Marie Tihanyi Gräfin Sturza
Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau
Marie Tihanyi Gräfin Sturza

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V.

Das heraufkommende Osterfest wurde dies Jahr in der Fabrikstadt besonders schön gefeiert. Die Fastenpredigten waren von einem geistig hochstehenden Dominikaner, dem Pater Patry, gehalten worden und hatten die Gesellschaft zu ungewohntem Nachdenken erhoben. Die ersten Predigten hatten sogar eine gewisse Verblüffung im Gefolge, denn nur die wenigen gebildeten Geister waren fähig, die Unterweisung des gelehrten Dominikaner richtig zu würdigen. Während er in der Großstadt schon eine ziemlich zahlreiche und auserlesene, mit den Theorien einer wissenschaftlichen Religionsphilosophie vertraute Zuhörerschaft um sich geschart hatte, war er in dieser Provinz auf Unwissenheit und Gleichgültigkeit gegen seine tiefen Probleme gestoßen. Er hatte eine Art von Dezentralisation des modernen Religionsunterrichtes versucht, in der Hoffnung, in dieser, aus den verschiedensten Kreisen stammenden Zuhörerschaft, genug geistig hochstehende Elemente zu finden, die sich zu einem festen Kern zusammenschließen ließen, fähig, den Keim seiner Lehre zu empfangen und weiterzutragen.

Seine Predigten bewegten sich nicht im Buchstaben, sondern im Geiste des Dogmas. Seine Lieblingsgleichnisse waren dem Wortschatz der Wissenschaften entnommen, seine Rede endete in lyrischem Schwung, dessen Poesie der Mehrzahl verständlich war.

Obgleich die Geistlichkeit diese ungewohnte Art zu predigen kühl aufnahm, oder vielleicht gerade aus diesem Grunde, gewann Pater Patry schnell die Sympathien der Männer. Zuerst scharten sie sich aus Neugierde um seine Kanzel, dann kamen sie aus Interesse eifrig wieder. Bei den Frauen wäre er beinahe gescheitert infolge jenes umgekehrten Snobismus, der den Provinzlerinnen eigen zu sein pflegt. Sie mißtrauen verächtlich allem und jedem, dessen Ruf und Glanz schon fertig aus der Hauptstadt, der viel beneideten und viel verlästerten, zu ihnen dringt.

Der rückständige Geist der Provinz entspringt diesem angeborenen Gefühl, das wohl nichts sein mag, als der instinktive Widerstand gegen die Zentralisation der Intelligenz, – die Abwehr gegen die Vermischung der individuellen Eigenheiten verschiedener Rassen, – endlich die stolze Wahrung des Rechtes, den Gefühlen nach der Überlieferung der eigenen Heimat Ausdruck zu geben.

So waren die Frauen anfänglich zurückhaltend, da sie ihre Inkompetenz nicht eingestehen wollten. Indes erwachte in ihnen der Wetteifer, den Prediger zu verstehen. Und endlich gewonnen durch einige von ihnen selbst, Großstädterinnen, litterarisch Gebildete, – auch durch die Begeisterung der Männer – stürzten sie sich in einem wahren Kampf auf die dem Prediger zunächststehenden Stühle, ganz aufgewirbelt durch die auserlesene Zerstreuung, die das tödliche Einerlei ihres Daseins unterbrach.

Das geistige Leben ist in der Provinz beinahe erstorben, obwohl man bei entsprechendem Bemühen genug Elemente finden könnte, um geistige Bildung zu unterhalten und zu entwickeln.

Es scheint aber, daß sich die Provinz nicht zur Ausübung ihrer Kräfte und Wahrung ihrer Autonomie aufraffen kann: sie siecht dahin, sie welkt, sie vergißt und wird von den andern vergessen, sie liegt in einem Schlummer, der einer gewissen Annehmlichkeit nicht entbehrt, aber freudlos ist.

Die Gesellschaft blickte mit einigem Stolz auf den wachsenden Ruhm des jungen Komponisten Seuriet, wenn auch nicht ohne eine gewisse Eifersucht. Aus Furcht, durch eine zu lebhafte Äußerung ihrer Begeisterung die eigene Unwissenheit in schmerzlicher weise bloßzustellen, geizte sie eher mit dem Ausdruck ihres Beifalls, als der junge Mann in der Karwoche sein stolzes Talent offenbarte. Er aber konnte sich trösten. Außer seinen nahen Freunden, deren Freude sich in vielleicht überschwenglischen Ausdrücken äußerte, war er vom Erfolg beglückt, den er bei einigen schon anerkannten jungen Komponisten und bei mehreren Kritikern fand. Eine Anzahl seiner Musikstücke, die kürzlich in den großen Konzerten von Lamoureur und bei Colonne gespielt worden waren, hatten dieselben so sehr gepackt, daß sie die Mühe nicht scheuten, zur bisher vollständigsten Aufführung semer geistlichen Musik in die Provinz zu reisen.

Man redete ihm zu, sich mit einem seiner in der stillen ländlichen Zurückgezogenheit ausgereiften Werke kühn auf einer lyrischen Bühne der Hauptstadt vorzustellen.

Am Schlusse der großen Woche sah sich Fred allein; sein Fieber war vergangen und er blieb geschwächt, weil er an das bewegte Leben der jungen Künstler in der Hauptstadt nicht gewohnt war. Er fühlte sich völlig zerschlagen, sogar entmutigt, weil er entdeckte, daß er zu schwach sei, nicht nur zum Kampfe, sondern auch zum Streben.

Diese Krise hatte indessen seinem Herzen sozusagen Erholung gebracht. Ohne die Qual seiner Liebesenttäuschung zu vergessen, hatte er weniger unter ihr gelitten. Sein Verkehr in Frau von Ellissens Haus war notwendigerweise eingeschränkt, sein Alleinsein mit Mira oder Stella hatte beinahe ganz aufgehört. In diesen Tagen hatten sie alle wie in einem Wirbel von neuen und darum beruhigenden Sensationen gelebt.

Die Stille brachte aber die gewohnten Zusammenkünfte wieder und die Leidenschaft trat in ihre Rechte, umso heftiger, als sie beinahe ganz unterdrückt gewesen war. Frau von Ellissens physische Leiden hatten ihre Schönheit noch erhöht, die Blässe stand ihr gut, die Leute fanden sie anziehender als je.

Als Fred sie so wiedersah, war er geblendet und seine Begierde flammte neu auf. Auf ihren Spaziergängen im Park verfolgte er sie und suchte sie beharrlich allein zu treffen. Die wenigen Minuten aber, die er mit ihr zubringen konnte, wurden immer seltener, sei es, daß sie ihm auswich, sei es, daß Stellas ständige Gegenwart ein natürliches Hindernis bildete.

Wenn es ihm gelang, sie ohne Zeugen zu sprechen, hielt Frau von Ellissens beinahe schmerzliche Verwirrung den Ausbruch seiner Klagen hintan. Fred's Erregung stieg auf einen solchen Grad, daß er eines Abends vor ihr und vor Stella erklärte, daß er an einem Kummer sterben würde, der seine Kräfte überstiege, daß sein Wille ganz dahinschwände und daß man eines schönen Tages erfahren würde, er habe die Flucht ergriffen.

»Und wohin würden Sie gehen?« fragte Stella.

»Überallhin und nirgends,« erwiderte er finster.

Und als Fred sich entfernt hatte, ohne daß die eine noch die andere auch nur die Hand ausgestreckt hätte, ihn zurückzuhalten, stellte sich Stella vor Frau von Ellissen auf und sagte hart:

»Wahrhaftig, Mira, ich erkenne ihn nicht mehr, du brauchst nur ein Wort zu sagen, um ihn zum glücklichsten der Sterblichen zu machen und du sitzest, mit einer mir unerklärlichen Grausamkeit stumm da.«

Mira wußte wohl, daß sie nur ein Wort zu sagen hätte, aber ein Wort, das Stella nicht kennen durfte und das sie nie aussprechen würde. Nein, nie und nimmer! Besonders jetzt nicht. Ach, warum hatte sie es nicht früher gesprochen, dachte sie in plötzlich aufsteigender Leidenschaft, gesprochen, bevor Stella's launische Wahl auf den Mann gefallen war, der sie selbst mit allen Fasern seines Herzens und seines Leibes liebte. Allein es war zu spät. Die Gabe oder Hingabe ihrer selbst wäre nur eine Schmach. Es blieb ihr nur übrig, den endgültigen Verzicht auf ihn auszusprechen. Sie suchte sich den Mut dazu einzuflößen und rief übermenschliche Hilfe an, die ihr nicht gewährt wurde. Gewiß, sie wußte, daß sie ihre Pflicht tun würde, aber woher würde sie die Kraft nehmen, sie zu erfüllen, ohne daß eine Schwäche ihr Märtyrertum verriet?

»Du willst also mit Fred nicht sprechen?« wiederholte Stella, deren Zorn wuchs. »Nun gut! Klage nur dich an, wenn ich etwas nach euren Gebräuchen Unpassendes begehe –. Ich werde selbst mit ihm reden!«

»Ich verbiete es dir,« rief Frau von Ellissen.

»Und ich verteidige mein Recht auf Glück,« entgegnete das junge Mädchen.

»Stella, nimm dich in acht. Denk doch erst darüber nach.«

»Ganz richtig! damit mir ihn eine andere wegnimmt, oder er sich eine Kugel vor den Kopf schießt. Du hörst doch, daß er fortwill! Ich werde großmütiger sein als du und ich werde mich selbst anbieten. Finde dich drein.«

Dann drehte sie sich frech um sich selbst und ging ohne ein Wort in ihr Zimmer.

Es gab kein Zögern mehr. Gut, sie würde es ihm hinwerfen, das elende zerrissene Herz. Aber vor den schrecklichen Worten, die sie dem in sie verliebten Fred zu sagen hatte, versagten ihr die Gedanken; ihr Körper sträubte sich, sobald sie den entsetzlichen, entwaffnenden Schwindel nahen fühlte, der jeden Widerstand gegen die Tränen dessen, den man liebt und der einen begehrt, lähmt.

Sie bebte vor Entsetzen, wenn sie sich vorstellte, daß sie Fred schwach finden könnte, und sie verwarf einen Plan, der zu dieser ärgsten aller Gefahren führen könnte. Wenn sie sich die geöffneten Arme des weinenden Fred vorstellte, kam ihr die Sache unmöglich vor. Sie konnte nicht glauben, daß Fred auf eine Heirat mit Stella eingehen würde, obgleich sie sich gestehen mußte, daß ihn ihr entschieden ausgesprochener Wunsch zu diesem Entschlusse wohl bringen würde.

Ihre Gedanken webten, wirbelten, flohen und klammerten sich an die Unmöglichkeit, wie an Rettungsanker, die plötzlich nachgeben, gekappt durch die offen zu Tage liegende Pflicht. Und sie rieb sich auf in diesen schrecklichen Kämpfen und über die traurige Wahrnehmung, daß sie angesichts der Tat so arm an Energie, so kindisch furchtsam war. Sie fand keine Stütze in einer unbeugsamen praktischen, auf gründlichem Denken aufgebauten Logik. Waffenlos setzte sie sich dem Kampfe aus, willenlos opferte sie sich, im natürlichen Instinkt einer rückhaltlosen Hingebung. Ihr schwacher Wille ließ sie regungslos in der erschreckten Stellung eines untätigen Tieres, das sich erschlagen läßt, ohne auch nur zu versuchen, sich Martertod zu entziehen, sondern sich darauf beschränkt, seine Henker mit seinen tiefen klagenden Augen anzusehen.

Das Geräusch eines fallenden Stuhls weckte sie aus ihrem Brüten. Gewiß wachte Stella noch, gereizt wie sie war, und morgen würde sie, Auge in Auge mit ihr, mit ihren schrecklichen hartnäckigen Blicken in der Seele wühlen. Indem sie sich die Haltung des jungen Mädchens vorstellte, fragte sie sich mit noch größerer Angst, was geschehen würde, wenn Fred, auf irgend eine Weise befragt, mit einer Weigerung antwortete. Es war doch möglich, würde ihm Stella diese Schlappe verzeihen? Es war kaum wahrscheinlich. Und dennoch? Nun keimte der etwas feige Gedanke in ihr, sich der ganzen Verantwortung zu entziehen. Sie war ja nicht verpflichtet den jungen Mann selbst auszuforschen, irgend ein anderer konnte das übernehmen. Wäre dies nicht auch für alle am passendsten? Dieser Gedanke erleichterte sie, sie wurde ruhiger, kampfesmutiger. Lange brauchte sie nicht zu suchen.

Die Deaken's waren am passendsten für diesen Schritt. Franz hatte sich an ihrem Werk beteiligt, so mußte er natürlich auch an Fred's Zukunft Anteil nehmen. Könnte er ihm beibringen, daß er autorisiert sei, ihm Stella anzubieten? Man würde sehen! Frau von Ellissen wollte sich's nicht selbst gestehen, daß sie aus dieser Kombination neue Hoffnung schöpfte. Beglückt diese Auskunft gefunden zu haben, erhob sie sich und ging in Stellas Zimmer. Als diese sie eintreten sah, schloß sie die Augen und stellte sich schlafend. Aber unter den Küssen, die ihre Stirne streiften, enthüllte sie ihre ironischen Blicke.

«Warum weckst du mich auf, warum störst du meine Träume?«

»Nein, du Böse,« sprach die junge Frau leise, »im Gegenteil, damit du ruhig schläfst, ohne Ärger und ohne Zwietracht. –«

»Du willst also mit Fred sprechen?«

»In einigen, in ganz wenig Tagen, wirst du seine Antwort haben.«

»Also bald die Hochzeit.« Stella beugte sich vor, um Mira zu küssen.

»Wir werden sehen, ich hoffe....« erwiderte Mira.

»Du zweifelst?«

»Ich weiß nicht, wenn er....«

»Wenn er mich ausschlägt, mich nicht will, meinst du, wie?«

»Denke doch daran, wie er über die Ehe spricht! Nur die, die er wirklich liebt, und die ihn liebt, will er zur Frau nehmen.«

»Ach, das sind leere Worte, leeres Gewäsch interessanter junger Leute. Wenn sie aber die Richtige treffen, dann sagt doch keiner nein. – Übrigens umbringen würde ich mich deswegen nicht, davon kannst du überzeugt sein. Wenn Fred mich nicht will, ist er einfach ein Esel, und es würde mir nicht schwer fallen, mich zu trösten – und ihn zu ersetzen.«

»Wie, du hast einen andern auch? Du hast einen in der Reserve?« murmelte Frau von Ellissen.

»Ah! hältst du mich für so dumm, daß ich alle meine Hoffnungen auf den einen setze, alle Nummern in einen Sack werfe? O nein, wenn es mit dem einen fehlschlägt, gehts eben mit dem andern, der auch nicht zu verachten ist.«

«Wer ist's?«

»Du bist zu neugierig.«

»Sag' schnell!«

»Wenn es dich amüsiert, meinetwegen. Es ist Fernand von Eulenburg.«

»Wie,« rief die junge Frau. »Der Verlobte deiner Freundin Alice! Bist du bei Sinnen – Stella!«

»Ein bißchen verrückt, aber sehr wenig,« erwiderte schelmisch das junge Mädchen. »Fernand heiratet Alice einzig und allein ihres Geldes wegen, ich weiß es. Wenn ich ihn wollte, bin ich sicher, daß ich ihn gleich hätte und Alice wäre durchgefallen. Eigentlich wäre es ganz amüsant, ihr einen solchen Streich zu spielen.«

»Stella! Du könntest ihr ruhig den Verlobten wegnehmen?«

»Die Freundschaft, Mira, ist wie die Liebe: eine kleine Zerstreuung, die mit den ernsten Lebensfragen nichts zu schaffen hat. Fernand ist eine gute Partie und ein schöner, junger Mann. Ich mag ihn weniger gerne zum Manne haben, als Fred, aber er mißfällt mir durchaus nicht und ich prophezeihe dir, wenn ich auf einer Seite durchstiege, so gelingt's mir auf der andern.«

»Man kann dich nicht anhören, Stella.«

»Ja, ich weiß, du hast deine Ideen. Ich aber habe die meinen, die ich für besser halte. Siehst du, das ist das Gesetz dieser Welt: Sein Glück fassen, wo man es findet und sich um das Übrige nicht mehr kümmern.«

»Das heißt um die andern?«

»Gewiß.«

»Ach, Stella, wenn du wüßtest, wie entsetzlich deine Worte sind und wie wenig am Platze.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Wenn alle so dächten.«

»Ich denke wie die Mehrzahl. Alle gesunden vernünftigen Menschen denken und handeln, wie ich. Die Kranken und Entarteten haben den Altruismus erfunden. Da es ihnen an Kraft fehlte, sich allein im Leben zu verteidigen, haben sie die Pflicht erfunden, daß man sich zusammenschließen müsse, um einander zu verteidigen. Der Individualismus wird sie ebenso vertilgen wie in Amerika, und die Schwachen werden notwendigerweise verschwinden. Nein, siehst du, Mira, jeder für sich und durch sich: Das ist das Gesetz der Lebenskraft. Es wird sich durchsetzen.«

»Es ist die Herrschaft des Hasses, die du proklamierst!«

»Und wenn auch?«

»Aber ich,« rief die junge Frau leidenschaftlich aus, »will an die ewige Macht der Liebe glauben.«

Und die Unglückselige eilte davon und preßte beide Hände auf ihr armes Herz, worin in schweren Schlägen ein Trauergeläute ertönte.


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