein besiegt. Glauben Sie mir. Als Christus zum Lahmen sagte: »Erhebe dich, werfe deine Krücken von dir und gehe!« hätte da jener gezweifelt, so würde er sich nicht erhoben haben und gegangen sein. Also, arme Freundin, etwas Mut, und alles wird sich wohl gestalten.«

»Also, Sie wollen, ich soll ihn zurückrufen, um ihm Stella zu geben?«

»Ja,« sagte die Miß einfach, – »Sie werden es tun, nicht wahr?« fügte sie fragend in einer weise hinzu, die deutlich sagte: Sie müssen es wollen.

»Gewiß! ich will es,« stammelte Frau von Ellissen und verbarg ihre Stirne in den Händen. Sie weinte – während die Miß, über das traurige Antlitz geneigt, einen erschütterten Blick, erfüllt von barmherzigem Mitleid, zum Himmel warf, wo alle ihre Gedanken endeten.

Die Türe wurde mit einem plötzlichen Ruck aufgerissen, und Stella, leuchtend und frisch vom Bade, noch feucht von der Brause, die Haare wie einen Mantel über das helle Kammtuch gebreitet, stürmte wie der Wind herein.

»Was! Sie, Miß! I beg your pardon! Ich glaubte Mira allein. Was macht Ihr da, alle beide, eingesperrt? Ihr seht aus, als hättet Ihr eine düstere Verschwörung vor? Darf man wissen? Ich störe wohl? Geh' auch schon. Fahrt nur in euerem kleinen Geplauder fort.«

Und ihre beiden stechenden Augen in den ernsten Blick der Miß, die sie kritisch betrachtete, versenkend, fragte sie plötzlich:

»Ich wette, man hat von Fred und mir gesprechen?«

Diese platzte heraus:

»Ja, Mama wird ihn zurückrufen. Also, kleine Braut – bald die Hochzeit!«

»Ha! ja – endlich! – wann?«

»Bald – heute noch geht der Brief ab – nicht wahr?«

»Wenn du ihm schriebest?« warf Stella hin.

»Ganz richtig, ich werde ihm schreiben. Ich schreibe ›Dringend‹ darauf und gebe ihm drei Tage Zeit nach Ankunft des Briefes,« meinte naiv die junge Frau.

»Nein, das wäre ungeschickt. Richte es nur so ein, ihn verstehen zu machen, daß du ihm einen ernsten Wunsch mitzuteilen hast.«

Frau von Ellissen ging in ihr Zimmer. Sie war allein. Sie setzte sich vor ihre Schreibmappe und verharrte davor, die Feder in der Hand. Diese zitterte, denn ein plötzlicher Entschluß erfüllte sie mit Schauer. Von ihrer Erschütterung zu ungewohntem Mute gedrängt und übrigens auch allzusehr von der Frage hingenommen, um die ruhigere Stimmung des nächsten Morgens abzuwarten, schrieb sie ohne einzuhalten, mit zitternden Buchstaben, welche dem unregelmäßigen Rhythmus ihres Herzens folgten.

»Fred! Reisen Sie so schnell Sie können. Kommen Sie! Gleich, noch am Abend Ihrer Ankunft, und wäre es ein Freitag – ich zähle auf diesen Tag. Kommen Sie – welche Stunde es auch immer sei hören Sie? Und wäre es Mitternacht, wäre es noch später! Kommen Sie heimlich durch den Park, den ich offen lassen werde: ich erwarte Sie bei mir – im Parterre, Sie wissen schon... Mira.«

Sie schellte, während sie mit dem Finger über das geschlossene Kuvert strich.

Doch Stella trat ein.

»Schon erledigt?« sagte sie lachend.

Frau von Ellissen hatte gerade nur Zeit, den Brief in die Mappe zu werfen.

»Noch nicht. Ich möchte nur wissen, ob Jacques schon zu Haust ist.«

»Ich will nachsehen,« sagte Stella.

Als Mira die Schritte Stellas im Korridor nicht mehr vernahm, steckte sie den Brief in die Tasche und eilte die Treppe hinab.

»Tragen Sie diesen Brief sofort zur Post,« sagte sie dem Diener, »geben Sie ihn rekommandiert expreß auf und bringen Sie mir das Rezepiße in mein Zimmer.«

Als Stella zurückkehrte, fand sie das Zimmer leer. Sie lief zum Schreibtisch und nahm die Feder in die Hand, die noch voll Tinte war.

»Endlich!« sagte das junge Mädchen aufatmend.


Die Miß verlor den Atem, als sie die Stufen zu ihrem Heim hinanstieg. Aber dieses kokette Heim war von zahlreichen Nippsachen erfüllt, Geschenke ihrer Schülerinnen, zierliche kleine Nichtigkeiten, von überallher zusammengetragen. Dieses naive und liebevoll zusammengestellte Museum war ihrem Herzen teuer und bot ihr eine wohlige Umgebung. Sobald sie es erreicht, atmete sie erleichtert auf, beruhigend, lächelnd. Ihr Blick streifte über die zerstreuten Gegenstände, liebkoste sie mit sinnender Freude. Sie fühlte sich durch dieselben umgeben von der ständigen Zeugenschaft so vieler schon alter freundschaftlicher Gefühle. Alle Mühe, die sie sich genommen und sich noch immer in ihrem Lehrerberufe nahm, verflüchtigte sich in der unausgesetzten Erinnerung der tausend freundschaftlichen Bande, die sie sich geschaffen, die sie umgaben, ja, sie beinahe über ihre Einsamkeit trösteten. Alte Jungfer, war sie doch mehr als irgend eine Frau auf der Erde geliebt gewesen. Die Herzen hatten sich um ihre Güte geschart, wie kleine Küchlein unter dem mütterlichen Flügel. Und ihre Brut, die sich jedes Jahr mehrte, zerstob vergebens in alle Winde, sie fand die Erinnerung an alles und an alle wieder, an den Wänden, in den Ecken, auf Schritt und Tritt, ihr Nest mit Blüte und Duft erfüllend.

Als Stella eintrat, blieb sie stehen und stieß hervor:

»Ich hatte Angst, zu spät zu kommen.«

»Nein,« erwiderte die Miß, »der Tee bei den Hennebergs ist heute erst um neun Uhr, wir haben vollauf Zeit. Wie geht es Mira heute abend?«

»Ganz fertig, Nerven, und bleicher als je, aber immer schön! Sie werden sehen, daß sie in der Unterredung mit Fred alle möglichen Weitläufigkeiten suchen wird. Anstatt mich ihm sieghaft auf einer Silbertasse anzubieten, wie eine für ihn unschätzbare Gabe!«

»Bescheiden sind Sie gerade nicht?«

»Wozu auch? Ist es nicht die Wahrheit? Können Sie denn sagen, daß ich für Fred, dem fast noch unbekannten, reich an Gaben und Hoffnungen, aber arm an Geld, nicht eine sehr annehmbare Partie bin?«

»Ich leugne es nicht, meine Liebe, aber...«

»Aber? Nun – sprechen Sie Ihren Gedanken aus ...«

»Ich will sagen,« sprach die Miß langsam, ihre Worte suchend, um den leicht erregbaren Stolz Stellas nicht zu treffen, »ich will sagen, daß Ihnen für den Augenblick vielleicht noch die sanften Tugenden, die Ergebenheit, die Resignation, der opferwillige Geist mit einem Wort, fehlen, die wertvollsten Eigenschaften, die der Mann in dem Weibe sucht, das sein Leben zu teilen berufen ist. Sind Sie überzeugt, ihn genug zu lieben, um das ganze Streben seines Genies zu unterstützen, werden Sie ihm durch die Feinfühligkeit jener Mittel helfen können, die das Herz allein gebiert, zu arbeiten, zu leiden, sich zu überwinden?«

»Wenn ich ihm nur nicht im Wege bin, was wird er mehr von mir verlangen können?«

«Ihn zu lieben, Stella, ihn tief zu lieben und es verstehen, ihn zu lieben.«

»Bravo! Ganz wie Mira, Sie auch, mit eurem Rappel von der Liebe. Gott! was seid ihr romantisch.«

»Sehen Sie wohl, Stella, daß Sie für die Ehe nicht reif sind, Sie kennen ja noch nicht einmal das oberste göttliche Gesetz derselben.«

»Sie selber, Miß, sind altmodisch, Ihr Herz gleicht einem kleinen, toll gewordenen Kuckuck, der den Schwanz hin und herwirft und nach allen Seiten tanzt, um: Liebe! Liebe! zu singen. Heute, sehen Sie, ist das Handwerkzeug des Herzens vervollkommnet. Es ist ein Chronometer erster Güte geworden, tüchtig, wohlgeregelt; und da man das ganze Räderwerk kennt, wissen wir, daß es eine Maschine darstellt und nichts als eine Maschine, die durch eine rein physische Hygiene in gutem Zustand erhalten werden muß. Dann kann man ruhig seinen kleinen Geschäften nachgehen, indem man dieses recht vernünftige Herz hinter seinem Mieder trägt, wie die Uhr in einem Armband: einfach, um ab und zu die Zeit zu erkunden, z. B., wenn einen jemand langweilt, ihm zu sagen: >Verzeihen Sie, ich habe keine Zeit<.«

»Und das ist die Antwort, die Sie mir geben?« fragte traurig die Miß.

»Teufel! Wenn Sie von mir verlangen, mich in Rührseligkeit zu ergehen...«

Die Miß murmelte fast gegen ihren Willen:

»Sie sind nicht gut, Stella.«

»Ein Wort noch!« erwiderte das junge Mädchen, mit den Achseln zuckend. »Schauen Sie, Miß, wozu dient die Güte, wenn nicht dazu, Leid zu bereiten? Betrachten Sie Mira – die wird ganz krank davon, Sie ist die Güte für alles, was sie »den Kummer der andern« nennt. Sie ist fertig; sie war so stark, so kräftig, und jetzt – ist sie im Begriff, sich eine Herzkrankheit zu holen. Schöner Erfolg, das! Warum denkt sie nicht daran, sich wieder zu verheiraten, sie, so schön, so liebreizend, alles was man nur wünschen kann, um das Glück eines Mannes auszumachen.«

»Sie bedenken nicht, mein Kind, daß Mira, indem sie so handelte, wie sie es tat, gar manches Weh einer größeren Menge gestillt hat, als Sie es wohl ahnen! Sie hat gelitten und leidet noch, gewiß! Aber sie ist eine Einheit, die sich für das Glück einer Vielheit ausgegeben hat. Das Ergebnis ihres persönlichen Schmerzes ist eine Riesensumme um sie verbreiteter Wohltaten. Und wenn jeder mit ihren Gaben ausgestattet wäre, würde das Elend, dieses fürchterliche Elend, das die Menschheit zerfrißt wie eine Wunde, wohl rasch verschwinden!«

»Wieder eine Utopie, Miß –. Das Elend ist notwendig, um das Glück genießen zu können. Wenn alle Welt glücklich wäre, wüßte man nicht, was Glück ist: man ist nur glücklich durch den Vergleich.«

»Kann man glücklich sein, wenn man nicht an jene denkt, die es nicht sind?«

»Wenn man mit gesunder Vernunft daran denkt, ja. Gesund sein, das ist das einzige Geheimnis. Das Jeben ist eine Macht, Miß. Haben Sie schon darüber nachgedacht? An uns ist es, mit allen Kräften den Odem des Lebens einzuatmen, der in der Luft liegt, der uns berührt und sich anderswo niederläßt, wenn wir ihn nicht festhalten. Schlürfen wir davon so viel als möglich, in langen Zügen, so wie man trinkt, wenn man großen Durst hat. Und dann freuen wir uns unseres Glückes, ohne der Verdurstenden zu achten, die die ungeschickten Trinker des Lebens sind, die schwachen, die anämischen, die Kranken endlich! Glauben Sie, es ginge schlechter zu auf der Welt, wenn es da nur Starke gäbe, solche im Gleichgewicht? Die Gleichheit der Kräfte bewirkt die Gleichheit der Rechte. Seien wir stark, um nicht in unseren Hoffnungen betrogen zu werden. Ich bin nur ein Weib, aber ich hab' in meinem Kopf etwas, das mich denjenigen gleichstellt, die unsere Herren sind: die Männer.«

»Das ist Ihr Stolz und Ihre Härte,« stieß die Miß, endlich ärgerlich geworden, hervor.

Stella aber, voll Verachtung:

»Rein, Miß, das ist mein Wille! Nun, werden Sie auch die Macht des Willens und seines Verdienstes leugnen?«

»Nein, vorausgesetzt, daß man das Gute will.«

»Aber ich will es, Miß. Ich will sogar nur das!«

»Ja, das Gute für Sie!«

»Natürlich! Ich verfüge nicht über die anderen! Ich habe die Freiheit des Handelns nur über mich selbst. Ich kann niemanden dazu anhalten, für die Vergrößerung seines Glückes und seiner Freiheit zu arbeiten, also, warum wollen Sie, daß ich mich dafür interessiere? Aber ich halte in meinen Händen ein Wesen, das mir gehört, das mein Ich ist, über das ich nach meinem Gutdünken verfügen kann; und dieses Wesen seinem Ziele zuzuführen, habe ich das Recht und die Pflicht.«

»Aber diese Ideen,« seufzte die Miß etwas entwaffnet, »wie sind sie Ihnen gekommen?«

»Ganz einfach indem ich darüber nachgedacht, als ich viel gelesen, ein bißchen durcheinander, es ist wahr; wenn aber die Ideen in der Luft liegen, begegnet man ihnen überall wieder unter verschiedenen Gestalten. Man muß sie nur suchen, vereinigen, vergleichen. Und wenn man ein bissel Grütze hat, dann findet alles seinen Platz. Aber schauen Sie, – da ich schon im Zuge bin, eine Beichte abzulegen, kann ich Ihnen ja alles gestehen – wissen Sie, wer mich zur Auflehnung gegen das gefährliche Spiel der Empfindsamkeit und aller ihrer üblen Folgen gebracht hat? – Mira selbst.«

»Die teuere Mira!«

»Gewiß, allzu gut, allzu weich! Als Mira Papa heiratete, war ich zwar noch ein Kind, trotzdem aber entging mir das Leben nicht, welches sie an der Seite meines Vaters führte. Mira reichte meinem Vater nicht aus Liebe die Hand – nein, sie wurde seine Gattin, sie war ihm die treueste, ergebenste Lebensgefährtin, die beste Freundin, jung, schön – nicht so schön wie heute – sie lebte ausschließlich der Pflicht, Gattin, Mutter zu sein und diese Pflicht, welche ihr mit ihrem Schritt auferlegt war, ganz zu erfüllen. Ihr Leben blieb leer und öde. Sie ertrug alle Schroffheiten Papa's mit Geduld und Ergebung, trotzdem der Stolz sich oft in ihr aufbäumte, ihre Augen von Zorn auffunkelten! Bald aber änderten sich die Gefühle und eine Art Mitleid überkam sie – Mitleid für den alten ergrauten Mann. – Ich wuchs zum Mädchen heran und wurde von ihr nach dem Tode meines Vaters mit der gleichen hingebenden Liebe behandelt, wie vorher. Mira ist mir Mutter, ist mir aber auch die teuerste Freundin. Ich möchte sie eben glücklich sehen – auf ihre Art – die allerdings nicht die meine ist. Ich habe eingesehen, daß, wenn ich mich von einer übertriebenen Empfindsamkeit hinnehmen ließe, mein Dasein dem ihrigen gleichen würde; daß ich allen Mut verlöre, jede Energie, um mich zu verteidigen. Nicht alle haben eine so starke Seele und einen so festen Charakter, wie sie. Wenn mir der Himmel einen solchen Grobian bestimmte, würde ich zusammenknicken, wie sie und mein ganzes Leben ergösse sich aus meinen Augen. Da hab' ich mich denn aufgerichtet, mir einen Standpunkt gewählt. Ich habe unter meinen Anlagen die männlichen Eigenschaften gesucht, die mir von meinem Vater überkommen waren und bildete sie aus. Und da es sich darum handelte, ihm zu gleichen, um so glücklich zu sein, wie er es war, habe ich in mir alle Mittel entwickelt, dieses Ziel zu erreichen. Das hat mir im Anfang viel gekostet, warum soll ich es Ihnen verschweigen? Mir war eine liebevolle Wärme gegeben, die mir im Wege stand. Auch ich hatte das Bedürfnis, zu lieben! Aber das war zu dumm! Jene, die lieben, werden nicht geliebt. Alan dreht ihnen ihre Liebe zwischen den Zähnen um, wie ein falsches Gebiß, und zielt darauf. Ich habe es vorgezogen, die Zügel in der Hand zu haben. Und jetzt halte ich sie. Ich bin nicht schlecht, Miß, ich versichere Sie. Es gibt sogar Augenblicke, wo ich recht fähig wäre, gerührt zu werden. Aber ich will nicht. Ich spreize mich dagegen. Schauen Sie, wenn ich Angst habe, weich zu werden, denke ich an Mira und das genügt. Ich werfe mich heftig zurück, und zwar auf den Gegensatz zu ihrem Denken; das ist sogar meine einzige Verhaltungsmaßregel: sie macht dies, ich mache das, gerade das Gegenteil. Sie hat Herz – ich nicht mehr! Sie überlegt mit dem Herzen, ich überlege mit dem Gehirn. Wenn sie gibt, so nehm' ich, wenn sie weint, so lache ich! Recht einfach, wie sie sehen: ich will ihr nicht ähnlich sein, ich will nicht leben, wie sie; denn sie hat gelitten. Sagen Sie mir doch, warum sie von Tag zu Tag blässer wird; ihre Augen verraten, daß sie leidet – an irgend einem Kummer leidet. Ich bin kein kleines Mädchen mehr – warum nennt sie mir nicht den Grund? Warum immer ein Seufzer? und das erst so recht, seitdem ich ihr gesagt, daß ich Fred will, daß ich seine Frau werden will. Ich muß doch eines Tages heiraten?«

»Das Leid erschreckt Sie also sehr, mein Kind?«

»Ich finde es ungerecht und unnütz, vor allem unnütz.«

»Das ist nicht meine Ansicht. Sie wissen, daß ich aus eigener Kenntnis der Sache sprechen kann, nicht wahr?«

«Gewiß.«

»Nun! Im Alter, daß ich erreicht, nachdem ich alle Grausamkeit eines Lebens ertragen, das ich mir selbst gewählt, mit eigenem Willen, mit aller Einsicht, schwöre ich Ihnen, Stella, – und ich leihe diesem Schwur eine ganz besondere Feierlichkeit, mein Kind, – schwöre ich Ihnen, daß ich durchaus stolz und glücklich bin, in mir eine Freude entwickelt zu fühlen in Berührung mit dem Leid, das geheiligt ist, wenn es freiwillig ist oder doch würdig getragen wird. Eine fast göttliche Empfindung der Freude ist es, die sich ihres reinen Ursprungs bewußt ist, einer souveränen Genugtuung über die Kraft meiner Entsagung, – ein Stolz, möchte ich sagen, darüber, daß ich durch meine Aufopferung im erhabenen und schöpferischen Willen das Glück oder wenigstens den Frieden jener Geschöpfe um mich her gesichert habe, die mir teuer waren. Ich fühle mich ganz anders stark, als Sie, die Sie nur für sich selbst kämpfen, daß ich für jene gekämpft und gesiegt habe. Sie werden vielleicht Ihre Befriedigung finden: ich habe die Befriedigung jener erobert und habe sie ihnen gegeben. Das Weib, das den Hochgenuß des Opfers nicht kennen gelernt, wird nie das gekostet haben, was es Bestes auf Erden gibt und vielleicht darüber hinaus. Geben, sich geben, das ist der Inbegriff von Seligkeit. Und ich bedaure Sie, Stella, o, ich bedaure Sie von ganzer Seele, wenn Sie nicht eines Tages dem Schmerze begegnen werden, der die nüchterne Härte Ihres Herzens brechen wird, um daraus die unendliche Quelle einziger Glückseligkeit sprudeln zu lassen.«

»Ich danke Ihnen, Miß,« erwiderte das junge Mädchen kalt; »aber ich hoffe niemals dem Hammer zu begegnen, der auf diesen Felsen schlagen wird.«

Und das junge Mädchen berührte mit leichtem Finger die Stelle, wo ihr Herz schlief.

Sie verblieben einen Augenblick in Schweigen, um den inneren Tumult ihrer heftig erregten, aufgewirbelten Gedanken sich beruhigen zu lassen, wie im Kielwasser eines Schiffes die Wogen sich türmen und glätten. Sie wechselten noch gleichgültige Worte, um die Zeit auszufüllen und der Verlegenheit einer vollen Verstummung auszuweichen. Die Miß versuchte, ostentativ ein Heft der englischen Schularbeiten durchzublättern: aber Stella wendete das Haupt zur Uhr, die von dem sentimentalen Museum der Nippsachen auf dem Kamin umgeben war.

Die Miß sagte:

»Sie wissen ganz gut, daß ich zu früh komme. Aber einerlei, gehen wir.«


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