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Sechster Brief.

Paris den 5. Nov. 1768.

In Mariettens Cabinet befinden sich, unter vielen, aus Crozat's Sammlung gekauften Schätzen, auch eine Anzahl Zeichnungen von Raphael, deren einige vormals der Königin Christina gehörten, und zum Theil mit ihrer Hand bezeichnet sind.

Zwei darunter machten mich aufmerksam. Sie sind sorgfältig mit der Feder entworfen, und stellen beide einerlei Gruppe rathschlagender Personen vor; auf der einen sind die Figuren nackt, auf der andern die Gewänder behutsam über das Nackte gelegt. Ich folge gern dem Künstler von seiner Darstellung zurück durch alle Momente der Entwickelung, bis zur Empfängniß des ersten Gedankens; denn, nicht wenn man die vollendete Schöpfung, sondern wenn man werden sieht, enträthselt man den Gang des Geistes, und die Geheimnisse der Kunst. In der ersten Zeichnung war Raphael drei Mal mit dem einen Arm unzufrieden: erst war die Bewegung zu heftig für die ruhige Stellung der Person; eine andere Richtung lief zu gerade mit dem Arm einer nahestehenden Figur; eine dritte mehr ausgestreckte ließ eine harte Lücke übrig, und vereinigte die Gruppe nicht; nur die vierte gelang, und blieb, mit harten, gleichsam unwilligen Strichen, entschieden. Die Falten auf der zweiten Zeichnung sind verständig, nach den Schwingungen des Contours, in große Massen geordnet; da das Nackte unter den Falten liegt, so werden die Brüche anschaulich durch die Lage und Bewegung der Glieder gewirkt. Einige dieser Brüche sind nicht jetzt entstanden, sondern durch eine vorhergehende Richtung gebildet: man kann aus dieser Skizze eine Stelle von Mengs erklären, wenn er rühmt, daß man in Raphael's Falten entdecke, in welcher Lage das Glied vorher gewesen sei. Raphael entwarf die Gruppe zwei Mal nackt, und ließ die eine unbekleidet, um zu vergleichen, scharf zu prüfen, ob das Gewand dem Körper überall mit Anstand und Liebe folge und keine Schönheit einhülle. Nun war der Gedanke berechtigt; der Künstler führte mit Sicherheit aus, aber ohne Frechheit der Hand, mit einer bedächtlichen Festigkeit. Sie finden in Raphael's Arbeit die wilden Pinselkleckse nicht, die man als eigenthümliches Gepräg der größten Meister anstaunt; er war immer schwer mit sich zufrieden, und blieb noch als Sieger bescheiden im Wettstreit mit der Natur. – Also allerdings ein dürftiger Kopf: das Genie schafft, es veranstaltet nichts; es bildet und künstelt nicht; es ruft allmächtig seine Wesen aus dem Chaos hervor; seine Werke sind Früchte aus den Gärten des Himmels, die ohne Baum und Blätter treiben. Klopstock, der ein halbes Leben feilte, Laokoon's Schöpfer, der Jahre lang gehämmert hat, um, durch sanfte, langweilige Meißelschläge den athmenden Stein mit einer weichen Menschenhaut zu umgeben, sind Ciselirer, keine Genies. Die Bouchers, die De Hays, die la Grenées zaubern fertige Götter- und Menschengestalten aus einer Feenwelt herab; diese gaukeln dann in behaglichen Krämpfen auf lauter Purpurwolken, schweben in der goldenen Morgenröthe, in gewebte Luft gekleidet, und auf ihren durchsichtigen Körpern spielen alle Regenbogenfarben. Freilich, wenn, nach Jahrhunderten, der Forscher noch andächtig bei Raphael's Federstrichen weilt, so wandelt er die bunte Tapete mit kaltem Widerwillen vorbei.

Bouchardon war Mariettens Freund, und hat ihm den größten Theil seiner Zeichnungen überlassen. Hier ist noch hohe Einfalt, gemäßigter Ausdruck, Bedeutung und edle Form; dennoch werfen ihm eigensinnige Kenner vor, auch er habe um den Weihrauch seiner Zeit gebuhlt, seine Umrisse zu schlaff geschwungen, zu weich und rundlich ausgeführt; aber unter diesem verzärtelten Volk war gleichwohl Bouchardon der letzte Römer: neben den Pigalles und den le Moines ragt er, wie ein freier Senator unter den Höflingen der Kaiser, hervor. Hier steht von ihm, der Ewigkeit heilig, der Brunnen in der Straße Grenelle, und Ludwig des XV. metallenes Bild. Er war stolz auf seine Kunst, und verachtete den Neid. Ihn quälte nie ein fremdes Verdienst; er konnte hassen und gerecht seyn. Man trug ihm die Bildsäule Friedrichs des Fünften in Dänemark an: »Ich,« gab er zur Antwort, »habe nun mein Tagewerk vollbracht, aber ich empfehle Saly, einen jungen Künstler, der es nicht schlechter machen wird als ich;« und Saly war sein erklärter Feind.

Von Mariettens Kupfersammlung ist es schwer einen Begriff zu geben. Sie ist unstreitig die reichste, die je ein Privatmann besaß; sein Großvater und Vater haben bei ihrem weitläufigen Büchergewerbe auch mit Kupferstichen gehandelt; er und sein Vater wurden zur Einrichtung großer Cabinetter gebraucht; in einer Zeit von mehr als hundert Jahren haben sie immer geringere Abdrücke gegen bessere vertauscht; die berühmtesten Werke sind vollständig; es fehlt nicht ein wichtiges Blatt, und die seltensten sind besser erhalten, als in des Königs Sammlung. Ich habe hier corrigirte Probedrücke von Albrecht Dürer, und Pontiusse und Vorstermanne von Rubens Hand retuschirt gefunden.

Es ist eine Freude mit dem Besitzer zu leben. Jetzt noch in seinem Alter genießt er mit Entzücken die Wollust, welche das Gefühl hoher Vortrefflichkeit gewährt. Gefallen an Schönheit erhält den Geist in ewiger Jugend. Wir betrachteten neulich mit einander den Pallast Lambert, wo le Sueur und le Brün um die Wette malten, und der Erste den Preis für alle Zeiten davon trug. Sie hätten ihn da sehen sollen, wie er, mit aufwärts gewandtem Kopf, den Göttinnen an der Decke seine Liebe dichterisch erklärte, und sich über meine Theilnehmung freute. So ein glücklicher Greis bestätigt, was Cicero sagt: die Mühseligkeiten des Alters sind kein unvermeidliches Elend. Wir vernünfteln eine Menge Übel in das ganz erträgliche Leben hinein; auch dieser Epoche hat die Natur ihre eigenen Freuden zugemessen, und nicht, wie ein schlechter Dichter, den letzten Act im Drama verhudelt.

Neuere Anmerkung zu diesem Brief über ein Paar Stellen von Mengs und Lessing, Raphael's Falten betreffend.

Mengs sagt: Alle Falten bei Raphael haben ihre Ursachen, es sey durch ihr eigen Gewicht, oder durch die Ziehung der Glieder. Manchmal sieht man in ihnen, wie sie vorher gewesen. Raphael hat auch sogar in diesem Bedeutung gesucht. Man sieht an den Falten, ob ein Bein, oder Arm, vor dieser Regung, vor oder hinten gestanden, ob das Glied von Krümme zur Ausstreckung gegangen, oder geht, oder ob es ausgestreckt gewesen und sich krümmte.

Lessing führt diese Stelle im Laokoon an S. 179, und setzt hinzu: Es ist unstreitig, daß der Künstler ins diesem Falle zwei verschiedene Augenblicke in einen einzigen zusammenbringt. Denn da dem Fuße, welcher hinten gestanden, und sich vor bewegt, der Theil des Gewands, welcher auf ihm liegt, unmittelbar folgt, das Gewand wäre denn von sehr steifem Zeuge, das aber eben darum zur Malerei ganz unbequem ist: so gibt es keinen Augenblick, in welchem das Gewand im geringsten eine andere Falte machte, als es der jetzige Stand der Glieder erfordert; sondern, läßt man es eine andere Falte machen, so ist es der vorige Augenblick des Gewandes, und der jetzige des Gliedes: dem ungeachtet, wer wird es mit dem Artisten so genau nehmen, der seinen Vortheil dabei findet, uns diese beiden Augenblicke zugleich zu zeigen? wer wird ihn nicht vielmehr rühmen, daß er den Verstand und das Herz gehabt hat, einen solchen geringen Fehler zu begehen, um eine größere Vollkommenheit des Ausdrucks zu erreichen.

Alles scharfsinnig gesagt, aber Raphael beging keinen Fehler, und zeigt auch nicht zwei Augenblicke zugleich. Wer seinen Arm im Schlafrock, oder in irgendeinem weiten Gewande, so bewegt, daß er einen scharfen Winkel mit dem Ellbogen macht, bringt Falten in der Beugung hervor, deren einige bleiben, wenn der Arm wieder langsam ausgestreckt wird. Ein Frauenzimmer im taffeten Kleide wird im Gehen mit dem Knie, welches vorschreitet, eine Bucht in's Zeug drücken, von der noch Spuren übrig sind, wenn der andre Fuss schon nachkömmt. Es war also kein Künstlerkniff, kein Betrug, um einen größern Ausdruck zu erreichen, sondern wahr geschilderte, nachdenklich gewählte Natur; dadurch wird Bewegung angedeutet, indem man Falten ausdrückt, die, ohne eine bestimmte vorhergegangene Bewegung, nicht da seyn könnten. »Aber nur im steifen Zeuge,« wird Lessing antworten, »das in der Malerei nichts taugt.«

Die guten Maler aus der römischen Schule ahmten, wie Reynold richtig anmerkt, keinen Stoff, keine Zeuge nach; man unterscheidet weder Tuch, noch Seide: es sind Falten, es ist Draperie, und die Ursache leuchtet ein. Ich setze sie nur darum her, weil ich mich nicht erinnere, sie irgendwo gelesen zu haben. Man kann die Gattungen aller Zeuge bis zur höchsten Täuschung nachäffen; aber die Menschengestalt, die Farbe der Haut, die unendlichen Nüancen des Fleisches, in verschiedenen Geschlechtern, Altern, Leidenschaften, nach dem Grade der Beleuchtung und Haltung, bleiben immer, gegen die Natur, nur ein ähnliches Bild, ein Conterfei, Similitudo. Darum sitzen denn auch die gemalten Bilder, in Rigaud's und Battoni's Werken, in wirklichem Sammt von Genua und in Lyoner Atlaß; die Zauberei des Zeuges entzaubert die Figur. Der weise Künstler opfert die Manufactur-Vortrefflichkeit auf, weil sie höhere Zwecke vernichtet. Raphael's Gewänder sind keiner Weberei nachgepinselt, sondern Ideale aus verschiedenen Arten zusammengesetzt, zwar grosse glanzlose Massen, wie im wollenen Zeug; aber, weil die Falten in Flanellen und Tüchern nur stumpf und rundlich brechen, und durch ihre Schwere gezerrt sind, so arten seine Falten mehr nach mäßig gesteiften seidenen Stoff; da bilden sich die Triangeln schärfer, und die Parthien setzen sich empfindlicher ab. In dieser angenommenen Natur konnten allerdings im jetzigen Augenblick noch Falten sichtbar bleiben, welche die vorhergegangene Bewegung des Glieds hervorgebracht hatte.

Ich bitte Lessing, meine Meinung zu prüfen, und dann zu entscheiden. Wenn ich mit ihm uneins bin, so traue ich meinem Urtheil nicht. Ich weiß meinen Freund nichts zu lehren, aber lerne täglich von ihm.


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