Marie Tihanyi Gräfin Sturza
Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau
Marie Tihanyi Gräfin Sturza

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VI.

Am nächsten Morgen hielt Frau von Ellissen in ihren zitternden Händen einen Brief von Fred:

»Verzeihen Sie, Mira, daß ich Sie gestern nicht benachrichtigt habe. Ich reise ab. Ich bin körperlich und geistig krank. Ein Luft- und Szenenwechsel wird mir gewiß heilsam sein. Geben Sie mir Nachricht von sich poste restante nach Rom, ich werde mir die Briefe nachschicken lassen. Zürnen Sie mir nicht und glauben Sie an meine zärtliche Liebe.

Fred.«

Er hatte mit einem riesigen Strich, als Geständnis gleichsam der Ursache seiner Flucht, das verhaßte Eigenschaftswort unterstrichen, das eine unüberbrückbare Kluft für ihre gegenseitige – lächerliche Liebe bildete.

Der Waggon, der Fred entführte, sprang weniger auf den Schienen, als sein Herz in seiner Brust. Seine Nerven bebten. Er floh, wie ein verwundeter Vogel, der vergebens den spitzen Pfeil abschütteln will, der ihn durchbohrt.

Er floh den Vogelsteller, den er doch selbst hätte bald zitternd und besiegt aufheben können, wenn er im Bereich seiner zärtlichen und doch so mörderischen Hände geblieben wäre. Ach, diese Hände, die Frau von Ellissens Finger kneteten, die sich in ihr Fleisch vergruben, ihre Fläche an deren Fläche preßten, die empfindlich wie Lippen waren. Sie fieberte, wenn er so von ihnen Besitz ergriffen hatte, welche Schande! Ihr moralischer Wille war ihre einzige Kraft, und sie wollte dieser Liebe in extremis nicht nachgeben.

Eine Aussprache zwischen ihnen war unvermeidlich gewurden. Sei's. Sie würde hören und erwidern, aber aus solcher Ferne, daß ihre armselige physische Schwäche geschützt wäre. –

Wie sollte Frau von Ellissen Stella die Nachricht von Fred's Abreise mitteilen, die sie selbst mitten ins Herz traf, in das arme zertretene Herz, das in einer sich täglich enger zusammenziehenden Hülle steckte.

Fred versuchte sich zu zerstreuen, indem er Venedig ohne Führer durchstreifte. Er genoß die Erschütterung, die ihn bei jedem neuen Kunstwerke erfaßte, daß er nach Mira's Schilderungen erkannte, und ihre enthusiastische Stimme begleitete ihn überall hin und gab ihm die Illusion ihrer Gegenwart. In dieser Sinnestäuschung wanderte er umher, von ihr geführt, ihrer bilderreichen Sprache begeistert und empfänglich gemacht für die schwermütige Schönheit der edlen Ruinen, für die grandiose Pracht der Paläste, die rührende Anmut der abbröckelnden Bogen, die majestätischen Trümmer der antiken Paläste.

Fred wär überrascht vom Anblick, der sich ihm in dieser hellen Sternennacht darbot. Girlanden von Rosen und Lorbeer, tanzende Ketten von farbigen japanischen Laternen lassen das dunkle Gewässer in allen Farben spielen und verwandeln es in eine schreiend bunte Harlekinsjacke. Langsam gleitet ein Boot mit Musikanten und Sängern von San Marko, mit Champagner trinkenden, verliebten Paaren besetzt, den Canale grande hinab.

Geigen, Flöten, Mandolinen, Sänger mit kräftigen oder schrillen Stimmen, überbieten einander und erwecken durch ihre alten Karnevalsmelodien die Erinnerung an vergangene Freuden, himmlische Intriguen, herausfordernde Masken, wollüstige Dominos. Sie preisen die Stadt der Versuchung, des Entzückens, des Traumes, die war und ewig sein wird: Venedig.

Wie um das Festschiff zu grüßen, tauchen nacheinander die Marmorstufen der Kirche Santa Maria della Salecte und die Paläste aus dem Dunkel, vom plötzlich entflammten bengalischen Licht grell beleuchtet, auf. Die kleinen Kanäle färben sich purpurrot durch einen heitern Streifen Lichtes, die Fenster werden geöffnet, auf den Balkonen erscheinen braune und blonde Köpfe, auf die auch ein Lichtstrahl fällt.

Hunderte von Gondeln drängen sich, gleichsam ins Schlepptau genommen, vom Festschiff, als wären sie von einer einzigen Hand gelenkt. So folgt in der Finsternis ein langer unförmlicher Fisch der leuchtenden Spur eines Schiffes.

Beim Rialto, dessen stolzer mit goldschimmernden Platten besetzter Bogen der Tiara eines Riesengötzenbildes gleicht, bleibt das Schiff lange stehen. Auf den illuminierten Kais und auf der Brücke wimmelt immer dichter werdende Menge. Wie berauscht von der Musik, klatschen die Weiber in bis Hände, verlangen jedes Lied, jede Opernarie noch einmal, singen den Refrain aus vollem Halse mit, kurz: sie verlangen ihren Teil am Tumult und an der Freude und brechen in begeisterte Hochrufe aus, wie beim Einzuge eines volkstümlichen Monarchen.

Plötzlich wird alles dunkel, alles zerstreut sich; das blumen- und laternengeschmückte Schiff, die Gondeln und die Menge. Paläste, Kirchen, Kanäle versinken wieder in die Dunkelheit, schlafen oder träumen, das Wasser spiegelt nur Mond und Sterne wieder.

In der erstorbenen Stadt widerstehen nur die Leidenden und die Liebenden der ansteckenden Betäubung dieser Stille, dieses Friedens.

Fred seufzte und dachte bei sich: »Ich soll dich also nie vergessen, Mira! Hier bin ich. Sind wir nun weit genug voneinander?« Und es fielen ihm die grausamen Worte ein, die sie einst zu ihm gesagt hatte:

»Bringen Sie doch einmal eine dreißigjährige Frau auf die Bühne und in meinem Zustand der Leidenschaft: die ganze Kritik wird sich dagegen erheben und es abgeschmackt finden. Unsere berühmtesten Psychologen haben noch nichts gefunden, um das Recht der Dreißigjährigen auf Liebe zu rechtfertigen. Und sie werden es nicht einmal versuchen, aus Furcht, selbst dem Gelächter und der Verachtung des Publikums zu verfallen. Woran liegt das? Gewiß an einer irrigen Auffassung der Liebe. Die Religionen haben sie geduldet, um die rassenverbessernde Zuchtwahl zu begünstigen. Für sie soll die Liebe nur das Mittel zur Zeugung sein: folglich muß sie an der Schwelle des unglücklichen Alters Halt machen. Die Kunst hat in ihr nur das Motiv der Schönheit gesehen und in der Schönheit die einzige Entschuldigung der Liebe. Wenn die Schönheit vergeht, muß die Liebe schwinden. Die Stunden der strahlenden Jugend sind aber kurz, und endlos die Jahre nach dem Beginn der Reife. So lange sie aber auch seien, man darf nicht mehr lieben. Lange noch ehe der Körper zum ewigen Frieden eingegangen ist, muß man sein Herz unter einer steinernen Platte begraben, seine Zeit ist vorüber. Wehe dem Herzen, das sich unterfinge, von den Toten aufzuerstehen und sein ewiges Leben zu fordern. Schlaft, ihr Alten, aber schlaft allein!«

»Welches Weib!« rief er aus. »Sie, die in vollem Glanze, in voller Schönheit verzichtet! Es war nicht das Werk eines banalen Geistes oder eines leichtfertigen Herzens.«

Und da dieses düstere unheilschwangere Meer sein Herz ganz melancholisch gestimmt hatte, begann er zu weinen.

Die Fledermäuse schwebten lautlos und unruhig. Er beneidete nicht mehr jene, die ihr Geschick in die Ferne treibt, die ihre Tage und Nächte zwischen Himmel und Wasser verbringen, die nach unbekannten Fernen auswandern. Wozu an Trennung denken, an freiwillige Verbannung in die Fremde, hinter den schaumbekrönten Wogen, da die Stunden der Bitterkeit, des Zornes, der Enttäuschung verrauscht sind? Da die Stimmen der Ebbe und Flut, die ihn früher riefen, die ihm ewigen Frieden boten, die mit ihm schluchzten, ihn verspotteten in der langen schmerzlichen Dämmerung heute nur fröhliche Osterglocken, Glocken der Auferstehung, der Freude erklingen lassen, mit dem Rate lange, ja ewig zu lieben.

Fred bedauerte die, die er beneidete, denen er auf ihren Abenteuern folgen wollte. Und als Streifen schwarzen Rauches sich über der großen smaragdgrünen Mauer erhoben, die dort dem Himmel abschließen, als Silhouetten von Schiffen mit ausgespannten Segeln auf dem grauen Nebel erschienen und mit schrillem Geschrei, als ob sie sich verloren fühlten, die Seevögel klagten.

Er empfand eine unsagbare Bangigkeit und eilte zum zarten goldigen Lampenlicht zurück. Die Vorhänge waren geschlossen, alle nächtlichen Geräusche verschwimmen in ein langes eintöniges Rauschen, die Rosen durchduften die laue Luft mit ihrem feinen Wohlgeruch.

»Ach, einer liebt immer stärker als der andere. Jetzt bin ich es, später wirst du es sein. Das ist das Leben!« ...

Ein Monat verging. Frau von Ellissen war allein in ihrem Zimmer, als man ihr einen Brief brachte; sie erkannte sofort Freds Schrift.

»O Mira, ich liebe Sie! Lassen Sie mich noch hoffen. Sagen Sie nicht Ihr letztes Wort, sagen Sie es noch nicht. Lassen Sie mir noch eine Frist. Überlegen Sie. Quälen Sie nicht Ihren Seist, um Gründe gegen Ihr Herz zu finden, da Sie mich lieben. Ja oder nein, lieben Sie mich? Wenn Sie mich lieben, werden Sie die Meine. Wie groß könnte unser Glück sein, wenn Sie wollten. Wir würden die Provinz verlassen, wir würden uns in einer herrlichen Gegend einnisten, in einem kleinen Gebäude aus roten Ziegeln, dessen Galerie direkt über dem Meer gelegen ist, dessen Woge an steilen Felsenklippen brandet und schäumt in seinem heimlichen wiegenden Gesang. Wir würden uns im Tale von Bangar herumtreiben, wo das Gras so hoch wächst, daß man darin verschwindet, wo die üppige Vegetation orientalische Töne annimmt, wo der Ginster ein Baum ist, wie die Mimosen des Esterel. Wir würden zum Leuchtturm von Kervillavuen wandern, um das Meer zu betrachten, das die Seele mit der Energie seiner Wogen erfüllt und sie mit seinem Sprühregen in unauslöschlichem Glauben an ein unendliches Leben tauft.

Aneinandergelehnt würden wir über den schönen Hafen von Sauzon heimkehren, dessen Boote wie närrisch tanzen, ihre Ketten ertönen lassen, und mit den Schiffskörpern zusammenschlagen wie Kastagnetten.

Dies war mein Traum. Haben Sie ihn nie geahnt? Also, Mira, eine gute Regung: antworten Sie mir endlich! Rufen Sie mich zurück, zu sich, auf immer. Wenn flüchtige Geister, wie Sie, Mira, über diese Fragen debattieren, halten Sie sich an die landläufigen Vorurteile, an die fertigen Ideen, an den

Schein mit einem Worte. Sie sprechen darüber ab, ohne irgend einen triftigen Grund.

Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich außerdem in meinen eigenen Angelegenheiten Urteil genug besitze. Ich bin mir vollständig klar darüber, daß sich in meine leidenschaftliche Bewunderung Ihrer geliebten Person keinerlei Illusion mengt. Ich sehe Sie so schön, wie Sie sind, wie Sie in meinen Augen immer sein werden. Mira, antworten Sie mir nur ein Wort: Komm! Lassen Sie mich endlich das ersehnte Wort von Ihren Lippen hören: Ich liebe Dich! Ich zittere, ich bebe! Ich hoffe, ich warte! Ich lebe, aber wie!

Fred.«


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