Rudolph Stratz
Herzblut
Rudolph Stratz

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IV

Erich von Wölsick ritt auf dem Kurfürstendamm dahin.

Um ihn dehnte sich die herbstliche Weite, bereifte Felder, verlassene Sportplätze, kahle Baustellen. Es hatte in der Nacht gefroren und Michael, der Kammerdiener, der jeden Morgen ganz früh in den Tiergarten hinüberging, um die Reitwege zu untersuchen, war mit der Meldung heimgekommen, der Boden sei zu hart. Nur Wetter für die Bahn. Aber sein Herr war doch hinaus ins Freie, gerade heute, und ließ da draußen, gegen den Grunewald zu, seinen Rappen in langem Galopp ausgreifen, den Wind um die Ohren, unter dem kalten Sprühregen zwinkernd, der ihm gerade ins Gesicht schlug.

Die stürmische Bewegung belebte ihn. Er jagte ein, zwei Stunden durch die Schneisen der Kieferforst mit ihrem tausendfachen Schimmer vergilbter Stullenpapiere auf dem blanken Sand, und als er sich zur Rückkehr wandte, da hatte er wenigstens körperlich seinen Ärger von gestern abend ausgetobt. Aber der nagende innere Ingrimm blieb und wiederholte ihm beim Heimtraben immer aufs neue, förmlich im Takt der klappernden Hufe: hättest du Sophie Neerlage gestern abend kurz und bündig gefragt: ›ja oder nein?‹ – dann wärest du heute am Ziel! Und gegen dies Fait accompli kam nachträglich die Geschichte mit Jakobe Ansold nicht auf. Die Neerlages konnten nicht mehr zurück. Man hätte nur rücksichtslos und blindlings handeln und sie in diese Zwangslage bringen müssen.

Und wie es seine Schwester gestern gesagt: allmählich schlug der Skandal seine kleinen Wellen von der Garnison bis nach Berlin. Es war nur eine Frage der Zeit, des Zufalls – einiger Wochen – vielleicht nur Tage. Ein anonymer Brief etwa war an Sophie Neerlage rasch von irgendwoher geschrieben. Er hatte Feinde genug. Sie auch. Dann natürlich war für ihn alles aus. Wenn überhaupt, so mußte sie die unglückliche Geschichte von ihm selber, mit seinen Worten, in seiner Beleuchtung erfahren.

Er hatte, während er heimkehrte und sich umzog, ein nervöses Zittern, nicht noch mehr zu verderben, als er schon getan. Das bisherige ließ sich vielleicht noch gut machen, wenn er in den sauren Apfel biß und rückhaltslos beichtete. Es kam darauf an, wie sie es auffaßte. Aber jetzt, wo er Zeit zum Überlegen gehabt, standen ihm andere Erklärungen und Wendungen zu Gebot als gestern in der jähen Bestürzung. Er überzeugte sie schließlich schon. Das traute er sich doch noch zu.

Aber wenn, dann mußte es rasch geschehen. Begangene Fehler durfte man nicht alt werden lassen. Und gegen Mittag entschloß er sich kurz und verließ im Besuchsanzug und bei dem klaren Wetter zu Fuß das Haus.

Man frühstückte bei Neerlages um ein Uhr und blieb hinterher noch eine Weile sitzen, bis gegen halb drei Uhr der Hausherr nach der Bank und die beiden Damen meist bald hinterher zu Besorgungen in die Stadt oder sonstwohin ausfuhren. Wenn man also bald nach Zwei erschien, konnte man mit ziemlicher Sicherheit als naher Bekannter darauf rechnen, vorgelassen zu werden, und in der Tat nahm der Diener Erich von Wölsicks Karte wie etwas Selbstverständliches in Empfang, um sie hineinzutragen. Aber nach kurzem kam er etwas verlegen zurück. Er hatte sich geirrt. Die Damen waren nicht mehr zu Hause.

Das konnte ja auch wahr sein. Erich von Wölsick zuckte die Achseln, sagte: »Bestellen Sie, daß ich mir morgen noch einmal die Ehre geben werde,« und ging quer durch den Tiergarten heim. Am großen Stern drehte er sich noch einmal nach dem Neerlageschen Hause um, das man zwischen den kahlen Bäumen deutlich sah. Eben fuhr ein geschlossenes Coupé aus seinem Portal und kam im raschen Trab die Hofjägerallee entlang und an ihm vorbei. Er erkannte hinter den Scheiben Sophie Neerlage. Sie saß neben ihrer Mutter und sah gleichmütig vor sich hin, ohne ihn zu bemerken, und er schaute ihr nach und wußte jetzt, daß sie nur für ihn nicht zu Hause gewesen war . . .

In unbehaglichster Stimmung, den Kopf gegen seine Gewohnheit zu Boden gesenkt, kehrte er in seine Wohnung zurück. Er sagte sich zu seiner eigenen Beruhigung, daß das doch nur ein vorübergehender Unmut bei Sophie Neerlage sein könne – er hätte sich auch geärgert, an ihrer Stelle! – das gab er zu – aber sie war doch ein zu kühl überlegender Mensch und wußte zu genau, was sie wollte, als daß sie sich auf die Dauer dadurch in ihren Entschlüssen hätte beirren lassen. Das war ein Strohfeuer des Zorns. Man mußte warten, bis es von selber wieder abflackerte. Aber jeder Tag bedeutete vielleicht, wie die Dinge lagen, einen nie wieder einzubringenden Zeitverlust. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe. Und am dritten Morgen setzte er sich entschlossen hin und schrieb an Sophie Neerlage:

»Ich komme mit einer Bitte. Gewähren Sie mir recht bald die Möglichkeit, mich mit Ihnen über manches, für mich unendlich Wichtiges, aussprechen zu dürfen! Ich habe die beschämende Empfindung, neulich die günstige, mir dafür gebotene Gelegenheit durch mein Ungeschick versäumt zu haben, aus Gründen, die ich nur mündlich erklären darf – und die ernst genug sind. Ich möchte versuchen, daß Sie ein besseres Bild von mir bekommen, als es jetzt vielleicht der Fall ist. Ich habe Ihnen so viel zu sagen – oder zu gestehen! Also bitte, erfüllen Sie meinen inständigen Wunsch . . .«

Beinahe postwendend kam die Antwort. Sie war kurz und lautete, auf ein taubengraues, englisches Kärtchen gekritzelt:

»Mit Vergnügen, lieber Herr von Wölsick, bin ich morgen nachmittag nach vier Uhr für Sie zu Hause. Vielleicht trinken Sie dann mit Mama und mir Tee.

Ihre ergebene

Sophie Neerlage.«

Tiefsinnig sah Erich von Wölsick auf das kleine Blatt. Was darauf stand, war beinahe zu freundlich, zu liebenswürdig entgegenkommend. Das war doch sonst nicht ihre Art. Am wenigsten in solch einem Fall, wo sie die Verzeihende und Gewährende war. Es klang wie kaum hörbarer Spott zwischen den paar Zeilen. Ein dumpfes Mißtrauen quälte ihn. Stellte man ihm da eine Falle? Was half's! Er mußte hineintreten. Er war nun einmal so weit, daß ihm gar keine Wahl blieb. Und vielleicht hieß das ja doch wirklich nur, daß er willkommen war. Sie hatte sich ein paar Tage über ihn geärgert – nun war das wieder gut . . . alles konnte sich noch zum Besten wenden.

Er hatte freilich, während er sich auf den Weg machte, einen äußerst unbehaglichen Vorgeschmack der Beichte, die ihm auf den Lippen lag. Er fühlte sich dadurch gedemütigt, ganz ohne die frühere Siegerstimmung. Eine Spannfeder war in ihm gebrochen. Er war nicht mehr der alte. Er war unsicher. Sein Herz klopfte, als er auf den Knopf am Gartengitter des Neerlageschen Hauses drückte und die Türe geräuschlos aufsprang.

Sophie Neerlage empfing ihn in dem kleinen, als eine runde Glaskuppel hinten angebauten Wintergarten. Da saß sie unter den Palmen und Araukarien in einem Strohsessel, ein englisches Buch im Schoß, reichte ihm freundlich, so als sei gar nichts vorgefallen, die Hand und ließ ihn sich gegenüber Platz nehmen. Es war ziemlich kühl in dem gläsernen Kasten. Man sah den Atem in der feuchten Luft. Eine tiefe Stille herrschte ringsum. Diesmal wollte Erich von Wölsick nicht lange zögern, aber ehe er recht zu Worte kam, sagte sie leichthin, nach den ersten einleitenden Phrasen der Begrüßung: »Ach . . . ich möchte Sie gerne gleich was fragen, Herr von Wölsick, ehe ich's wieder vergesse! Sie kennen doch meinen Vetter Fredrichsen aus Hamburg – den kleinen Taugenichts?«

»Ja, gewiß, gnädiges Fräulein!« sagte er etwas verwundert. Diesen jungen Fredrichsen kannte jeder. Er war eine stehende Erscheinung unter den Linden, in den Moderestaurants, in den Proszeniumslogen der Premieren und auf den Rennplätzen. Für Erich von Wölsick war seine Art ein Greuel, so sehr er sich bemühte, selber eine Tochter aus einem reichen bürgerlichen Hause heimzuführen, so wenig liebte er Söhne aus diesem Kreise von Fredrichsenschem Schlag – diese jungen blasierten Swells, die sich in den mitternächtigen Spielklubs an allerhand verjeutem oder sonst brüchig gewordenem Adel rieben, ihn sklavisch nachahmten und taten, als gehörten sie zu ihm, obwohl sie es selber gar nicht glaubten. Aber wie kam Sophie Neerlage jetzt auf diesen total gleichgültigen, verbummelten Vetter? Sie lächelte und fuhr fort: »Ich hab' ihm nämlich dieser Tage einmal gründlich den Kopf gewaschen, für all das dumme Zeug, das er, wenn er sich einmal bei uns zeigt, von seinen Bakkarat- und Quinzefreunden mitbringt und hier auskramt! . . . Da spielte er nun die beleidigte Unschuld, es sei alles wahr! Er sei ein ernsthafter Mensch, – eine Entdeckung, die vor ihm noch keiner gemacht hat! – und werde sich hüten mit derlei zu spaßen! Nun – und da ich ihm ja schließlich auch nicht unrecht tun wollte, dachte ich, es ist am besten, ich frage Sie selber, wenn wir uns mal wieder sehen . . .«

»Also handelt es sich um mich?« frug Erich von Wölsick. Er fühlte, wie das Herzklopfen, das ihn seit dem Betreten des Hauses nicht verlassen hatte, plötzlich viel stärker einsetzte. Irgendwie war da Gefahr im Anzug . . .

»Ja. Sie übten doch den Sommer bei dem Dragonerregiment nah' von Ihrem Gut . . .? Ich hatte den Eindruck, Sie täten's diesmal dort und nicht in Berlin, um einmal gründlich aus allem herauszukommen und sich ungestört allerhand durch den Kopf gehen zu lassen, wozu man hier, in dem ewigen Treiben und Hetzen nie die Ruhe findet . . . nicht wahr?«

Er bejahte stumm. Natürlich war das so zwischen ihnen verstanden, daß dieser Sommer ihnen beiden eine Prüfungszeit, eine Vorbereitung für ihre Ehe bedeuten sollte, wenn sie es auch nie ausgesprochen hatten – und sie redete lebhaft, in einer glatten und heiteren Art, weiter: »Von diesem Regiment ist jetzt ein junger Leutnant nach Berlin kommandiert . . . auf ein Kommando . . . tip . . . oder top . . . ich hab's nicht recht verstanden . . .«

»Tippkommando! Das ist die Ausbildung im Telegraphendienst!« sagte Erich von Wölsick. Seine Stimme klang trocken und belegt. Nun wußte er schon, was kam . . .

»Schön! dieser Leutnant traf nachts im Klub mit meinem Vetter zusammen. Diesen letzteren neckten die anderen Herren mit Ihnen, irgendwie . . .«

»Irgendwie. . . ! Einfach, daß ich seine Cousine heiraten solle . . . Das wissen sie ja doch alle längst . . .« dachte sich Erich von Wölsick, und sie fuhr fort: »Dadurch kam die Rede auf Sie. Da ergab sich, daß der Dragoner, dies junge Kind, Sie bewunderte! Ihr Majorat, Ihre Reisen, Ihr Verkehr in Berlin, Ihr Wissen und Wesen! Und endlich flüsterte der kleine Kerl noch ganz naiv, mit weit aufgerissenen Augen: ›Und die hübscheste Frau der Garnison ist wegen ihm von ihrem Mann weg und nach Berlin! . . . Er nannte auch den Namen: eine Frau Hauptmann Ansold, geborene Freiin von Dolmar . . .«

Erich von Wölsick schwieg.

Und Sophie Neerlage fuhr mit unveränderter Liebenswürdigkeit fort.

»Sie begreifen, daß ich ihm da tüchtig über den Mund fuhr. Was sollen denn solch alberne Zwischenträgereien? Damit kommt er bloß einmal in des Teufels Küche. Das wollt' ich eben verhüten und Sie bitten, ihm seine dummen Geschichten, die er auch meinen Eltern erzählt hat, nachzusehen! . . . Es ist ja natürlich doch kein Wort davon wahr?«

Ein rascher forschender Blick flog dabei aus ihren kühlen graublauen Augen zu ihm herüber. Er hielt ihn aus. Aber er erwiderte nichts. Und sie wiederholte, weniger mit Ungeduld als mit einem verbindlichen und überlegenen Spott: »Nehmen Sie mir's nicht übel . . . es geht mich ja wirklich gar nichts an . . . es ist nur Gerechtigkeitsgefühl gegen meinen Vetter . . . er hat die Sache aufgebracht – und wenn er auch das schwarze Schaf der Familie und an Strafpredigten gewöhnt ist . . . er ging sehr gekränkt fort, der kleine Mann . . . hinterher tat er mir beinahe leid . . . falls doch etwas daran wahr wäre . . . Eigentlich sagt man ja solche Dinge doch nur, wenn man sie ganz genau weiß . . .?«

Es trat eine Pause ein. Durch die Portiere, die den Wintergarten von den Wohnräumen trennte, hörte man aus der Ferne das Lachen von Damenstimmen. Endlich sagte Sophie Neerlage, immer mit derselben höflichen Ruhe: »Ja . . . etwas müssen Sie mir aber doch wohl antworten, Herr von Wölsick? . . . oder habe ich nach Ihrer Meinung gar kein Recht darauf?«

»Doch . . . gewiß . . . Sie allein . . .!«

»Und soll ich mir also denken, daß keine Antwort auch eine Antwort ist?«

Und Erich von Wölsick ging es durch den Kopf: sie weiß doch schon alles! Es gibt also nur noch eine Rettung: die volle Offenheit! – und so versetzte er entschlossen: »So schwer es mir fällt, ich muß sagen: ja! es ist so gewesen.«

Und nun wollte er sie gar nicht zu Worte kommen lassen, sie mit seinem Geständnis überschütten, sie versichern, daß es nur ein Zwischenspiel gewesen war – die Leere einiger Tage und Wochen – ein Abenteuer, das gar nichts mit ihnen beiden gemein und erst hinterher die von ihm nicht geahnten Folgen gewonnen hatte – wenn er ihr das recht eindringlich vortrug, dann brach er der Gefahr die Spitze ab – dann mußte sie ihm glauben – sie war doch unter seinem Einfluß . . . sonst hätte er sie doch nicht so weit gebracht, wie sie noch vor wenigen Tagen gewesen . . . aber zu seinem Schrecken stand Sophie Neerlage sehr rasch auf und sagte lächelnd: »Da hat mein Vetter, der Schlingel, also wirklich einmal unverdient gebüßt! Na . . . es schadet nichts! es kommt bei ihm auf ein andermal. Er hat genug auf dem Kerbholz. Wenn es Ihnen recht ist, Herr von Wölsick, gehen wir jetzt zum Tee hinüber! Mama erwartet uns schon!«

Ohne seine Antwort abzuwarten, machte sie die paar Schritte über den Kies des Wintergartens und schlug die Portiere zurück. Er erwiderte nichts. Er war zu erbittert. Jetzt erwachte auch sein Stolz gegenüber diesem brüsken Abbruch des Gesprächs. Stumm schritt er hinter ihr her durch ein paar leere Gemächer. Er hoffte jetzt nur noch, daß er beim Tee, und sei es in Gegenwart der Mutter, eine Gelegenheit finden würde, zu sprechen. Er nahm sich einfach eine. Sofort. Darauf kam es ihm jetzt nicht mehr an.

Aber zu seinem Ärger war der ganze kleine Salon voll Damen. Ihrer vier oder fünf saßen mit ihren Tassen und Tellerchen von Sandwiches und Cakes und Petits-fours herum – lauter Verwandte und gute Bekannte des Hauses, und er mußte zwischen ihnen Platz nehmen und das Geschwätz über Toiletten und Theater und Gesellschaften mit anhören, während er vor Zorn und Ungeduld bebte und Sophie Neerlage ihm, leichthin mit ihm und den anderen plaudernd, Tee eingoß.

Sie konnte sich verstellen – das mußte man ihr lassen! Er vermochte es nicht. So bald als es die Schicklichkeit nur irgend gestattete, erhob er sich, nahm Abschied und hatte, als das Gartengitter wieder geräuschlos hinter ihm zuklappte, die Sicherheit: so! das ist der Abschluß! für immer! . . .

Er war in fassungslosem Erstaunen . . . ihn schickte man heim – ganz einfach – spielend – ohne eine große Sache daraus zu machen! Darin hatte sie Übung. Das merkte man. Aber er war derlei nicht gewohnt!

Er drehte sich um und warf einen finsteren Blick nach der Richtung, wo hinter den kahlen Stämmen der Berliner Westen lag, mit seinem Glanz, seinem Reichtum, seiner Arbeit . . . da hätte er nun auch seinen Anteil daran gehabt, das Ziel erreicht, dem er seit Jahren zustrebte, wenn nicht im entscheidenden Augenblick in einem fernen märkischen Nest eine kleine Offiziersfrau eine Fahrkarte zweiter Klasse genommen hätte und damit nach Berlin gereist wäre. Es war lächerlich, über welche Nichtigkeiten im Leben man stolperte.

Er hätte am liebsten Michael sofort seine Koffer packen lassen, um irgendwohin, nach Paris, nach dem Süden zu gehen! Aber er durfte ja jetzt nicht von der Hauptstadt fort! Das hätte ausgesehen, als wollte er sich der Verantwortung entziehen, die Jakobe Ansolds Mann von ihm verlangen konnte. Und wenn er blieb, konnte er sich kaum mehr irgendwo zeigen. Gerade den wesentlichsten Teil seines Verkehrs hier, den in der Hochfinanz, mußte er meiden. Es redete sich zu rasch herum, daß er in irgend einer Form von Sophie Neerlage einen Korb bekommen, und sie selber, in ihrem kühl lächelnden Gleichmut, tat gewiß nichts, um solchen Gerüchten zu widersprechen.

Freilich: Berlin war groß und lebte schnell und vergaß von einem Tag zum andern. Und es gab reiche Mädchen in diesem Kreise noch mehr, die im nächsten Winter, wenn diese ganzen Geschichten aus der Erinnerung geschwunden, bereit waren, ihm ihre Hand zu reichen! Er mußte nur ernstlich wollen. Aber daran fehlte es ihm jetzt. Sein Selbstbewußtsein gegenüber dieser Welt war zu sehr erschüttert! Oder zu rege geworden! Bisher hatte er sich insgeheim, in seinem Hochmut, doch immer als den Gebenden betrachtet, der seine Persönlichkeit, seinen Namen in ein bürgerliches Haus trug. Jetzt hat man ihm da ganz schlicht und höflich zu verstehen gegeben: Es geht auch ebensogut ohne dich! – und das verwand sein Stolz nicht – das vergaß er nie! Einer zweiten solchen Demütigung setzte er sich nicht aus . . .

Und am wenigsten, wo man so gar keine Vergeltung üben konnte. Mit einem Manne war das immer noch einfacher: man forderte ihn schließlich. Aber gegen eine Frau war man wehrlos. Die konnte mit einem tun und lassen, was sie wollte. Und so sann er vergeblich in seinem verletzten Selbstgefühl immer weiter nach: wie fange ich es nur an, um Sophie Neerlage vor aller Welt zu zeigen, daß ich mir nichts, aber auch gar nichts aus ihrer Ablehnung mache? und fand keine Antwort und grübelte sich immer mehr in eine ohnmächtige Wut hinein. Er dachte dabei viel an seinen Schwager. Der Geheimrat hatte ihn oft genug vor diesem gefährlichen Kopfsprung in die Hochfinanz hinein gewarnt und gesagt: »Du hast dafür zu viel Geld und Ehrgeiz! Mag ein Leutnant, ein Landjunker sich in Gottes Namen eine reiche Bürgerliche nehmen – er führt sie in seine Welt – aufs Gut, ins Regiment – da ist er der Stärkere und kann seinem Schwiegervater nebst Anhang die Zunge 'rausstrecken, wenn er will! Dich aber führt deine Zukünftige in ihre Welt – du verlierst den Boden unter den Füßen – in kurzem bist du einfach der eingeheiratete Schwiegersohn der Charlottenburger Bank und wirst von der Familie Neerlage dementsprechend behandelt!«

Und ein anderes Mal hatte Herr von Teichardt vor ihm gestanden, riesengroß und breitschultrig, und sich mit der Hand auf sein rötlich über dem Hemdkragen wuchtendes Genick geklopft und gesprochen: »Ich habe keinen Groschen!« – das war freilich eine Übertreibung – »trotzdem, den Nacken beug' ich nur vor dem Minister und vor Seiner Majestät, aber vor keinem Millionenschulze in Berlin oder sonstwo auf der Welt! Warum? Ich hab's nicht nötig, Erich – und du noch viel weniger!«

Er hatte recht, zehnmal recht! Erich von Wölsick erkannte es jetzt erst nachträglich an und wiederholte es sich grimmig in diesen Tagen auf einsamen Spaziergängen im Tiergarten – denn er vermied es, sich unter Menschen zu zeigen – er schämte sich geradezu seines Mißgeschicks. Und als er in dieser Stimmung gegen Ende der Woche seinem Hause zuschritt, sah er zu seinem Erstaunen das Neerlagesche Coupé davorstehen. Er traute seinen Augen nicht. Sollte wirklich Sophie Neerlage mit ihrer Mutter darin sitzen, um vom Wagen aus irgend eine Bestellung für ihn zu hinterlassen – Es war kaum möglich – und doch – sein Herz pochte – ein Anflug von Kampf- und Siegesstimmung überlief ihn bei allem Zweifel. Und da erschien auf der Schwelle der Generalkonsul Neerlage und sagte zu dem Diener hinter ihm: »Ah . . . eben kommt ja Ihr Herr gerade! Schönen guten Tag, Herr von Wölsick! Ich sprach mal auf dem Weg zur Bank bei Ihnen vor! Darf ich Sie fünf Minuten in Anspruch nehmen? Ja? . . . Sehr gütig . . . hierherein? . . . schön! . . . übrigens, famos sind Sie eingerichtet, Verehrtester – das muß Ihnen der Neid lassen . . .«

Der alte Neerlage war klein und dick. Er sah mit der mächtigen Glatze und dem runden weißen Vollbart nach gar nicht viel aus. Und doch imponierte er dem anderen immer ein wenig. Um die kurze gedrungene Nase herum und um die starken weißen Brauen, die seine goldene Brille überbuschten, hatte er einen Zug gewalttätiger Energie. Er war berühmt wegen seiner Rücksichtslosigkeit in den Generalversammlungen, wenn er opponierenden Aktionären die Zähne zeigte, und hatte überhaupt eine merkwürdig einfache Art, mit Menschen und Dingen umzuspringen.

»Die verkehrte Welt,« sagte er, sich setzend. »Eine Zigarre? . . . Nicht zu schwer? Danke! Ja! . . . Sie gehen spazieren und wir Alten müssen schuften. Ja, lachen Sie nur! Seien Sie mal erst siebzehnfaches Aufsichtsrats-Mitglied wie ich – darunter zehnmal Präsident – das heißt der Packesel fürs Ganze! . . . Natürlich . . . Sie denken: nun klagt der auch noch, der alte Tantiemenschlucker! . . . Wenn Sie wüßten, was wir vom Aufsichtsrat bei manchen Geschäften zuschustern müssen, um den Kurs halbwegs zu halten – New York ist seit gestern auch wieder ganz flau . . . na . . . das nur nebenbei! . . . Ich bin in einer anderen Angelegenheit gekommen.«

Der Generalkonsul Neerlage sprach ungezwungen, mit einer schallenden Stimme, während er die kleinen durchdringenden Augen fest auf sein Gegenüber richtete.

»Ich möchte ganz offen reden! . . . das ist doch das gescheiteste . . . nicht wahr, Herr von Wölsick? . . . Wir sind doch Männer und unter uns . . . da brauchen wir uns nicht erst in lange Unkosten mit Gemüt und Lenz und Liebe zu stürzen, wie wenn die Damen dabei wären, sondern sehen die Sache gleich praktisch an. Also rund heraus: ich bin recht ungehalten auf Sie!«

»Ich könnte es umgekehrt auch sein, Herr Generalkonsul!«

»So? Na – Sie denken wohl auch: ›Bescheidenheit ist eine Tugend für andere!‹ Bitte . . . fahren Sie nicht so auf . . . gewöhnen Sie sich nur an meine Sprechweise – damit kommen wir am weitesten! . . . sehen Sie: ich habe Sie in meinem Hause verkehren lassen – so, daß jedermann wußte, ich würde schließlich nicht abgeneigt sein, Sie . . . na, Sie verstehen mich schon! Und Sie gaben ebenso deutlich zu erkennen, daß Sie diese Absicht hatten, und Sie hätten diese Absicht wahrscheinlich neulich nachmittag auch ausgeführt, wenn meine Tochter Ihnen Gelegenheit dazu gelassen hätte . . .«

»Jawohl!«

»Ja, aber hören Sie mal, Herr von Wölsick! das ist doch zu bunt!« der kleine Generalkonsul sprang erregt auf und legte die Zigarre weg. »Das geht doch übers Bohnenlied! Was denken Sie sich denn eigentlich? Da haben Sie nun diese Geschichte am Wickel . . . ich bin ein vielbeschäftigter Mensch, ich habe jetzt erst von dem allen gehört . . . gewiß, gewiß . . . Sie sind ein junger Mann – da will ich weiter nichts sagen! Aber diese Sachen ordnet man, damit ist man fertig, ehe man . . . ich brauche Ihnen nicht erst zu versichern, daß meine Tochter keine Ahnung hat, daß ich hier bei Ihnen bin und überhaupt noch einmal mit Ihnen darüber rede – sie hätte es nie geduldet – sie braucht es ja auch nie zu wissen – aber daß sie auf das tiefste verletzt ist, und mit Recht – das dürfen Sie mir glauben . . . und mich ärgert's erst recht. Sie wären mir eine schätzenswerte Kraft gewesen . . .ich hatte schon im Stillen auf Sie gerechnet – ja zum Kuckuck – warum machen Sie denn jetzt auf einmal solche Dummheiten . . .?«

»Herr Generalkonsul!«

»Verzeihen Sie . . . das fuhr mir nur so im Eifer heraus! . . . Sie sind gar nicht dumm, deswegen misse ich Sie ja so ungern . . . wenn Sie mir nicht so ungemein sympathisch wären, so wäre ich doch nicht so grob . . . es ist ja weiß Gott ungewöhnlich genug, daß wir da beisammen sitzen und über derlei reden. Aber ich bin immer für den kürzesten Weg, solange eine Geschichte noch überhaupt irgendwie in Ordnung zu bringen ist . . .«

»Wenn ich nur wüßte, wie ich das anfangen soll!« versetzte Erich von Wölsick kalt, innerlich voll Zorn über die brutale Bonhommie des andern.

»Na . . . ich verstehe nicht, daß man einem Mann von Welt wie Ihnen das erst noch sagen muß: lösen Sie Ihre Beziehungen zu dieser Dame – aber völlig . . . bis auf den Nullpunkt und für immer . . . und dann . . .«

»Ich habe keine Beziehungen zu dieser Dame!«

»Wa–s?« Der alte Neerlage riß die Augen auf. »Wer ist denn dann eigentlich verrückt von uns allen? Mir erzählt man, Sie seien . . .«

»Ich habe diese Dame seit letztem Sommer nicht gesehen – nicht gesprochen – ihr nicht geschrieben – bin in keinem Verkehr mit ihr – will es auch nicht – daß sie hier in Berlin sich aufhält, kann ich nicht ändern. Aber ich habe nichts damit zu tun . . . Das versichere ich Ihnen! . . . Ja . . . Glauben Sie mir etwa nicht?«

»Ne!« sagte der Generalkonsul mit dem Ausdruck tiefster Überzeugung. Er schien in all seinem Ärger beinahe belustigt durch die Naivität des andern, der solch eine Harmlosigkeit ihm zumutete.

»Aber es ist wahr . . .«

»Ach wo!«

»Also gut: ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf . . .«

Der alte Herr blinzelte ihn an und sandte eine Havannawolke in die Luft. Er sah jetzt listig und gemütlich aus – so sehr erheiterte ihn der Eifer des jungen Mannes. »Wenn ich nun noch den geringsten Zweifel äußere, dann schlagen Sie mich tot!« sagte er. »Das müssen Sie ja wohl als Kavalier! ich bin in solchen Kavalierdingen zu wenig bewandert – ich weiß nicht, was da den Vorrang hat: das Ehrenwort oder die Diskretion gegen die Dame . . . aber in Gottes Namen . . . ich glaube es!«

»Sie dürfen es wahrhaftig.«

»Schön!« der Generalkonsul lächelte. »Und nun kann ich mich in Kastans Panoptikum ausstellen lassen als der einzige Mensch in Berlin, der das wirklich glaubt! . . . Das versichere ich nun wieder Ihnen, mein lieber Herr von Wölsick . . . und was vermag ich allein gegen drei Millionen? Die Mehrheit hat recht!«

»Bitte, bleiben Sie ernst!«

»Ne – es ist mein Ernst! . . . mit unseren Zeitgenossen müssen wir rechnen, Leute, die in der Öffentlichkeit stehen, wie ich, erst recht. Also, Herr von Wölsick, ich komme immer wieder zu dem Schluß: machen Sie ein gründliches Ende mit der Geschichte . . .«

»Aber wie denn, um Gottes willen?«

»Das ist Ihre Sache! . . . endigen Sie diese Beziehungen, die nach Ihren Worten ja nur scheinbare sind – und wenn Sie sich dann da glücklich 'rausgewickelt haben und ein bißchen Zeit verstrichen ist . . .« Der Generalkonsul hatte sich erhoben, nahm seinen Zylinder und klopfte den andern vertraulich auf die Schulter . . . »dann wollen wir sehen . . . verstehen Sie . . . Sie finden an mir dann keinen Unmenschen! Und meine Tochter ist schließlich auch kein Backfisch mehr, sondern hat einen Begriff vom Leben und – na . . . das müssen wir ja nun alles der Zukunft überlassen! . . . meine Bedingung ist nur: weiße Weste, Herr von Wölsick, weiße Weste! ich bitte Sie: ein Mann wie Sie – neulich wieder Ihr Artikel über die englische Silberpolitik hat mir sehr gefallen – beschäftigen Sie sich doch damit und nicht mit den Weibern! Ist viel gescheiter! also nichts für ungut! Herrgott . . . ich muß in die Sitzung . . .«

Der Generalkonsul sah auf die Uhr, wickelte sich eilig in seinen Pelz und machte, daß er zu seinem Wagen kam. Erich von Wölsick hatte ihn bis zur Flurtür begleitet. Nun stand er am Fenster und sah mit verbissenem Ingrimm den davonrollenden Gummirädern nach.

Wer war denn er und wer waren diese Leute, daß man sich herausnahm, ihn so zu behandeln! Was fiel dem alten Neerlage, diesem Knoten, ein, ihm hier in seinen eigenen vier Wänden seine breite rote Hand auf die Achsel zu legen, ihn, die Zigarre schief im Mundwinkel, herunterzumachen wie einen jungen Mann aus dem Geschäft, der seine Schuldigkeit nicht getan? Wahrhaftig – der Kerl ahnte gar nicht, hatte offenbar nie geahnt, wen er vor sich hatte: einen Edelmann von ältestem märkischen Blut – einen Majoratsbesitzer, der von den Fenstern seines Schlosses kaum die Grenzen seiner Felder und Wälder übersah . . . pah . . . Erich von Wölsick nickte mit einem kalten Lächeln. Die konnten lange warten, bis sie ihn wiedersahen! Er hatte genug! selbst wenn man ihn dort schließlich in Gnaden aufnahm, seine Stellung in der Familie Neerlage wäre von vornherein gebrochen, unhaltbar gewesen. Nein – wollte der Alte einen Schuhputzer zum Schwiegersohn, so konnte er ihn sich anderswo suchen!

Und Jakobe Ansold . . .

Erich von Wölsick ging im Zimmer auf und nieder und wunderte sich. Er dachte auf einmal an sie ohne Groll, der bei ihm jetzt ganz auf die Neerlages abgelenkt war. Es war ein rechter Schwabenstreich von dem alten Fuchs gewesen – von derlei verstand er eben nicht so viel wie von den Kursen – jetzt gerade, wo sein Widerspruchsgeist ohnedies schon wach war, die Erinnerungen an Jakobe Ansold, an den Sommer in ihm zu wecken – an diese seltsamen halbvergessenen Wochen – diese verträumten und vertändelten heißen blauen Sommertage draußen im märkischen Sand – der große See – der Schatten der hohen Buchen am Tor – die niederen Häuser am Markt – ferne Kavalleriesignale aus der Kaserne – Pferdegetrappel – Kasinogeschwätz – und diese ganze Langeweile belebt durch ein Paar große dunkelblaue Augen . . . zwei dunkelblaue Augen überall – er sah sie jetzt deutlich wieder vor sich, während er auf dem Diwan saß und aus den Dampfwolken der Zigarette durchsichtig geballte Berge und Täler in der stillen Luft des Zimmers baute – Luftschlösser, die sich leise lösten – und eine leichte Wehmut beschlich ihn, daß das alles im Leben doch so vergänglich sei und Trübsal das Ende . . .

Nun, wo man ihn so gereizt und mit Absicht darauf gebracht, spielte er mit der Vorstellung von Jakobe Ansold. Es war doch seltsam, daß sie so nahe von ihm in Berlin war – das Schicksal fügte derlei so wunderlich. Was tat sie nur eigentlich hier – den ganzen lieben langen Tag? Die Schule? darin konnte er sie sich gar nicht denken, mit ihrer verhaltenen heißen Lebenslust, ihrem stürmischen Temperament, dessen jähes Aufflackern ihn in diesem Sommer mehr belustigt als erschreckt hatte. Er kannte sie eben doch nicht aus. Es war mehr in ihr, als er gesehen – Rätsel der Seele – Ungelöstes – leidenschaftlich Suchendes – weiß Gott, hätte er es geahnt, er wäre von vornherein vorsichtiger gewesen. Jetzt ertappte er sich plötzlich auf einer unheimlichen Neugier, sie wiederzusehen! Das war der Rückschlag seiner Erlebnisse bei den Neerlages – und mehr – ein unklarer Widerstreit von Gefühlen – von neuem Zorn auf sie und eigenem schlechten Gewissen, von verträumter Liebelei von einst und ein bißchen Mitleid, ein bißchen Reue – es fiel ihm ein, daß es ja den Mörder auch oft in die Nähe seines Opfers zurückzog – und dann zuckte er die Achseln und sagte sich: was sind das für lächerliche Anwandlungen und Vergleiche! Ich bin kein Mörder! – Und gleich hinterher: du hast doch vieles in ihr gemordet! sonst wäre sie nicht hier!

Am meisten beunruhigte ihn, daß sie so still da irgendwo draußen in einer Straße im Südwesten saß, die Hände im Schoß, daß sie so gar nichts von ihm wollte. Offenbar hatte sie ihren Plan. Sie wartete geduldig. Wartete auf ihn. Wenn die Zeit da war, müsse er ihr kommen. Sie zog ihn langsam an sich. Der alte Neerlage hatte ihm ja auch geraten, einmal zu ihr hinzugehen und mit ihr vernünftig zu sprechen. Aber das war Unsinn! Erich von Wölsick stand auf und sagte sich aus seinen Überlegungen heraus entschlossen: Nein! Man durfte diesen Verlockungen nicht nachgehen. Wohin führte denn das? doch nur dazu, daß er die Verantwortung für alle weiteren Folgen ihres Schrittes, von dem er doch nichts geahnt hatte, übernahm. Das sah dann doch so aus, als hätte er diesen Schritt von vornherein gekannt und gebilligt – als wären sie immer durchaus einig darin gewesen – und das Ende: er wurde Jakobe Ansold, wenn er ihr jetzt den kleinen Finger gab, überhaupt nicht mehr los.

Plötzlich schien ihm, daß es wohl am vernünftigsten wäre, er ginge jetzt vorerst auf einige Zeit nach Sommerwerk und sähe auf dem Gut nach dem Rechten. Ja – das wollte er tun! Das zerstreute ihn. Das war doch besser als die Tatlosigkeit hier. Aber gleich darauf erinnerte er sich, daß ja doch im Städtchen der Hauptmann Ansold war! In dessen unmittelbare Nähe konnte er doch nicht sich begeben – überhaupt nicht in dies ganze Geklatsche hinein! Wie er sich auch regen wollte, wo er auch hin wollte, was er vornahm, überall stieß er irgendwie auf Hindernisse, war sein Weg wie mit Brettern verschlagen. Überall stand Jakobe Ansold und hob die Hand: ›Bis hierher und nicht weiter!‹

Zum Überfluß erhielt er noch am nächsten Tag ein Schreiben seiner Mutter aus Sommerwerk, das ihn erbitterte – umsomehr, als sie sonst kaum miteinander im Briefwechsel waren. Ihr ganzer Verkehr ging für gewöhnlich durch Frau von Teichardt, seine Schwester.

»Mein lieber Sohn!« schrieb sie. »Ich kenne Dich und habe mich daher in der peinlichen Angelegenheit mit Frau Ansold, die ja bei uns alle Gemüter beschäftigt, zuerst im Vertrauen an Helme gewendet. Sie teilte mir mit, daß Du ihre Vorstellungen im allgemeinen freundlicher und geduldiger aufgenommen hast, als es sonst in solchen Fällen Deine Art ist, und das gibt mir in meiner Sorge den Mut, nun noch einmal unmittelbar zu Dir selber zu sprechen.

»Mein lieber Erich . . . verplempere Dich nicht! das ist ein unschöner trivialer Ausdruck für eine triviale Sache, die auch nicht schön ist. Ich finde keinen andern, der so genau das ausdrückt, was ich sagen will. Hier im Lande glaubt man allgemein, daß Frau Ansold auf Deinen Rat und Antrieb das Haus ihres Mannes verlassen hat – und viele – darunter gerade die, die Dir am besten wollen und Dich entschuldigen möchten, fügen hinzu, Du würdest Frau Ansold, sobald sie geschieden ist, heiraten! Der Eindruck, den Helme von ihrer Unterredung mit Dir hatte, bestätigt das freilich nicht. Im Gegenteil. Aber hast Du ihr auch die volle Wahrheit gesagt? Man ist doch nicht gerne offenherzig in solchen Dingen, auch seinen Nächsten gegenüber nicht – und so werde ich die Angst nicht los, daß Du doch an diese Verbindung denkst.

»Du mit Deinen Gaben, Deiner Persönlichkeit, Deiner Anwartschaft auf eine glänzende Laufbahn – Du wärst der erste nicht, der über ein solches Abenteuer zu Fall kam. Lieber Sohn . . . es gibt so viele Dinge, die man nach zehn Jahren bereut, und der schuldige Teil ist dann nie der Kopf, immer das Herz! Eine Frau mit irgend einer Vergangenheit ist immer ein Hemmschuh im Leben für einen Mann – das sage ich als Frau – und am meisten für einen Mann wie Dich.

»Ich bitte Dich: sei nicht taub gegen meine Warnung. Brich Deine Beziehungen zu Frau Ansold ab. Mache ein Ende, ehe es zu spät ist. Vielleicht entschließt sich die arme verblendete junge Frau dann doch noch, zu ihrem Mann zurückzukehren. Es wäre ein Segen für alle Teile. Bedenke, was auf dem Spiele steht – zerreiße die Bande, die Dich umfesseln! glaube mir: es ist für Dich und sie das beste und . . .«

Erich von Wölsick ließ das Blatt sinken und lachte zornig auf. Es war wahnsinnig, wie sie ihm zusetzten, mit etwas aufzuhören, das noch gar nicht begonnen hatte! Die übrigen hatten sich wenigstens nur in allgemeinen Redensarten bewegt, seine Mutter aber schrieb ihm da frank und frei: Du willst Jakobe Ansold heiraten!

Auf diesen Gedanken war er selbst noch nie gekommen. Der verblüffte ihn. Der war ganz neu und klang dabei so selbstverständlich. Eine solche schroffe Herausforderung entsprach eigentlich durchaus seinem Wesen. Sie gefiel ihm, eben weil sie unmöglich und unausführbar war. Davon war er selbst vollkommen überzeugt. Aber eben deswegen konnte er voll eines spöttischen Behagens mit dieser Vorstellung spielen, sich ausmalen, wie es wirken – wie er den entsetzten Philistern zeigen würde: da seht, was ich tu' – ich, der Erbherr auf Sommerwerk und der unabhängigste Mensch unter Gottes Sonne! ihr habt mich so lange gepeinigt: Mach ein Ende! jetzt dreh' ich den Spieß um und mache einen Anfang . . .

Er dachte nicht ernstlich daran. Aber eben darum sagte er sich gegen Abend, er könne doch einmal unauffällig an dem Kritzingschen Hause vorbeigehen. Er wollte eigentlich nur sehen, wo Jakobe Ansold wohnte. Einen Zweck hatte das ja nicht. Das gab er sich selbst zu. Es war nur eine seltsame Wißbegierde. Straße und Nummer fand er leicht im Adreßbuch und fuhr statt in seinem Automobil mit der elektrischen Bahn, gegen die er sonst einen tiefen Abscheu hatte, im Gedränge auf der Plattform stehend, lange Zeit durch lärmende, lichterhellte, regenfeuchte Gassen und stieg dann ab und ging suchend seines Wegs, bis er vor einem dreistöckigen altmodischen Gebäude aus den siebziger Jahren stand, das genau so aussah wie alle andern, nur daß es in der Mitte ein großes offenes Portal und darüber die Inschrift: »von Kritzingsche höhere Mädchenschule« besaß. Der dahinter liegende Hof war jetzt am Abend leer und dunkel wie die meisten Fenster der Vorderfront. Der Wind pfiff um die Ecke, seine Sprühschauer rieselten hernieder, es war kalt und Erich von Wölsick frug sich in einem unbehaglichen Frösteln, das nicht nur der Novemberstimmung draußen, sondern auch einem plötzlichen Trübsinn in seinem Innern entsprang: was tue ich denn nur hier? . . . was mache ich nur aus mir seit ein paar Tagen?

Mit einer ungeduldigen Bewegung wandte er sich zum Gehen und schritt den Weg wieder zurück. Gleichgültiges Volk hastete im Dunkeln an ihm vorbei. Er beachtete es nicht. Er war hier in dieser Gegend, in die man von seinem Berlin sonst nie hinkam, wie in einer fremden Stadt.

Und plötzlich sah er drüben, auf der anderen Seite der Straße, Jakobe Ansold.

Seltsamerweise eigentlich ohne Erstaunen. Sie wohnte ja hier. Da war es natürlich, daß man ihr begegnete. So schien sich der jähe atemraubende Eindruck in seinem Verstande widerzuspiegeln. Er gab sich keine Rechenschaft darüber. Er stand und starrte nach ihr hin. Daß sie ihn bemerken würde, brauchte er nicht zu besorgen. Sie blickte, allein des Abends gehend, nicht rechts und nicht links. Aber mancher Vorübergehende wandte unwillkürlich den Kopf nach der auffallend schönen Frau.

Und Erich von Wölsick selber empfand, wie viel schöner sie war, als er sie in der Erinnerung hatte. Sie trug einen dunklen, langen Wintermantel, unter dem ihre Gestalt ganz verschwand, und hielt das Haupt leicht nach vom gebeugt. Und er kannte ihren Gang – diesen flüchtigen und elastischen Schritt – und sah im Schein der Laterne über ihr das klassisch wie eine Gemme geschnittene Profil – genau so wie vor vier Monaten – und etwas schnürte ihm plötzlich das Herz zusammen.

Er achtete nicht darauf, daß ein Laufbursche mit seinem Korb ihm in die Seite stieß. Er konnte sein Auge von Jakobe Ansold nicht trennen. Sie hatte vor einem Metzgerladen halt gemacht und war eingetreten. Innen wog ihr die Mamsell ein bißchen Aufschnitt ab, und er beobachtete das durch die Scheiben in einer Sturmflut widerstreitender Empfindungen, mit einem fieberhaft gespannten Interesse. Sie kam jetzt heraus und stieg in einen Grünkramkeller daneben hinab, wo die Leute sie schon kannten und freundlich grüßten, und erschien gleich wieder, zwei Orangen in der linken Hand, und schritt nun rasch, hinter dem aufgespannten Schirm gegen den Wind ankämpfend, ihrem Hause zu. Dort nahm das große, gähnend schwarze Portal sie förmlich gierig, wie es Erich von Wölsick dünkte, in Empfang. Es verschluckte sie geradezu in seine Finsternis hinein, und er stand unten und wartete, ob irgendwo ein Fenster sich erhelle. Jawohl – da – im dritten Stock – das zweite von der Ecke. Ein Vorhang war da herabgelassen. An ihm zeigte sich einen Augenblick der Schattenriß einer jungen Frau, die sich, nachdem sie den Hut abgenommen, ordnend mit der Hand über das Haar strich. Dann war nichts mehr zu bemerken. Aber Erich von Wölsick harrte noch geraume Zeit unten und ließ sich naß regnen, bis er endlich langsam, in tiefes Sinnen verloren, den Rückweg antrat.

Daheim angekommen, verließ er an diesem Abend seine Räume nicht mehr. Er war in einer sonderbar benommenen Stimmung. Mit den Gedanken beharrlich bei Jakobe. Eine Art Schadenfreude oder Rachsucht nistete sich in ihm ein. Das wäre wahrhaftig ein Denkzettel für alle, die es anging, wenn er – er spann den Faden lieber nicht zu Ende. Er hatte jetzt schon ein bißchen Angst davor. Es war ein Spiel mit dem Feuer. Schließlich – und da zuckten die Flämmchen schon stärker auf – war Jakobe nicht schön? aus einem alten Adelsgeschlecht? die Tochter eines preußischen Generals? ließ sich nicht noch aus ihr so unendlich viel an Eleganz, an Klugheit, an Temperament entwickeln, was bisher in den engen Verhältnissen einer kleinen Hauptmannsfrau verkümmert war? War sie nicht eigentlich eine ungewöhnliche Natur und diese Tat – ihre Flucht von Mann und Herd, den Leuten zum Trotz, dafür der Beweis? Und stand nicht auch er über dem Durchschnitt und brauchte eine dem ebenbürtige Frau? Und sie wartete offenbar nur auf ihn! sie war ihrer Sache schon sicher. Sie kannte ihn besser als er selber. Und wenn er vor Jakobe Ansold trat, kam er nicht als Bittsteller. Da brauchte er keine Absage zu befürchten wie da drüben . . .

Wahrhaftig, seine Mutter wußte gar nicht, was sie getan! Sie hatte ihm da in aller Unschuld einen ganz guten Rat gegeben! Als er so weit war, schüttelte er, sich aufrichtend und mit der Hand sich über die Augen fahrend, den Kopf. Nun war es aber genug der Seifenblasen! Er rief seine Gedanken zurück, ehe die sich noch weiter in dies Land der Versuchung verirrten. Sonst wurden sie ihm schließlich noch ernsthaft gefährlich. Morgen würde er wieder einen klaren Kopf haben. In dieser Hoffnung legte er sich schlafen. Aber am nächsten Tage war die alte Unruhe noch da und am zweiten noch stärker – ein unbestimmter Drang, daß irgend etwas geschehen müsse, um ihn aus dieser ganzen verfahrenen Sachlage, in der er stak, herauszuhelfen.

Aber natürlich – die Vernunft sprach dagegen – die Vernunft behielt recht. Das wußte er und deswegen fuhr er förmlich erbittert auf, als am Sonntag nachmittag sein Schwager, der Geheimrat von Teichardt, den er besuchte, gleich in den ersten Minuten, als sie ungestört im Rauchzimmer beisammen saßen, sagte: »Eigentlich habe ich ja eine heilige Scheu, mit dir darüber zu reden! Du fährst einem ja gleich mit ein paar Grobheiten in die Parade! aber . . . du hättest um jeden Preis verhindern sollen, daß Frau Ansold hierherkam . . .«

»Wie konnte ich denn das? ich wußte es doch gar nicht . . .«

Der andere sah ihn zweifelnd an. Also auch der glaubte nicht, daß zwischen ihm und jener alles aus war! kein Mensch auf der weiten Welt glaubte es! Endlich versetzte er langsam: »Es gibt nun einmal Dinge, Erich, die nur in einem gewissen Zusammenhang in die Köpfe unserer lieben Zeitgenossen hineingehen. Darunter leidest du jetzt – wie du sagst unschuldig – aber du mußt etwas dagegen tun . . .«

»Ich kann sie doch nicht aus Berlin ausweisen lassen – um Gottes willen!«

»Nein. Aber da sie um deinetwillen das getan hat, hast du Macht über sie. Nutze diese Macht! bitte sie, heimzukehren – zu ihrem und zu deinem Besten –«

»Ich sehe sie doch nicht und spreche sie nicht!«

»Geh zu ihr hin! sie wartet doch natürlich nur, daß du kommst! Und dann . . . was hast du denn?«

Der Geheimrat machte große Augen. Erich von Wölsick war plötzlich auflachend emporgesprungen. Er war ganz blaß vor Erregung und sagte: »Also auch du? wenn ihr nur wüßtet, was ihr mit eurer Vielgeschäftigkeit anrichtet . . .«

»Ich will nur dein Bestes! mach dich ganz frei, warte einige Monate, und dann geh bei uns auf die Brautschau! Draußen, unter den Töchtern des Landes! es gibt auf unsern märkischen Gütern noch Anne-Maries und Evas und Brigitten genug, die froh sind . . .«

»Und vorher soll ich zu Jakobe Ansold? Ihr hetzt einen ja geradezu in den Unsinn hinein! Als hätte sich die ganze Welt dazu verschworen! Es ist ein Chorus um einen . . .«

»Nein! es ist dein ewiger Widerspruchsgeist! Du mußt ja immer alles umgekehrt so machen, als es andere tun oder dir raten!«

»Gleichviel was – ich mag es nicht hören! Ich habe es satt bis dahin!« Er machte eine Bewegung an den Hals. »Adieu!«

Er verließ, ohne auf die Einwände des bestürzten Schwagers zu achten, das Haus und stürmte die Treppen hinab, und unten auf der Straße sagte er in blindem Grimm aufatmend zu sich: »Wahrhaftig – das ist ein Wink! Jetzt fahre ich gerade zu Jakobe Ansold . . .«

Er sprang in eine vorüberkommende Droschke und gab dem Kutscher die Adresse der Kritzingschen Schule. Erst, als er im Wagen saß und der sich in kurzem, oft stockendem Trab durch die verkehrsreichen Straßen der Friedrichstadt wand, kam er allmählich zur Besinnung. Und es erwachte ein ihm angeborener Instinkt, der eigenen ersten Erregung zu mißtrauen.

Er ließ die Droschke immer noch weiterfahren – er hatte ja noch Zeit – aber je näher er sich dem Südwesten näherte, desto stärker wurde in ihm das Zögern, alles wie im Rausch auf eine Karte zu setzen. Es fiel ihm ein Sprichwort ein: »Rache ist ein Gericht, das kalt genossen werden muß!« und er gab plötzlich den Befehl, wieder umzukehren, nach dem Königsplatz zu.

Daheim angekommen, war er zufrieden, daß er so getan! Aber es stürmte immer noch in ihm und er fühlte wohl, daß da Kräfte seiner Natur lebendig waren, gegen die sein Wille auf die Dauer wenig vermochte. So stand er am Fenster und schaute mit einem finsteren Lächeln hinaus in das kalte, winterlich trübe Berlin, und in einem Wirrwarr von Empfindungen ging es ihm durch den Kopf: ich dachte, ich hätte jetzt die größte Torheit meines Lebens glücklich hinter mir! Aber vielleicht steht sie mir noch bevor . . .



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