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Zehnter Brief.

Paris den 23. Nov. 1768.

Nach dem Buche de l'Esprit, das Untersuchung mit einem reizenden Vortrag vereinigt, erwartet man, den Verfasser im Umgang glänzend zu finden. Er ist auch angenehm und lehrreich, aber nur lange, als man ihn nicht an eben dieses Buch erinnert; denn sonst durchbrechen Sie einen Damm, der Wasserfluthen zurückhält. Er strömt alsdann, mit Grundbegriffen, mit Heischesätzen und Schlüssen, ohne Mitleid auf Sie zu; sein System umfaßt alles menschliche Wissen, und er hat es so künstlich in einander verleitet, daß man, wie er behauptet, nichts versteht, wenn man nicht alle Glieder durchläuft. Nun reißt er Sie fort durch das Labyrinth, achtet nicht auf Ihre saure Mienen, dissertirt und demonstrirt wiederholt sich und berichtigt sich, und wird dunkel, wenn er am deutlichsten seyn will.

Ein solcher Auftritt ist beschwerlich, aber er lässt sich begreifen und verzeihen, es ist natürlich, daß er sich rechtfertigen will; man hat ihn orthodox gegeißelt und die Striemen schmerzen noch jetzt. Erst fingen sie damit an, ihn vorsetzlich unrecht zu verstehn; man trug eine Absicht in seine Schrift, die ihm nicht im Traume beigefallen war; weil er den Eigennutz als Federkraft der menschlichen Thätigkeit ansieht, so erklärte die Geistlichkeit das Wort gehässig aus der theologischen Moral; sie gab ihm Schuld, daß er die besten Menschen zu Wucherern und Betriegern machte, daß er alles Verdienst, alle Tugend vernichte; man schob ihm Contrabande zu, um ihn dafür auf die Galeeren zu bringen.

Wer gesteht sich nicht in seinem Herzen, daß Trieb nach Genuß der einzige Grund aller Wirksamkeit sey? Ein wohlthätiger Fürst opfert darum nicht Bequemlichkeit und Kräfte, weil er ein leibeigener Knecht seiner Tugend ist, der sein Tagewerk ohne Bezahlung verrichtet. Er fordert eine hohe Belohnung dafür; er ringt nach der Wollust der Liebe. Der Tyrann hingegen gibt Achtung und Sicherheit für die gefährliche Befriedigung hin, kein Gesetz als seinen Willen zu erkennen. Alle jagen nach ihrer Lieblingsfreude; Jeder zahlt für die Güter, die ihm behagen, den Preis, für welchen sie feil stehn. Als Schwerin die Fahne ergriff, und, an der Spitze seiner Haufen, entschlossen in die Feinde stürmte, so geschah es wohl nicht, um eine Kugel freiwillig aufzusuchen, um der Nachwelt das Beispiel eines schönem edlen Todes zu geben; sondern ihm winkte der Triumph jenseits der Gefahr, er folgte der Zauberstimme des Ruhms. Jeden Muthigen stärkt die Hoffnung des Sieges, und er unterdrückt die Furcht des Mißlingens.

Selbst die Deciusse, die Curtiusse, ja die Chatels und die Ravaillacs weihten sich allein aus Eigennutz einem unvermeidlichen Tode. Die edlen Römer starben nicht ganz; ihr Name dauerte in der Geschichte; sie standen in verehrten Bildsäulen da, unter den Errettern ihres Vaterlandes; ihre Manen stiegen hinab zu der Wohnung glücklicher Schatten, und die verleiteten Meuchelmörder harrten, mit der Hostie im Munde, im Vertrauen an den Löseschlüssel, auf die verbrieften Freuden der Seligkeit.

Was Mahomet's Anhänger, bei'm Ursprung der Secte, zur eisernen Todesverachtung erhob, war es reiner Eifer, zum Besten der Welt, die Lehre der Gläubigen auszubreiten? Nein, ihnen wässerte der Mund nach dem herrlichen Schmause, der im Paradies für sie angerichtet wird; sie eilten, sich auf die Sopha zu strecken, neben den ewigen Jungfrauen, die Niemanden als ihre Liebhaber küssen, und die weißer sind, als eingereihte Perlen.

Der erste Grundsatz aller Moral: erweise Andern, was du wünschest, daß man dir erzeige, ist eine scharfsinnige Lehre des Eigennutzes, weil man unter keiner andern Bedingung auf Gegendienst hoffen darf.

Auch das Urtheil der Welt stimmt damit überein; sie nennt Tugend, was ihr nützlich ist. Vortheil ist der Maßstab jedes Verdienstes. Darum geht der glückliche Feldherr, in der Achtung des Volks, dem größten Künstler vor, obgleich Condé als Jüngling siegte, obgleich zur Bildung des Künstlers die Arbeit eines halben Lebens gehört, obgleich die Geschichte hundert Helden gegen einen Raphael aufzählt. Laß die That des Patrioten tollkühn, frevelhaft gegen Einzelne, grausam und ungerecht seyn; jede Handlung ist edel, die dem Vaterland fruchtet. Man kann den Codrus für einen Thoren erklären; Griechenland hat ihm Thränen und Kränze geweiht. Helvetius, der Apostel des Eigennutzes, hat auch durch sein Leben die Meinung seiner Sätze erklärt; er ist ein wohlthätiger, großmüthiger Mann; er gab seine Generalpachterstelle freiwillig zurück, als er, auf einer Reise durch die Provinzen, die Tyrannei der Finanz-Satelliten und das Elend des geplünderten Volkes sah. Ich will darum sein Werk nicht vertheidigen; aber Eins ist gewiß, nicht wenn er Eigennutz predigt, sondern nur alsdann ist er unleidlich, wenn er sich seiner Dialektik überläßt, wenn er Witz und Paradoxen auskramt, wenn er Menschensinn und Erfahrung durch Anekdoten und Reisefabeln bestreitet; und so hat er beinah, wider eigenes Vermuthen, alles justum und honestum von der Erde weg vernünftelt. Der abgezogene Begriff der Tugend ist ein unentschleiertes Geheimnis der platonischen Schule; aber unter den Menschen, in der Geschichte, ist er nicht zweideutig mehr. Sie besteht, wie sich Helvetius ausdrückt, in Neigung und That, zur Beförderung des allgemeinen Wohls; nun, setzt er hinzu, ist die nämliche Handlung in verschiedenen Umständen und Zeiten, bald schädlich, bald nützlich, folglich jetzt Tugend, dann Verbrechen: also ist die Moral, jedes Lehrgebäude allgemeiner Pflichten, eine leere, unnütze Wissenschaft, wenn man sie nicht mit der Gesetzgebung, und mit der Politik verbindet.

Aber sobald Menschen mit einander leben, sich in irgend eine Gesellschaft sammeln, lass sie Jäger, Hirten, Boucaniers, Wilde, oder Barbaren seyn, so sind gleichwohl gewisse Tugenden zu ihrer Erhaltung unentbehrlich. Ohne Anhänglichkeit und Hülfebegierde, ohne Ordnung im Genusse der sinnlichen Wollust, ohne Achtung für das Eigenthum in diesem Zirkel, ohne Gehorsam gegen Ältern und Obern, kann auch nicht eine Räuberbande bestehn, und Wohlthätigkeit, Freundschaft, Erkenntlichkeit, Mitleiden, verbessern so sehr den geselligen Zustand, daß wohl keine Horde die Wüsten durchzieht, wo diese Tugenden fremd sind, und wo ihr Werth nicht geschätzt wird; dawider entscheiden keine erbaulichen Briefe Lettres édifiantes par les Revérends Pères Missionaires dans les Indes. . Wer mag die Gräuel alle glauben, die ein tugendhafter Mönch erzählt, daß die Gianque ihre Kinder, mit Wurzeln und Kräutern, im Mörser stoßen, um sich eine Salbe zu bereiten? daß im Königreich Batimena keine Frauensperson, bei Lebensstrafe, sich der Unzucht widersetzen darf? daß in der Insel Formosa Leichtfertigkeit und Völlerei gottesdienstliche Handlungen sind Ist vollends diese Nachricht aus dem Betrieger Psalmenazar genommen, der niemals Formosa gesehn hat, so gibt das eine hohe Meinung von den Quellen, die Helvetius brauchte.? Es mag seyn, daß sich ein Halbmensch in Grönland nicht rührt, wenn sein Bruder vor seinen Augen ertrinkt, daß ein Wilder seinen alten Vater ermordet, daß ein Bettler in China seine Kinder aussetzt; darum gibt es kein Land, wo man Menschenfreundschaft und kindliche Liebe verabscheut, wo Mord und Gewaltthat erlaubt ist. Weil ein Schiffer, oder ein Capuziner erzählt, daß es ihm däuchte, als wenn irgendwo ein Laster belohnt, eine gute That bestraft worden sey: ist eine Geschichte, die dem Gefühle der Natur widerspricht, erwiesen, oder erweisbar? Ist einzelner Unsinn darum Sitte des Volks? Gleicht die Tugend deßwegen einer Theaterprinzessin, die auf ihrer Reise durch allerlei Zonen, bald eine Vestalin, und bald eine Tänzerin vorstellt? Im Grunde ist es Wortgrübelei. Helvetius lenkt am Ende wieder ein; er wollte nichts weiter behaupten, als daß Barbarei, Unwissenheit, Gesetzlosigkeit alle Begriffe der sittlichen Schönheit verkehren; der Strom seines Witzes trieb ihn nur abwärts.

Eigentlich war dem Clerus an der Tugend nichts gelegen, aber der Philosoph hatte an das Rauchfaß gerührt. Er warf ihnen länderfressenden Geiz, Unwissenheit, Faulheit, Rachsucht vor, und sammelte Facta, stubborn things, die sich nicht wegandächteln lassen. Darum fiel die Leibwache des heiligen Stuhls, die Bande Loyola's über ihn her; darum drohten ihm Gefängniß, Verlust seines Glücks. Er konnte sich nur durch einen Widerruf retten.

In den Augen seiner Widersacher hat ihn der Schritt verächtlich gemacht; denn, sagt man, entweder ist seine Reue aufrichtig, so war es Leichtsinn, ein gefährliches System zu verbreiten, ohne solches vorher strenger zu prüfen, oder der Widerruf war verstellt, also eine feierliche schändliche Lüge – und zwar im Geschmack seiner Lehre, lieber Wahrheit und Redlichkeit, als Glücksgüter Preis zu geben. Hierauf antwortet er: man muß einen Unterschied machen zwischen einem Glaubensstifter, und einem Mann, der menschliche Weisheit vorträgt. Ich habe mich nicht für erleuchtet ausgegeben; Meinung ist noch keine Offenbarung; ich wollte nur überreden, nicht predigen. Nun tritt ein Mächtiger vor mich hin, entblößt sein Schwert, und donnert mir in's Ohr: Sei elend, meide dein Vaterland, übergib deine Familie der Dürftigkeit, oder spreche mir andächtig nach!

Ich hätte vorstellen können, daß es seltsam sey, mir anzubefehlen, vorzuschreiben, was mir Wahrheit däuchten müsse. Aber wenn man niedergeworfen vor dem Mufti liegt, der die Stirne runzelt, und ruft: Giaur! glaubst du, daß der Prophet auf einem Esel nach dem Monde reis'te? daß der wunderthätige Saleh ein lebendiges Kamehl aus einem Stein gemacht hat? da ist es nicht Zeit, den Büffon oder den Abbé Plüche zu citiren, um Ihro Hochwürden in den Bart zu beweisen, daß die Sache nicht angeht.

Sie haben mir einen Widerruf abgedroht; er ist nichts mehr als ein Wechselbrief werth, den ein Straßenräuber uns abdringt. Mein Buch wird übrig bleiben. Enthält es Wahrheit, desso besser; endlich findet sie vielleicht Eingang, vielleicht auch nicht; das hängt ab von dem Ton der Zeiten. Galilei hat, mit der Kerze in der Hand, an dem Altar eine Wahrheit abgeschworen, wird sie darum jetzt weniger erkannt? Zuverlässig hätten meine Gründe durch mein Unglück an Stärke nichts gewonnen; man hat auch für den Irrthum gelitten, und der Tod mancher gespießter falscher Apostel hat ihre Lehre nicht bestätigt. Indessen haben die Herren, um ihre Rache zu vergnügen, ein lächerliches Schauspiel gegeben; die Kirche hatte längst die fromme Apathie des Molinos, die süße Träumerei der Dame Guion, welche sie die reine Liebe Gottes nannte, und die Maximen der Heiligen, ihres Freundes Fenelon, verdammt; sie lehrt also, daß man Gott, nicht schwärmerisch, ohne Grund, sondern wegen seiner Wohlthaten lieben müsse: Eigennutz ist Christenthum. In der Religion wird die Neigung geduldet; mich verfolgten sie, weil ich dergleichen bei dem natürlichen Menschen vermuthe; und ist es nicht lustig, daß sie gerade in der merkwürdigen Zeit auf den Eigennutz schimpften, als ihr Handel und Wucher herauskam, als sie den Bankerut vorbereiteten, den kurz darauf Vater la Valette, und, Gott sei Dank, die ganze Gesellschaft gemacht hat? Aber Unverschämtheit ist es eben, was unserer Geistlichen Boßheit von der Boßheit des Weltmanns unterscheidet. Sie erröthen nie, ihre öffentlichen Sünden an Andern ohne Mitleid zu strafen, und sie kehren sich nicht daran, ob ihr Leben ihrer Lehre geradezu widerspricht. Ein Laie, der Keuschheit predigte, würde wenigstens den Enthaltsamen spielen. In die Kirchenversammlungen schleppten sie ihre Buhlerinnen mit, und verordneten Priester-Cälibat.

Hier haben Sie den Prozeß dieses Widerrufes; entscheiden Sie nun. Er hätte, dünkt mich, besser sein Buch im Pulte verschlossen, wie ein anderes, das nach seinem Tode herauskommen soll; er konnte das Ungewitter vorhersehn; jetzt war kein ander Mittel übrig, als eine Unbesonnenheit durch eine Lüge gut zu machen, und ein kluger Mann meidet ein solches Dilemma.

Wenn Helvetius in die Laune geräth, Sarkasmen zu sagen, so hört es sich angenehm zu; aber endlich wird er zu bitter, und ist ungerecht gegen die Regierung und gegen sein Vaterland. Die Nation strebt augenscheinlich empor; ihre besten Schriftsteller haben sich mit brittischer Kühnheit gegen Vorurtheile und Knechtschaft erklärt; Erleuchtung und Verträglichkeit nehmen zu. Hingegen, wenn Helvetius Recht hat, so ist die Nation zertreten unterm eisernen Fuße der Tyrannei; eine traurize Hülfe steht ihr bevor, delenda est Carthago; sie muß die Beute eines fremden Eroberers, und ganz von neuem gebildet werden. Als man ihn neulich über seine Reisen befragte, so gab er schneidend zur Antwort: »Ich ging nach Berlin, um einen König, und nach England, um ein Volk zu sehen.«

Von der Gesellschaft seines Hauses noch wenige Worte. Sie ist ursprünglich die nämliche, welche sich bei der Madame Geoffrin versammelt; nur findet man hier einige Gelehrte mehr, den Chevalier Jeaucouet, den Abt Raynal, den Dichter Saurin, Duclos, den Ritter Chatelly, und Ausländer ohne Zahl. Hier wimmelt das Gedränge, das um die Reichen schwärmt; man unterhält sich in allen Zungen und Sprachen; aber doch ist es keine deutsche Assemblée, wo man so geradezu aus Erbrecht hinfährt, weil man alte Pergamente und neue Kleider besitzt, sondern ein Fremder muß angekündigt, gut empfohlen, und zum Wiederkommen eingeladen werden.

Ich weiß nicht, wo sich die Fabel herschreibt, daß sich die Franzosen an die Fremden drängen, und zuvorkommend gastfrei und höflich sind. Es mag von den Spielern und Glücksrittern, von den Kupplern und Ciceronen wahr seyn; die bessere Gesellschaft ist spröde genug. In ihre Familienzirkel wird selten ein Fremder eingeführt. Sie wollen sich, wie sie höflich versichern, den Schmerz der künftigen Trennung, eigentlicher lange Weile, ersparen. Unsere meisten Reisende sind Knaben, deren Artigkeit nicht länger im Gang bleibt, als sie durch ihre Pedanten aufgezogen sind.

Ein Minister, dem von seinem Hofe diese herumgeführte Jugend empfohlen wird, ist äusserst mit den Herren verlegen; er weiß, daß er mit seinen rohen Landesproducten nirgends angenehm kommt, und hält daher immer eine alte Prinzessin an der Hand, wo sich die Cadetten und die Invaliden der Gesellschaft, die beiden Enden des Jahrhunderts, begegnen, und die gern ihre Spieltische voll hat. Dann hat die hoffnungsvolle Jugend in der großen Welt gelebt, und kommt gebildet zurück.

Auch die vernünftigsten Männer, wenn sie nur kurz hier verweilen, sind nicht unterhaltend genug. Sie treffen und verstehn den Geist des Umgangs nicht, können nicht Theil nehmen, wissen nichts wieder zu geben; alles schränkt sich auf kahle Allgemeinheiten ein.

Wiederholen Sie das, wo man Ihnen erzählt, daß der Franzos alle Fremden mit offnen Armen aufnimmt. Man hat solche Musterkarten von den guten Eigenschaften aller Völker; verlassen Sie sich darauf, daß sie nicht gegründeter sind, als die Satyren über ihre Fehler.

 


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