Rudolph Stratz
Herzblut
Rudolph Stratz

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VIII

Den ganzen Tag wirbelten die Flocken und ebenso den folgenden und übernächsten. Der Winter kam. Die Welt ward weiß. Aller Lärm des Lebens gedämpft. Selbst in Berlin. Vor dem Kritzingschen Hause im Südwesten herrschte so tiefe Stille wie um einen verschneiten Gutshof auf dem Lande. Nur die Kirchglocken brummten von ferne über das Dächermeer. Es war Sonntag vormittag. Der letzte Advent. In drei Tagen feierte man Weihnachten. Von den paar Menschen, die man unten auf der Straße gehen sah, trug jeder sein Päckchen Freude für den Nächsten unter dem Arm, und hinter manchem wanderte der Tannenbaum auf der Schulter des Trägers heimwärts in die vier Wände.

Das alte Fräulein von Kritzing besaß keinen Verwandtenkreis, den sie beschenken konnte. Aber sie saß trotzdem geschäftig oben in ihrer Wohnstube und putzte sich ihr eigenes kleines Bäumchen mit altmodischem Flittergold und Glastand wie jedes Jahr. Sie hatte auch noch eine stattliche, drei Meter hohe Weihnachtstanne hinten im großen Schulsaal, wo heute abend die Armenbescherung stattfand. Alle Mädchen und ihre Eltern hatten Gaben dazu beigesteuert, wohl fünfzig Witwen und Waisen erhielten ihr Scherflein – es gab Gesang und Kaffee und Kuchen – eine Anzahl Lehrerinnen steckten jetzt eben drüben die Wachslichter auf die grünen Zweige, aber sie selber, die Schulvorsteherin, hatte nun hier ihr Feiertagsstündchen für sich, und allerhand Träumereien gingen ihr durch den Kopf, – Erinnerungen – nahe und ferne – von der Zufriedenheit des Alters gesättigt – es war ja auch so gut, wie es gekommen, sie hatte ihr Heim – sie hatte Jugend und Kinder um sich her – jeder Tag war ein Stück Tat – die Leere des Lebens fehlte – und so schaute sie heiter von ihrer Arbeit auf, als Jakobe Ansold eintrat, und sagte: »Ein Segen, daß ich kein Mannsbild bin! ich würde mich auch noch auf meine alten Tage in dich verlieben. Du bist zu schön . . .«

Die junge Frau erwiderte darauf nichts. Sie stand mitten im Zimmer, hoch und schlank, von den schwarzen Falten des Kleides umrieselt, einen schwarzen Hut und Schleier auf dem blonden Haar, und streifte sich den einen Handschuh über den weißen Arm. »Kann ich das Mädchen nach einem Wagen schicken?« frug sie.

»Ja natürlich! Wohin willst du denn?«

»Ich muß zu meinen Geschwistern. Du weißt: ich tue es nie gerne. Aber da Papa befiehlt . . .«

Sie reichte der andern eine Rohrpostkarte, und die las:

»Liebe Tochter! Seit zwei Sonntagen habe ich Dich nicht mehr bei Axels getroffen! Heute erwarte ich Dich bestimmt. Ich habe Ernstes mit Dir zu besprechen!

Dein treuer Vater.«

»Der unordentliche alte Mann!« Fräulein von Kritzing schüttelte lebhaft und mißbilligend den Kopf, »na . . . überhaupt . . .«

In diesem »überhaupt« war aller Groll der greisen kleinen Dame gegen den vergnügten alten General von Dolmar gesammelt. Sie sagte weiter nichts. Denn Jakobe achtete doch nicht auf ihre Worte, sondern war, nachdem sie das Mädchen weggesandt, an das Fenster getreten und schaute auf die Straße hinaus. In scheuer Vorsicht streiften ihre lebhaften blauen Augen die Häuserreihen rechts und links. Sie hatte ihrer Tante nie verraten, warum sie eigentlich seit Wochen den Fuß nicht mehr aus dem Hause gesetzt, sondern es nur mit ihrem Wunsch nach völliger Zurückgezogenheit erklärt. Sie wollte ihr nicht erst noch Erich von Wölsick zeigen, wie er so oft im Abenddämmern vor dem Portale Posten stand und dann auch am hellen Mittag wie eine Schildwache davor auf und nieder ging . . . Und seit einer langen Reihe von Tagen war er ja auch plötzlich weggeblieben. Sie wußte nichts mehr von ihm, nicht einmal, ob er überhaupt noch in Berlin war – oder wo sonst. – Sie trat in das Zimmer zurück und sah dem alten Fräulein beim Christbaumschmücken zu, mit einem seltsamen unerbittlichen Zug um den Mund, einem versteinerten Lächeln, so wie man im Schmerz ein spielendes Kind beobachtet, und jene frug, ohne aufzuschauen mitten in ihrer Geschäftigkeit: »Fein wird er – nicht? klein, aber mein! . . . so halte ich's nun jedes Jahr. Und diesmal sind wir gar zu zwein! armes Kind . . . du sollst doch wenigstens dein Bäumchen haben . . .«

»Ich brauche keines!« sagte Jakobe.

Die andere blickte sie vorwurfsvoll an.

»Aber Kind . . . Sei doch nicht so hart!«

»Ich bin eben darüber hinaus! Feiert doch eure Feste! Ich stehe gern abseits . . .«

»Das ist aber gar nicht recht!«

Die junge Frau setzte sich neben die Tanne. An der hing eine goldene Nuß. Die drehte sie zwischen ihren schmalen, schwarz behandschuhten Fingern.

»Das ist Spielzeug!« sagte sie. »Fast alles, was man hat, ist Spielzeug. Man wirft es weg, wenn man weiß, was das Leben eigentlich bedeutet! Oder man wird weggeworfen! zum Glück wissen das die wenigsten. Es kann jeder froh sein, dem es erspart geblieben ist. Du auch! man kommt sich dann vor wie ein Erwachsener unter Kindern. Der begreift auch nicht, was die alles wichtig nehmen und woran sie sich freuen. Zumal jetzt zu Weihnachten! Da tut doch jeder, als ob es wirklich Liebe auf der Welt gäbe und heilige Dinge, die man nicht mit Füßen treten darf . . .«

»Jakobe . . . versündige dich nicht!«

»Man hat sich an mir versündigt, Tante!«

»Das weiß ich! aber das gibt dir kein Recht, dein Herz so zu verhärten!«

»Doch! ich bin hart! Gott sei Dank! was würde denn sonst aus mir werden!«

Ein verächtlicher Zug lief dabei wieder über ihr Antlitz, das in den letzten Wochen blasser und schmaler geworden war, und sie setzte hinzu: »Über das alles soll man nicht reden! wir müssen so sein! und ihr andern wißt nichts davon! Mir ist alles so gleich – so furchtbar gleich . . . es dringt gar kein Laut davon in meine Einsamkeit . . .«

»Deine Einsamkeit! . . . Du hast doch mich hier . . .«

»Gewiß, Tante – ich bin dir ja auch dankbar!«

». . . und wenn meine Gesellschaft auch nicht viel heißen mag – du hast doch deinen Vater hier – deine Geschwister . . .«

». . . und wenn ich sie sehe, ist mir's recht! und wenn ich sie nicht sehe, ist es mir auch recht!« sagte Jakobe. »Ja – schau mich nur so an! . . . so bin ich! das hat man aus mir gemacht! . . . ich kann nichts dafür – es ist alles in mir abgestorben – ich glaube an nichts mehr! Ich liebe nichts mehr . . .«

»Jakobe! das ist ein furchtbares Wort!«

»Nichts!« die junge Frau schlang die Hände ineinander. »Das ist doch das letzte, was jemand in meiner Lage noch hat, das Gefühl, daß einem nichts mehr passieren kann und nichts mehr genommen werden kann . . . das ist ein Bettelstolz – durch den halte ich mich aufrecht. Und nun . . . hoffentlich kommt bald der Wagen . . .«

Sie stellte sich wieder an das Fenster und sah hinaus, und die Schulvorsteherin seufzte und ging, die Türe offen lassend, über den Flur in das kleine Hofzimmer, wo die Gaben für die Armenbescherung aufgestapelt lagen. Was da dem alten Kleiderzeug und Schuhwerk an muffigem Geruch entströmte, das übertäubte der süße Duft von Pfefferkuchen und Äpfeln, und zwischen ihnen lugten zersprungene Puppenköpfe und abgegriffene Hampelmänner und stand ein an den Seiten haarlos gewordenes Schaukelpferd, und das alte Fräulein warf einen mütterlich wohlwollenden Blick über das Ganze und horchte auf. Unten im Hof tönte durch die tiefe Stille plötzlich ein vielstimmiger Gesang. Wie ein Schwarm verflogener kleiner Dohlen hoben sich vom Weiß des Bodens die schwarzen Radmäntelchen der Kurrendeknaben ab, die im Schnee und Flockengewirbel beisammen standen, und die hellen Kinderstimmen klangen:

Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft! einsam wacht
Nur das traute, hochheilige Paar . . .

und die alte Dame eilte nach vorn zurück, um rasch ein Fünfzigpfennigstück in Papier zu wickeln und hinunterzuwerfen, und blieb auf der Schwelle erschrocken stehen und rief: »Um Gottes willen!«

Jakobe Ansold kniete am Boden, die Stirne gegen die Kante des Stuhles gepreßt, von dem sie herabgesunken war. Ein verzweifeltes Schluchzen erschütterte ihren Körper. »Schicke die Kinder weg!« murmelte sie. »Schicke sie weg! ich bitte dich! ich kann's nicht hören!«

Immer noch scholl laut, beinahe jubelnd die alte Weise des Weihnachtsliedes zu den beiden herein. Jakobe stand auf. Sie hob die Hände, als wolle sie sie gegen die Ohren pressen, um nichts mehr zu vernehmen, dann ließ sie sie wieder sinken und sagte mit erstickter Stimme, während ihr die heißen Tränen über die Wangen rannen: »Vor einem Jahr hab' ich ihn doch wenigstens zum Fest bei mir gehabt, die acht Tage! zu putzig hat er dagesessen, das kleine Männchen mit seinem roten Kragen! Er ist doch mein Sohn! Gott – was hat der Bub' gegessen in der kurzen Zeit – . . . ich hab' nur immer für ihn backen und kochen können und ihm alle Taschen vollgestopft, wie er wieder zurück ist ins Kadettenkorps! und die Jahre vorher habe ich ihn doch ganz gehabt . . . ganz, ganz für mich . . . und jetzt? . . . Wo ist er jetzt? . . . Was hab' ich jetzt? . . . und wie Kinder sind, er wird gar nicht an mich denken . . . er ist auch so zufrieden . . . Kinder vergessen so schnell . . . und ich . . .«

Sie sank, von neuem weinend, auf einen Stuhl und bedeckte ihr Antlitz mit den Händen, und Fräulein von Kritzing stand längere Zeit schweigend neben ihr und versetzte endlich leise: »Ich denke, Jakobe: Du hast niemanden mehr auf der Welt lieb!«

»Das rächt sich . . .« sagte es drüben dumpf hinter den vorgehaltenen Händen. »Das rächt sich.«

Und dann war es abermals eine Weile zwischen ihnen still. Unten im Hof verstummte der Gesang. Noch ein Scharren von Füßen im Schnee. Wieder war die bleierne Berliner Sonntagvormittagruhe überall.

Jakobe Ansold stand auf. Sie trocknete sich vor dem Spiegel die Augen. Allmählich gewann sie ihre Fassung wieder.

»Nun hast du mich einmal schwach gesehen!« sagte sie schmerzlich lächelnd. »Das ist die einzige Stelle, wo ich's bin . . .«

»Es wäre auch schrecklich, wenn es nicht so wäre . . .«

»Und doch besser! Man müßte über alles hinaus sein – wenn man nur könnte! . . . dann wäre man eben kein Mensch mehr . . . und keine Mutter . . .«

Das Mädchen kam und meldete, daß der Wagen warte. Jakobe reichte ihrer Tante die Hand und die sagte, innerlich wie immer etwas erbost gegen die Dolmars: »Na – viel Vergnügen! Grüße deinen Vater . . . und deinen Bruder . . . und in Gottes Namen auch deine Schwägerin, die kleine Holz-Huschke . . . neulich war ihr Vater, der alte Waldschlachter, wieder einmal in Berlin. Am Abend ist er mit deinem Vater bummeln gegangen, die Friedrichstraße lang, so mitten in die Verderbnis hinein. Und wann die beiden alten Sünder nach Hause gekommen sind, darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. Das böse Beispiel fehlt deinem Vater gerade noch . . . na . . .«

Jakobe ging, ohne das Ende ihrer Redseligkeit abzuwarten. An der Schwelle des Torwegs sah sie sich noch einmal nach beiden Seiten um. Nur harmlos zufriedene Sonntagsgesichter, die weißen Flecken der unter den Armen getragenen Weihnachtspakete belebten die Straße. Von Erich von Wölsick war nichts zu erblicken. Da stieg sie ein und atmete tief auf, als der Wagen durch den braunen matschigen Schnee dahinrumpelte. Seit Wochen hatte sie keine frische Luft mehr geschöpft. Nun benahm ihr die herbe kräftige Winterkälte den Kopf. In sich versunken saß sie da. Sie wünschte sich, sie wäre schon von diesem Pflichtessen bei ihren Verwandten zurück und wieder allein in ihrer Stube. Sie wußte ja im voraus, wie diese Familienzusammenkünfte verliefen, zu denen sich die Dolmars allwöchentlich reihum versammelten, in der Mitte Papa, der gute, alte, fidele Papa, im leichtlebigen Zivil von Wiener Schnitt, das ihm, dem kleinen unruhigen Herrn mit dem gesträubten grauen Schnurrbart, eigentlich viel besser stand als früher der Scharlachprunk der Generalsuniform, und Axel, sein Sohn von der Garde, ein langer hübscher Mensch, der jetzt, nach einem Jahr, immer noch über seine neue Würde als Hausherr und Familienvater etwas betreten aussah, und seine Frau, die geborene Huschke – das gab einen kleinen Judaskuß, wenn sie die in Scheidung liegende Schwägerin begrüßte. Denn das ganze magere, ehrgeizige Persönchen lebte ja nur in einem Zittern und Bangen um ihre gesellschaftliche Stellung im sechsten Garderegiment. Und rundherum war noch ein halbes Dutzend Uniformen und Damenkleider – man unterschied die meisten Dolmars noch am besten durch die Nummern auf ihren Achselstücken – und dazwischen Jakobes jüngerer, unverheirateter Bruder Martin in dem blauen Tuchrock des Seeoffiziers.

Und wovon sie sprechen würden? Sie schloß die Augen. Sie kannte es jetzt schon. Der gute Papa saß da und erzählte . . . und erzählte . . . er hatte immer tausend Neuigkeiten an der Hand – sein ganzes Dasein, seit er den Abschied genommen, war eine Jagd nach dem letzten, was Berlin eben bot, von der Tribüne des Reichstags oder aus dem Zuhörerraum in Moabit, vom Moselweinfrühschoppen in der Potsdamerstraße, vom Schachturnier, der Automobilausstellung, der Kolonialgesellschaft – er war nicht wählerisch – ihn interessierte alles!

Und schwieg er, dann unterhielten sich die um ihn von der Armee – von den Versetzungen und Beförderungen – und ob Leopold noch nicht bald zum Major heran sei und wie Martha mit den Kindern den Winter in Ostpreußen vertrüge, nachdem sie doch an das milde Metzer Klima gewöhnt seien, und daß Max das Kommando nach Spandau nun doch nicht gekriegt habe und warum Ludwigs wohl dies Jahr keinen längeren Urlaub genommen . . . das schwirrte und klang einem um die Ohren . . . Jakobe seufzte ungeduldig. Was tat sie dort? sie würde mit leeren Augen dasitzen – stumm – von scheuen besorgten Seitenblicken gestreift. Eine von Mann und Kind getrennte, in Berlin um ihr Leben arbeitende Frau – dafür gab es keine Begriffe und keine Überlieferung in dem alten Clan der Dolmar. Da versagte innerlich der Zusammenhang der Familie. Diese Verwandten alle – namentlich die männlichen – dachten zu vornehm, um sie zu verleugnen. Aber es war keinem wohl in ihrer Nähe. Das fühlte sie immer wieder und hatte nur ein gleichgültiges Lächeln dafür.

Und dies Lächeln behielt sie auch, als sie angekommen war und zwischen den andern saß. Es war alles wie sonst. Die Sippe vollzählig bis auf Martin, den Marineoffizier. Der blieb unentschuldigt aus. Man wartete auf ihn eine Weile. Dann ging man ohne ihn zu Tisch, und gegen Ende des Mahls, beim Braten, hielt der General, Jakobes Vater, neben dem sie saß, seine übliche kleine Rede. Er sprach gern. Zu gern und zu viel. Das war eine Schwäche bei ihm. Sie hatte sich schon gegen Schluß seiner Dienstzeit bemerkbar gemacht und seine plötzliche Abhalfterung, wie er selber es nannte, beschleunigt. Aber heute hatte er wenigstens einen Grund, sich zu räuspern und Stillschweigen zu gebieten. Es war das letzte Mal, daß sich die Dolmars in diesem Jahr versammelten.

»Kein schönes Jahr, Kinder!« sagte der energische kleine Herr, dem der Wein die Wangen schon etwas gerötet hatte. »Ne – ein verfluchtes! . . . Nichts wie Pech! . . . Na – daran sind wir Dolmars ja nu' schon gewöhnt. Wir haben nie im Fettnäpfchen gesessen! Seit sechshundert Jahren geht's mit uns rapide bergab! ein Wunder, daß wir noch so weit leidlich auf dem Posten sind! . . . kräftige Rasse . . . wir haben alle nischt mehr – darum halten wir so schön zusammen . . . ich glaube, die Blumentöppe da drüben, vor den Fenstern – das ist der letzte Grund und Boden, den die Dolmars noch bewirtschaften – der Rest hat sich so sachte verkrümelt – aber die Blumentöppe werden wieder blühen und wir blühen auch – nu' gerade! Wir sind eine verflucht zähe Gesellschaft – das haben wir schon oft bewiesen . . . und das ist mein Trost, in dem Pech, wie gesagt, vom letzten Jahr, das sich nun gerade unsere arme Jakobe hier ausgesucht hat! Ja – sie sitzt da und lächelt, als ginge sie das gar nichts an! . . . Gehört sich auch für ein Soldatenkind! . . . Ich bin auch nicht für die Wehleidigkeit! . . . Ich will hier nicht heulen, sondern recht klar und kräftig sagen: Blut ist dicker als Wasser! . . . Du sollst nicht allein stehen! . . . Du sollst wissen, daß du immer deinen Vater hinter dir hast! und die anderen da auch! . . . komm her, mein altes Mädel . . . gib mir 'nen Kuß! So . . . Kopf hoch! nur Mut! es wird auch wieder Sonnenschein!«

Der kleine General hatte sich selber in Rührung geredet. Die kam jetzt, je älter er wurde, desto häufiger über ihn. Seine Augen waren feucht, als er seine schöne Tochter auf die Stirne und die Lippen küßte. Sie ließ es schweigend geschehen und beugte den blonden Kopf zu ihm hinunter. Ihr Gesicht blieb unbewegt. Es zeigte immer dieselbe seltsame, halb abwesende Scheuheit, als glaube sie das alles nicht, was um sie vorging, als sei das alles nur für die andern, die vielen, die da draußen, nicht für sie.

Und so saß sie auch nach Tisch ihrem Vater in einem Nebengemach gegenüber. Unter vier Augen. Er hatte es so gewünscht und sich mit ihr dahin zurückgezogen, und nun begann er: »Jakobe, mein Kind . . . ich möchte mal ernst mit dir sprechen! Du hast mich bei deinen Entschlüssen von vornherein ausgeschaltet – schön . . . schön . . . aber schließlich mache ich nun doch ein Väterliches Recht auf ein bißchen Neugier geltend und muß mir die Frage erlauben: wie soll denn das nun eigentlich so weiter gehen? Du kannst doch nicht bis in die Puppen bei der alten Kritzing sitzen!«

»Warum denn nicht?«

»Und wenn sie mal ihre Schule verkauft?«

»Es wird sich schon etwas anders für mich finden!«

»Aber nichts, was mir paßt, meine liebe Tochter! ich bin auch kein Jüngling mehr . . . unser Herrgott kann jeden Tag mit mir abfahren . . . vorher möchte ich doch beruhigt sein und wissen, was aus dir wird! . . . Jetzt bist du noch bei einer Verwandten! . . . Schließlich kommst du ganz unter fremde Leute! Eine Frau mit deinem Äußeren und . . . ich muß es ja wahrhaftig schon aussprechen . . . mit einer Art von Vergangenheit . . . bestes Kind . . . bedenke doch . . .«

»Lieber Gott . . .« sagte Jakobe verächtlich. Weiter nichts.

»Als ob ich dich nicht kennte, Jakobe! Sieh . . . du hast einen schlimmen Feind im Leben! das bist du selbst . . . mit deinem Ungestüm und deiner Starrköpfigkeit. So warst du schon als Mädchen. Es hat mich oft erschreckt. Ich hab' das Meine getan. Ich hab' dafür gesorgt, daß du einen ordentlichen Mann bekamst . . . umsonst . . . nun ist das Unglück doch da . . .«

Jakobe Ansold hob den Kopf: »Weißt du, Papa, wer das Unglück über mich gebracht hat?«

»Nun?«

»Du!«

»Ich?« Der Generalmajor stand auf und hob seine kleine gedrungene Gestalt in den Schultern. Der gewöhnliche freundliche und leutselige Ausdruck seines Gesichts verwandelte sich erst in Staunen, dann in Zorn. »Na – das geht denn doch über das Bohnenlied! ich? ja – was fällt dir denn ein? . . . ich glaub' wirklich, du bist nicht mehr ganz bei Trost! Ich fürchte es ohnedies schon die ganze Zeit . . .«

Jakobe war sitzen geblieben. Sie versetzte ruhig: »Erinnere dich einmal an die Zeit, Papa, wo mein Mann um mich anhielt. Damals wollte ich nicht. Durchaus nicht. Ich sagte es euch offen und ehrlich, daß ich ihn nicht liebte – und ich weiß noch, was das für eine Art von Schrecken für mich war – mir mit meinen achtzehn Jahren schien die Liebe das Höchste, und es war mir ganz natürlich, daß sich alles im Leben um sie drehen müsse – und ihr spracht immer vom Kommißvermögen, als ob das das Glück auf Erden sei. Und nun wundert ihr euch, daß es unglücklich ausgegangen ist . . .«

»Jawohl! Weil es nicht nur Liebe gibt, meine Tochter, sondern auch ein Ding, das Pflicht heißt, und . . .«

»Sag, Papa: hast du nicht meine gute selige Mama aus Liebe geheiratet?«

»Ja!«

»Und warst du nicht sehr, sehr glücklich mit ihr?«

»Ja, Gott sei Dank.«

»Warum hast du mir dann von vornherein einen Riegel vor das Glück geschoben, das du gehabt hast?«

Der General sah sie einen Augenblick verwirrt an. Dann brauste er auf: »Weil deine Mutter zufällig ein bißchen Geld gehabt hat! Das ist auf eure Erziehung draufgegangen! Frag mal den Schlingel da drinnen, wo es geblieben ist, und seinen Bruder! . . . ich habe keine Möglichkeit gehabt, Schätze zu sammeln! Nischt hast du besessen, meine Tochter – nischt! . . . sollte ich dich im Leben zurücklassen wie einen kahlen Spatz? Und der Ansold hatte Geld und war auch im übrigen – Sollte ich dir ein halbes Dutzend zur Auswahl auf dem Präsentierteller bringen? So dicke sitzen die Schwiegersöhne bei uns nicht! Ach ne – keine Vorwürfe, wenn ich bitten darf! . . . die hab' ich, weiß Gott, nicht verdient . . .«

»Ich mache auch gar keine! . . . ich wehre sie nur ab.«

Der kleine Herr zuckte die Achseln und ging im Zimmer auf und nieder.

»Na – lassen wir das!« versetzte er endlich. »Dabei kommt nichts heraus! . . . Ich gebe zu: dein Mann ist nicht sehr amüsant! . . . Er hat direkt was Ledernes an sich! er würde mir auch manchmal auf die Nerven fallen! . . . aber nun sage ich eines: er ist der Vater deines Sohnes! . . . Jakobe: dies Wort spricht Bände!«

Jakobe Ansold schwieg. Ihr Vater setzte sich ihr gegenüber und fuhr gedämpft fort: »Kind . . . willst du nicht doch noch zu ihm zurück?«

»Niemals!«

Es entstand eine Pause.

»Gut!« sagte der General endlich hart. »Dacht' ich mir schon so! . . . Aber deswegen bin ich nicht sechzig Jahre lang mit Anstand auf der Welt, daß sich jetzt jeder sein Maul an meiner Tochter wetzen darf, wie's ihm beliebt! Bleibt also nur der Dritte!« er verstärkte seine Stimme. ». . . und das verlange ich jetzt im Namen der Familie, daß Herr von Wölsick endlich Farbe bekennt! Wenn dein Mann solch eine Schlafmütze ist, bekommt Herr von Wölsick es mit mir zu tun! Was denkt sich der Herr denn eigentlich? Glaubt er denn, wir Dolmars alle lassen so einfach Schindluder mit uns spielen? Verzeih den Ausdruck . . . aber . . .«

»Herr von Wölsick hat mich inständig gebeten, seine Frau zu werden! Er hat mir Briefe geschrieben – er hat tagelang in Schnee und Kälte vor meinem Haus gestanden . . .«

»Ja – nu' – und?«

»Ich hab' ihn abgewiesen!«

Der kleine General beugte sich aufmerksam vor und legte die Hand ans Ohr.

»Ich verstehe immer abgewiesen!« sagte er sanft. »Mein Gehör laßt überhaupt nach in letzter Zeit! . . . Ich muß wirklich mal zum Arzt!«

»Du hast mich ganz recht verstanden, Papa . . .«

Der alte Herr glaubte ihr immer erst halb. Er war ein Mann der guten alten Schule, der auch in seiner Tochter die Dame respektierte. Aber sein Gesicht färbte sich dunkelrot. Vor aufsteigendem Jähzorn. Er sprang empor und trat auf Jakobe zu. Doch mitten in der Bewegung hielt er inne . . .

Im Nebenzimmer, wo die Familie beisammen saß, war ein plötzliches Geräusch entstanden. Er hörte durch die verschlossene Türe die hastige Stimme seines jüngeren Sohnes, hinterher im Wirrwarr die anderer Offiziere, ein nervöses Aufschluchzen, das von seiner Schwiegertochter zu kommen schien – dann trat der Korvettenkapitän rasch ein.

Der kurzgeschnittene Vollbart gab ihm etwas über seine Jahre hinaus Männliches. Er hatte sonst das Liebenswürdige und Lebhafte vieler Marineoffiziere an sich – aber jetzt war er sehr ernst, blaß vor Erregung. In der Hand hielt er ein Zeitungsblatt.

»Nette Geschichten, Papa!« sagte er, fast ohne seine Schwester zu begrüßen. »Deswegen komme ich so spät! Ich bin in halb Berlin herumkutschiert. Da schau!«

Er gab ihm die Morgennummer eines Berliner Blatts, und der alte Herr setzte seinen Zwicker auf und las bedächtig, während seine Stimme allmählich zu zittern begann: »Wie wir erfahren, hat dieser Tage in der Forst bei Spandau ein Pistolenduell zwischen dem Majoratsherrn von Wölsick-Sommerwerk und dem Hauptmann Ansold des nahe bei Sommerwerk in Garnison liegenden 247. Infanterieregiments stattgefunden. Herr von Wölsick erhielt einen Schuß in das Bein, dessen Heilung mehrere Wochen in Anspruch nehmen dürfte. Sein Gegner blieb unverletzt. Über die unmittelbare Veranlassung zu dem Zweikampf verlautet nichts Bestimmtes. Hauptmann Ansold hat schon vor einiger Zeit gegen seine auffallend schöne Gattin, die der bekannten alten Militärfamilie von Dolmar entstammt, das Ehescheidungsverfahren eingeleitet . . .«

Der blonde Marineoffizier wartete kaum, bis sein Vater zu Ende gelesen. Er, der unverheiratet war und seinen Berliner Aufenthalt sonst sehr zwanglos ausnutzte, stand jetzt, wo es um den guten Namen der Familie von Dolmar ging, nach Art junger Leute an Eifer und Strenge der Grundsätze allen anderen voran.

»Es ist unerhört!« sagte er noch ganz atemlos vom raschen Treppensteigen. »Da stehen wir nun glücklich alle zusammen an dem Pranger! Ich denke, mich rührt der Schlag, wie ich harmlos auf dem Weg zu euch in der Stadtbahn die Zeitung aufmache und das zu Gesicht bekomme! Auf der nächsten Station bin ich 'raus – Droschke . . . zur Redaktion . . . da war, weil's Sonntag war, nur ein einzelner Herr . . . und der lachte und sagte: ›Ein Gendarm hat die Herrschaften abgefaßt und nachher in der Nähe im Schützenhaus gefrühstückt und dabei seine Meldung geschrieben, und wie er einen Augenblick wegging, hat der Kellner in sein offen daliegendes Notizbuch geschaut und sich Namen und alles gemerkt und uns gebracht. Und wir haben es mit Hilfe unseres gesellschaftlichen Mitarbeiters ergänzt. Wenn wir dem Kellner seinen Bericht nicht angenommen hätten, wäre er einfach ein Haus weiter gegangen!‹ Nichts zu machen! . . . 's ist ja wahr! . . . Ich hab' dir's ja immer gesagt, Papa: Du bist zu schwach . . . Du läßt die Sache zu lange anstehen . . . nun hat es Jakobe glücklich erreicht, daß ihr Ruf vernichtet ist . . . und wir müssen mit leiden!«

Er ging mit geballten Fäusten im Zimmer hin und her. Aus dem Nebengemach waren die Vettern mit ihren Damen bis an die Türe getreten. Ernste und betroffene Gesichter lugten über die Schwelle. Mitten zwischen seinen Gästen stand der junge Hausherr, ganz benommen und verblüfft. »Das ist . . . das ist also geradezu toll!« sagte er plötzlich laut und schneidend, drehte sich verächtlich auf dem Absatz herum und kehrte zu seiner Frau zurück, die auf dem Sofa saß und sich mit dem Taschentuch die Augen trocken tupfte und tränenschluckend murmelte: »Ich hab' ja schon immer meine Angst gehabt! aber ich wag' ja gar nicht zu reden! . . . ich bin ja nur die Holz-Huschke! . . . ach . . . sage nichts! Natürlich nennt ihr mich so! das weiß ich doch! . . . darum muck' ich schon nicht, wenn was von euch Dolmars kommt. Sonst hätt' ich es mir von vornherein verbeten! Aber wenn wir jetzt zu den Kassuben oder Lothringern ins Regiment kommen, dann wundre dich nicht! . . . dann dank du deiner Schwester dafür!« Und der lange hübsche Leutnant lehnte stumm neben ihr und biß sich grimmig in seinen blonden Schnurrbart. Und drinnen war der Generalmajor von Dolmar aufgestanden. Den Zwicker, den er sonst ungern zeigte, noch auf der Nase, und hielt Jakobe das Blatt unter die Augen. Seine Hand bebte.

»Da hast du die beste Antwort auf deine unsinnigen Reden vorhin!« sagte er heiser. »Nun hast du's also glücklich erreicht, meine Tochter! nun stehst du wie – ich will das Wort gar nicht in den Mund nehmen, wie du in der Öffentlichkeit dastehst – und man kann nichts dagegen tun, so wie die verfluchten Kerle einfach die Tatsachen aneinandersetzen . . . und was einer dann zwischen den Zeilen lesen will . . .«

Und plötzlich kam der helle Grimm über ihn. Er trat dicht vor die junge Frau hin. »Du beschimpfst unser Haus!« versetzte er gedämpft. »Du bringst Unehre über dich und uns alle! . . . dazu sind wir wahrhaftig zu gut, um in solchen Schmutzblättern zu paradieren! Ich hätt' nicht gedacht, daß ich mit meinen grauen Haaren noch einmal so etwas erleben müßte! . . . durch meine einzige Tochter, die ich mit Liebe und Sorgfalt aufgezogen hab'! . . . ja, schau mich nur so geistesabwesend an und uns alle, als ob du eben vom Mond kämst! . . . ist das der Dank, daß ich dich hier väterlich aufgenommen hab' – daß dir alle hier liebevoll entgegengekommen sind . . . trotz deiner Streiche?«

»Du hast mir geschrieben, ich sollte kommen! sonst hätte ich es überhaupt nicht getan!« sagte Jakobe.

Der Alte fuhr empor. Er ballte das Papier in seiner Hand zu einem Knäuel zusammen, schleuderte den in eine Ecke des Zimmers und schrie: »Nu' stehen wir im Blättchen! Nu' stehen wir glücklich im Blättchen! jeder Lausejunge macht sich über uns lustig! . . . und du stehst so gelassen da, als ginge dich das gar nichts an – als wärest du nicht bis auf die Knochen kompromittiert . . . das alles schaut doch hier, im bengalischen Licht der Öffentlichkeit, noch viel toller aus, als es eigentlich ist – durch deine eigene Schuld . . .«

»Ich weiß nicht, was ich hätte tun können, um den Zweikampf zu verhindern!«

». . . weil du eine verrückte Liese bist . . . weil du überhaupt nicht weißt, was du eigentlich willst! Was soll denn das Wigel-Wagel! . . . Bleib bei dem einen Mann oder geh zu dem andern – mir ist's in Kuckucks Namen schon egal! . . . aber entscheide dich für eins von beiden! Zu einem gehörst du hin! . . . Herrgott ja . . . man strolcht doch nicht allein durch die Welt – mit so 'nem Ruf auf dem Buckel . . .«

Der Generalmajor von Dolmar rang die Hände vor Zorn und Ratlosigkeit und schaute Jakobe wütend an. Und sie sagte kalt: »Mein Ruf, Papa, ist schließlich meine Sache!«

»Nein – meine! ich bin dein Vater!«

»Du hast mich vor zehn Jahren ins Leben hinausgegeben! Dadurch bin ich dir gegenüber ein freier Mensch geworden . . . ich habe seitdem auch nie mehr deinen Schutz erbeten!«

»Den kriegst du auch gar nicht, meine Tochter! den versage ich dir, solange du in der Verfassung bist! . . . solange du glaubst, daß der Hauptzweck des Lebens die Ungebundenheit ist – daß man mal dahin zigeunern kann – und mal dorthin, wie's gerade beliebt . . .«

»Papa!«

». . . so lange kommst du mir nicht mehr vor die Augen! da will ich dich gar nicht mehr sehen! . . . geh nur . . . geh!« Der alte Herr hatte sich an den Tisch gesetzt und stützte kummervoll sein ihr abgewandtes Haupt in die Hände. So wiederholte er barsch und trotzig: »Nein! Geh nur!« gleichsam als hätte sie ihn gebeten, doch bleiben zu dürfen. Und ein paar solche Worte von ihr würden genügt haben, seinen Zorn zu entwaffnen! Er hatte von Natur ein viel zu weiches Herz gegen seine sämtlichen Kinder. Aber Jakobe Ansold war schon in den Korridor getreten. Dort band sie sich den Schleier um den Hut, fuhr in den Mantel, noch ehe einer der Brüder ihr helfen konnte, und sagte auf der Schwelle stehend: »Ich hab' mich euch wahrhaftig nicht aufgedrängt! Ich wäre heute viel lieber zu Hause geblieben! . . . also adieu, Papa! Lasse es dir gut gehen! und du, Anna, sei mir nicht böse! es tut mir selbst am meisten leid, daß ich dir die Ungelegenheiten in deinem Regiment mache! Du mußt mich schlankweg, bei jeder Gelegenheit, verleugnen! Damit kommst du am besten durch, und ich nehme es dir gar nicht übel! Euch allen nicht! . . . adieu . . .«

Sie stieg die Treppe rasch hinunter. Am Ende des Stiegenhauses hörte sie von obenher Tritte. Es war der Leutnant Axel, der ihr gefolgt war – zögernd – er wußte nicht recht, was tun! Nun blieb er auf halbem Wege stehen und sie durchmaß unten mit flüchtigen Schritten den Eingangsflur, und die Haustüre schlug hinter ihr zu, mit einem schweren Krach, der es ihr in die Ohren dröhnte: so! nun ist auch das entschieden! – da drinnen sind die Dolmar – und da draußen bist du . . .

Die klare frische Winterluft umgab sie. Es war heller Sonnenschein. Unwillkürlich schaute sie nach einer Droschke aus. Sie hatte die Vorstellung, daß sie ja doch fahren müsse. Dann erst fiel ihr ein, daß Erich von Wölsick ja verwundet darniederlag und ihr nicht wie sonst in den Weg treten konnte, und nun atmete sie auf und ging langsam zu Fuß weiter in der Richtung nach Hause.

Dabei dachte sie sich: wenn er nun tot geblieben wäre! – und gleich hinterher kam ihr: dann wäre ich auch tot! Sie konnte nicht gegen dies Gefühl einer Naturnotwendigkeit an. Sie war durch ihn bedingt. Sie hing mit ihm zusammen . . .

Sie blieb stehen, wandte sich um und blickte die Straße hinab. In der Ferne war noch das Tor sichtbar, aus dem sie gekommen. Sie erkannte die stucküberladene Miethausfassade in Berliner Mauermeistergeschmack. Dort oben saß jetzt ihre Sippe beisammen und schalt und klagte. Und ihr ging es durch den Kopf: so – nun habe ich keinen Vater mehr! . . .

Und dann kam es ihr wie ein Wort aus der Schrift in den Sinn: was sind mir Vater und Mutter? was sind mir Brüder? Es klang wie eine Entweihung. Sie erschrak, daß sie das auf sich anwenden wollte! Aber es paßte auf sie. Sie trug die Trennung von den Ihren mit einem dumpfen, ergebenen Gleichmut, der sie förmlich durchkältete. Sie empfand beinah' die Wohltat der Einsamkeit, die darin lag. Wer so weit gekommen war wie sie, für den gab es nur Alleinsein und Schweigen. Jedes Wort tat ihm weh. Jeder Mensch ward ihm eine Last – er war ganz auf sich und sein Innerstes gestellt. Und sie hätte umkehren und jenen da drüben wiederholen mögen: Was fordert ihr noch euer Teil von mir? Euere Freuden sind nicht meine Freuden – eure Leiden sind nicht meine Leiden! Ich komme aus einer anderen Welt. Laßt mich nur ruhig meiner Wege gehen . . .

Und sie schritt weiter, geradeaus, den Kopf erhoben. Dieser Bruch mit den Angehörigen – darin war keine Bitterkeit, das wehte wie Schattenflug an ihr vorüber. Es konnte sie nicht schmerzen, weil ihre Seele gar keinen Raum für neuen Schmerz hatte. Die war vollkommen durch das Eine ausgefüllt. Das war alles. Und weiter gab es nichts . . . Die Welt war für sie tot, bis auf den einen Punkt . . .

Sie dachte wieder an Erich von Wölsick – und warum sich die beiden wohl jetzt gerade geschossen – sie konnte nicht weiter darüber grübeln – sie war zu müde dazu, zu teilnahmlos gegen alles Äußere, das sich begab, oder nicht begab – so seltsam ihr das auch selber erschien, daß dies Blutvergießen um ihretwillen, das Zerren ihres Namens in die Öffentlichkeit, ihre Verstoßung durch den Vater so wenig Eindruck auf sie machte – und dann fing sie sich doch wieder, wo die Kugel wohl Wölsick ins Bein getroffen – ob die Verletzung schwer sei – ob er vielleicht nun sein Leben lang am Stock gehen müsse – und wo er wohl liege, – ob daheim – oder in einem Krankenhaus – oder drüben in Sommerwerk bei seiner Mutter – und sie schüttelte wieder den Kopf und preßte die Lippen zusammen: was ging das sie an? und sie atmete schwer auf und sagte sich: Er nimmt mir alles . . . Stück um Stück . . . Heute hab' ich ihm wieder Vater und Brüder und Anverwandte gegeben – und den Rest meines Namens dazu! Und er ist unersättlich. Er verlangt mehr und mehr – solange ich noch irgend etwas auf der Welt hab' . . .

Aber Gott sei Dank! Ich hab' nichts mehr! . . . Wenn sie sich nachprüfte, dann fand sie nur Narben – lauter Erinnerungen an frühere Dinge, die kaum mehr schmerzten – aber nur eine einzige Wunde. Eine Herzenswunde. Die stammte noch aus der Zeit vor Wölsick. Er hatte keinen Teil daran! Daß man ihr den Sohn weggenommen, das war das einzige Leid, das nicht er ihr zugefügt. Das war schon ein Jahr früher gewesen, ehe er kam. Drum konnte sie an ihren Sohn denken, ohne daß er daneben stand, dazwischen trat, ihn verdrängte. – Und ein trauriges, leidenschaftliches Zucken war um ihre Lippen. Sie hatte eine solche Sehnsucht nach dem kleinen Menschenkind im bunten Rock, daß sie auf einmal hier mitten auf offener Straße hätte weinen mögen – gerade jetzt, wo sie so ganz allein war. Auf der ganzen weiten Welt war ihr nur noch ihr Bub geblieben. Auf den hatte sie ein Anrecht. Der gehörte ihr, wenn alle anderen sie verließen und verstießen. Und war doch ferne, und dachte nicht an die Mama und ihren einsamen Heiligabend – das heiße Wasser kam ihr in die Augen – da neben ihr am Rand des Bürgersteigs, wo alles grün von Tannen war, hatte eben ein Arbeitsmann sein Weihnachtsbäumchen eingehandelt und lachte, es aufpackend, über das ganze Gesicht zu seinen zwei Ältesten, die ihn begleiteten: »Na – nu aber heim zu Muttern!« und schaute dann erstaunt der feinen verstörten Dame nach, die rasch, den Kopf gesenkt, damit man ihren Kampf mit den Tränen nicht sehe, die Straße hinabeilte.

Sie sehnte sich, nach Hause zu gelangen. Die Feststimmung um sie her schnitt ihr ins Herz. Sie konnte diese fröhlichen Menschen, die sie umdrängten und mit ihren Paketen an sie anstießen, diese wichtigen, geheimnisvoll lächelnden, geschäftigen Mienen nicht mehr sehen. Enterbt und entrechtet und beraubt kam sie sich zwischen ihnen vor, in einer überströmenden Verbitterung, die ihre Züge hart und kalt erscheinen ließ, als sie daheim dem alten, ihr die Türe öffnenden Fräulein von Kritzing sagte: »Sie haben sich geschossen. Wölsick ist am Bein verwundet. In der Zeitung steht's! Auch allerhand über mich! Papa hat mich an die Luft gesetzt. Unter Beistimmung der übrigen. So. Nun weißt du die Neuigkeiten des Tages. Nun sei so gut und sprich kein Wort weiter davon.«

Die Schulvorsteherin erschrak. »Ach . . . du Ärmste . . .« wollte sie anfangen.

Aber Jakobe unterbrach sie: »Bitte, tröste mich auch nicht! Es ist gar nicht nötig! Du siehst ja: ich bin ruhig! Bleib du es nur auch . . .«

Und wirklich faßte sich das greise Fräulein merkwürdig rasch – ja, noch mehr: es leuchtete plötzlich ein pfiffiges Lächeln auf ihrem rundlichen Matronengesicht auf. »Ich hab' einen Trost für dich, Jakobe!« sagte sie ganz fiebrig vor heimlicher Freude.

»Ich brauch' keinen und weiß keinen!«

»Doch, du! . . . das Christkind ist gekommen, während du weg warst! Drinnen sitzt es bei uns in der Stube.«

»Wer?«

»Es hat 'nen roten Kragen an und schlingt Pfeffernüsse, was es kann – schon seit einer halben Stunde! . . . Gott weiß, warum sie die Jungen im Korps nie satt bekommen . . .«

Eine Ahnung durchzuckte Jakobe. In der war mehr Glück, als daß sie sie vor sich wahr haben wollte. Sie hörte gar nicht mehr, was Fräulein von Kritzing weiter sagte, sie stieß sie förmlich zur Seite, sie riß die Tür zur Wohnstube auf und wirklich – es war kein Traum – ihre Augen sahen es – da drinnen saß ein kleiner, zehnjähriger Kadett und vertilgte, mit beiden Backen kauend, einen Haufen Weihnachtsgebäck und war damit so beschäftigt, daß er das Nahen seiner Mutter erst jetzt bemerkte, als sie durch das Zimmer hin auf ihn zuflog. Er kam gar nicht mehr dazu, aufzuspringen. Sie stürzte neben seinem Stuhl auf die Kniee nieder und schlang ihre Arme um ihn und bedeckte ihn mit Küssen und lachte und schluchzte in einem Atem: »Mein Bub – mein Bub – mein goldiger Bub!«

Sie glaubte immer noch nicht daran, daß er es wirklich sei. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und starrte das rotwangige Kindergesicht an und nickte glückselig und herzte ihn von neuem und ließ ihn gar nicht zu Worte kommen, sondern schwatzte durcheinander, während sie ihn mit ihren Liebkosungen halb erstickte, und wußte selber nicht, was sie redete.

»Mein Bub . . . mein Bub . . . groß bist du geworden, Herbertchen, in dem Jahr! . . . Und die dicken Backen! . . . Und Ärmchen hat er, wie von Eisen . . . hauen dich denn die Großen immer noch so? . . . hau sie nur ordentlich wieder, armer Schatz, wenn du kannst! . . . ach, du kleiner, lieber, herziger Mann! . . . Das bist du überhaupt gar nicht! . . . Das bild' ich mir nur ein . . . Tante . . . sitzt er wirklich da? Ja! . . . Siehst du ihn denn auch? . . . dann ist er es! . . . da hab' ich ihn – meinen Jungen hab' ich . . . Herbertchen . . . wann bist du denn nur gekommen . . .«

Der kleine Kadett wischte sich die Lippen, selber ganz atemlos von der stürmischen Begrüßung. Er hatte sich jetzt doch auf die Füße gestellt und meldete, stramm vor seiner Mutter stehend, wie sich's gehörte: »Vor einer halben Stunde, Mama! Da hat die Tante mir gleich zu essen gegeben und gesagt, ich sollte warten!«

Sie beugte ihre schlanke, in tiefes Schwarz gehüllte Gestalt zu ihm hernieder und streichelte ihm zärtlich das Haar. »O, du Schlingel, du!« sagte sie, glückselig weinend.

»Warum bin ich denn ein Schlingel, Mama!«

»Heimlich zu deiner armen, einsamen Mama zu kommen –« die hellen Tranen liefen ihr über die Wangen. »Wenn das die andern wüßten! Denk mal, was die dann sagten . . . Ach! . . . 's ist ja ganz egal! da hab' ich ihn! . . . Ich lass' ihn nicht wieder fort! Weißt du, Tante . . . ich behalt' ihn einfach bei mir . . .«

Wieder preßte sie ihren Sohn leidenschaftlich an sich, voll Trotz gegen die ganze Welt, als wollte sie ihn nie wieder herausgeben, ihr eigen Fleisch und Blut, und er wehrte sich halb: »Au, Mama! . . . Du tust mir ja weh! . . . Ich bin doch nicht heimlich hier . . . das wissen doch alle . . .«

Sie ließ ihn los.

»Bist du denn nicht von selbst gekommen, Herbertchen? Hast du denn gar keine Sehnsucht nach mir gehabt?«

»Ach doch . . . so schrecklich . . . Mama! Aber . . .«

»Aber man hat dich geschickt?«

»Ja.«

»Wer denn?«

»Der Papa!«

Jakobe Ansold sah ihren Sohn mit großen, schreckensvollen Augen an. Dann wiederholte sie ungläubig flüsternd, zwischen den Lippen: »Der Papa?«

Der kleine Mann im bunten Rock nickte.

»Er hat mich heute früh aus dem Korps zu Weihnachten abgeholt! Und hier ist er gleich weitergefahren, nach Hause voraus, und hat mich am Bahnhof in eine Droschke gesetzt, hierher . . .«

»Und da solltest du zu mir kommen, Herbertchen – zu mir?«

»Ja! Und der Papa hat gesagt: dann soll ich dich an der Hand nehmen und sagen: komm, Mama! Jetzt gehen wir wieder nach Hause! . . . und dann sollen wir miteinander fortgehen, recht fix – hat der Papa gesagt . . . er verläßt sich auf mich . . . ›Du mußt deine Sache gut machen!‹ hat er gesagt, ›dann geht die Mama schon mit!‹ . . .«

Sie schrie auf, sie prallte einen Schritt zurück, in Angst vor sich . . . vor dem Knaben . . . vor der nächsten Stunde – und der kleine Soldat folgte ihr und zeigte ihr stolz einen Papierstreifen, den er aus der Tasche geholt hatte.

»Da steht der Zug drauf! Mit dem sollen wir fahren, Mama, hat Papa gesagt!«

Sie warf einen Blick auf das Blatt. »Friedrichstraße ab 3 Uhr 42« war da mit Bleistift geschrieben. Sie erkannte die Hand ihres Mannes. Und der Kadett mahnte, sein Wafferöckchen zuknöpfend: »Es ist Zeit, Mama! . . . ich hab's dem Papa doch versprochen!«

Und in ihr war ein Schrecken der Schwäche und Hilflosigkeit: »Jetzt ist die Stunde, wo du dich verleugnest und alles, was du getan hast! . . . wo du deinen Stolz mit Füßen trittst – wo du ihm alle Opfer umsonst gebracht hast – wo du deine Zukunft und den ganzen Rest deines Lebens knickst – aus blinder Liebe zu deinem Kind, aus Allgewalt der Natur . . .« und sie bezwang sich noch einmal und versetzte schmerzlich lächelnd: »Mein gutes Herbertchen – das kann nicht sein!«

»Warum denn nicht, Mama! . . . der Papa hat es uns doch gesagt!«

»Schau, Schatz . . . du bleibst doch nur ganz kurze Zeit daheim! wie lange hast du denn Urlaub?«

»Acht Tage, Mama!«

»Siehst du! und dann mußt du doch wieder fort, mein Bubi, und deine arme Mama ist wieder allein . . . dort so gut wie hier . . . warum soll ich also erst dorthin?«

»Weil ich dann doch dort bleib', Mama!« meinte der Kadett lebhaft, und ihr stand der Herzschlag still, während sie frug: »Wieso denn, Herbert? . . . Du mußt doch wieder ins Korps zurück!«

»Nein! der Papa hat gesagt: wenn wir jetzt zusammen heimkommen, du und ich, dann schreibt er an das Kadettenkorps und nimmt mich wieder heraus, und ich gehe daheim aufs Gymnasium und mache da mein Examen und werde dann erst Offizier. Er hat zu mir gesagt: ›Das ist nicht leicht, den bunten Rock wieder ausziehen! das ist sehr hart für uns Männer! Aber wir müssen es deiner Mama zuliebe tun! Die muß dich in der Nähe haben! Sonst ist sie zu traurig und weint in einem fort!‹ Und da hab' ich gesagt: ›ja, Papa . . . es ist ja fein im Korps . . . aber dann geht's eben nicht anders! dann muß ich eben wieder 'raus!‹«

Jakobe Ansold sank in sich zusammen. Ein Krampf durchschüttelte sie. Sie konnte nicht sprechen, keinen klaren Gedanken fassen, sie hatte nur Angst vor sich – es wirrte sich alles in ihr . . . und sie fühlte mit geschlossenen tränenerfüllten Augen, wie sich eine leichte Hand auf ihre Schulter legte und die feine Kinderstimme mahnte: »Komm, komm, Mama! sonst versäumen wir noch den Zug!«

Sie ballte die Hände ineinander und raffte sich wieder auf und stand da und schaute leer um sich. Fräulein von Kritzing sagte ihr etwas. Sie verstand es nicht. Sie wollte es auch gar nicht hören. Ihr konnte niemand helfen, in dieser Stunde. Und der kleine Kadett drängte wieder, beharrlich, wie er es seinem Vater versprochen: »komm, Mama!« und faßte ihre Hand, und sie zitterte vor dieser Schicksalsstimme aus dem Munde der Unmündigen. Sie wehrte sich dagegen und konnte es doch nur halb. Denn sie fühlte: ihren Sohn allein weggehen zu lassen, das überstieg ihre Kräfte – das brachte sie nicht fertig – und so sagte sie mit trockener Kehle: »Ich will dich bis auf den Bahnhof Friedrichstraße bringen, Herbert – du findest ja sonst nicht hin . . . komm, mein Kind!«

Und dabei war ihr zu Mut, als spräche sie eine Lüge! . . . als betröge sie sich selbst noch diese Galgenfrist einer Viertelstunde hindurch, auf dem Weg zum Bahnhof – dort würde etwas in ihr erwachen, was viel stärker war als ihr Wille, und sie zwingen, heimzukehren in das Haus ihres Mannes, unter das Joch der Vergangenheit, in das alte verdoppelte Elend – Sie schauderte davor zurück, mit allen Fibern des Leibes und der Seele wie vor einem Sprung in den Abgrund, und während sie verzweifelt gegen diese Übermacht ankämpfte, die sich auf sie wälzte, die sie mit sich riß, war sie schon draußen auf der Straße und hielt ihren Sohn, der rasch die Mütze und das graue Mäntelchen angelegt, an der Linken und ging mit ihm den Bürgersteig hinab. Oder vielmehr, sie ließ sich eigentlich von ihm an der Hand führen. Der kleine Kerl wußte die Richtung ganz genau. Er hatte sie sich, in seinem schon erweckten militärischen Instinkt, auf dem Hinweg von der Droschke aus gemerkt.

Die Luft war wohltuend kalt und klar. Die Sonne schien hell und glitzerte auf dem weißen Schnee der Dächer und übergoß das Heiligabendgetriebe der Straßen mit ihrem goldenen Licht. Auf den Plätzen war es grün von jungen Tannen wie im Walde, die schwarzen Menschenmengen schoben sich dazwischen, an den Straßenborden und Hauswänden standen reihenweise die kleinen Verkäufer aus dem Volke und ließen ihre Waldteufel schnurren und riefen mit ihren hellen Kinderstimmen: »'nen Groschen das Schäfken – 'nen Groschen, Madamken, koofen Se, koofen Se doch!« Und durch dies seltsam in das Brausen der Weltstadt hineingeschneite Stückchen Berliner Altfränkischkeit und Weihnachtszauber aus Vaterzeiten schritt Jakobe Ansold wie im Traum, wie eine Nachtwandlerin, dahin, und wenn ihr Fuß einmal stockte, wenn sie stehen blieb oder gar umdrehen wollte, dann mahnte neben ihr eine andere Kinderstimme: »komm, komm, Mama! . . . komm mit!« und eine kleine, aber feste Hand zog sie vorwärts durch das Gewühl, und sie folgte der. Sie hatte keine Kraft zu widerstehen! Sie dachte nur noch, als die Eisenbahnüberführung auf der Friedrichstraße in Sicht kam: am Bahnhof kauf' ich ihm ein Billett und setze ihn in den Zug! . . . und was dann aus mir wird, das weiß der Himmel . . . Und sie hatte die Kraft. Sie löste am Schalter nur eine Fahrkarte nach Hause. Damit war es entschieden. Zu zweit konnten sie auf die nicht reisen. Sie atmete auf, als sie die Karte in der Hand hatte und sich abwandte, um anderen Reisenden Platz zu machen. Aber als sie eben an die Bahnsteigsperre kamen, war der Kadett schon vor ihr drinnen. Er hatte eine ihm von seinem Vater besorgte Fahrkarte, von der sie nichts wußte, aus der Tasche gezogen und vorgewiesen, und gleich darauf durchlochte der Beamte auch ihr Billett, und nun standen sie doch zusammen vor dem Zug, und die Schaffner drängten – es war dicht vor der Abfahrt – und wollten sie schon in einen Abteil hineinschieben, und der kleine Kadett mahnte mit: »Mama . . . komm doch! . . .« und kletterte vor ihr hinein und reichte ihr von innen die Hand, um ihr die Trittbretter hinaufzuhelfen – und sie stand da und fühlte: ›jetzt bricht dir das Herz! . . . das hält keiner aus! Ein Schritt – und du bist verloren! . . . und du mußt den Schritt tun – alles reißt dich hin – ins Ende deiner selbst‹ – und plötzlich raffte sie ihre äußerste Kraft zusammen. Sie umfing, vor dem Wagen stehend, den Kadetten, der sich durch die offene Türe zu ihr hinabbeugte, noch einmal leidenschaftlich – sie küßte ihn, wo sie hintraf, auf das Gesicht, auf die Haare, auf die Hände, und so stammelte sie mit erstickter Stimme: »Leb wohl, mein goldiger Bub! . . . bleib brav! . . . behalt mich ein bißchen lieb! . . . nicht wahr – das versprichst du mir? – nicht wahr?«

»Herrjeses – fahren Sie nun mit oder nicht?« Der Schaffner schrie es ihr von hinten ins Ohr. Ein Pfiff ertönte, der Zug begann zu zittern, die letzten Türen schlugen. Irgend jemand warnte: »Passen Sie auf! – Kommen Sie nicht unter die Räder!« – Und sie sah die Leute verständnislos an, und auf einmal drehte sie sich um und stürzte den Bahnsteig entlang wie ein gehetztes Wild dem Ausgang zu – der Mann, dem sie dort ihre Karte in die Hand drückte, rief ihr etwas nach . . . sie rannte blindlings in Todesangst die Treppe hinab – sie eilte unten zwischen den Droschken durch auf den freien schneeerfüllten Platz vor dem Bahnhof. Da in der Mitte blieb sie stehen, sie schaute um sich, wie aus einem Traum erwachend, langsam kam ihr das Bewußtsein dessen, was geschehen, Und hinterher jählings, wie ein Stich ins Herz, der Gedanke an Erich von Wölsick: ». . . nun hab' ich ihm das letzte geopfert, was ich besaß – meinen Sohn hab' ich ihm geopfert – ihm, den ich hasse . . . und den ich liebe . . . den ich liebe . . .«

Oben donnerte der Zug über die eiserne Spreebrücke und führte ihren Sohn auf Nimmerwiedersehen in die Ferne. Sie warf einen verstörten Blick hinterher. Sie wollte weiter. Aber die Füße trugen sie nicht mehr. Der Boden schwankte unter ihr. Auf ihm, gerade vor ihr war ein großer Schneehaufen. Dem konnte sie nicht mehr ausweichen. Sie strauchelte und stürzte plötzlich lautlos mit dem Gesicht vornüber darauf nieder. Die Vorübergehenden sprangen herzu – es war ein Getümmel – eine schnell sich vergrößernde Menge von Menschen und dann aus ihr die Stimme eines Schutzmanns: »Rasch . . . eine Droschke! . . . Die Dame ist ohnmächtig geworden!« . . .



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