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[Rezension der Lavaterschen Physiognomik]

Leipzig. Weidmanns Erben und Reich haben Herrn Lavaters Abhandlung von der Physiognomik, die vielen schon aus dem »Hannöverischen Magazine« dieses Jahres bekannt sein wird, besonders drucken lassen. Herr Leibmedikus Zimmermann hat den Abdruck veranstaltet. Daß Lavater, der philosophische Seher, eine Physiognomik schreibt, erregt schon Aufmerksamkeit, und diese wird gewiß in der Schrift sehr unterhalten. Es gibt eine solche Kunst, so gewiß als die unendliche Verschiedenheit der Seele eine Verschiedenheit im Äußerlichen des Körpers veranlassen muß; so gewiß als der Kopf des Lappen keine Theodizee denken kann; so gewiß als körperliche Stärke und Schwäche, Gesundheit und Krankheit, lautere und unreine Säfte, Bewegung und Ruhe, Klugheit und Stupor, Wut und Leutseligkeit einen verschiedenen Ausdruck haben, ein anderes äußeres Ansehen geben; so gewiß als manches dergleichen zusammengenommen einen Totaleindruck auf uns macht und wovon wir doch wirklich einen Entscheidungsgrund hernehmen, wenn wir von jemand urteilen, ohne daß wir es selbst wissen oder uns entwickeln können. Der Maler, der Charaktere zeichnet, sollte uns schon von der Existenz der Physiognomik überzeugen können. Es ist wahr, er zeichnet die Extrema, und die vielen Zwischenzüge und Nuancen existieren so rein nicht. Aber sie sind doch da, wenngleich nicht so beisammen, und werden doch merkbarer, je mehr man sein Auge dazu übt. Wir führen dies nur an, um unsre Leser begierig auf das Vergnügen zu machen, die kleine Schrift selbst zu lesen. Herr Lavater zeigt den Nutzen seiner Kunst; er gibt Anleitung, wie man sie erlernen und wissenschaftlich studieren soll, und schildert den Charakter des Physiognomisten. Wir merken nur an, wenn Herr Lavater mit Recht behauptet, daß jeder Mensch verschieden und jeder Teil an ihm in einem Verhältnisse zu seinem körperlichen und geistigen Totalcharakter stehe, er doch wirklich zu weit geht, wenn er S. nbsp;29 nbsp;f. glaubt, man könne aus einem Knochen, Zahn oder Muskel allendlich den ganzen Charakter des Menschen herauskalkulieren; wenn er glaubt, ein scharf beobachtender Zergliederer könne aus zusammengeworfnen Knochen verschiedner Gerippe die herauskennen, die zu einem Körper gehören. Ebenso dünkt uns auch, Herr Lavater tue zu schnelle Schritte von der Kunst zur Wissenschaft, vom dunkeln Gefühle zum anschauenden klaren Bewußtsein, er vereinzele und zerschneide zu scharf, was vielmehr seinem Wesen nach ein Totaleindruck von einem Ganzen bleiben mußte. Man frage sich selbst, wenn man seine Analyse von Montesquieus Bilde lieset. Über dem Zergliedern und Beobachten verschwindet die Schönheit und verdorrt die Anmut. Die Anatomie und das Mikroskop können das reizendste Gesicht nicht mehr entstellen. Doch dies hindert nicht, daß die Schrift sonst nicht vortrefflich sei. Es sind, nach Herrn Sulzers Ausspruche, wirklich tiefsinnige Einsichten darin. Herr Lavater selbst ist in der Übung der Kunst groß. Herr Zimmermann hatte dies mit Ruhm in den Anmerkungen zu der hannöverschen Ausgabe gesagt, und das hätte Herr Lavater nicht übelnehmen dürfen.

Erklärung über die Physiognomik, mit Anmerkungen von Johann Kaspar Lavater

Ich bin von der Wahrheit der Physiognomik, von der Allbedeutsamkeit jedes Zuges unsrer Gestalt so lebhaft als Lavater überzeugt. Es ist wahr, daß sich der Umriß der Seele in den Wölbungen ihres Schleiers bildet und ihre Bewegung in den Falten ihres Kleids. Even in the outward shape dawns the high expression of the mind. Überall ist Kette, Harmonie, Wirkung und Ursache in der Natur, auch zwischen dem äußern und innern Menschen; wir arten nach unsern Eltern, nach der Erde, die uns trägt, nach der Sonne, die uns wärmt, nach der Nahrung, die sich mit unsrer Substanz assimiliert, nach den Schicksalen unsers Lebens; alles das modifiziert, repariert und ziseliert am Geist und am Körper, und die Spur des Meißels wird sichtbar; jeder Schwung, jede Bucht des äußern Konturs schmiegt sich an die Individualität des innern Menschen wie ein feuchtes Gewand im Bade. Mit einer nur wenig veränderten Nase wäre Cäsar nicht der Cäsar geworden, den wir kennen.

Ist nun vollends die Seele in Bewegung, so leuchtet sie durch wie der Mond durch Ossians Geister. Jede Leidenschaft hat im ganzen Menschengeschlecht immer einerlei Sprache. Von Aufgang bis zum Niedergang sieht der Neid nicht so vergnügt aus wie die Großmut und die Unzufriedenheit nicht wie die Geduld. Die Geduld ist allenthalben, wo sie dieselbe ist, durch dieselben Zeichen merkbar. So der Zorn, so der Neid, so jede Leidenschaft. Philoktet ächzet anders als ein gepeitschter Knecht, Raffaels Engel lächeln edler als die Marschengel Rembrandts; aber immer haben Freude und Schmerz ein einziges, eigentümliches Spiel; sie arbeiten nach einerlei Gesetz, auf einerlei Muskeln und Nerven, so zahllos die Nuancen ihres Ausdrucks auch sind; und je öfter die Leidenschaft wiederholt wird, je mehr sie zum Hang, zur Lieblingsneigung artet, je tiefer wird ihre Furche gepflügt.

Aber verborgener liegen Anlage, Geschick, Grad und Weise der Empfänglichkeit, Talent, Beruf und Geschäftsfähigkeiten. Sehr wahr – aber dann auch, wenn man einmal den Ausdruck davon gefunden hat, wieviel unverkennbarer in jedem uns wieder begegnenden Objekte. Den Zornigen, den Wollüstigen, den Stolzen, den Unzufriedenen, den Boshaften, den Wohltätigen, den Mitleidigen zu entdecken wird einem guten Beobachter nicht schwer; Sehr wahr. aber den Philosophen, den Dichter, den Künstler und ihr mannigfaltiges Seelenvermögen wird er nicht mit gleicher Zuversicht schätzen; noch seltner wird er es anzugeben wagen, wo die Anzeige jeder Eigenschaft sitzt, ob im Augknochen Verstand, Witz im Kinn und Dichtergenie im Munde deutlich wird. Und dennoch hoff ich, glaub ich, weiß ich – das folgende Jahrzehent wird dies möglich machen, und der scharfsinnige Verfasser dieses Aufsatzes, ich wollte wetten dürfen, würd es nicht nur möglich finden, selber können würd er's, wenn er nur einen einzigen Tag dazu aussetzen wollte, eine wohlgereihete Sammlung von merkwürdigen Charaktern in der Natur oder wahren Bildern durchzugehen und zu vergleichen.

Allerdings ahndet uns so etwas, wenn uns ein merkwürdiger Mann begegnet, und wir sind alle weniger oder mehr empirische Physiognomiker; wir finden im Blick, in der Miene, im Lächeln, im Mechanismus der Stirne bald Schalkheit, bald Witz, bald forschenden Geist; wir erwarten und weissagen nach einer dunkeln Vorempfindung sehr bestimmte Fähigkeiten aus der Gestalt jedes neuen Bekannten, und wenn dieser Takt durch Übung und Umgang mit vielerlei Menschen berichtigt wird, so gelingt es uns oft bis zur Bewundrung, den fremden Ankömmling zu deuten. Ist das Gefühl? innerer, anerschaffner Sinn, der nicht erklärt werden kann? Oder ist es Vergleichung, Induktion, Schluß von erforschten Charakteren auf unbekannte, durch irgendeine äußere Ähnlichkeit veranlaßt? Gefühl ist die Ägide der Schwärmer und Toren, und ob es gleich oft mit der Wahrheit übereinstimmt, ist es doch weder Anzeige noch Bestätigung der Wahrheit; aber Induktion ist Urteil, auf Erfahrung gegründet, und ich mag auf keinem andern Weg die Physiognomik studieren. Ich eile manchem Fremden freundlich entgegen, einem andern weiche ich mit kalter Höflichkeit aus, auch wenn kein Ausdruck der Leidenschaft mich anzieht oder abschreckt; wenn ich genauer zusehe, so finde ich immer, daß mich irgendein Zug an einen würdigen oder verdienstlosen Bekannten erinnert, und das Kind handelt, dünkt mich, nach einerlei Gesetz, wenn es Fremde flieht oder liebkoset, nur daß es, mit weniger Zeichen zufrieden, sich bei der Farbe des Kleids, dem Ton der Stimme, ja oft einer unmerklichen Bewegung beruhigt, die es an Eltern, Amme oder Bekannte erinnert. Es ist nicht zu leugnen, daß dies nicht sehr oft der Fall ist, und viel mehr, als man gemeiniglich denkt. Indessen getrau ich mir doch zu behaupten und zu beweisen, daß es in der Natur und Kunst eine Menge Züge, besonders von äußersten Enden, leidenschaftlicher sowohl als leidenschaftloser Zustände gibt, die an sich selbst und ohne alle Vergleichung mit gemachten Erfahrungen auch dem ungeübtesten Beobachter zuverlässig verständlich sind. – Ich glaube, es ist schlechterdings in der Natur des Menschen, in der Organisation unsrer Augen und Ohren gegründet, daß uns gewisse Physiognomien so wie gewisse Töne anziehen, andre zurückstoßen. Man lasse ein Kind, das nur wenige Menschen zu sehen Gelegenheit gehabt, den offenen Rachen eines Löwen oder Tigers – und das Lächeln eines gutmütigen Menschen sehen – unfehlbar wird seine Natur von dem einen wegbeben und dem andern lächelnd begegnen. Nicht aus räsonierender Vergleichung, sondern aus ursprünglichem Naturgefühl. – So wie's aus ebendieser Ursache eine liebliche Melodie mit Vergnügen behorcht und vor einem gewaltsamen Knall schauernd ineinanderfährt. So wenig da Überlegung oder Vergleichung statt hat, so wenig in denen Fällen, wo äußerst sanfte oder äußerst wilde Physiognomien sich ihm darstellen.

Also ist es nicht bloß Gefühl, sondern ich habe Gründe, dem Mann, der Turenne ähnlich sieht, Sagazität, kalten Entschluß, warme Ausführung zuzutrauen. Wenn ich drei Männer antreffe, deren einer Turennens Augen mit seiner Klugheit, der andre seine Nase und seinen hohen Mut, der dritte seinen Mund und seine Tätigkeit besitzt, so ist auch der Ort deutlich geworden, wo sich jede Eigenschaft äußert, und ich bin, sooft ich den Zug wieder wahrnehme, zu einem ähnlichen Urteil berechtigt. Hätten wir dann nur jahrtausendelang Menschengestalten untersucht, charakteristische Züge geordnet, nach ihren Nuancen gepaart, merkwürdige Buchten, Linien und Verhältnisse durch Zeichnungen deutlich gemacht, jedem Bruchstück seine Erklärung beigefügt, so wäre das Mandarinen-Alphabet des Menschengeschlechts fertig, und wir dürften nur nachschlagen, um jedes Gesicht aus unserm Vorrat zu erklären. Ich bewundere den Mann, der sich an dieses Elementarwerk der Schöpfung wagt, und wenn ich mich dem Gedanken ganz überlasse, daß die Ausführung nicht schlechterdings unmöglich sei, so erwarte ich noch mehr als Lavater; ich denke mir dann eine so reiche, so bestimmte, so ausgebildete Sprache, daß nach einer wörtlichen Beschreibung eine Gestalt wiederhergestellt werden kann, daß eine richtige Schilderung der Seele auf den Umriß des Körpers hinweist, daß ein Physiognomiker aus einem künftigen Plutarch große Männer zu palingenesieren vermag, daß es ihm leicht wird, ein Ideal für jede Bestimmung des Menschen zu entwerfen. Vortrefflich – und, der Verfasser mag scherzen oder ernsten, was ich alles ohne Träumerei ganz zuverlässig schon von dem folgenden Jahrhunderte mit erwarte, wovon denn, so Gott will, in den physiognomischen Linien bereits einige vorläufige Versuche gewagt werden sollen. Mit solchen Idealen behängen wir alsdann die Gemächer unserer Fürsten, und wer ein unschickliches Amt fordert, muß sich ohne Murren beruhigen, wenn ihn sichtbar seine Nase davon ausschließt. Lacht und lächelt – Wahrheitsfreunde und -feinde – so wird's, so muß es kommen!

Nach und nach bilde ich mir eine ganz andere Welt, aus welcher Irrtum und Betrug auf immer verbannt sind. Verbannt wären, wenn Physiognomik allgeglaubte Religion wäre; alle Menschen geübte Beobachter; das Bedürfnis der Verstellung nicht neue Kunstgriffe erfände, wodurch wenigstens eine Zeitlang die Physiognomik wieder irregemacht werden könnte.

Ob wir darum glücklicher wären, läßt sich streiten. Glücklicher gewiß! Obgleich diese Übung des Streits der Aufrichtigkeit und Tugend mit Laster und Verstellung – die weit eingreifendste Entwickelung aller menschlichen Kräfte bewirkt – und die menschliche Tugend gleichsam, wenn ich so sagen darf, vergöttlicht und zur Höhe des Himmels treibt.

Wahrheit ist hier, wie immer, in der Mitte. Wir wollen nicht zu wenig von der Physiognomik erwarten, aber auch nicht zu viel; denn noch strömen Einwendungen auf mich zu, die ich nicht alle beantworten kann.

Gibt's auch soviel ähnliche Menschen? Oder ist diese scheinbare Ähnlichkeit nicht öfter ein Totaleindruck, der bei einer genauen Untersuchung verschwindet? zumal, wenn ein einzeler Zug herausgehoben und mit einem andern einzelen Zuge verglichen werden soll.

Fällt es niemals vor, daß ein Zug dem andern geradezu widerspricht? daß eine furchtsame Nase zwischen Augen sitzt, die Mut verkündigen? In den festern oder scharfer Umrisse fähigen Teilen, gewaltsame Zufälle ausgenommen, hab ich noch nie widersprechende Züge gefunden. Sehr oft zwischen den festen und weichen oder auch zwischen der Grundform der weichen und ihrer erscheinenden Lage. Grundform z. nbsp;B. wäre, die an einem Toten, der durch keine gewaltsame Krankheit verzerrt ist, wahrgenommen wird.

Ist es ganz ausgemacht, daß eine ähnliche Gestalt auch immer eine ähnliche Seele anzeige? In Familien, wo die meiste Ähnlichkeit herrscht, gibt es oft die mannigfaltigsten Menschen. Ich habe zum Verwechseln ähnliche Zwillingsbrüder gekannt, die dem Geiste nach nicht einen Zug miteinander teilten. Wenn dies vollkommen wahr ist, so geb ich die Physiognomik auf. Ich schenke dem mein Exemplar aller meiner physiognomischen Fragmente und hundert physiognomische Handrisse, der mich hiervon überzeugt. Nicht einmal ich will Richter sein. Ich überlasse es dem würdigen Verfasser dieser Bemerkung, drei Männer zu wählen, das Factum genauer zu untersuchen, und wenn sie dasselbe bestätigen, so hab ich verloren. – Fürs erste nur genaue Silhouetten von diesen Zwillingsbrüdern! Soweit meine Erfahrungen reichen, ich bezeug es auf alle meine Ehrlichkeit. – Ich habe keine Spur einer solchen Bemerkung. Und wie sollten wir endlich alle die Ausnahmen erklären, unter deren Menge die Regel fast erstickt? Ich will nur einige aus eigener Beobachtung anführen.

Samuel Johnson sieht wie ein Lastträger aus; nicht ein Blick im Auge, nicht ein Zug im Munde, der den scharfsinnigen Menschen und Wissenschaftkenner verrät. Wenn ein Mann von der Scharfsinnigkeit des Herrn Etatsrats Sturz das sagt – so soll ich billig die Hand auf den Mund legen und sagen: Sturz hat's gesehen; ich habe nicht gesehen! – Aber warum ist mir bei allen meinen nunmehr wenigstens vierjährigen Beobachtungen nicht ein einziges solches Beispiel aufgestoßen? Viele Menschen hab ich, besonders anfangs, für sehr gescheut gehalten, die's nicht waren. Aber meines Erinnerns und Wissens keinen einzigen für dumm, der gescheut war. Zum guten Glücke hab ich eine Zeichnung von Johnson, von der man mir versichert, daß es nicht die sei, in welcher Johnson zu seinem größten Vorteil erscheint. Nun dies Gesichtchen, läßt sich ein feineres, kalt-feineres – durch Verstand empfindenderes Gesicht gedenken? Planmachendre Unvertraulichkeit? Nur in den Augenbraunen und ihrer horizontalen Lage, wieviel Ausdruck von tiefem, feinem, penetrierendem Verstande! Humes Gesicht war ein Gemeinplatz; So ist die allgemeine Sage. – Ich kann nichts dagegen einwenden, als: ich vermute, die Miene, die größtenteils Gegenstand physiognomischer Beobachtung und Beurteilung ist, habe die Grundphysiognomie, den Umriß und die Wölbung der Stirne zum Beispiel, auf die unter hundert Menschen kaum einer sein Augenmerk richtet, gleichsam verdrängt und solche Beurteilung veranlaßt. Churchill glich einem Ochsentreiber, Goldsmith einem Pinsel; Stranges kaltes Aug verrät den Künstler nicht; Die kältesten Augen sind oft die größten Künstler. Künstler sein und Genie sein – ist zweierlei. Kälte ist das Apanage der Künstler, die nur Künstler sind. Wille, ein wandelndes Feuer, kündigt den Mann nicht an, der sein Leben mit lauter Parallelstrichen zubringt; Man kann viel Feuer haben – und doch kalt sein. Die feurigsten Menschen sind die kältesten. Kaum eine Beobachtung hat sich mir so sehr bewahrheitet wie diese. Sie scheint sich zu widersprechen und widerspricht sich nicht. Heftige, schnellauffahrende mutigentschlossene, fertigarbeitende kühnhinschreibende Menschen sind selten warm – sind, die Zeiten der Heftigkeit ausgenommen, die kältesten Seelen. Willens Stil und Gesicht – wenn das Profilporträt von ihm ähnlich ist – haben vollkommen diesen Charakter. Boucher, der Maler der Grazien, sah wie ein abgehärteter Kriminalrichter aus. Wahrlich, so, eigentlich so kam mir sein Porträt vor. – Aber dann, mein wertester Herr Sturz, müßten wir uns noch über den Maler der Grazien einverstehn. ... Den find ich in seinen Arbeiten so wenig als in seinem Gesichte. – Seltsam! Alle Stücke von Boucher waren einstimmig mit meinem Gefühle. Ich konnte kaum eins con amore ansehen – und geradeso ging's mir nachher mit seinem Gesichte. Nun kann ich's begreifen, sagt ich beim ersten Anblick seines Bildes zu mir selber, warum dir nichts von Boucher behagen will. Ich sah einen Verurteilten zum Rade, der, mit der Bosheit eines Teufels, seinen Wohltäter umgebracht hatte, und sein Gesicht war hold und offen wie eines von Guidos Engeln. Es ist nicht unmöglich, auf den Galeeren Regulusköpfe, Vestalengesichter im Zuchthause zu finden. Das kann ich zum Teil aus eigener Erfahrung mit bestätigen. Fern also, daß ich's bestreiten wolle! Aber diese Lasterhaften – so abscheulich auch ihre Taten der äußern Form und Wirkung nach, ja auch, wenn ihr wollt, in Absicht auf den innern Grund gewesen sein mögen – waren dennoch keine grundböse Menschen. Welcher reine, edle, feingebaute, leicht reizbare Mensch – mit der zartesten Engelsseele – hat nicht seine Teufelsaugenblicke – wo nichts als die Gelegenheit fehlt, in einer Stunde ihn zwei, drei ungeheure Laster begehen zu lassen, die ihn vor aller Welt als den abscheulichsten Menschen darstellen oder vielmehr darzustellen scheinen – und er kann noch tausendmal besser und edler sein als hundert für gut gehaltene Menschen, die vielleicht nicht fähig sind, eins der Laster zu begehen, um derenwillen wir ihn so verurteilen – und als Glieder der Sozietät verurteilen müssen. Führt mir diese Menschen vor, wird Lavater antworten, ich will sie wie den Sokrates kommentieren; denn ein kleiner, oft nicht gleich bemerkter Zug erklärt vielleicht, was euch so rätselhaft schien. Aber wird dadurch nicht manches in die Glosse kommen, was niemals im Texte gewesen ist? Das könnte geschehen und sollte nicht! Ich will auch zugeben, daß ein gutes Gesicht zuweilen auch als ein Schurke handeln kann – aber dies gute Gesicht – einerseits wird in dem Momente, wo es handelt, nicht mehr so gut scheinen – und anderseits, hundertmal gegen eins – gut handeln.

Wir sollen von einem erforschten Charakter auf den Charakter eines Unbekannten schließen; ist es aber so leicht, den Menschen zu erforschen? Wenn er wandelt in Nacht und sich Widerspruch an Widerspruch lagert? Wenn er periodisch das Gegenteil ist von dem, was er war? Denn wie selten findet sich der Mann, qui qualis ab initio processerit et sibi constet. Oh, wie wahr! wie wichtig! wie warnend und schreckend für den Physiognomisten! Kennten wir den August allein aus seinem Betragen gegen den Cinna, den Cicero nur aus seinem Konsulat: welche Männer! Elisabeth, welche Kolossalfigur unter den Königinnen, und wie klein und verächtlich wird die veraltete Kokette! Jakob der Zweite, ein tapfrer General und ein feiger König; der Königsrächer Monk, ein Sklave seines Weibes; Algernon Sidney und Russel, Patrioten wie Römer und von Frankreich erkauft; Baco, der Vater der Weisheit, ein bestechbarer Richter: bei Entdeckungen dieser Art schauert man vor dem Menschen zurück, man schleudert Freunde und Bekannte wie glühende Kohlen aus der Hand! Wenn diese Chamäleonsseelen eins ums andre verächtlich und groß sind und doch ihre Gestalt nicht ändern; was sagt denn ihre Gestalt? Ihre Gestalt zeigt, was sie sein könnten und sollten – und ihre Miene im Augenblicke des Handelns, was sie sind! – Ihr Gesicht zeigt ihre Kraft und ihre Miene die Anwendung ihrer Kraft. Die Ausdrücke ihrer Kleinheit verhalten sich bisweilen wie die Flecken der Sonne zur Sonne – man sieht sie nicht mit unbewaffnetem Auge.

Artet nicht auch unser Urteil über Menschen allzusehr nach dem Medium, wodurch wir zu sehn gewohnt sind: O ja! Ja! Ja! Smelfungus sieht alles durch ein angelaufenes Glas, andre durch ein Prisma, viele, Tugenden im konischen Spiegel und Laster im Sonnenmikroskop. Wie vortrefflich ausgedrückt! Swift hätte gewiß eine ganz andere Physiognomik geschrieben als der menschenfreundliche Lavater. Aber er oder niemand soll sie schreiben, und fern sei es von mir, den warmen, gefühlvollen Mann jemals wieder in seinem Laufe zu stören. Sein Werk bleibt immer ein Denkmal der Schöpferkraft des Genies; Kolumbus konnte nicht gleich wie Büsching die neue Erde beschreiben; was Lavater schon itzt entdeckt hat, ist immer interessant genug, und wir wollen ihn darüber nicht schikanieren, was vielleicht einer spätern Zeit vorbehalten bleibt. Ich freue mich auf die Fortsetzung seines Werks, denn es ist noch ein reicher Vorrat übrig. Nationalphysiognomien, die Familie des vielartigen Adamsgeschlechts, vom Eskimo an bis zum Griechen. In Europa, nur in Deutschland, welche Verschiedenheit, die keinem Beobachter entwischt? Köpfe mit dem Gepräge der Regierungsform, welche immer unsre Erziehung vollendet; ruhiger Trotz auf Gesetze im Republikaner; Trotz des Sklaven, der es stolz fühlt, daß er empfangene Prügel wieder austeilen darf; Griechen unterm Perikles und unter Hassan Pascha; Römer im Freistaat, unter Kaisern, unterm Papst; Engländer unter Heinrich dem Achten und Cromwelln. Die sogenannten Patrioten Hampden, Pym und Vane haben mich immer durch ihre Bildung frappiert. Hancock und Lord North. Alle Hauptvariatäten der Schönheit nach dem Geschmack verschiedener Nationen. Ich kann nicht aussprechen, wie ich dem Verfasser dieses geist- und kraftvollen Aufsatzes Dank schuldig bin. Wie gütig, daß er, den ich, wiewohl ohne Wissen, beleidigte und ein Urteil von ihm nicht edel genug rügte, mir diesen Aufsatz zum beliebigen Gebrauch übersenden ließ. So, in dem Tone, mit dem Geiste wünscht ich mir Belehrungen, Einwürfe, Zurechtweisungen!

[An Lavater]

[Oldenburg 1777]

Ich habe lange geschwiegen, würdiger Mann, weil mich Geschäfte und Kopfschmerzen drückten und weil für Schönheit und Kunst und Lavatern nur heitere Stunden gehören.

Erst einig sein unter uns beiden – denn unser Sinn ist zwar nicht zu gleichem Gefühl, aber doch zu gleicher Liebe für die Wahrheit, zu gleicher Anhänglichkeit an das Gute und das Vortreffliche in der ganzen Schöpfung gestimmt; lassen Sie uns die herrlich geschmückte Erde durchwandern, die Felsen erklimmen und die Flächen und Hügel bewundern, die Gottes Hand bekleidet hat, und am Abend wollen wir die Beute unsers Tageswerks miteinander teilen.

Ihre Anmerkungen unterrichten mich oft und reizen mich durch den Ton der nachgebenden Liebe, mit der alles gegen Ihre Widersprecher gesagt wird, und Ihre bündigen Nachrichten, die zwischen Sense und Nonsense wie zwischen Tür und Angel stehen, haben mich belehrt, und ich bin Ihnen freimütige Beistimmung und nähere Erläuterung schuldig. Boucher ist allerdings nur der französische Ombre von Grazie, ohne Gefühl für das erhabene, ruhige Schöne, ohne Sinn für die großen Formen der Natur, seine stumpfnasigen, vollgebrusteten, aber engeingeschnittenen oder schnörkelartig umrissenen nackten Mädchen, die Schlangenlinien usw., alles zeigt eine Manier und hat den Manufakturstil von schnörkelicher, künstlicher Naivität. Der herrschende Ton der Akademie ward verbraucht, die Tugend vergessen. Er war ein Schüler von Le Moine, der freilich auch an der Opernschönheit hing, aber doch meist einen Ausdruck Wahrheit im Nackten behielt. Dieser Same ging bei Bouchers guter Erde wollüstig auf. Sein Bild, in einem Alter von fünfundzwanzig Jahren gemalt, erklärt seinen Geschmack, im Auge ist der hellodernde Funkelblick der Sinnlichkeit, und daraus kommt endlich ein solches Kriminalratsgesicht, weil niemand peinlicher aussieht als ein verloschener Sultan. Die Zwillingsbrüder, von denen ich sprach, waren Offiziers in einem preußischen Husarenregimente und wirklich einander so äußerst ähnlich, wie man sein kann. Man versicherte, daß sie ebenso verschieden in ihrem Charakter, ihren Grundsätzen und ihrer Handlungsweise seien, aber ich habe sie selbst nicht genug gekannt, um dem Zeugnis beizutreten, und die Beurteiler waren vielleicht nicht Menschenkenner genug und nehmen anders gefärbte Frucht derselben Art für Frucht verschiedener Gattung. Die Art der Empfänglichkeit und auch die verschiedene Richtung sehen ungleiche Menschen. Das nämliche feine Gefühl, nur anders gerichtet und genährt, erhebt zur Größe und Fleischeslust, treibt mit Macht Gedanken, und im Herzen wird ein Sang an die Götter oder ein Lied an Phaon.

Über Ihren dritten Teil sag ich Ihnen noch nichts, denn von einem Opere absoluto darf man nicht sprechen wie im ersten Einfall. Über die Schwierigkeit, auf die nur betrachtenden Ansichten einen Grund suchen und durch das Gefühl abzulenken, kann bereits meine Bekanntschaft sprechen, also keinen Tadel, keine Widerlegung mehr, sondern nur einzele Beobachtungen, wenn mich Ihr Werk erquicken soll.

Zimmermann war Zeuge meiner Freude, daß Ihre Begriffe reiner Schönheit mit den meinigen so sehr zu stimmen scheinen, aber P. hat meine Fragmente im »Museum« schief genug verstanden und beurteilt, und zwar mit der argivischen Urbanität, mit welcher sein Kraftgefühl unsrer Zeit gehört.


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