Rudolph Stratz
Herzblut
Rudolph Stratz

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XII

Die kleine altmodische Standuhr in Fräulein von Kritzings Wohnzimmer verkündete mit feinen Schlägen unter ihrem Glassturz die neunte Morgenstunde. Gleich darauf klang gedämpftes Läuten vom Hofe her, das Zeichen für die kurze Schulpause, und nach ihm das ferne hundertfache Getrippel und Gesumme, das von früh bis spät, Jahr um Jahr, den Grundton zu allem bildete, was in diesem Hause geschah.

In dem kleinen Stübchen war es eine Weile still geworden. Es rührte sich nichts zwischen den altjüngferlichen, verstaubten Sächelchen, den vergilbten Photographien, den welken Blumensträußchen, den verschossenen Stickereien. Endlich sagte der General von Dolmar zu Jakobe, und seine Stimme zitterte dabei vor Zorn: »Jawohl, mein Kind . . . so ist es! . . . Und ich durfte dir diese angenehme Neuigkeit nicht vorenthalten . . .«

Er war mit seiner Tochter allein in dem Raum. Er hatte sie sich aus dem Schulgebäude im Hinterhaus holen lassen, wo Fräulein von Kritzing jetzt noch in ihrem Empfangszimmer einer Dame gegenübersaß, und fuhr fort: »Wie gesagt . . . 's ist der reine Zufall! Ich thronte gestern abend ganz harmlos so gegen Zehn mit ein paar Herren bei Siechen – da erscheint der alte General Wiese, grüßt, setzt sich zu uns – alles ganz schön – du erinnerst dich: der lange, alte Knackstiebel, der immer den zugeknöpften schwarzen Gehrock trägt – na – und der hat doch seit seiner Verabschiedung so eine Art Vertrauensstellung bei Krupp oder ähnlichen Leuten – und der zieht mich nun mit einem Mal ein bißchen zu sich näher und sagt: Dolmar – im Vertrauen – ich möchte Ihnen was erzählen: Wir hatten heute eine Verhandlung mit einer Bankgruppe in der Tiergartenstraße – Stahlgeschichten – Lieferungsbedingungen – na – einerlei – und der Hausherr, der Generalkonsul Neerlage, war hochgradig zerstreut, was sonst nicht seine Schwäche ist, und wie er einmal gerade draußen war, um zu telefonieren, da sagte einer von den anderen Millionenonkel im Spaß: ›Dem geht der Schwiegersohn im Kopf herum!‹ und die anderen Kerle lachten und einer von ihnen, mein Nachbar, ein Dr. Schmidt von Wildenwarth, den ich leise frug, meinte: ›Na – vorhin hat sich Herr von Wölsick wieder hier im Hause gezeigt – zum ersten Mal seit langer Zeit – und auf morgen hat ihn der Alte ostentativ zum Frühstück gebeten. Wer die Verhältnisse kennt, weiß, was das bedeutet. Er heiratet die Tochter! . . .‹ Der gute Wiese wollte mir noch mehr erzählen. Aber ich sagte ihm: Danke – danke! ich habe schon genug! . . .«

Der alte Herr drehte grimmig seinen weißen Schnurrbart und verstummte. Dann hub er wieder an.

»Vielleicht war es eine Dummheit von mir, Jakobe, dir in aller Herrgottsfrühe so mit der Türe ins Haus zu fallen. Aber ich dachte mir: Du erfährst es ja doch brühwarm von irgend woher – durch anonyme Briefe oder eine giftige Anspielung – dann schon lieber durch mich – nicht wahr?«

Und wieder nach einigem Zaudern setzte er hinzu: »Leicht ist's mir nicht geworden. Das kann ich dir gestehen. Ich war recht böse auf dich. Bin's noch, mein Kind! Mit Recht! Aber wenn ich mich zu sehr über meine Nächsten geärgert hab', dann geh' ich des Sonntags in die Kirche. Das ist eine alte Angewohnheit von mir. Die hat mir deine gute selige Mama in den ersten Jahren unserer Ehe beigebracht. Na – und nun das letzte Mal in der Garnisonkirche – da hat mir der Bonze doch höllisch ins Gewissen gepredigt . . . mit der Faust hat er auf die Kanzel geschlagen . . . ausgerechnet gerade die Stelle: Wer unter euch ohne Fehl ist, der hebe den ersten Stein! . . . Ich hatte das helle Wasser in den Augen, wie ich hinausging . . . Und bei der ersten Gelegenheit – na . . . sie ist ja traurig genug . . .«

Er brach ab und seufzte. Er hatte gehofft, nun würde auch Jakobe einmal reden. Aber sie saß schweigend da. Sie ließ sich nichts anmerken, was in ihr vorging, und er schloß: »Ich bin ohne Schuld! Ich habe dir genug geredet und geraten: Sei nicht verblendet! Setze dich nicht zwischen zwei Stühle! Aber dir darf ja niemand helfen! Nun siehst du, wie recht ich hatte . . .«

»Wie recht ich hatte, Vater . . .«

Ihre Stimme klang tonlos, aber fest. Sie fuhr fort, mit trockenen Augen ins Leere schauend: »Ich wußte es: was er mir auch sagte, es war eine Lüge!«

»Und ich lauf' nun herum und sag' mir vor: Der verfluchte Kerl will deine Tochter nicht! – Will . . . deine . . . Tochter . . . nicht! . . . Und ich muß das 'runterschlucken, ich hatte ja immer noch gehofft . . . Ich bin doch nun mal ein vereidigter, alter Sanguiniker . . . nein – was zu viel ist, ist zu viel . . .«

Jakobe Ansold blickte stumm vor sich hin. Ihr Vater beugte sich vor und faßte beinahe weinerlich ihre Hand.

»Ach, Kindchen . . . da sitzt du nun wieder und schweigst! Immer schweigt sie sich aus, wenn man bei ihr anklopft! Ich fürchte, den richtigen Schlüssel zu dir hat keiner. Der ist verloren gegangen und liegt irgendwo auf dem Grund vom Meer.«

»Das mag wohl sein, Vater!«

»Kann man denn gar nichts für dich tun?«

»Laßt mich nur ruhig meinen Weg gehen und sorgt euch nicht um mich . . .«

»Aber jetzt, wo dich dieser Schlag getroffen hat . . .«

Sie sah befremdet zu ihm auf. Ihr Gesicht war blaß, aber ruhig.

»Glaubst du denn, er kommt mir unerwartet? . . .«

»Ja – aber was soll denn nun geschehen, Jakobe?«

»Was soll denn weiter geschehen? Herr von Wölsick ist ganz frei. Durch meinen eigensten Willen. Er kann tun und lassen, was er mag. Ich darf ihm keinen Vorwurf machen und wende den Kopf nicht zurück!«

»Wenn du das aushältst, Kind! . . . Am Ende überschätzest du deine Kraft! Es ist ja unmenschlich, was du dir zumutest! . . . Das verträgt keiner!«

»Ich trag' es schon!«

Sie war aufgestanden. Mit einer unwillkürlichen Bewegung warf sie den Kopf in den Nacken und sagte hart: »Ich habe alles ertragen! Ich beuge mich auch jetzt nicht, vor diesem Letzten nicht! . . . Er wird nie über mich siegen! Verstehst du? . . . Ich werde immer ein Mensch neben ihm bleiben oder über ihm! . . . Was er auch tut, es macht mich nur stärker!«

Es war eine Pause.

»Weißt du etwas, Jakobe!« sagte der alte Herr endlich nachdenklich, immer noch ihre Hand in der seinen haltend.

»Ja?«

». . . Ich hab' dich eigentlich nie recht gekannt! . . . Ich glaube: Du bist einer der stolzesten Menschen, die mir je in meinem langen Leben begegnet sind . . .«

»Hoffentlich!«

Vater und Tochter sahen sich schweigend an. In diesem Blick kamen sie sich näher als mit allen Worten. Er drückte fest ihre Rechte: »Na . . . ich dank' dir! Nun bin ich auch ruhiger! Von dir geht Kraft aus, Kind! . . . da können zehn Männer was lernen! . . . Ihr Frauenzimmer habt einen Heroismus im Leiden . . . brauchst du noch was? . . . kann ich noch irgendwas für dich besorgen?«

»Nichts, Vater!«

Er küßte sie und ging. Rasch. Denn er konnte seiner Bewegung kaum mehr Herr werden. Jakobe schloß die Türe hinter ihm und setzte sich wieder in den Lehnstuhl am Fenster. Und nun brach sie doch plötzlich zusammen, wo niemand sie sah. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, sie stöhnte auf in einem Schauer unendlicher Verlassenheit. Und als sie sich tiefaufatmend mit nassen Augen emporrichtete, da hatte sie nur den einen Drang: Fort von hier! . . . Gerade jetzt! . . . Sobald wie möglich! . . . Ihr schien, als würde sie von nun ab die Stunden zählen müssen, die Tage, bis sie endlich das Schiff in Bremen besteigen konnte . . .

Ihr Auge verlor sich in der Ferne und schweifte dann wieder zu der Straße unter ihrem Fenster hernieder. Drei Stockwerk tief ging es da hinab. Und jäh zuckte der Gedanke durch ihre Seele: da unten wimmeln die Menschen, die Wagen – wie manche würde in einer anderen, kleinmütigeren Verzweiflung als der meinen hier oben stehen, nachdem sie das erfahren! Die würde es tun: ein Sprung – ein Sturz – ein dutzendfacher Aufschrei in der Tiefe – die Pferde vor der schönen Herrschaftskutsche, die da vor dem Hause hält, bäumen sich und scheuen – die Menschen stürmen herbei – das wäre eine blutige Morgengabe für einen Brautstand – eine schreckliche Rache – Und gleich darauf schüttelte sie mit einer kurzen Bewegung des Kopfes das finstere, feige Bild von sich ab. Sie sprang auf – sie streckte die Arme aus – die Augen geschlossen, Willenshärte um die zusammengepreßten Lippen – nein – sie lebte, ihre Seele war nicht umsonst durch den schwersten Schmerz frei geworden. Für sie gab es nur ein Heiliges auf der Welt: die Treue gegen sich selbst.

Im Flur draußen klingelte es und es entstand ein Stimmengewirr. Sie horchte auf. Fräulein von Kritzing konnte das nicht sein. Nein. Es war die Magd. Sie sprach mit einer Fremden. Der Wortwechsel näherte sich der Türe. Die öffnete sich fast zugleich mit dem Klopfen. Eine elegante, schlanke, Jakobe unbekannte Dame stand auf der Schwelle. Sie hatte ein Blatt in der Hand und schien atemlos vom raschen Treppensteigen.

Sie ging auf Jakobe zu, sicher und bestimmt, trotz ihrer offenbaren Erregung, und frug schnell: »Habe ich die Ehre, Frau Ansold? . . .«

»Ja . . .«

»Verzeihen Sie bitte mein formloses Eintreten, gnädige Frau! Aber es handelt sich um Minuten. Mein Name ist Sophie Neerlage. Sie wissen nicht, wer ich bin!«

»Doch. Ich weiß es!«

»Wieso?«

»Jetzt eben hab' ich es gehört . . .«

Den Bruchteil einer Sekunde sahen sich die beiden jungen Frauen in die Augen. Dann versetzte die Besucherin: ». . . Was haben Sie gehört?«

». . . Daß Sie seine Braut sind! . . .«

»Das bin ich nicht! Nicht mehr! Sonst wäre ich nicht hier! . . . Und nun, gnädige Frau, es steht sein Leben und Ihr Lebensglück in dieser Viertelstunde auf dem Spiel: Sie haben ihn abgewiesen, weil Sie nicht an seine Liebe glaubten?«

»Ich weiß nicht, mit welchem Recht Sie mich . . .«

»Antworten Sie! . . .«

»Ja, das tat ich!«

»Hier geb' ich den Beweis des Gegenteils in Ihre Hände! Diesen Brief an mich! Lesen Sie ihn. Rasch, die Minuten sind kostbar! Haben Sie ein Telephon?«

»Ja. Im Flur!«

Sophie Neerlage drückte der anderen das zerknitterte Blatt in die Hand. Dann eilte sie an den Apparat und rief Amt und Nummer. Sie sprach, obwohl sie vor Erregung zitterte, sehr klar und deutlich: »Wer ist dort? . . . Der Diener Michael, mit dem ich vor einer Viertelstunde von zu Hause sprach? – Ihr Herr ist noch nicht zurück? Gott sei Dank! . . . Nun hören Sie schnell . . . ich hatt' es vorhin vergessen: Das Leben Ihres Herrn hängt davon ab: Nehmen Sie sofort seinen Revolver an sich, und wenn Herr von Wölsick heimkommt, dann tun Sie genau, wie ich Ihnen schon vorhin telephoniert hab', gehen Sie ihm nicht von der Seite! Wenn er Sie fortschickt, sagen Sie, ich hätte Ihnen befohlen zu bleiben! Wenn er Ihnen droht, lassen Sie sich nicht erschrecken! . . . Halten Sie ihn nur die kurze Zeit hin . . . Was wimmern Sie? Sie getrauten sich nicht? . . . Heulen Sie nicht. Mann! Ich komme gleich selber! Ich bin schon unterwegs! . . .«

Sie trat in das Zimmer zurück. Dort stand Jakobe Ansold, mit einer Hand auf die Tischplatte gestützt, in der anderen den Brief. Sie konnte kein Wort sprechen. Sie blickte halb geistesabwesend Sophie Neerlage an, und die sagte: »Da haben Sie den Beweis – den einzigen und größten, den er Ihnen hinterlassen konnte! Denn er wollte wahrhaftig nicht, daß ich das Blatt jetzt schon in der Hand hab'. Es ist die Schuld seines Dieners, der aus Dummheit das Klügste tat, was möglich war. Wenn wir jetzt eine Viertelstunde Vorsprung und ein wenig Glück haben . . . Kommen Sie rasch! Stehen Sie nicht so da, gnädige Frau . . . da ist Ihr Hut . . . da ist Ihr Mantel . . . Verzeihen Sie, wenn ich Sie am Arm nehme. Mein Wagen wartet unten!«

Auf den Stufen des Hausaufganges kam ihnen Fräulein von Kritzing entgegen und sagte, starr vor Verblüffung: »Was ist denn los? So antworte doch, Jakobe! . . . Guter Gott . . . Sie ist ja wie eine Nachtwandlerin. Sie tastet sich ja bloß am Geländer herunter . . . Wo bringen Sie sie denn hin . . .?«

Und Sophie Neerlage sagte in ihrer entschlossenen, jeden Widerspruch abschneidenden Art: »Wohin sie gehört! . . .«

Sie hatte den Arm um Jakobe gelegt und half ihr in den Wagen. Zugleich rief sie dem Kutscher zu: »Nun vorwärts, Richard! . . . Zu Herrn von Wölsick, so schnell Sie können! Aber so, daß uns kein Schutzmann aufschreibt! Sonst verlieren wir wieder Zeit!« Dann sprang sie selber hinein und setzte sich neben die andere, und die Equipage flog, lautlos auf den Gummirädern zitternd, durch die Straßen. Pfeilschnell glitt an ihren Scheiben das winterliche Alltagsbild Berlins vorbei – die langen, nüchternen, schnurgeraden Häuserlinien der Friedrichstadt – die ewig gleichen Grünkramkeller und Eckdestillen und Zigarrenlädchen, die bimmelnden Straßenbahnen, da ein plötzliches Brausen und Tosen – der Potsdamer Platz. Und von seinem Geräusch erweckt, sah Jakobe Ansold auf und sah wirr um sich. Ihr war, als hätte sie die ganze Zeit geträumt. Sie war willenlos. Jetzt zum ersten Mal in ihrer langen Leidenszeit. Sie war in fremder Hand und fühlte keine Kraft zum Widerstand, nur eine dumpfe, furchtbare Angst: Wir kommen zu spät . . .

Und von der gleichen Besorgnis gejagt, öffnete Sophie Neerlage das Fenster und schrie dem Kutscher oben mit lauter Stimme durch das Wagenrasseln zu: »Schneller, Richard! . . . Es ist schon beinahe Zehn . . . auf der Normaluhr drüben!«

Zugleich hörte man von vorn einen Peitschenschlag. Der Wagen erhielt einen Ruck und schoß mit verdoppelter Geschwindigkeit vorwärts. Ein Schutzmann schrie etwas hinterdrein – oder war es ein eilig zur Seite springender Straßenfeger – ein grober Baß vom Bock antwortete – schon verhallte es – nur die acht Hufe klapperten in wirbelndem Takt auf dem Asphalt der Königgrätzer Straße. Und plötzlich kam Jakobe Ansold etwas zu sich und sah mit großen Augen ihre Begleiterin an und frug endlich tonlos: »Warum tun Sie denn das?«

»Was denn?«

»Wie kommen Sie dazu, sich meiner anzunehmen!«

»Sie sind ein Mensch wie ich! Und eine Frau wie ich!«

»Aber damit helfen Sie doch ihm! . . .«

»Hoffentlich!«

»Und er hat Sie doch gekränkt – beleidigt . . . er gibt Ihnen sein Wort zurück . . .«

»Nun – und? . . .«

»Das vergilt man doch nicht mit Gutem!«

»Liebe, gnädige Frau! Habe ich bisher auch nur mit einem einzigen Wort von mir geredet?«

»Nein!«

»Nun sehen Sie! . . . Wie ich den Brief bekam, da sagte ich mir: Hier sind zwei Menschenleben in Gefahr! Das ist die Hauptsache, dein eigenes Bißchen spricht da gar nicht mit! Du bist schon mit ganz anderen Dingen im Leben fertig geworden!«

Sie brach ab. Es zuckte um ihre Lippen. Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Ich trag' auch mein Päckchen durchs Leben – glauben Sie mir!«

Sie fühlte eine Berührung. Jakobe Ansold hatte leise ihre Hand auf die ihre gelegt, und nun wandte sich Sophie Neerlage ganz zu der jungen Frau und sagte: »Wir kennen uns nicht und werden uns nicht kennen und sind heute zum ersten und letzten Mal im Leben beisammen. Sie fragen mich, woher nehm' ich die Kraft, ein bißchen selbstlos zu sein? Die Kraft hab' ich eben daher, woraus Sie die Ihre bisher hatten – aus dem, was nicht sein soll! . . . Ich will Ihnen nur das eine sagen: Ich kenne einen – seit Jahren – Wenn der mein Mann wäre, wäre ich glücklich. Und wenn er mich sieht – wir sehen uns viel zu oft – dann lacht er und erzählt mir von seiner Frau und seinen vier Buben! Und ich lache mit über seine Ahnungslosigkeit!«

Wieder spürte sie den Druck von Jakobes Hand und schloß: »Aber nun genug! . . . Was liegt an mir! Mich kann der, zu dem wir fahren, um kein Haar reicher oder ärmer machen als ich bin! . . . Der ist für Sie! Ich kenn' mein Los . . .«

Sie schwieg und schaute vor sich hin. Für einen kurzen Moment war sie mit ihren geistigen Augen weg von Berlin, drüben in Wannsee, aber nicht vor dem Hause ihrer Eltern. Dicht daneben prunkte eine andere Villa – der Name: »Dr. ing. Schmidt von Wildenwarth« stand am Gitter des Parkes. Innen spielten die Kinder . . . Und deren Vater ging oft von dort hinüber zum Nachbar, dem Generalkonsul. Aber er trug jedesmal eine dicke, schwarze Mappe unter dem Arm. Er kam nur in Geschäften. An etwas anderes hatte er noch nie gedacht, wenn er die Schwelle der Neerlages überschritt . . .

In der Schneeluft war ein Glanz von goldenen Kuppeln – das Reichstagsgebäude – ein bronzener General stand da zwischen Sphinxen und Panthern – Bismarck – und Sophie Neerlage richtete sich auf und sagte ruhiger: »Gleich sind wir da! Ich denke, wir erreichen das Haus noch vor ihm!«

Jakobe Ansold erwiderte nichts. Aber sie ließ ihre Hand nicht aus der der anderen. Eng aneinander gerückt wie zwei Schwestern legten sie den Rest der Fahrt zwischen Leben und Tod zurück. Dann hielt der Wagen. Sophie Neerlage sprang zuerst heraus und eilte die paar Stufen zur Haustüre empor. Die war offen. Michael stand in ihr. Seine gewohnte, bekümmerte Ruhe war von ihm gewichen. Als der kleine, schmächtige Mensch Sophie Neerlage erblickte, glänzte ein Schimmer der Erleichterung über sein Gesicht. Und sie frug rasch, noch von unten: »Herr von Wölsick zurück?«

»Noch nicht, gnädiges Fräulein!«

»Sie wissen auch nicht, wo er bleibt?«

»Er muß jeden Augenblick kommen!«

»Gut!«

Sie reichte Jakobe die Hand und führte die Willenlose mit sich die Stufen hinauf und in die Parterre-Wohnung, deren Türe der vorausgeeilte Michael aufstieß. Und auf ihn weisend sagte sie zu ihrer Begleiterin: »Wenn alles noch gut endet, dann ist der da sein Lebensretter! Er hat heute morgen eine Riesendummheit gemacht . . . Gott sei Dank . . .«

»Gnädiges Fräulein . . . ich dachte . . .«

»Ja. Sonst gibt's regelmäßig ein Unheil, wenn Ihr zu denken anfangt! Aber diesmal schlägt's hoffentlich zum Glück aus . . .«

»Gnädiges Fräulein . . . ich glaube . . . den Fehler hätte jeder begangen! Wo doch der Diener des Herrn Generalkonsul zufällig gerade da war und ich sah den Brief an das gnädige Fräulein unter dem Briefbeschwerer liegen . . . da kam ich doch natürlich auf die Idee . . .«

Sophie Neerlage hörte Michael nur halb zu. Sie blickte in dem Zimmer umher.

»Da lag der Brief? . . . Auf dem Schreibtisch? . . . Unter der Sphinx? Und da ist noch ein anderer! Er ist an Sie adressiert, gnädige Frau. Er gehört Ihnen! Lesen Sie ihn, ehe er kommt! dann wissen Sie noch mehr, als ich armer Helfershelfer Ihnen sagen kann!«

Sie drückte Jakobe die engbeschriebenen Bogen in die Hände. Und die tat mechanisch, was man ihr geheißen. Sie begann zu lesen. Ihre Finger zitterten, während sie Blatt um Blatt umschlug, ihre Lippen bewegten sich, als flüsterten sie lautlos mit, was ihr Auge überflog – sie sah und hörte nichts mehr von der Außenwelt. Und inzwischen stand Sophie Neerlage einige Schritte abseits von ihr, um sie nicht zu stören, und schaute sich in dem Zimmer um, das so seltsam in Ordnung war. Alles aufgeräumt und eingepackt wie beim Antritt einer großen Reise. Wider Willen überlief sie ein leiser Schauder vor der Nähe einer unsichtbaren, dunklen Macht, die schon halb von diesem Raum und seinem Bewohner Besitz ergriffen hatte . . .

Da hörte sie ein schweres Aufatmen. Jakobe Ansold hatte den Brief zu Ende gelesen. Sie legte die Hand über die Augen. So lehnte sie stumm an der Wand. Und endlich flüsterte sie – es rang sich erschüttert aus ihrer tiefsten Seele: »Ich hab' ihm Unrecht getan . . .«

»Wie er zuvor Ihnen!«

Sophie Neerlage war von neuer Angst ergriffen. Sie klingelte und frug den eintretenden Michael: »Wo bleibt denn nur Ihr Herr?«

»Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein!«

»Können Sie nicht einmal den Rechtsanwalt antelephonieren, ob er noch dort ist!«

»Das hab' ich schon! Der Bureauvorsteher hat eben geantwortet, er wäre vor zehn Minuten weg!«

Und beinahe zugleich machte der Diener freudig mit dem Arm eine Bewegung nach dem Fenster: »Da kommt der gnädige Herr!«

Erich von Wölsick ging langsam über den Fahrdamm auf sein Haus zu. Er stützte sich leicht auf einen Stock, sein Gesicht war düster und bleich, seine Haltung aufrecht wie immer. Er schaute vor sich zu Boden. Sophie Neerlage faßte Jakobe an der Hand.

»Kommen Sie ins Nebenzimmer. Ich will zuerst mit ihm sprechen!«

Während sie über die Schwelle traten, rasselte draußen im Flur der hastig in das Schlüsselloch gestoßene Drücker. Michael war seinem Herrn entgegengeeilt. Er stotterte vor Aufregung: »Gnädiger Herr . . . eben ist . . .«

Und da hörte man Erich von Wölsicks Stimme: »Michael! Ich habe Sie nicht gefragt!«

Er hatte Zylinder und Pelz abgelegt und war in sein Arbeitszimmer getreten. Von dort aus sagte er über die Schulter zurück mit einer bei ihm ungewöhnlichen Sanftmut, aber doch bestimmt: »Michael . . . ich beobachte seit einiger Zeit, daß Sie sich das Schwatzen angewöhnen! Kaum komm' ich nach Hause, so überfallen Sie mich jedesmal mit tausend Dummheiten! Ich bin dazu gerade heute gar nicht in der Laune. Ich will nichts mehr hören!«

»Aber . . .«

»Still!«

Er ging zum Schreibtisch. Plötzlich schrie er auf.

»Michael . . .«

»Ja, gnädiger Herr!«

»Wo sind die Briefe . . . die beiden Briefe, die hier lagen . . . unter der Sphinx . . . links in der Ecke . . .?«

»Die Briefe . . .«

»Michael – um Gottes willen . . . Sie haben sie doch nicht etwa frankiert und in den Kasten gesteckt . . .?«

»Aber gnädiger Herr . . . das tu' ich doch nie . . .«

»Gott sei Dank.«

Erich von Wölsick murmelte es. Er war immer noch ganz fahl von nachträglichem Schrecken und stützte sich auf die Tischkante, so zitterten ihm die Knie. Dann frug er ungeduldig: »Aber wo haben Sie sie denn hingelegt? Sie sollen doch nichts anrühren! Das könnten Sie doch wahrhaftig wissen!«

»Gnädiger Herr! . . . Der Brief an Fräulein Neerlage . . .«

»Jawohl! der lag zu oberst!«

»Deswegen las ich beim Abstauben unter dem Briefbeschwerer die Adresse. Und wie heute früh nun der Diener von Frau Generalkonsul Neerlage kam und das Billett an den gnädigen Herrn brachte, da dachte ich, es ist am einfachsten, ich spare nachher einen unnötigen Gang und gebe ihm den Brief an Fräulein Neerlage gleich mit!«

»Und das haben Sie getan?«

»Ja, gnädiger Herr!«

»Und Fräulein Neerlage hat den Brief? . . . seit Stunden?«

»Ja, gnädiger Herr!«

Erich von Wölsick taumelte. Er fuhr sich mit der Hand an die Kehle, wie um sich Luft zu schaffen. Dann keuchte er: »Hinaus! . . . Auf der Stelle! . . . Ich muß jetzt gleich . . . Kommen Sie nicht wieder, bis Sie etwas von mir hören! . . . Lassen Sie niemanden vor . . . verstehen Sie . . . niemanden, wer es auch sei . . .«

»Ich bin schon da!« sagte Sophie Neerlage.

Sie stand zwischen Tür und Angel. Er prallte zwei Schritte zurück und sah sie ungläubig mit schreckensgroßen Augen an. Michael schlüpfte aus dem Zimmer. Es war ein schweres Schweigen. Dann sagte Erich von Wölsick gebrochenen Tons: »Verzeihen Sie mir! . . . Es ist das Schlimmste, was mir noch widerfahren konnte. Dieser elende Mensch ist daran schuld!«

Sophie Neerlage zuckte die Achseln.

»Schelten Sie ihn nicht! Das Schicksal hat oft blinde Werkzeuge! Gerade wenn es uns gut gehen soll!

»Das kann ich in diesem Fall nicht finden!«

»O doch!«

Sie schauten sich an. Dann versetzte er finster: »Sie werden mich nicht hindern, es zu vollbringen! Gerade jetzt, wo der Verdacht einer schmählichen Komödie . . .«

»An die glaubt niemand, der Sie kennt! Aber es wird nicht mehr nötig sein, Herr von Wölsick! Sie haben nun genug gelitten und Ihr Teil abgebüßt . . . Sie sind jetzt da, wo Sie von Anfang an hinsollten, ohne es zu merken! Und Frau Ansold auch . . .«

Er zuckte beim Klang dieses Namens aus ihrem Munde zusammen, und sie fuhr fort: »Wenn es auch von beiden Seiten ein Dornenweg war – es ist doch gut, daß man sich schließlich in der Mitte trifft . . .«

Er lachte bitter auf.

»Welche Macht der Erde brächte sie wohl zu mir!«

»Dies Wunder hab' ich schon getan . . . Gehen Sie einmal – oder – halt – geben Sie mir vorher Ihre Hand!« Sie ergriff sie, da er betroffen zögerte, und schüttelte sie kräftig. »Wir wollen vorher voneinander Abschied nehmen, als gute Kameraden – ohne Groll im Herzen . . . so . . . und für immer . . . und nun, Herr von Wölsick, gehen Sie da hinein!«

Er verstand sie nicht. Er warf einen fragenden Blick auf sie. Aber er setzte doch unschlüssig den Fuß über die Schwelle.

Da stand Jakobe. Er starrte sie an. Er glaubte nicht an sie. Er wagte sich nicht in ihre Nähe.

Ein, zwei Sekunden waren, in denen man nur das Ticken der Wanduhr auf dem Kaminsims hörte. Dann machte sie, ihn anschauend, eine kaum merkliche, fast hilflose Bewegung mit den Händen. Sie breitete sie ein wenig auseinander. Es war wie ein einfaches: Da bin ich! . . .

Da schrie er auf und stürzte auf sie zu. Und sie ihm entgegen. Sie konnten sich nicht mehr zurückhalten. Das Zimmer hallte wider von zwei erstickten, abgebrochenen Rufen. Sie hatten sich umschlungen. Sie vermochten nicht zu reden. Sie raubten einer dem andern den Atem, so preßten sie sich aneinander und suchten zwischen Weinen und Lachen ihre Lippen.

Sophie Neerlage ging leise aus dem Gemach. Draußen war der Alltag. Grämlicher Winternebel lastete über der Straße, wo ihr Kutscher langsam die dampfenden Pferde auf und ab fuhr. Sie winkte ihm und stieg ein. »Nach Hause!« sagte sie. Dann lehnte sie sich in die Polsterecke und legte den Kopf zurück und schloß die Augen, während der Wagen rasch mit ihr davonrollte, in das unbestimmte Grau hinein, das ihr die Sonne verhüllte . . .

Die beiden anderen hatten nicht auf sie geachtet. Für sie gab es keinen dritten Menschen mehr. Sie standen stumm und hielten sich umschlungen. Jakobe lehnte ihr Haupt an seine Schulter. Es war ganz still um sie. Und in ihnen das ewige Hohelied der Seelen: Ob wir leben oder sterben, so sind wir der Liebe . . .

 


 


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