Rudolph Stratz
Herzblut
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI

Als Erich von Wölsick langsam an dem frostklaren Nachmittag die Tiergartenstraße hinabschritt, war ihm zu Mut wie einem Nachtwandler, der nicht weiß, wohin er mit geschlossenen Augen geht, und doch gehen muß. Sein Wille war gebrochen. Mochten andere ihn schieben – mochte das Schicksal ihn schieben – ihm war es recht . . . Noch kurz vor dem Ziel kam ihm der Gedanke: »bleib stehen!« – und er ging weiter, die letzten zwanzig Meter bis zu dem Neerlageschen Hause – und er besann sich dort noch einmal: »kehr um!« – und trat in den Vorgarten – und nahm sich vor: »klingele nicht!« – und zog schon die Schelle und frug den öffnenden Diener mit einer rauhen und gepreßten Stimme – ihn selber ärgerte dieser Mangel an Selbstbeherrschung – ob die Herrschaften zu Hause seien.

»Herr Generalkonsul ist noch nicht zurück und Frau Generalkonsul sind in die Stadt gefahren. Aber das gnädige Fräulein ist daheim . . .«

»Dann melden Sie bitte, ob ich meine Aufwartung machen kann!«

Der Mann, mit dem er sprach, war derselbe, der vorhin den Brief gebracht. Er lächelte – Erich von Wölsick kannte dies diskret vertrauliche Dienstbotenlächeln, mit dem man ihn früher im Hause Neerlage bereits empfangen hatte – und sagte, die Karte nehmend: »Das gnädige Fräulein weiß ja schon!«

Und gleich darauf war er wieder zurück und führte den Besucher die Treppe hinauf in das erste Stockwerk. Erich von Wölsick war da noch nie gewesen. Es waren da keine Empfangsräume. Zum ersten Mal betrat er jetzt Sophie Neerlages eigentliches Wohnzimmer. Das Gemach war ganz anders, als er es sich gedacht hatte, viel mädchenhafter, wohl noch aus früherer Zeit, mit einfachen, weißen Möbeln, mit Aquarellbildern der Eltern, religiösen Stahlstichen, einem Bücherbrett an der lichten Tapete, voll einer strömenden Helle, die durch die großen Scheiben aus dem verschneiten Park hinter dem Hause eindrang.

Und in diesem Tageslicht erschien ihm Sophie Neerlage, die mitten im Zimmer stand, viel blasser, im Gesichte schmaler, als er sie in der Erinnerung hatte. Sie trug ein weißes Hauskleid, das ihren hohen, tannenschlanken Wuchs zur vollen Geltung brachte, sie hatte die alte angenehme Klugheit in den Augen, die vollkommene Sicherheit von einst, während sie ihm, mit dem Schatten eines Lächelns um ihre Lippen, die Hand entgegenstreckte und ihn zum Sitzen einlud. Aber so selbstverständlich und in seiner Art ganz einfach auch wieder alles bei ihr herauskam, es war doch ein neuer Zug darin. Sie sah nicht nur angegriffen aus, sondern auch verändert – nicht frauenhafter, aber älter geworden – Erich von Wölsick wurde sich selbst über den Eindruck nicht recht klar. Er nahm ihr gegenüber Platz, und ehe er noch von sich aus ein Wort gefunden, begann sie: »Nun – da sitzen wir zwei Invaliden! . . . Wie geht es Ihnen denn, Herr von Wölsick? Sie sehen noch recht elend aus . . .«

Er schwieg und sie setzte hinzu: »Ich auch! Das dachten Sie nämlich, und die Höflichkeit verbot Ihnen, es zu sagen! . . .«

»Sie waren krank, gnädiges Fräulein . . .?«

»Papa hat's Ihnen ja erzählt. Das Petersburger Klima ist gräßlich. Aber reden wir nicht weiter davon. Beichten Sie mir auch nicht zu viel von Ihrem Schmerzenslager. Man muß sich nicht zu sehr um diese Maschine kümmern . . .«

Dabei schaute sie mit einem eigentümlichen kalten Blick an ihrer Gestalt hernieder und dann in den Spiegel gegenüber und versetzte mit einem unterdrückten Lächeln: »Sehen Sie nur: Das sind Sie und ich . . . die beiden bleichen Leutchen da im Glas! . . . Wir haben uns wirklich zu unserem Nachteil verwandelt . . .«

»Für mich gebe ich es gerne zu, gnädiges Fräulein!«

Sie schien seinen finsteren Gesichtsausdruck nicht zu beachten. Das Mädchen hatte Tee gebracht. Sie goß ihrem Gaste ein und bot ihm Cakes, in einer liebenswürdigen Geschäftigkeit, als wäre gar nichts Besonderes zwischen ihnen, und frug dann plötzlich: »Nun – wo haben Sie denn die Bücher?«

»Welche Bücher?«

»Mein Gott . . . die maximes et pensées diverses . . . die französischen Aphorismen . . . ich bat doch darum . . .«

»Die hab' ich nicht mitgebracht!«

»Vergessen?«

»Nein. Ich hab' sie absichtlich zu Hause gelassen!«

»Aber warum denn?«

Er sah sie fest an und sagte dann: »Weil ich nicht Komödie spielen will! Das haben wir doch nicht nötig! Deswegen bin ich doch nicht hier, um Ihnen ein paar entliehene alte Bücher zurückzugeben! Wem wollen wir denn das weismachen? Wir sind doch allein im Zimmer!«

Sie war über seine Brüskheit keineswegs betroffen, sondern erwiderte: »Gewiß! Also lassen wir diese Schnörkelchen weg. Wir brauchen sie wirklich nicht. Wir können ruhig miteinander reden! Gerade weil wir es noch nie getan haben! Dadurch ist auch nie ein Wort gesprochen worden, das einer dem anderen nachtragen könnte – nicht wahr?«

»Ich glaube – es sind doch Mißverständnisse vorgekommen!«

»Nun eben! Als uns der Lauf der Dinge auseinander führte, hat es mir nachträglich wirklich leid getan, daß das mit einer Art von gegenseitiger Verstimmung geschehen ist. Die vernünftigen Leute sind so selten auf der Welt – Sie als Mann mögen das nicht so empfinden, aber ich versichere Sie: ich als Frauenzimmer friere manchmal geradezu in meiner splendid isolation – weswegen müssen sie sich denn durchaus zum Schluß die Zähne zeigen? Darum freue ich mich, daß Sie noch einmal gekommen sind, Herr von Wölsick!«

»Und zu diesem Abschiedshändedruck haben Sie mich herberufen?«

Sie hob den Kopf mit einem Erstaunen in den Augen: Zu was denn sonst? Aber er glaubte ihr nicht. Er war seiner Sache ihr gegenüber sicher, ohne dabei irgend ein Siegergefühl zu empfinden, und fuhr fort: »Sie haben leider recht. Es ist nie zwischen uns zu einem offenen Wort gekommen. Es war unser beider Fehler. Jeder von uns hat einmal geschwiegen, als er hätte reden sollen . . .«

»Noch eine Tasse Tee, Herr von Wölsick?«

»Ich bitte!«

Ihre Hand zitterte, als sie sie ihm hinstellte.

»Ich verstehe Sie nicht, Herr von Wölsick! Ich gehe selbstverständlich mit keinem Wort auf das ein, was Ihnen inzwischen anderweitig widerfahren ist. Aber wie ich unter diesen Umständen, sobald ich davon hörte – und Sie wissen: diese Art Fama reitet schnell! – wie ich da hätte eine andere Haltung bewahren sollen, als ich tat . . .«

Er nickte.

»Ganz gewiß! Es ist alles meine eigenste Schuld! Ich leugne nichts mehr und beschönige nichts mehr! Am wenigsten Ihnen gegenüber!«

Der tiefe Ernst seiner Worte spiegelte sich auf ihrem Antlitz wider. Sie sah ihn schweigend an, mit verschlungenen Händen in den Stuhl zurückgelehnt, und er fuhr fort: »Es gab eine Zeit der Plänkelei zwischen uns! Da machten wir es, wie es alle Leute machen – und gingen vorsichtig umeinander herum und suchten uns gegenseitig einen Vorteil abzugewinnen und zu sehen, wer von uns der Stärkere sei. Darüber bin ich hinaus! Ich kann nicht mehr mit diesen Dingen spielen – Es hat sich zu schwer an mir gerächt. Für all dies Hin und Her – für alle Redensarten und doppelsinnigen Worte bin ich verloren. Ich habe einen Ekel davor. Ich kann nur noch ganz einfach sagen, was ist! Wollen Sie's hören?«

Sie bejahte mit einer leisen Bewegung des Kopfes.

»Und ich glaube, gerade zu Ihnen, Fräulein Neerlage, kann man so sprechen! . . . Sie erschienen mir immer als ein merkwürdig ehrlicher Mensch – bei all Ihrer Weltgewandtheit und Ihrem Luxus und Ihrer Eleganz – oder besser gesagt – Sie sind aufrichtig, weil es Ihnen nicht der Mühe wert ist, den Verkehr als Kleinkrieg zu betrachten. Es langweilt Sie. Sie haben gerade dank Ihrer Klugheit einen besseren Charakter als andere . . .«

»Ich weiß nicht, warum wir plötzlich von mir reden! Sprechen Sie doch lieber von sich!«

»Ich wollte nur erklären, weshalb ich so offen bin, ohne Furcht, mißverstanden zu werden . . .«

»Ich kenne Sie doch, Herr von Wölsick!«

»Nein. Niemand kennt mich. Glauben Sie mir: der Mensch, der jetzt hier vor Ihnen sitzt, und der vor ein paar Monaten – zwischen denen liegt eine Welt.«

Er verstummte eine Sekunde. Dann fuhr er halblaut, den Blick am Boden, fort: »Was ich früher war – was ich jetzt bin, das ist durch ein Erlebnis geschieden – wie das äußerlich verlaufen ist, das hat man Ihnen erzählt – was es innerlich für mich bedeutet hat . . . ich kann Ihnen nur das eine sagen: Durch dies Erlebnis ist die Schuld in mein Leben gekommen! Ich habe bis dahin nicht gewußt, was Schuld, in höherem Sinne, ist. Ich war zu ahnungslos egoistisch! Nun hat sich das gegen mich gekehrt und mich tiefer, als ich mich selber kannte, getroffen. Es gibt Krankheiten – von denen erholt man sich zwar – aber man wird nie wieder ganz gesund. So werde ich auch nie wieder völlig genesen!«

»Sie müssen den Mut zur Gesundheit haben, Herr von Wölsick!«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich muß Ihnen alles sagen, Fräulein Neerlage – es ist meine Pflicht, in einer so ernsten Stunde. Sie müssen durchaus begreifen, was geschehen ist – sonst beurteilen Sie mich zu milde.«

Sie hörte ihn ruhig an. Er bemerkte einen an ihr ganz fremden Ausdruck gütiger Teilnahme auf ihrem Gesicht. Und dies leise Mitleid tröstete ihn. Sie war wirklich ein Mensch. Sie war besser, als er gedacht. Und in seiner Schwäche empfand er es als eine unvermutete, plötzliche Wohltat, ihr zu beichten. Bei ihr konnte er es. Sie verstand ihn, vielleicht gerade, weil sie so viel mit ihm Gemeinsames hatte. Manches, was er nun von sich sagte, klang sicher auch in ihr nach – die vergoldete Einsamkeit des einzigen Kindes aus reichem Hause – die falsche Stellung des Heranwachsenden zu Welt und Menschen, das lächelnde Mißtrauen gegen jedermann – er scheute sich nicht – er erzählte ihr seinen Werdegang und seine Schuld gegen Jakobe Ansold, so wie er sich schon oft vor sich selber, vor seiner Schwester, seinem Schwager, angeklagt. Er vermied es dabei, Sophie Neerlage anzusehen – aber er fühlte: die folgte seinen Worten mit demselben Ausdruck gleichmäßigen und klaren Ernstes auf den blassen Zügen, während er, mitleidlos gegen sich, aussprach, was zwischen ihm und Jakobe Ansold gewesen, bis gestern abend, bis zum letzten Ende . . . Er begriff selber gar nicht, wie er das konnte – wie er darauf kam, das zu tun – diesen Namen in diesem Hause auszusprechen! Sophie Neerlage war ihm doch eine Fremde. Sie waren sich doch nur im Salon begegnet –. Keiner von beiden hatte bisher einen Blick in das Herz des anderen getan – und doch erschien sie ihm jetzt altvertraut, mit diesem seltsamen Leidenszug um den Mund, der sich immer mehr vertiefte, je länger er redete . . . Dinge redete, die ihm alles zu nichte machen mußten, weswegen er gekommen. Er war auf einen ganz anderen Weg geraten, als er gewollt. Aus einer Werbung war eine Beichte – aus einer Vernunftehe ein Verzicht geworden. Und er sprach weiter und weiter. Er konnte nun, da er begonnen, nicht vor dem Ziele enden. Er mußte diese Last von der Seele haben. Er war es Sophie Neerlage schuldig. Nachher konnte sie ja tun, was ihr beliebte, und was sie tat, das war klar. Ein Dank für sein Vertrauen – eine Hand zum Abschied. Dann war auch das vorbei.

Einerlei! Er bereute es nicht. Jetzt als er endete, hatte er die Empfindung, daß er gar nicht anders hätte handeln können. Nach seinen letzten Worten entstand eine lange Pause. Es klopfte. Der Diener kam mit der Karte eines Besuchers herein. Sophie warf einen flüchtigen Blick darauf und sagte: »Ein für allemal! Ich bin jetzt nicht zu Hause! Merken Sie sich das!« – dann wandte sie, während sich die Türe schloß, ihre Augen wieder Erich von Wölsick zu, wie in einer Erwartung, daß er ihr noch mehr mitzuteilen habe, und er versetzte: »Darum war ich so froh, daß ich Ihren Brief erhielt und damit die Erlaubnis, noch einmal hierherzukommen und mit Ihnen über diese Dinge zu reden . . . Verargen Sie mir meine Offenheit nicht! Sie lag nicht in meiner Absicht. Aber wie ich Ihnen gegenübersaß, da fühlte ich: Hier muß ich die Wahrheit sagen –«

»Und ich danke Ihnen dafür, Herr von Wölsick!«

Es klang ruhig und einfach. Und sie fuhr fort: »Ich habe dadurch eine ganz andere Meinung von Ihnen gewonnen . . .«

»Aber keine bessere!«

»Doch! Eine viel bessere! Es ist da etwas bei Ihnen herausgekommen, was ich früher manchmal bei Ihnen geahnt hab', als ob es vorhanden wäre oder wenigstens vorhanden sein könne – und was ich doch nicht vor mir wahr haben wollte, weil Sie es doch eigentlich nie zeigten . . .«

»Und was ist das?«

»In solchen Dingen ist unsere Sprache arm. Nennen Sie's Herz . . . oder nennen Sie's Seele . . . das Lebendige . . . das Innere im Menschen . . . das, was schmerzt . . . durch das lebt man ja eben oder kommt doch zum Bewußtsein, daß man lebt . . .«

Ihre seltsamen Worte befremdeten ihn. Sie klangen ihm wie ein Rätsel. Ein Stück von ihr selber schimmerte durch. Ihm ahnte, daß er sie auch noch nie recht gekannt . . .

Sie erriet seine Gedanken.

»Ihnen geht es gerade so wie mir,« sagte sie. »Sie haben sich unter mir auch nie recht viel gedacht – das weiß ich wohl –! Wie erschien ich Ihnen denn? Alles aufs Äußerliche gestellt – reichlich Verstand für ein Frauenzimmer – ein bißchen Geschmack – viel Luxus und noch mehr Oberflächlichkeit – man knetet sich ja leicht einen Menschen nach ein paar Eindrücken zurecht . . . wenigstens solche Salongeschöpfe wie wir . . . ich hab' es mit Ihnen, ehrlich gestanden, ja auch nicht besser gemacht . . . für mich hießen Sie ja auch eigentlich nur: tadelloser Frack, guter Name, gute Manieren – und nun, wo wir uns als zwei recht blasse Leute wiedersehen, sind wir auf einmal jeder über den anderen erstaunt, daß er 'ne Seele hat! . . . Ich hab' nämlich wirklich eine, Herr von Wölsick . . .«

»Nun – daran kann doch niemand zweifeln . . .«

»I wo!« sagte Sophie Neerlage. »Woher sollten es denn die Leute wohl wissen! . . . Die brauchen es auch gar nicht . . .«

Es war still zwischen ihnen geworden. Und Erich von Wölsick ging es durch den Kopf: sind wir uns nun nah oder fern? – Natürlich fern – nach seinem Geständnis – Und doch: Vertrauen um Vertrauen. Unglück machte auch wieder Freunde – ein gemeinsames Unglück, wie es sich irgendwie, gleichsam mit dünnen, halb unsichtbaren Herbstfäden um sie beide spann. Stumm, in einer wunderlichen, warmen Heimatstimmung schaute er aus dem kleinen Raum hinunter in den verschneiten Garten. Da hantierte ein Mann. Was schaufelte der wohl im Boden? Dort drüben war ein Brett mit Körnern . . . Um das flatterten die Spatzen . . . Einen Augenblick lebten all diese Nichtigkeiten in seinem leeren Kopf. Dann besann er sich und nahm sich zusammen. Er mußte nun gehen, nachdem alles so anders gekommen, als er gewollt. Er erhob sich und nahm seinen Hut von einem Seitenstuhl. Sophie Neerlage blieb sitzen und frug: »Sie wollen fort, Herr von Wölsick?«

»Ich muß doch wohl!«

»Warum . . .«

»Nun – wenn man das alles über die Lippen gebracht hat wie ich eben, vor Ihnen, dann ist der Abschluß eben auch der Abschied.«

»Bleiben Sie nur noch!«

Er sah sie betroffen an. Sein Herz klopfte, als er sich wieder setzte. Er verstand sie nicht. Sollte sie wirklich darüber hinwegkommen? Es schien ihm unmöglich. Und Sophie Neerlage sagte, immer mit ihrer lächelnden Ruhe: »Wir sind doch nun einmal zwei Schicksalskrüppel. Warum sollen wir da nicht gute Kameradschaft miteinander halten?«

Und nun war die Anspielung auf ihr eigenes Geschick so deutlich, daß er sich nicht mehr zurückhalten konnte, und frug: »Wissen Sie denn wirklich, was solch ein Schmerz bedeutet?«

Sie nickte.

»So gut wie Sie!«

»Aber nicht aus eigener Erfahrung!«

»Doch!«

Und nach einer kurzen Weile setzte sie hinzu: »Es liegt weit vor Ihrer Zeit! Sie waren es nicht, Herr von Wölsick!«

Dabei war wieder ein melancholisches Lächeln um ihre Lippen, und er sagte: »Das hab' ich auch nie gedacht!«

»Und es war natürlich von allem Ihrigen verschieden!« fuhr sie fort und blickte dabei an ihm vorbei, unverwandt auf den Büschel weißer Treibhauslilien, der vor ihr auf dem Tische stand und einen süßen, betäubenden Hauch verbreitete. »Was bei Ihnen Schuld ist, das ist bei mir nur Erinnerung. Erinnerung an ein Nichts. Denn es ist Nichts geschehen! Kein Wort – kein Brief – alles nur ein einziges, weißes Blatt! Und es ist lange her! . . . Und trotzdem . . . Sie wundern sich, daß ich so tief erleben kann. Aber es ist so! Sonst wäre ich doch schon längst verheiratet! Ich werde doch bald siebenundzwanzig, wie Sie wissen. Aber ich gehöre wohl zu den Menschen, die so was nun einmal nicht wieder verwinden . . .«

Er wagte keine Antwort.

Sie fuhr fort: »Das weiß niemand. Am wenigsten meine Eltern. Die wissen nie etwas, was ihre Tochter angeht. Ich hätte es auch Ihnen nicht gesagt. Aber Sie haben mir ein so großes Vertrauen geschenkt. Ich möchte es erwidern. Ich glaube, ich bin es Ihnen schuldig.«

Und in einer plötzlichen, instinktiven Abwehr wandte sie gegen ihn den Kopf: »Aber bitte, fragen Sie mich nicht weiter! wollen Sie nicht mehr wissen – niemals! Ich kann nicht. Es kommt keine Silbe mehr über meine Lippen. Was ich Ihnen gesagt habe, genügt, damit Sie mich kennen! Sie wissen jetzt: ich habe gerade so gelitten wie Sie . . . nicht Monate, sondern Jahre und Jahre . . . und hab' mich nicht durch Tätigkeit heilen können wie ein Mann, sondern nur mich selber im Gesellschaftstrubel verlieren . . . An dem hatt' ich ja auch Freude! . . . Ich will mich gar nicht anders machen, als ich bin! Ich bin eigentlich ein rechtes Kind der Welt. Ich hätte so viel Zeug in mir, im Leben fidel und glücklich zu sein . . .«

Sie schwieg eine kurze Weile. Dann hub sie wieder an: »Schließlich war ich so weit ruhig geworden – ich hatte mich mit der Hoffnungslosigkeit abgefunden – das hat Jahre gebraucht, Herr von Wölsick! – Ich wollte eine Vernunftehe eingehen. Und es wäre auch gegangen! Gerade damals, endlich hatte ich mühsam Fassung genug! Und daß daraus im vorigen Herbst nichts wurde, das hat mich infolgedessen viel schwerer getroffen, als Sie sich wahrscheinlich vorstellen . . . Der einzige glückliche Zeitpunkt, in dem ich einmal stark genug dazu war, war versäumt. Ich will nicht sagen, daß ich gerade deswegen gleich hinterher in Petersburg krank geworden bin – es war wirklich eine Erkältung mit allerhand bösen Folgen – aber meine Widerstandskraft war eben geschwächt – geistig und dann auch körperlich . . . es brach zu viel über mich herein oder besser: es brach wieder zu viel in mir zusammen, was ich mir mit allen Kräften aufgebaut hatte – es wurde so viel Altes, wieder wach . . . so bin ich in die Verfassung geraten, in der Sie mich jetzt sehen – und habe nur noch den einen Wunsch: Ruhe . . . Ruhe . . . Ruhe . . . Gerade wie Sie . . .«

Erich von Wölsick richtete schweigend und ernst seine Augen auf sie.

Sie fuhr fort: »Der Unterschied ist nur, daß man bei Ihnen das Äußerliche weiß . . . durch eine Ehescheidung . . . durch Kugelwechsel . . . durch die Zeitungen . . . Meine Wasser sind tief! Aber in der Sache ist's ein und dasselbe! Wir sind Leidensgefährten, Herr von Wölsick!«

Und nun begriff er sie: Sie beide zusammen – beide einander wohlbekannt – in beiden der gleiche, tödliche Bruch – da war gegenseitige Schonung – da war Rücksicht – man tat sich nicht weh – es war ein herbstlicher Gedanke – viel Entsagung darin – und doch: man war nicht mehr allein – man konnte nicht mehr allein sein – man war zu schwach dazu – und er sprach: »Sie sind der einzige Mensch, der mich versteht . . .!«

Dabei erfaßte er ihre Hand. Sie ließ sie in der seinen. Und nun wußte er: Sie war bereit, ihn zu nehmen. Er blieb ruhig. Das hier war keine Eroberung – es war ein Übereinkommen – ein Handel zwischen zwei Menschen, die sich auf sich selber nicht mehr verließen – der Lahme trug den Blinden. Und er murmelte: »Wollen Sie es wirklich mit mir versuchen?«

Sie drehte ihm den bisher halb angewandten Kopf zu und nickte leise, mit niedergeschlagenen Augen. Er zog ihre Hand an die Lippen und drückte einen Kuß darauf. Es war keine Verlobung wie andere. Kühl bis ans Herz hinan. Nur ihrer beider Verstand begegnete sich. Ein Frösteln der Einsamkeit führte sie zusammen. Und draußen wartete ein Leben auf sie, das unabhängig war – und reich – und glänzend . . .

Im Treppenhaus scholl eine sehr starke Stimme. Es war die des Generalkonsuls Neerlage, der aus seinem Bankhaus in der Friedrichstadt zurückkehrte. Man hörte deutlich, wie er den Diener frug: »Was? Der Herr von Wölsick ist da? . . . Schon seit einer Stunde? . . . Nanu . . .« und dann näherten sich seine raschen Schritte Sophies Zimmer.

Und Erich von Wölsick sagte hastig: »Nur eines noch . . . ich möchte nicht in Deutschland bleiben – wenigstens die nächsten Jahre einen Wirkungskreis außerhalb haben . . . Ist es Ihnen so recht?«

»Ja. Nur fort von hier! . . . Fort von Berlin!«

Fast zugleich klopfte ihr Vater und trat ein. Auf der Schwelle blieb er stehen. Er schien Lust zu haben, den Überraschten zu spielen. Aber ehe er noch dazu kam, sein lautes »Nanu?«, das ihm schon auf den Lippen lag, zu wiederholen, sagte Sophie Neerlage kurz und bestimmt: »Papa – Herr von Wölsick und ich haben uns eben verlobt!«

Und als er kaum anfangen wollte, mit einem: »Ja – aber erlauben Sie mal!« seine väterliche Würde zu wahren, wurde sie ungeduldig. Die Verwöhnung der einzigen Haustochter, um die sich alles drehte, brach hindurch und sie versetzte schroff: »Bitte, Papa – mach keine Einwendungen! Ich kann es jetzt nicht hören! Ich bin nicht in der Verfassung dazu! Du bist ja einverstanden! Ich weiß es! Es ist ja dein eigenster Wunsch!«

Der alte Herr warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, so als ob sie ein Geschäftsgeheimnis verraten habe. Dann meinte er langsam: »Ja – aber nach der Art, wie Herr von Wölsick heute vormittag zu mir sprach . . .«

»Seitdem hab' ich ihm doch geschrieben!«

Zugleich mit ihren Worten trat Erich von Wölsick vor und sagte halblaut: »Herr Generalkonsul, ich bitte Sie um die Hand Ihres Fräulein Tochter!«

Und nun glänzte seinem Gegenüber, wenn er sich vielleicht auch ein bißchen ärgerte, daß alles über seinen Kopf hinweggegangen, die befriedigte Schlauheit aus den kleinen durchdringenden Augen und er versetzte, während er dem anderen die Rechte schüttelte: »Na – denn also in Gottes Namen! Seien Sie mir herzlich willkommen, mein lieber Wölsick . . . Alles Nähere besprechen wir später, wenn es Ihnen recht ist – vielleicht morgen nach dem Frühstück! Na – und wo steckt denn die Mama, Sophiechen? Die ist doch die Hauptperson von 's Ganze . . . die muß doch auch ihren Segen dazu geben!«

»Sie ist noch nicht aus der Stadt zurück! Und nun höre, bitte, Papa: Ich habe eine ausdrückliche Bedingung, von der ich nicht abgehe! . . . Unsere Verlobung soll jetzt noch nicht veröffentlicht werden – es ist noch zu früh – es muß noch etwas Zeit vergehen, bis allerhand vergessen ist! Es ist besser so! Nicht wahr?« Sie warf einen fragenden Blick des Einverständnisses zu Erich von Wölsick und er bejahte stumm – das mußte ihrem Empfinden überlassen bleiben – und ihr Vater sagte: »Na – schön!« Ihm wäre das Gegenteil lieber gewesen. Er hätte gerne durch möglichst offenkundigen Verlobungspomp das Gerede zum Schweigen gebracht, das den Schwiegersohn noch umgab. Aber er fügte sich. Er setzte sich zu den beiden. Eine leise Alltagsernüchterung trat ein. Sie haftete an der Person des alten Neerlage, der nur in Geschäften lebendig und umgänglich war. Und die Verlobung der einzigen Erbtochter war für ihn ein Geschäft allerersten Ranges. Er betrachtete das so, ohne es zu wollen. Es ging immer wieder unwillkürlich aus seinen Reden hervor. So kam durch ihn ein Rückschlag in die bisherige erregte Stimmung zwischen Erich von Wölsick und Sophie. Und nach einiger Zeit, als der Besuch des Arztes, der noch täglich nach ihr sah, angemeldet wurde, bat sie ihren Verlobten selbst, für heute zu gehen.

»Ich bin zu erschöpft!« sagte sie mit schwachem Lächeln. »Und vom Alleinsein nachher ist doch keine Rede mehr! Wenn Mama kommt, weicht sie uns nicht mehr von der Seite und spricht in einem fort von der Aussteuer. Das kann ich mir schon denken – also lieber auf morgen, bei hellem Tag und Sonnenschein . . .«

Sie drückten sich beide ernst und fest die Hand. Dabei neigte sie leise den Kopf. Er beugte sich herab und küßte sie auf die Stirn und auf die Lippen. Zugleich schloß er eine Sekunde die Augen. Es war ihm plötzlich wie ein Verrat an Jakobe Ansold. Noch einmal fanden sie sich beide in einem langen, stummen Blick. Dann folgte Erich von Wölsick dem vorausgegangenen Generalkonsul und stieg mit ihm die Treppe hinab. In einem Zimmer zu ebener Erde war alles zu irgend einer abendlichen Aufsichtsratssitzung vorbereitet. Eben traten drei, vier Herren mit schwarzen Aktenmappen unter dem Arm in die Halle, und einer von ihnen, ein großer, schlanker Mann mit langem Vollbart, sagte eifrig zu den anderen: »Der Aufsichtsrat hat halt wieder mal geschlafen! Die Frage ist einfach die: Is die Geschicht' patentfähig oder nicht?«

Er sprach mit leichtem österreichischem Anklang. Und der Generalkonsul, der es gehört hatte, rief zornig von oben: »Na – na, Herr Nachbar! Ich bin der Vorsitzende dieser Schlafmützen!« er nannte den Dr. Schmidt von Wildenwarth, der viel in seinem Hause verkehrte, oft im Spaße »Herr Nachbar«, weil ihre beiden prunkvollen Villen am Wannsee dicht nebeneinander lagen – und die unten lachten, und der Angeredete hob seinen feingeschnittenen Apostelkopf mit dem goldenen Zwicker vor den träumerischen blauen Augen in die Höhe und sagte dann gutmütig lächelnd: »Nichts für ungut – Herr Neerlage! Ah . . . schau her . . . Herr von Wölsick – auch wieder unter den Lebenden? Sie hat man ja lang hier vermißt . . .«

Und auch die anderen lächelten und blickten Erich neugierig an, und als er nach kurzer Begrüßung sich von ihnen trennte und auf die Straße hinaustrat, da wußte er: Seine Verlobung mit Sophie Neerlage wurde doch bekannt! Es sickerte durch! Morgen erzählte man sich in den Kreisen, die es anging, daß er wieder im Hause erschienen sei und der alte Neerlage ihn mit einem vertraulichen Schlag auf die Schulter und einem dröhnenden: »Na – auf morgen zum Frühstück, lieber Wölsick!« entlassen habe. Daraus schloß ein jeder, daß die Verbindung zwischen ihm und Sophie Neerlage nur noch eine Frage der Zeit war.

Und doch glaubte er selber kaum daran, während er im Abenddunkel durch den Tiergarten heimging. In diesem seltsamen, nächtlichen Nebeneinander schwarzer kahler Baummassen und bläulichen elektrischen Lichts aus weißem Schnee, in dieser Einsamkeit um ihn her, schien es ihm, es wäre besser gewesen, wenn sich das alles als ein kaltes, glattes Geschäft, eine Vernunftehe wie tausend andere, abgespielt hätte. Lieber solch ein Handel, wo keiner vom anderen zu viel erwartete, wo kein besserer Rest in einem wach blieb – wo man nur noch Zweck war – bewußte Nützlichkeit, als dies Halbe, Welke. Einer des anderen Trost und Last – dies herbstliche: Geteiltes Leid ist halbes Leid . . .

Und einen Augenblick schien ihm das so unmöglich, daß er hinter dem gefrorenen Spiegel des Goldfischteiches mitten auf der Straße stehen blieb und gar nicht mehr begriff, wie das so weitergehen sollte – ein Leben lang. Freilich: Er hatte einmal den Satz gelesen: »Man kann nicht nur sterben – man kann auch leben!« Das war wohl wahr. Frug sich nur, ob es das Leben lohnte! Und dann reckte er die Schultern in dem schweren, sie drückenden Pelz, richtete sich auf, und ging entschlossen vorwärts. Er mußte vorwärts. Es gab jetzt für ihn keine Umkehr mehr.

Als er daheim in sein Arbeitszimmer trat, erhob sich eine Dame, die da wartend gesessen. Es war seine Schwester. Er gab ihr stumm die Hand. Er hätte sie lieber wo anders gewünscht. Ihn verdroß die ewige, geschäftige Angst der Teichardts – dieser als Geschwisterliebe sich an ihn klammernde Egoismus, dessen Naivität ihn früher nur belustigt hatte. Man sollte ihn endlich in Ruhe lassen. Und so sagte er mit einem Anklang an seine frühere Schroffheit: »Bist du schon lange da? Ich hatte einen dringenden Gang. Ich mußte zu Neerlages!«

»Zu Neerlages!«

Die Geheimrätin schrie das fast in ihrer Überraschung. Das erbitterte ihn förmlich. Und sie konnte die Frage nicht zurückhalten: »Hast du denn auch Sophie Neerlage gesehen?«

»Freilich!«

Die unterdrückte Neugier brannte in ihren Augen. Er lächelte ironisch. Das war so recht die vorahnende Wonne des Philistertums, daß nun alles nach der Regel ging, zur Freude der Gerechten und Wohlanständigen im Lande.

»Ich hatte Geschäfte bei Neerlage!« sagte er.

»Geschäfte?«

»Ja. Ich habe meine Seele um dreißig Silberlinge verkauft! Gar nicht schlecht, in Anbetracht dessen, daß sie doch schon ziemlich ramponiert ist.«

»Ja – was heißt denn das?«

»Aber – wie die Dinge liegen, da reicht es aus! Mehr wäre sogar von Übel!«

»Erich!«

»Ja, Helme?«

»Ich will nicht hoffen, daß du damit deine Verlobung meinst!«

»Hoffe nur, Helme!«

Frau von Teichardt war ganz erschöpft vor Überraschung und Schrecken.

»Aber das ist ja empörend!« sagte sie endlich.

»Was denn?«

». . . Wie du davon sprichst!«

»Von sich darf jeder Übles reden, Helme!«

». . . Aber wie soll man dir da Glück wünschen!« Sie weinte beinahe. »Man könnte sich ja vor dir fürchten!«

»Wünsche mir so viel Glück als möglich, Helme! Mehr kannst du nicht tun!«

Er hatte es in ernsterem Tone gesagt. Das tröstete sie ein wenig. Sie trocknete die Augen und reichte ihm stumm die Rechte. Es war, bei ihrem verstörten Gesicht, wie ein Händedruck des Beileids. Das erschien ihm so ganz richtig. Was war denn diese Ehe anders, als daß zwei Menschen gemeinsam ihr Bestes der Erde und der Vergessenheit übergaben?

»Der alte Neerlage hält es jedenfalls für ein gutes Geschäft!« sagte er. »Und die Hauptsache ist, daß der Käufer zufrieden ist – und daß ihr zufrieden seid – und alle ehrbaren Leute dazu . . .«

Frau von Teichardt stand auf.

»Ich kann das nicht mehr mit anhören!« sagte sie. »Erich – um Gottes willen – was ist nur in dich gefahren? Bist du nun wirklich mit Sophie Neerlage verlobt oder nicht?«

»Aber gewiß! In aller Form! Rede nur noch nicht unnötig davon. Es soll noch etwas Wasser ins Meer laufen, bis es bekannt wird . . .«

Seine Schwester näherte sich ihm.

»Ja – aber dann, Erich – wenn das wirklich geschehen ist und es ist gewiß das beste für dich – dann sei nun aber auch stark! Dann denke ruhiger an das, was gewesen ist! Schau auf das Vergangene zurück, als ob . . .«

Sie erschrak. Ihr Bruder hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und den Kopf zwischen die Hände genommen und lachte plötzlich auf: »Um Gottes willen – nicht zurückschauen! . . . Um Gottes willen – nicht denken! Gib mir nur den Rat nicht! Dort ist doch sie! . . . die ich verraten hab' – die ich von jetzt an mit jedem Atemzug, mit jedem Wort, mein Leben lang verraten werde! Dazu braucht's freilich starke Nerven, Helme! Da muß man die Augen zumachen können – fest – sonst wird ja alles wieder lebendig – alles kommt zurück . . . Herrgott . . . wohin soll man denn dann fliehen?«

Er hatte es beinahe aufgeschrieen. Nun wurde er auf einmal wieder ruhiger und schloß: »Ich muß in Zukunft tun, als wäre ich jemand anderer! Wenn ich diese Energie nicht hab', dann hab' ich verspielt! Aber ich werde sie aufbringen! Und ihr alle müßt mir dabei helfen! . . . Nicht wahr, Helme?« Ein flüchtiger Spott zuckte um seine Mundwinkel: »Die Neerlages sind doch so reich! Die werden sich den Kuckuck um unser altes, gutes Sommerwerk kümmern! Das bleibt nach wie vor eure melkende Kuh. Noch mehr wie bisher – das hast du dir ja auch schon die ganze Zeit überlegt, du praktische Hausfrau . . .«

»Erich . . . wer in solch einer Stunde an so etwas denkt . . .«

»Der hat Mann und Kinder zu Hause! Die wollen doch auch leben. Jeder will leben. Das ist ja auch bei mir der Fehler. Da ist so ein zäher Daseinsnerv – der wehrt sich – der will nicht aus Licht und Sonne weg . . . trotz alledem!«

Sie verstummten eine Weile. Dann sagte Erich von Wölsick: »Ich bin kein Bräutigam, wie er im Buch steht. Das siehst du! Aber es wird glücklicherweise von mir auch nicht verlangt! Es geht nun alles seinen Weg! Und es ist ein großes Glück, daß man es mit einem vernünftigen und guten Menschen zu tun hat. Denn das ist sie!«

»Sophie Neerlage?«

»Ja. Sie ist viel besser, als ihr alle glaubt! Eigentlich verdien' ich sie nicht. Aber sie versteht auch das! Sie versteht überhaupt alles! . . . Merkwürdig, wie so ein Vater so eine Tochter haben kann! . . . Nun . . . du willst gehen?«

»Ja. Kommst du nicht mit, zu uns?«

»Nein! Grüße deinen Mann! Sag ihm, ich hätte mir jetzt seine alte Lebensregel zu nutze gemacht: ›ecce ego!‹ . . .«

»Was heißt denn das?«

»Das heißt: ›Erst komm' ich!‹ . . . Na . . . gute Nacht, Helme!«

Er schöpfte tief Luft, als sie, ganz verblüfft und verängstigt, in ihren draußen harrenden Wagen gestiegen war. In der Einsamkeit, mit sich allein, gewann er mehr Zuversicht für die Zukunft, als Aug' in Auge mit den Philistern.

Es gab doch genug Menschen mit halber Lunge, mit kaputtem Herzen. Warum sollte man nicht auch mit einer brüchigen Seele alt werden können? Und schließlich auch wieder froh? So manche verzweifelten beim Tode eines lieben Angehörigen und gewannen im Lauf der Zeit die Ruhe wieder und unterschieden sich in nichts mehr von anderen Menschen. So würde auch er an Jakobe Ansold denken lernen, wie an eine Tote, wenn ihn das Leben neu umfing. Worte von Goethe gingen ihm durch den Sinn:

»Stürze dich nur in das Fluten der Zeit,
Ins Brausen der Begebenheit . . .«

und in der Weite würde ein Ton verhallen – ein Ruf – immer schwächer – nun ganz verstummend. Mehr als einer war dreimal gestorben und wieder auferstanden in einem kurzen Menschenleben. Es gab auch eine Anpassungsfähigkeit des Gewissens. Die heilte . . .

Und er sah ein Zukunftsbild vor sich: Seine Geschäfte auf der weiten Welt – seine rastlose Tätigkeit – seine hohen Einnahmen – seine glänzende Stellung. Und Sophie Neerlage dabei seine kluge, treue Gefährtin – und diese Vorstellung beruhigte ihn. Er war mit sich zufrieden – nicht ohne eine leise Angst, daß dem so war – er traute sich nicht ganz. Nun wollte er nur noch schlafen und vergessen. Er war völlig erschöpft von der durchwachten vorigen Nacht. Die Augen fielen ihm zu, fast ehe er sich noch niederlegte.

Aber dieser totenähnliche Schlummer dauerte kaum ein paar Stunden. Dann saß er plötzlich aufrecht, mit starren ungläubigen Augen. Irgend jemand hatte gerufen: Wach auf! . . . Es klang wie Jakobe Ansolds Stimme: Verrätst du mich immer noch? Wie oft wirst du's noch versuchen, bis du erkennst, daß du es nicht vermagst . . .

Und zugleich erfaßte ihn ein tödlicher Schrecken. Er hatte ein Entsetzen vor sich selber, der immer wieder sein Bestes verleugnete . . .

Es litt ihn nicht mehr in dem Bett. Er machte Licht und kleidete sich hastig an. Seine Hände zitterten dabei. Er kam sich vor wie ein verfolgter Verbrecher, zu dem jeden Augenblick die Häscher ins Zimmer treten konnten. Am liebsten hätte er geklingelt und Michael herbeigerufen. Aber was sollte er sagen, wenn der verschlafene Mensch erschien und ihn wie gewöhnlich nichtssagend und vielwissend zugleich anblinzelte? Er konnte ihm doch nicht von Jakobe Ansold reden! Ihn am Arm packen, ihm ins Ohr rufen: Jakobe Ansold ist von den Toten auferstanden. Da ist sie wieder! Alles vergeht, alles bricht, alles flutet dahin ins Nichts vor der Macht meiner Liebe, die nie stärker ist, als wenn ich sie unter die Füße getreten hab', die nie heißer lebt, als wenn ich ihr ihr Grab am tiefsten grub . . .

Er konnte es in seinen vier Wänden nicht aushalten. Er stürzte in den Flur und drehte das elektrische Licht auf und riß Hut und Pelz vom Haken. Die Schlüssel klirrten in seiner Hand, als er die Tore öffnete. Da stand er auf der Straße. Sein Atem ballte sich in Wolken vor seinem Gesicht, die eisige Luft kühlte ihm die Stirne, er schaute verwirrt um sich, als müsse er sich erst nachträglich besinnen, wie er hierhergekommen – dann irrte er in das Dunkel hinein, ohne einen Vorsatz. Er glaubte, ziellos durch die Nacht zu streifen, aber seine Füße trugen ihn von selber in der einen Richtung, den wohlbekannten Dornenweg, den er schon so oft gegangen. Und nun zum letzten Mal . . .

Er stand vor Jakobes Haus. Das lag still in der Nacht, das Portal geschlossen, alle Fenster ohne Licht – ein Haus, wie tausend andere in Berlin. Und es umfaßte doch sein ganzes Leid und Leben. In dem Haus war eine kleine Stube. In der war sein Schicksal. Und in anderen Stuben das Schicksal für andere – in den Nachbargebäuden – den fernsten Gassen der ganzen, großen Stadt. Überall war Sehnen und Bangen, unsichtbare Spinnwebfäden zwischen den Seelen, das Tropfen von Blut aus armen Herzen – still – zwischen Mitternacht und Morgen – als redeten die Steine in der stummen Nacht: Ein Weh ist auf der Welt. Und der Schmerz des einzelnen nur sein Gleichnis! . . .

Und in dieser Stunde fand Erich von Wölsick allmählich seinen Frieden – einen feierlichen und andächtigen Frieden – den letzten und einzigen, den es für ihn gab. Eine Läuterung kam über ihn. Ihm war, als fielen ihm Schuppen von den Augen, als lösten sich ihm die Schlacken von der Seele. Es war wie ein Erwachen aus einem langen schweren Traum. Nun sah er klar. Nun wußte er auf einmal, wohin er gehen mußte. Nicht sie, gegen die er gestern die Hand erhoben – er selber war zu viel auf der Welt. Für ihn hieß es Abschied nehmen von Sein und Sonne. Gebieterisch, dunkel, alles überschattend stand die Notwendigkeit vor ihm.

Das war das große Aufatmen, die große Befreiung, der Verzicht auf alles, was menschlich war. Er fühlte sich über sich selbst hinausgehoben, reif für das Ende.

Er hatte die Arme sinken lassen und den Kopf zurückgelegt. Lange stand er so da. Er war nie eine religiöse Natur gewesen. Aber was er jetzt dachte und fühlte, das war wie ein stummes Gebet. Er blickte über sich in die Höhe. Da war rauchige Berliner Nachtluft. Bäckerqualm auf den schneedämmernden Dächern, der schwere, trübe Brodem der Millionenstadt. Aber darüber funkelten die Sterne. Ewige Lichter glänzten droben am klaren, dunklen Firmament in einer tröstenden Milde. Ihr Anblick gab Ruhe. Und er sah von ihnen hinab zu dem Fenster, wo Jakobe Ansold war. Sie erschien ihm jetzt verklärt – allem, was Staub an ihr war, entrückt. Es war Reinheit zwischen ihm und ihr, ohne Rückstand und Bitternis. Es geschah, was sie gewollt. Sie sandte ihn in den Tod. Und er grollte ihr nicht – und nickte dem stillen Fenster zu – zum letzten Mal –: Leb wohl . . .

Dann ging er seines Weges zurück. Er schritt so rüstig aus, als es ihm die Mattigkeit im Bein erlaubte. Zu Hause brannte noch das elektrische Licht. Alles war so wie vor zwei Stunden und draußen noch tiefe Winternacht. Und er setzte sich an seinen Arbeitstisch und schrieb mit ruhiger, fester Hand an Sophie Neerlage.

»Liebe Freundin!

»Gestern nachmittag haben wir uns verstanden. Ich war entschlossen, den Weg zu gehen, den Sie mir gewiesen und für den ich so dankbar war. Ich fühlte auch die Kraft dazu – ein Stück von Ihrer Kraft – in mir. Aber in der Prüfung dieser Nacht ist die zerbrochen.

»Wir wollten tun, was der Verstand uns riet. Aber unser Verstand ist ein armer Knecht. Im Hausbackenen des Lebens dient er uns treu. Der Sinn des Seins liegt tiefer. Zu dem dringt nur ein Ahnen hinab. Und dann erhellen sich unten in der Tiefe Notwendigleiten, wie die, der ich mich jetzt, ruhigen Blutes und ein Mann trotz alledem, beuge.

»Haben wir beide die Reue bedacht, heute nachmittag? Nein – denn dann hätten wir es nicht gekonnt. Wir wollten uns ja retten, einer zum andern. Aber unsere Herzen sind zu wild. Die, denen wir dienen, unsere heimlichen Herren, lassen uns keine Ruhe. Die verlangen: Wir sollen keine anderen Götter haben neben ihnen. Die rächen sich schwer an uns. Sie mahnen: Wenn wir Toten auferstehen und euch fragen: wie habt ihr mit eurem Unterpfand von Schmerz und Sehnsucht gewuchert, das wir euch anvertraut haben, ob ihr nun wolltet oder nicht? – Dies Heiligtum einfach verscharrt? O pfui der Feigheit! Pfui der Lüge! Wir sind doch zwei Adelsmenschen, liebe Freundin, wir haben zeitlebens den Kopf im Nacken getragen und standen über der Herde – wir wollen uns jetzt nicht brechen lassen durch das bißchen Vernunft, so viel wir beide auch davon haben!

»Liebe Freundin – Sie letzte, die ich auf dieser Welt noch zwischen Tür und Angel gefunden – es ist ein Mensch zu viel auf der Erde. Der bin ich. Es war wenig Gutes an mir. Und wäre ich so geblieben, so lebte ich noch lange. Aber es waren die Möglichleiten zu Gutem in mir. Und daß ich anfange, besser zu werden, ist mein Ende. Das Leben erzieht uns wirklich nicht immer zur Höhe hinauf. Im Gegenteil: es zertritt oft sinnlos seine eigenen Früchte. Und wir heißen Menschen. Heißen Schwäche. Müssen uns fügen.

»Ich habe einen Strich unter Haß und Gunst gemacht. Es ist alles ausgeglichen. Nur eines fühle ich noch: Das ist die Betrübnis, daß ich Sie betrüben muß – Sie, die wahrhaftig anderen Dank von mir verdienen! Verargen Sie es mir nicht! Verzeihen Sie mir! Sie können es. Denn Sie sind ein großer und stolzer Mensch! Sie stehen hoch in Ihrer Einsamkeit. Und wenn die anderen im Chore mich verdammen, dann werden Sie schweigen. Denn Sie – Sie allein! wissen ja, wie's tut! Und wenn Sie sprechen wollen, dann sagen Sie ruhig und ungeschont das eine, was ich hier noch einmal niederschreibe und jeder hören darf: Ich gehe in den Tod, weil ich die Schuld, die ich jener anderen gegenüber auf mich geladen, nicht mehr ertragen und im Leben auf keine Weise sühnen kann! Ich habe meine Zuflucht bei Ihnen gesucht wie ein verfolgter Verbrecher an einer Freistätte. Sie hat mich auch dort gefunden! Sie richtet mich. Und mir geschieht recht!

»Und wenn sich beim Gerede der Menschen auch in Ihnen der Unwillen über mich regt, so denken Sie, was Sie leiden. Dann wissen Sie, was ich litt, und doppelt litt durch eine Schuld, die Ihnen fremd geblieben ist. Dann wird Ihr Großmut siegen.

»Noch einmal – verzeihen Sie mir!

Erich von Wölsick.«

Er steckte den Brief in einen Umschlag, adressierte den und legte ihn auf den Schreibtisch. Morgen vormittag wollte er den Diener damit in das Neerlagesche Haus senden. So war er hier dann ungestört.

Er zog eine Schublade auf. Da lag der geladene Revolver, von Michael blank geputzt. Es war noch nicht die Zeit für die Waffe. Er mußte, ehe er ging, Jakobes Zukunft sicherstellen, soweit er Verfügungen über sein Vermögen treffen konnte. Das war er ihr schuldig. Dazu brauchte er die notarielle Bestätigung seiner Unterschriften. Die konnte er morgen nicht früher als etwa zwischen neun und zehn erhalten. Um ein Uhr war das Frühstück bei Neerlages. Die Zeit dazwischen war für ihn frei.

Lange ging er im Zimmer auf und ab. Draußen vor den Fenstern verfärbte sich allmählich das tiefe Schwarz der Nacht in ein noch kaum merkliches Grau. Ein paar Arbeiter schlurften vorüber. Man hörte ihre halblauten Stimmen, dann das schläfrige Gerassel einer Gepäckdroschke – und wiederum war Stille. Da setzte er sich abermals und schrieb – ohne Anrede – oben quer über den Briefbogen stand einfach:

»An Jakobe Ansold«

und darunter:

»am 31, Januar. Um fünf Uhr Morgens.«

»Vorhin hab' ich Abschied von Dir genommen. Ich stand vor Deinem Hause. Es war zum letzten Mal. Nun komme ich nicht wieder. Dies ist das Ende.

»Und in der tiefen Ruhe, die mich seit diesem Entschluß umgibt, hab' ich jetzt eben noch einmal in der Stille der Nacht all das überdacht, was uns zusammengeführt und getrennt und unser beider Leben zerstört hat, und es scheint mir, wenn ich vom verflossenen Sommer auf die Gegenwart zurückblicke, als wäre das wie eine Lawine gewesen, die ein Steinchen ins Rollen bringt, bis sie alles unter sich begräbt. Als ich damals, an dem heißen Mainachmittag, in meinem Hotelzimmer stand und schwankte, sollte ich überhaupt zu dem langweiligen Gartenfest einer kleinen Garnison gehen oder nicht, und es schließlich tat, weil ich wußte, daß man mir mein Ausbleiben wieder als Hochmut anmerken würde, da ahnte ich nicht, daß sich in diesem Augenblick mein Schicksal entschied. Da sah ich Dich . . .

»Und was dann folgte, das ist mir wie ein Sommertraum – die kleine Stadt – die heiße Sonne – der Duft der alten Linden vor Eurem Tor – der blaue See – und überall Du in Deinem weißen Kleide – überall Du. Und ich neben Dir. Und um uns etwas wie der Zauber eines fernen, fremden Landes. Man weiß: man kann nicht bleiben – bald geht die Sonne unter – nur die Erinnerung an ein wenig Schwermut, ein wenig Glück, ein wenig Weltverlorenheit nimmt man mit sich. Du warst ja nicht frei – Du hattest Mann und Kind – darum dünkte es mir nur wie ein Spiel voll Lächeln und Melancholie zwischen uns beiden, die einander nicht angehören konnten.

»Und auch nicht wollten. Ich nicht. Ich mache mich jetzt um keinen Deut besser als ich bin, Jakobe. Hier schreibe ich schonungslos offen in letzter Stunde das Letzte meiner Seele nieder, die ich seitdem in verzweifelten Tagen und schlaflosen Nächten so zerwühlt und zerprüft habe, daß keine Faser meinem Blick entging. Als ich von Dir weg war, da gab es mir noch einmal einen Stich ins Herz. Das war, während ich in Ostende vom Bahnhof zum Dampfschiffe hinüberging und beim letzten Schritt auf der Holzbrücke den Boden des Festlandes hinter mir ließ. Da sah ich nicht das bunte Badegewimmel und die Hotels am Strand. Da sah ich Dich. Das war das erste sekundenlange Aufleuchten meiner künftigen Reue. Dann war alles wieder gut. Vor mir lag das weite Meer. Ich hatte ein Verbrechen begangen und wußte es nicht einmal. Ich hatte so harmlos und grausam gehandelt wie ein Kind. Und so egoistisch wie ein Kind.

»Und Egoismus war bei mir auch das Erste, als Du wieder in mein Leben tratst. Ich war noch so eng, so unbefreit durch Dich, die nur langsam, zögernd und dafür unermeßlich tief in mir gewirkt hat, daß ich dabei nichts empfand, als Schrecken über Dich und Menschenfurcht vor den anderen. Bei denen störtest Du meine Zirkel. Und als das geschehen, da solltest Du mir wieder nicht mehr sein als ein Werkzeug zur Vergeltung. Ich dachte es vielleicht nicht so. Wer trotzdem: mit einer Lüge auf den Lippen kam ich zu Dir und bot Dir meine Hand . . .

»Und da geschah das Unerhörte. Du wiesest mir die Tür! Da erkannte ich erst Dich! da sah ich, daß ich, in halbem Spiel, einen Menschen befreit hatte, der weit über mich hinauswuchs, dessen Macht mich überschattete, der alles in mir wachrüttelte, was gut und schlecht war, bis zum Äußersten. Es war der Sturmstoß, der das Feuer in mir entfachte. Geglimmt hatte es wohl schon lange. Wie ich Dich seitdem bis zum Wahnsinn geliebt und mich in Liebe zu Dir verzehrt habe, werde ich Dir nicht wiederholen. Du hast es mir nicht geglaubt und wirst es mir nicht glauben. Du verlangtest einen Beweis. Es gibt dafür nur einen einzigen. Den soll mein letztes Opfer Dir jetzt erbringen!

»Aber in einem hast Du mit Deinem Unglauben bis in die letzte Zeit hinein recht gehabt. In meiner Leidenschaft waren Schlacken – der Wille, zu besitzen – der Trotz, sich nicht geschlagen zu geben – ohnmächtige Wut über unbeugsamen Widerstand. – Das alles vereint mit dem Tiefsten und Heiligsten, was ein Herz zu empfinden vermag.

»Diese Wahrheit warfst Du mir ins Gesicht, als wir uns zum letzten Mal Aug' in Auge gegenüberstanden! Ich war so wirr und wild, ich war so wie von bösen Geistern gehetzt durch meine Verzweiflung, daß ich Dich töten wollte, nur um der Stärkere von uns beiden zu bleiben. Was dann kam, war mir gleich! Ich dachte nicht daran. Vor Deinem Stolz, Deinen ausgestreckten Armen, sank meine Waffe in den Schmutz des Bodens, in den sie gehörte – in den ich gehörte. Es war das letzte Verbrechen, das ich an Dir begehen wollte – nein: ich machte gestern noch einen Versuch, Dich zu verraten, schon mit ermattender Kraft, dem Ende nah! – Dann lag das Fegefeuer hinter mir . . . nun bin ich geläutert und endlich zum Frieden mit mir gekommen.

»Es war das Werk einer Viertelstunde – da hab' ich mich im Aufblick zu Dir bekehrt. Es schien, als wäre das längst in mir lebendig gewesen und hätte nur stumm, mir selber unbewußt, geharrt, bis die Zeit sich erfüllte – bis all die Möglichkeiten niederer Triebe sich in mir bis zur letzten entwickelt und fruchtlos ausgegeben hatten. Da nahm es von mir Besitz. So hat Deine Nähe in letzter Stunde mich gesegnet und befreit.

»Ich will nichts mehr von Dir. Ich spreche nicht mehr zu Dir! Ich sehe Dich nicht mehr. Ich liebe Dich nur noch, Jakobe – liebe Dich im Leben wie im Tod – ich liebe Dich mit meinem letzten Wort und Atemzug – ich liebe Dich hier auf Erden und – wenn es ein Jenseits gibt – drüben im unbekannten Land. Du bist mein Glück – Du bist der Trost, mit dem ich Abschied von dem Leben nehme – Du bist die Weihe über meinem Haupt – Du hast mich entsündigt – Du bist mir kein Mensch mehr, sondern eine Heilige. Ich bete in Dir das Unendliche und Ewige an, was die Welt erhält und wofür uns die Worte versagen – was wir nur ahnen, in den letzten hellsichtigen Stunden unseres Seins, wo wir halb nur noch Gäste auf unserem Planeten sind und eine Macht uns hinwegzieht in die Ferne – nenn es Liebe – Jakobe – ja – es ist die Liebe. Aber die reinste, die höchste. Du kannst meiner in Ruhe denken. Ich sterbe besser als ich gelebt – ich sterbe wegen Dir – in Dir – für Dich. Du bist mein Sein und Nichtsein, mein Anfang und Ende. Nimm mich hin . . .

»Aus dem Frühling ist Winter geworden, aus dem Spiel Ernst und Ende. Wie ich jetzt vom Schreiben aufschaue, dämmert mir der Tag auf das Papier. Der letzte Tag. Heute vormittag habe ich noch beim Notar zu tun. Dann sei es erfüllt, ehe Du diesen Brief erhältst. Ich schreibe Dir nichts vor, ich äußere keinen Wunsch, ich hinterlasse Dir kein Vermächtnis an Pflicht – Du sollst so sein und leben, wie Dein Schicksal Dich entwickelt, und mich in der Erinnerung so sehen, wie Du mich sehen mußt.

»Am besten ist es immer, zu wollen, was man muß. Ich muß Dir den Glauben an meine reinste, tiefste Liebe geben. Also will ich es, durch das einzige Opfer, das mir bleibt, das äußerste Opfer, das ein Mensch vermag. Ich bringe es nicht aus Reue, sondern aus Liebe! So fasse es auf und nimm meinen Gruß . . .«

Ein frostiges Zwielicht füllte das Zimmer, als Erich von Wölsick diese letzten Zeilen schrieb. Dann versah er den Brief mit Umschlag und Adresse und legte ihn zu dem anderen seitlings unter einen Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch. Von da trat er zum Fenster und schaute hinaus in die langsam sich lichtende Welt, die grauen Häuser, die graue Straße, den grauen Himmel. Er fröstelte. Er war sehr müde. Er ging über den Flur und warf sich wie er war auf das Bett. Die Lider fielen ihm zu. Ihm schien, es seien nur wenige Minuten statt zwei Stunden vergangen, als Michael vor seinem Lager stand, ohne ein Zeichen der Überraschung darüber, seinen Herrn schon angekleidet zu finden, auf seinen glattrasierten, sorgenvollen Zügen, und ihm bei der Toilette behilflich war und das Frühstück auftrug. Auf dem Tisch lag ein resedafarbenes Billett. Ein Neerlagescher Diener hatte es vor einer Viertelstunde abgegeben. Sophies Mutter, die ja gestern nicht selbst bei der Verlobung dabeigewesen, schrieb noch ein paar liebenswürdige – vom verflossenen Abend datierte – Worte und wiederholte die Aufforderung ihres Mannes zum Lunch heute mittag – weiter nichts. Erich von Wölsick zerriß das bedeutungslose Blatt und trank im Stehen eine Tasse Kaffee. Dann sah er auf die Uhr. Es war bald Neun und Zeit, den Notar in seinem Bureau Unter den Linden aufzusuchen. »In einer Stunde bin ich wieder hier, Michael!« sagte er ruhig, nahm Pelz und Hut und verließ die Wohnung . . .



 << zurück weiter >>