Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Ein Herr Alabaster wirft alles über den Haufen

 

Als bis neun Uhr vormittag noch immer keine Nachricht aus Bukarest eingetroffen war, beschloß Balaban den Rückzug ins Gebirge. Babadag, das eine ungünstige Verteidigung bot, sollte geräumt werden. In den Straßen sammelten sich die einzelnen Verbände und traten unter die Gewehre. Eine Anzahl Rinder und Schafe wurden bereits in die Richtung nach Atmagea getrieben. Die sich häufenden Meldungen über die Zusammenziehung der Regierungstruppen drückten auf die allgemeine Stimmung. Balaban munterte seine Leute auf. Die Polizei würde nicht wagen, in die unwegsamen Wälder nordwestlich von Babadag einzudringen. Wochenlang könne man sich hier verborgen halten und eine günstige Gelegenheit abwarten, um einen neuen Vorstoß zu unternehmen.

Um elf Uhr – eben wollte man mit dem Abmarsch beginnen – hieß es, aus der Richtung von Potur sei auf der Landstraße ein Auto gesichtet worden, das die weiße Parlamentärflagge führe. Mihai Carraculi, der die südlichen Vorposten befehligte, habe den Wagen angehalten. Er sei jetzt mit den drei Insassen des Autos, einem Zivilisten und zwei höheren Offizieren der Armee, auf dem Wege nach Babadag.

Balaban verständigte sofort die Fürstin und mich von der Botschaft. Dann gingen wir den Ankömmlingen entgegen, brennend vor Ungeduld, zu erfahren, was geschehen war. Zweifellos versuchte die Regierung, Unterhandlungen anzuknüpfen! Warum aber? Was bestimmte auf einmal die Gegenpartei zur Nachgiebigkeit?!

Auf der Chaussee, die von Potur nach der Stadt führte, wirbelte eine Staubsäule auf. Das Hupen eines Autos ertönte. Nun konnten wir auch schon das weiße Fahnentuch in der Sonne leuchten sehen. Immer näher kam der Wagen. Jetzt hielt er an. Carraculi sprang heraus, dann die beiden Offiziere in der Uniform der Roschiori, ein Colonel und ein Rittmeister – schließlich der Zivilist. Es war Barbu Costiceanu, der Führer der Opposition.

»Balaban,« rief er, »ich bringe den Frieden! Der Kampf ist zu Ende!«

»Du bringst den Frieden?« wiederholte Balaban ungläubig, »wie soll ich das verstehen?«

»Die Verhandlungen mit Trabianu sind zu einem für beide Teile befriedigenden Abschluß gelangt. Er hat eingesehen, daß es auf diese Weise nicht mehr weitergehen konnte. Die Unruhen haben sich über das ganze Land verbreitet. An der Dnjestrgrenze fanden bereits blutige Plänkeleien mit den russischen Vorposten statt. In der südlichen Dobrudscha rühren sich die bulgarischen Komitatschi.«

»Und was habt ihr abgeschlossen?« fragte Balaban.

»Unsere Partei tritt in das Kabinett ein und wird mit den Trabianu eine nationale Regierung bilden. Der Alte bleibt weiter Ministerpräsident. Aber die Ministerien für Inneres, Justiz und Ackerbau werden mit Mitgliedern unserer Partei besetzt. Ich selbst übernehme das Außenportefeuille. Unter solchen Bedingungen hat sich unsere Partei nach reiflicher Überlegung entschlossen, die bisherige oppositionelle Haltung aufzugeben. Deine Wahl zum Deputierten des Kreises Tulcea ist bereits heute gesichert, da Trabianu seinen Kandidaten freiwillig zurückzieht. Überdies wünscht der Regentschaftsrat, daß dir im neuen Kabinett ein besonderer Sitz als Vertreter der Bauernschaft eingeräumt wird. Du mußt dich nur verpflichten, deine Banden innerhalb von drei Tagen aufzulösen. Keinem von deinen Leuten soll das Geringste geschehen! Die Sigurantza hat die Steckbriefe gegen dich, die Fürstin Trubakow und Nicu Bracu zurückgezogen. Eurer Rückkehr nach Bukarest steht nichts im Wege. Die beiden Herren, die als Beauftragte Trabianus und des Kriegsministeriums mit mir gekommen sind, werden dir unsere Abmachungen bestätigen. Alle Feindseligkeiten sind sofort einzustellen. Die Regierungstruppen marschieren, wenn du einwilligst, heute abend in ihre Garnisonen zurück.«

Dann wandte sich Costiceanu an mich: »Lieber Bracu, wir haben auch dich nicht vergessen. Du bist zum Direktor der ›Seara‹ ernannt worden und wirst die Gesamtleitung unseres Blattes übernehmen. Dein mannhaftes Eintreten für unseren gemeinsamen Freund Balaban verlangt eine sichtbare Anerkennung. Ich freue mich, dir als erster meinen Glückwunsch übermitteln zu können. Aber auch Ihnen, verehrte Fürstin, heißen, innigen Dank für die Treue, die Sie uns und Balaban gehalten haben! Der Regentschaftsrat wird Ihnen im Namen Seiner Majestät des Königs den Kronenorden Erster Klasse mit Brillanten verleihen. Wirken Sie weiter in so selbstloser Weise für Ihr neues Vaterland, das Ihnen das alte, in Trümmer geschlagene, ersetzen soll!«

Diese Szene war so rührend und feierlich zugleich, daß es kitschig wäre, sie noch ausführlicher zu schildern. Wir fielen uns gegenseitig in die Arme, nannten uns Brüder und küßten uns, wie es in meiner Heimat nun einmal auch unter Männern üblich ist, weidlich ab. Daß die beiden Offiziere die Gelegenheit wahrnahmen, besonders Tatjana ihre Aufmerksamkeit zu erweisen, erregte bei der allgemeinen Ergriffenheit keinen Anstoß.

Mit Windeseile verbreitete sich die Kunde von der Einstellung aller Feindseligkeiten durch die ganze Stadt. Die Regierung hatte nachgegeben! Die Wahl Balabans zum Kammerdeputierten gesichert! Die immer wieder angekündigte Glanzepoche in der Entwicklung unseres Staates würde jetzt verwirklicht werden!

Ein wahrer Freudentaumel erfaßte alle. Aus allen Häusern steckte man die blaugelbrote Trikolore aus; Bürger, Bauern und Banditen umarmten sich auf offener Straße; überall sang man die feierliche Königshymne oder das trotzige, mitreißende Lied von »Balaban und seinen neun Getreuen«; auf dem Marktplatze spielte eine Zigeunerkapelle, und die braunen Gesellen fiedelten mit einer Inbrunst, daß die Geigen und die Mädchen laut aufschluchzten. Festlich geschmückte Männer und Frauen taten sich zusammen, um zu den lockenden Klängen der Musik die »Hora«, den herrlich schönen rumänischen Nationalreigen zu eröffnen. Wieviel Anmut, wieviel Schönheit kam da zum Ausdruck! Die Tanzenden schlossen einen großen Kreis, gingen langsam im Rhythmus vor und zurück, hüpften zur Seite und wiegten die Köpfe. Es war ein Bild des Entzückens. Jugend und Alter wetteiferten in der Freude des Augenblicks. Die glänzend gewichsten, schweren Schaftstiefel der Burschen stampften den Takt. Die Mädchen trugen als Kopfschmuck eine mit bunten Perlen bestickte Borte, die kronenartig auf dem Scheitel saß. Nach rückwärts herab flatterten allerlei farbige Seidenbänder. Das Flitterzeug auf den Schürzen blitzte und glitzerte in der Sonne.

Es herrschte ein unbeschreiblicher Jubel. Und mitten in diese gehobene Stimmung platzte die Nachricht: »Die Amerikaner kommen!!«

Mein Gott – die Ladies und Misses Mr. Stopings hatten wir ganz vergessen. Es war auch ohne sie gegangen! Natürlich wollten wir sie als gern gesehene Gäste empfangen und ihnen den Aufenthalt in unserer Mitte so angenehm wie möglich gestalten! Schöner, reizvoller als alle kriegerischen Verwicklungen mußte doch das festliche Bild auf sie wirken! So dachte ich. Und so dachten Tatjana, Balaban und Costiceanu.

Aber die gütige alte Prinzessin Pizzicatino war anderer Meinung. Vielleicht kannte sie die Weiber besser, diese reisenden Amazonen aus U. S. A., deren Gelüsten Hinrichtungen, Kerkerszenen und romantische Drangsalierungen besser entsprachen, die einen starken Nervenkitzel suchten und finden wollten, die für ihr gutes Geld sich an dem Elend und der Qual der anderen erbauen wollten.

»Ihr habt Stoping versprochen, sie zu überfallen,« rief sie eigensinnig, »und dieses Versprechen muß gehalten werden! Die Amerikaner dürfen nicht um ihr Vergnügen kommen! Das gestatte ich nicht! Als Präsidentin des ›Vereins zur Hebung des Ansehens Rumäniens im Auslande und zur Förderung des Fremdenverkehrs‹ verlange ich von euch, den Überfall auszuführen. Kein Amerikaner darf diese Stadt betreten, ehe er nicht zehn Dollar Lösegeld bezahlt hat! Unsere Vereinskasse ist leer. Wir müssen sie auffüllen! Das Interesse unseres teuren Vaterlandes gebietet es! Und mein Bibi steckt über und über in Schulden.«

Sie ließ nicht locker – die gute Prinzessin. Wir mußten ihr den Gefallen erweisen, sonst hätte sie ihren Fluch auf uns alle geschleudert. Rasch wurden einige hundert wild aussehende Männer zusammengetrommelt, die längs der Landstraße Aufstellung nehmen mußten. Man sagte ihnen, um was es sich handelte. Die Leute lachten. Den Spaß wollten sie gern mitmachen, jetzt, wo der bittere Ernst gewichen war. Als die zahlreichen Autobusse, auf denen die Amerikaner daherkamen, sich der Stadt näherten, begann ein wildes Geknatter. Keiner hielt seine Pistole im Gürtel. Munition für Wochen wurde in wenigen Minuten in die Luft gepulvert. Es gab einen ohrenbetäubenden Krawall. Ein wahres Wunder, daß sich bei dieser wilden Schießerei kein Unglücksfall ereignete.

Die Autos rasten heran. Von den Hüten der sensationsgierigen Ladies und Misses wehten gelbe und weiße Reiseschleier. Kodakapparate wurden gezückt, Fernstecher an die Augen gesetzt. Gleich darauf ertönten aber Schreie des Entsetzens.

Das »Programm« nahm seinen Anfang. Balaban und Carraculi zielten auf die Pneumatikreifen des ersten Autos, feuerten ab – ein lauter Krach – der Wagen mußte scharf bremsen – ebenso die übrige ihm folgende Kolonne – zweihundertundfünfzig Männer sprangen mit wildem Geheul aus den Straßengräben, verzerrten die Gesichter zu gräßlichen Grimassen, drohten mit Tod und Verdammung, daß die Ladies und Misses, aber auch die vielen Herren, die sich in ihrer Begleitung befanden, vor Angst und Schrecken erbleichten.

Sie mußten die Autos verlassen, sich in einer langen Reihe aufstellen, die Geldbörsen öffnen. Mit schlotternden Gliedern standen sie da. Nur Mr. Stoping, der im ersten Wagen gesessen hatte, hielt sich hinter einem mächtigen Eichenbaum versteckt und rauchte seelenvergnügt eine Pfeife. Die anderen aber zitterten um ihr Leben. Einige falteten die Hände zum letzten Gebete, denn Carraculi schrie sie an, er werde sie alle über den Haufen schießen, wenn nur einer sich zu rühren wage.

Diese fürchterlichen Sekunden der Todesangst waren wirklich ihre zehn Dollar wert. Sie sollten aber nicht allzulange dauern, da zwei über Erwarten feinnervige Ladies bereits in Ohnmacht gefallen waren. Ich ersuchte Balaban, eine Ansprache zu halten. Er tat es. Wunderschöne Worte waren es, die er sagte. Nie hätte ich gedacht, daß er so formvollendet und witzig sprechen könnte. Allerdings stand Tatjana hinter ihm und flüsterte ihm Satz für Satz ins Ohr. Wie würde es bloß später einmal im Parlament werden? Ob sie ihm da auch ...?

Er definierte den Begriff des rumänischen Räubers. Versuchte den atemlos seiner Stimme lauschenden Ladies und Misses zu erklären, daß nicht niedrige Gewinnsucht es war, die ihn und seine Genossen zu Banditen werden ließ, daß ein höheres Ziel sie beseele.

Dann stockte er. Gewohnt, zu handeln, Führer zu sein, Gefahren und Beschwernisse zu erdulden, fehlte ihm doch die Beredsamkeit des Agitators. Der Anblick der vielen Weiber, die seine riesige Gestalt mit bewundernden Blicken maßen und in Ehrfurcht erstarben, verwirrte ihn. Ich wollte schon mit ein paar Worten einspringen, um die Situation zu retten. Aber da half ihm die Fürstin weiter. Er setzte fort. Sprach von den zwei Seelen, die in der Brust jedes Rumänen wohnten, von der demütigen slawischen, die fatalistisch alles über sich ergehen lasse, und von der heißen, stürmisch aufjauchzenden und ebenso rasch wieder bedrückten des Romanen. Erzählte von der Herkunft unseres Volkes, dessen Ahnen Deportierte und Verbrecher des großen römischen Reiches waren, die man zwangsweise in der Walachei angesiedelt hatte. Und diesem Abschaum der Menschheit sei wie ein Phönix ...

Oh, wie boshaft, wie niederträchtig boshaft konnte doch Tatjana sein, die durch Balabans Mund sprach.

Aber die Wirkung verpuffte. Die Amerikaner und ihre Damen verstanden kein Wort Rumänisch. Wahrscheinlich glaubten sie ihr Todesurteil zu vernehmen. Ein scharfes Kommandowort Carraculis, der etwas Englisch konnte, weil er zwei Jahre drüben in Amerika gewesen war, ließ sie von neuem zusammenfahren.

Dann kam die Prinzessin mit freundlichem Lächeln und entnahm jeder hingestreckten Brieftasche oder Börse zehn Dollar, nicht mehr und auch nicht weniger.

Jedem und jeder wußte sie ein niedliches Wort des Dankes. Die Augen der Ausgeplünderten leuchteten auf. Neue Hoffnung zog in ihre Herzen ein. Sie merkten wohl, daß es ihnen nicht an den Kragen gehen sollte. Als die letzte ihr Scherflein entrichtet hatte, warfen unsere Leute die Gewehre und Pistolen weg.

»Sie sind frei!« erklärte Carraculi, »betrachten Sie sich, meine verehrten Damen und Herren, von jetzt ab als unsere Gäste! Seien Sie uns alle herzlich willkommen! Haben Sie nochmals innigen Dank für Ihre hochherzige Spende im Namen der vielen Armen und Bedürftigen, die in unserem Lande leben, und vergessen Sie, bitte, nicht, wenn Sie wieder heimgekehrt sind, von dem Edelmut der rumänischen Räuber zu erzählen!«

Da löste sich die Erstarrung der Ladies und Misses, zumal auch Mr. Stoping jetzt vortrat und die Versicherung abgab, daß nichts mehr zu befürchten wäre. Die rumänische Gastfreundschaft sei sprichwörtlich. »Ladies und Gentlemen,« endigte er, »machen Sie es sich, bitte, bequem! Unsere Gesellschaft, die Ihnen versprochen hat, auch einen räuberischen Überfall zu bieten, hofft zuversichtlich, daß Sie diesen denkwürdigen Tag in angenehmster Erinnerung behalten und uns an Ihre Freunde und Bekannten weiter empfehlen werden! Sie sollen in Babadag Quartiere erhalten und können den Rest des Tages nach Ihrem Belieben zu Spaziergängen, Ausflügen und Besichtigungen ausnützen. Die Weiterreise wird morgen Punkt zehn Uhr angetreten! Und nun wenden Sie bitte Ihre Aufmerksamkeit dem König der Dobrudscha, dem großen Räuberhauptmann, zu, von dessen Taten Sie gewiß schon viel gehört haben. Hier steht er vor Ihnen! Balaban! Er begrüßt Sie als Freunde, als Bürger des freiesten Staates der Welt. All right!«

Das ließen sich die Amerikaner nicht zweimal sagen. In dichten Rudeln umdrängten sie unseren Hünen, um ihm die Hand zu schütteln, seine Dolche zu bestaunen und ihn zu photographieren.

» Very nice!« riefen sie immer wieder, »ein göttlicher Mensch! Ein Räuber! Welch ein Räuber! Ein König unter den Räubern! Wunderbar! Prachtvoll! Ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben – das ist der stärkste Eindruck meines Lebens! Pretty! Wundervoll – einfach wooonderfull!«

Es scheint zu den hervorstechendsten Eigenschaften der Yankees zu gehören, sich rasch in alle Lebenslagen hineinzufinden. Keiner dachte mehr an die zehn Dollar, um die jeder erleichtert worden war. Zwanglos bewegten sie sich unter den Banditen, Fischern und Bauern, die ihnen Amulette, alte Münzen und allerlei kleine Erinnerungen verkauften. Die Geschäfte blühten.

Da kam die Prinzessin, die unermüdliche Pizzicatino, auf einen sonderbaren Einfall.

»Nicule,« sagte sie, »sehen Sie, wie zutraulich die Amerikaner sind! Ein herrliches Volk! Wir hätten ihnen zwanzig Dollar pro Kopf und Nase abnehmen sollen. Es scheint ihnen nichts auszumachen. Sie hätten auch diesen Betrag verschmerzt. Aber wir wollen nicht undankbar sein. Geben wir doch unseren lieben Gästen einen Begriff von der Seele unserer schönen Heimat!«

»Wie meinen Sie das, Prinzessin?« fragte ich.

»Die Leute sollen eines unserer herrlichen Volkslieder singen! Musik öffnet die Herzen.«

»Eine glänzende Idee, verehrte Prinzessin,« fiel ihr Mr. Stoping ins Wort, »zwar habe ich musikalische Produktionen erst in Bukarest vorgesehen, aber es schadet gar nicht, wenn wir das Programm ein wenig umstoßen. Im Gegenteil! Unsere Ladies und Misses werden sich glücklich schätzen, einer typisch rumänischen Nationalweise lauschen zu dürfen.« Und schon verkündete er mit lauter Stimme, daß die ehrenwerten Räuber der Dobrudscha sich erlauben werden, ein Lied ihrer Heimat zum besten zu geben.

»Ladies und Gentlemen! Ich bitte um ihre Aufmerksamkeit!«

Da trat heilige Stille ein. Ein Rauschen kam von den nahen Wäldern, durch die der Wind zog. In schwerer Mittagsglut träumte die ganze Landschaft. Hoch in den Lüften zog ein Storchenpaar dahin. Carraculi hob den Arm. Und viele hundert Männerstimmen vereinigten sich zu einem machtvollen Chor. Wie ein Fanfarenruf brauste es durch den weiten Raum. Aus dem Boden schien es emporzuquellen, breitete sich aus, schwang sich mit trotziger Inbrunst zum Himmel aufwärts, tönte in der Ferne wieder – das Lied von »Balaban und seinen neun Getreuen«!

Wo immer die Leute standen, die Bauern, die Fischer, die Banditen, die Söhne unseres Volkes, an der Landstraße bis weit zu den Häusern von Babadag, jeder nahm die Melodie auf, sang sie mit, schmetterte sie jauchzend in die Lüfte, Balaban, ihrem Führer, ihrem Liebling, dem König der Dobrudscha zu Ehren, der mit entblößtem Haupte die Huldigung entgegennahm.

Wie eine ungeheure Orgel klang es, die aus der Erde ihre Stimmen zog. Die Prinzessin weinte vor Glück. Tatjana lächelte gerührt. Die Amerikaner lauschten ergriffen.

Der Gesang wurde schwächer, ebbte ab, erstarb in unendlicher Weite. Die erste Strophe war zu Ende. Aber aus der kurzen andächtigen Stille, die diesem brausenden Sturme wackerer Kehlen gefolgt war, schraubte sich eine Stimme empor, eine einzige, mächtige, klangvolle, von süßem Schmelz getragene Stimme. Ich erkannte sie gleich wieder. Auf der Kellerstiege des Gefängnisses von Pelteanu hatte ich sie das erstemal gehört. Und nie wieder vergessen. Aber heute war sie reiner und befreiter, schien keine Grenzen zu kennen! Keine Mauern engten sie ein!

Balaban war es, der sang! Als Dank für die Heimat, die ihn geboren hatte, die ihn groß und stark werden ließ. Als Dank für die Liebe und Treue seiner Freunde! Sein eigenes Lied war es, das er sang, das Lied von Balaban und seinen neun Getreuen. Und die Stimme ruhte nicht. Sie sprengte ihre eigenen Fesseln. Die Sehnsucht eines ganzen Volkes schwang in ihr. Wehmütig rauschte sie dahin. Wie das schwere, eintönige Fließen des Donaustromes, wie der müde Ruderschlag der Deltafischer, wenn sie beutebeladen heimwärts zogen, wie das letzte blasse Abendrot, das in die Nacht versank.

Es schien, als hielte die Natur ihren Atem an. Die blaue Himmelskuppel senkte sich auf uns herab. Die Welt wurde zu einem riesigen Dome. Da gab es keinen, der nicht im Banne dieser Stimme stand. Die Herzen erschlossen sich. Man senkte die Köpfe und lauschte in tiefer Andacht. Der Duft der Heimaterde überfiel uns wie ein Rausch und lullte alle ein. Wir rochen die feuchten, frühlingsbrünstigen Ackerschollen, die der Pflug aufwarf, wir sahen mit geschlossenen Augen die ersten grünen Halme sprießen, den Wein in den Gärten blühen. Die unendliche Steppe tat sich auf. Schnittbereit wallte der goldgelbe Weizen. Über die meterhohen Kukuruzfelder strich der Wind. Und dazwischen wölbten sich Melonen und Kürbisse dick und aufgequollen über dem Boden. Auf den Karpathenwiesen trocknete das zweite Heu in der prallen Sonnenglut. Erntezeit. Der Segen der Erde war reich und schwer. Saftstrotzende Trauben unter braunroten Weinblättern. Knechte und Mägde in der Mittagsglut rastend im Schatten eines Baumes. Raschelndes Korn, Klang der Sensen, über die der Schleifstein fuhr. Blökend zogen die Schafe von den Almen. Kuhschellengebimmel auf der Heide. Baumriesen fielen ächzend unter der Axt der Holzfäller. Dumpfes Mahnen der Kirchenglocken. Horatänze auf der Wiese. Fiedelnde Zigeuner.

Das Herz schlug uns jubelnd entgegen.

Und wieder plantschten die Ruder in das Wasser, die Fischer hoben ihre Netze aus, der große Strom, am Ende seiner langen Fahrt, träg und müde in seinem breiten Bette, versank in Schwermut – Abendstimmung – Mondscheinglitzern auf den Wellen, ein säuselnder Hauch, fallende Blätter, Dunst über dem Wasser – die Stimme, die all dies hervorgezaubert hatte, verhallte ...

Wir sahen den hellen Tag, die Eichenwälder um Babadag, die Landstraße, auf der wir standen. Der Gesang war verstummt.

Doch die Ergriffenheit hielt an. Nur allmählich wich der Bann und gab uns der Wirklichkeit wieder.

Dann aber begannen die Ladies und Misses zu schnattern:

»Phänomenal! Unglaublich! Fabelhaft! Ein Gotteswunder!«

Es hätte nicht viel gefehlt, so hätten sie den Sänger in ihrer Begeisterung erdrückt.

Aus der Reihe der Amerikaner trat ein Herr heraus, schob sich in höchster Aufregung durch das Gewühle und drückte Balaban die Hand. »Herr Räuber,« sagte er in jenem schlechten Rumänisch, wie es die Juden in der Moldau sprechen, »Sie mögen ein großer, ein edler, ein herrlicher Räuber sein, aber Sie sind noch mehr – ein von Gott begnadeter Sänger! Seit Caruso habe ich nicht mehr einen solchen Tenor gehört. Auf der Stelle soll mich der Schlag treffen, wenn ich zuviel gesagt habe! Sie können mir glauben! Ich bin der Impresario James David Alabaster. Gewissermaßen ein Landsmann von Ihnen, Herr Balaban. Ich stamme nämlich aus Jassy. Aber ich lebe schon seit fünfundzwanzig Jahren drüben in Amerika. Die bedeutendsten Künstler der Welt verdanken mir ihren Aufstieg und ihre Berühmtheit. Ich habe eine Konzertagentur und vermittle die glänzendsten Engagements. Fragen Sie Battistini, Richard Strauß, Bruno Walter, Kleiber oder Klemperer, fragen Sie alle bekannten Dirigenten, Sänger und Sängerinnen! Jeder wird Ihnen bestätigen: James David Alabaster ist ein Ehrenmann, ist der große Macher! Ich habe die Jeritza und den Piccaver nach Amerika gebracht. Wenn ich sage: Sie sind ein Wunder, dann können Sie Gift darauf nehmen! Was Sie da gesungen haben – jeder Ton war Goldes wert! Piccaver und alle anderen sind Tinnef dagegen. Seit Jahren suche ich den Mann, der einen Caruso ersetzen soll. Jeden Sommer klappere ich ganz Italien ab. Aber ich habe nichts gefunden. Alles Mittelmäßigkeiten, nicht der Rede wert. Und nun muß ich ausgerechnet – – sehen Sie, man soll nur auf seine Frau hören! Man kommt sich nebbich wie gescheit vor, aber so eine Frau, die hat's mehr im Gefühl, in den Fingerspitzen möchte ich fast sagen. Es war nämlich ihre Idee, an der Rumänienreise, die Mister Stoping propagiert hatte, teilzunehmen. Schließlich hab' ich mir gedacht, was kann es schon schaden, wenn ich mir das Land meiner Jugend wieder anschaue. Nichts Gutes habe ich ja hier gehabt, das ist schon wahr, und desertiert bin ich auch, als ich mich zum Militär stellen sollte. Aber das ist alles nicht mehr wahr. Ich bin jetzt amerikanischer Bürger. Doch einen Rest von Anhänglichkeit hat man nebbich für die alte Heimat. Also schön – sind wir mitgefahren. Vielleicht lebt noch jemand von der alten Mischpoche. Und auf was treffe ich? Auf ein Juwel von einer Stimme! Herr Balaban – was soll ich viel Worte machen? Sie können Mister Stoping fragen, wer James David Alabaster ist! Die Metropolitanoper in New York wartet schon auf Sie. Unter dreitausend Dollar pro Abend ist an ein Auftreten gar nicht zu denken. Ich rechne sogar auf das Doppelte. Man wird Ihnen Millionen bieten, sobald Sie das erstemal gesungen haben. Ich lasse Sie ein halbes Jahr lang auf meine Kosten bei den besten Lehrern ausbilden und garantiere Ihnen einen Vertrag, der sich sehen lassen kann.«

Balaban wehrte milde ab.

»Daran ist nicht zu denken, Domnule Alabaster,« gab er zur Antwort, »mein Platz ist hier ...«

»Was heißt Platz,« rief der Impresario mit krebsrotem Gesicht, »Sie werden mir doch keinen Korb geben?! Gott der Gerechte! Stellen Sie mir Ihre Bedingungen! Unbesehen gehe ich auf alles ein. Mit so einer Stimme ist Ihr Platz in der großen Welt. Ihr Ruhm wird den vom seligen Caruso noch weit überstrahlen. Ich weiß, was ich sage. Mein Ohr trügt nicht, Herr Balaban, und meine Nase schon gar nicht. Man sagt, es gibt keinen, der einen Erfolg so gut riechen kann wie Alabaster. Und ich sage Ihnen: ich rieche einen Bombenerfolg, wie ihn die musikalische Welt seit dreißig Jahren nicht mehr erlebt hat. Man wird sich die Hände blutig schlagen nach Ihnen. Kaiser und Könige werden sich eine Ehre daraus machen, Sie zu hören. Was wollen Sie hier? Ein Räuber bleiben? Haben Sie denn nicht gesehen, wie ergriffen die Leute waren? Mir sind – der Schlag soll mich auf der Stelle treffen, wenn es nicht wahr ist! – die Tränen aus den Augen gekullert. Ich habe so etwas noch nicht gehört, mir, dem die Koryphäen der ganzen Welt vorzusingen pflegen.«

»Herr Alabaster,« sagte ich, »Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß Balaban nach den Wahlen in die Kammer einziehen wird ...«

»Als Kammersänger?«

»Nein – als Deputierter.«

»Hat sich schon was! Als Deputierter! Was schaut dabei heraus? Nichts! Und selbst wenn man ihn zum Minister machen würde – was ist schon ein Minister? Er kann auf diesem Posten in einem Jahre nicht das zusammenstehlen, was er auf ehrliche Weise durch seine Stimme an zwei Abenden in der New Yorker Metropolitanoper bekommt. Es wäre eine Sünde, diesen gottbegnadeten Menschen in die schäbige Politik hineinzuhetzen ...«

Da geschah etwas Unerhörtes.

Tatjana, die bisher still zugehört hatte, mengte sich in die Debatte.

»Balaban,« sagte sie leise und legte die Hand auf seine Schulter, »ich würde an deiner Stelle den Vorschlag dieses Herrn Alabaster annehmen. Du hast in Bukarest nichts verloren. Du bist viel zu gut und zu ehrlich, um in dieser Atmosphäre zu wirken. Das große, schöne Vertrauen, das du zu den Menschen hegst, das dich hier im Kreise deiner Freunde und Genossen beglückte und nicht enttäuschte, würdest du dort nur gar zu bald verlieren. Ich glaube, du weißt, wie gut ich es mit dir meine, und darum rate ich dir – – –«

Da sagte Balaban rasch entschlossen: »Herr Alabaster, ich bin bereit, alles hier im Stiche zu lassen und mit Ihnen nach Amerika zu gehen. Aber nur unter einer Bedingung!«

Er blickte mit großen, wahren Kinderaugen auf Tatjana, um deren Lippen ein stolzes, siegesbewußtes Lächeln spielte.

»Welche Bedingung ist das?« fragte der Impresario ungeduldig.

»Wenn die Fürstin Trubakow uns begleitet. Ich kann nur singen, wenn sie in meiner Nähe ist, wenn ich weiß, daß sie mir zuhört. Bitten Sie Tatjana, daß sie mich nicht verläßt!«

»Wenn es weiter nichts ist?« Alabaster atmete erleichtert auf.

Die Amerikaner, die Ladies und Misses starrten uns mit neugierigen Blicken an. Kein Wort verstanden sie von dem, was hier gesprochen wurde. Immer noch standen sie im Banne des Gehörten. Nur Mr. Stoping nahm erwartungsvoll die Pfeife aus dem Mund, um im gegebenen Augenblick seinem reisenden Volke die neueste Sensation bekanntzugeben.

Da schlang Tatjana die Arme um den Nacken des Riesen, der eine Welt entzücken sollte, zog seinen Kopf zu sich herab und flüsterte ihm ins Ohr:

»O du dummer, dummer Junge! Glaubst du wirklich, ich könnte dich jemals verlassen?! Glaubst du das wirklich? Du, mein Räuber – du, mein gottbegnadeter Esel!«

Seine Lippen öffneten sich zu einem jauchzenden Ruf.

»Tatjana!!!«

Dann hob er sie wie eine Beute empor, wirbelte mit ihr im Kreise herum, daß die anderen entsetzt zurückstoben. Die gütige alte Prinzessin Pizzicatino sank schier ohnmächtig an meine Brust und hauchte: »Ich verstehe die Welt nicht mehr!« Herr Alabaster zückte sein Notizbuch, die Ladies und Misses ihre Apparate, von Babadag brauste eine Kavalkade berittener Banditen auf der Landstraße heran, um Balaban im Triumphe in die Stadt zu führen, an ihrer Spitze Barbu Costiceanu und die beiden Roschiorioffiziere.

Aber ehe sie noch den Platz erreichten, schwang sich Mr. Stoping auf den Führersitz eines der Autobusse, reckte sich empor, erhob seine Hände beschwörend zum Himmel und rief mit gellender Stimme:

»Ladies und Gentlemen! Ich habe die hohe Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß Seine Majestät, Balaban, der König der Dobrudscha, der künftige Heldentenor der Metropolitanoper in New York, sich soeben mit Ihrer Durchlaucht der Fürstin Tatjana Trubakow verlobt hat!«


 << zurück weiter >>