Rudolph Stratz
Herzblut
Rudolph Stratz

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V

Tage waren vergangen und Erich von Wölsick saß des Morgens gegen neun Uhr in seinem Arbeitszimmer und schrieb einen Brief.

»Liebe Schwester!

»Was ich heute Dir und Deinem Mann und durch Eure Vermittelung vor allem auch Mama als Antwort auf ihre neulichen Zeilen an mich mitzuteilen habe, wird Euch und manchem anderen überraschend kommen. Für mich aber ist es das Ergebnis einer sorgfältigen Selbstprüfung, die ich in diesen Tagen angestellt habe und die daraus hinausläuft, daß es das Schlimmste ist, etwas halb zu tun. Ein berühmter Gelehrter soll auf die Frage, wie er zu seinen Entdeckungen komme, geantwortet haben: ›ich sehe, welches der Ausgangspunkt aller anderen Leute ist, und beginne dann mit dem Gegenteil!‹ So ungefähr habe ich mir in meiner Lage gesagt: ich habe durch meine Schuld – oder wenigstens durch meine Fahrlässigkeit – eine Frau von Mann und Kind und Haus und Herd gebracht. Nun ruft mir alles in seltener Einmütigkeit zu: ›Schön, also mußt du nun diese Frau ganz elend machen und gleichgültig ihrem Schicksal überlassen!‹ Ich aber finde: Jetzt muß ich gerade als anständiger Mensch in Zukunft ihr Schicksal sein und ›B‹ sagen, nachdem ich ›A‹ gesagt hab'.

»Und kurz und gut, liebe Helme, ich bin entschlossen, Jakobe Ansold zu heiraten, sobald ihre jetzige Ehe geschieden ist, und aus diesem Vorsatz nirgends ein Geheimnis zu machen. Erzähle es, wem Du willst! Je mehr Leuten, desto lieber ist es mir.

»Du wirst natürlich im ersten Augenblick nur den einen Gedanken haben, daß da meine angeborene Eigenwilligkeit ihren Triumph über Eure Vernunft und Euer gutes Zureden feiert. Ich gebe zu, daß ich eine gewisse Herrschsucht besitze – daß es mir wenigstens schrecklich ist, wenn von verschiedenen Seiten, wie es in letzter Zeit geschehen, Eingriffe – und zum Teil recht rücksichtslose Eingriffe – in mein Leben förmlich über meinen Kopf weg erfolgt sind. Aber der wahre Grund liegt doch viel tiefer – liegt in mir selbst. Ich habe noch nicht mit Jakobe Ansold gesprochen, bis jetzt noch nicht. Aber die bloße Tatsache, daß ich den unwiderruflichen und unumstößlichen Entschluß, sie zu meiner Frau zu machen, gefaßt habe, gibt mir eine von mir seit Wochen nicht gekannte Ruhe – und das wieder ist mir ein untrüglicher Beweis dafür, daß ich damit auf dem rechten Wege bin. Es ist ja eigentlich so einfach: man braucht bloß als anständiger Mensch zu handeln und alles ist gut.

»Bisher kämpfte ich noch mit meinem Vorsatz. Weißt Du, warum? Weil ich fühlte, daß bei ihm Erbitterung und Rachsucht wegen gewisser anderer Vorfälle, die ich hier nicht berühren mag, eine zu große Rolle spielten. Vielleicht sind sie auch jetzt nicht ganz geschwunden – aber ich selber bin in diesen Tagen der Einkehr doch weit darüber hinausgewachsen. Ich habe mich zu mir zurückgefunden oder eigentlich zu meinem besseren ›Ich‹ und habe mir den kategorischen Imperativ zu eigen gemacht, der da lautet: ›Tu, was du mußt!‹ – und ich muß mit dieser unklaren, zweifelhaften Geschichte aufräumen – ich darf sie nicht hinter mir lassen und nachwirken lassen – um meiner selbst willen – sonst kriegt mein Dasein für immer einen Knacks! Sicher: ich habe in manchen Dingen ein äußerst robustes Gewissen! Aber dem steht das angeborene und anerzogene Ehrgefühl gegenüber. Wenn beide miteinander streiten, geht der Mensch immer zu Grunde. Also führt mein Weg auf der Linie, die Ehre und Gewissen vorschreiben – das heißt zu Jakobe Ansold.

»Von ihr selber und ihren Vorzügen spreche ich Dir nicht, ehe ich nicht Deine Antwort habe und hoffen darf, daß sie an Dir in dieser schweren Übergangszeit etwas Schutz und Rückhalt finden möge. Deswegen schrieb ich Dir auch lieber, statt es mündlich mitzuteilen, damit Du mich nicht in Deiner Lebhaftigkeit vorzeitig unterbrichst. Ein zu früh und zu rasch hingeworfenes Wort ist so gefährlich. Es trennt oft Menschen, die es gar nicht nötig haben und einander nach wie vor so nahe stehen können wie zum Beispiel Du und Dein Bruder

Erich.

»Gruß an Deinen Mann. Schicke diesen Brief gleich an Mama.«

Erich von Wölsick überlas das Schreiben und gab es dem Diener zur Besorgung in den Briefkasten. Hatte er nicht darin sich am Ende zu schön gefärbt? Er hatte ein leises Mißtrauen gegen sich. An den Wänden seines Arbeitszimmers waren große Regale. In denen standen viele Bände, darunter auch Schopenhauers Werke, die er als junger Mensch eifrig gelesen hatte. Jetzt hielt er längst nichts mehr von Philosophie, sondern interessierte sich lieber für den amerikanischen Weltmarkt und die deutsche Agrarfrage. Aber ein Wort des Frankfurter Weisen kam ihm in den Sinn, das lautete ungefähr: »Wir betrügen niemanden durch so feine Listen und Kunstgriffe wie uns selber!« – und er gestand sich: Wenn ich meine allerletzten Beweggründe prüfe, dann ist es schließlich am Ende doch das stolze Vergnügen, aller Welt ins Gesicht zu schlagen und den Neerlages eine Antwort zu geben, die sie nie vergessen.

Und doch war es das nicht allein! Woher kam denn die weiche, träumerische Stimmung – die lächelnde Ruhe, in der er sich seit einigen Tagen befand? Doch nur daher, daß er allen Grund hatte, mit sich selbst zufrieden zu sein, weil er ein gutes Werk tat – ein doppelt verdienstliches, da viele Leute es ihm verdenken und nur eine, Jakobe Ansold, es ihm heiß und innig danken würde. Mit einer gewissen Rührung – so milde geworden war er durch all die seelischen Stürme – dachte er jetzt an das nahe Wiedersehen mit ihr – ihre ungläubigen, großen, blauen Augen, wenn er in das Zimmer trat – das erste Aufdämmern von Hoffnung und Freude in ihnen und dann der Strom von Tränen des Glücks – er war selbst ganz bewegt, wenn er sich das ausmalte – er war sich selber so neu in dieser doppelten Gestalt des Schuldigen und des Wohltäters zugleich – und daß er sich darin erst einleben mußte, das hatte bisher seinen Besuch bei Jakobe Ansold aufgeschoben.

Er war so abergläubisch, wie es sehr kluge Menschen sein können. Er hatte von jeher den Instinkt, bei Ausführung eines wichtigen Entschlusses womöglich so lange zu warten, bis im letzten Augenblicke noch irgend ein unbedeutender Anstoß von außen, eine leise Mahnung des Schicksals kam. So ging er an diesem Vormittag durch die Friedrichstadt und dachte, wie oft, an Jakobes Mann, den Hauptmann Ansold, – und ob der ohne weiteres in die Scheidung einwilligen würde – er mußte schließlich unter diesen Umständen – was blieb ihm denn übrig? – er konnte doch als aktiver Offizier nicht seine Ehefrau in aller Ewigkeit irgendwo drüben in Berlin sitzen haben – langweilig waren ja alle diese Verhandlungen und Prozeßformalitäten – aber nicht zu ändern. Da sah Erich von Wölsick, in diese Betrachtungen verloren, vor sich eine Droschke, eine ganz gewöhnliche Gepäckdroschke vom Bahnhof. Sie hielt in einer Querader der Friedrichstraße vor einem kleinen Hotel garni, dessen Namen er, solange er nun doch schon in Berlin lebte, noch nie gelesen hatte. Ein untersetzter, gebräunter Herr zu Ende der Dreißig, in einem mausgrauen, für den Winter viel zu hellen Paletot, stieg aus und ließ seinen Koffer herunternehmen und Erich von Wölsick erkannte den Hauptmann Ansold.

Er trat rasch um die Ecke, damit ihn der andere nicht sähe, und schlug die Richtung nach seinem Hause ein. Nun war die Lage klar. Jakobes Mann war noch einmal aus seiner Garnison gekommen, um eine Entscheidung herbeizuführen. Die suchte er erst bei ihr und dann, wenn sie auf ihrer Weigerung der Rückkehr beharrte, bei ihm. Er ließ sich vielleicht heute noch bei ihm melden oder schickte ihm einen seiner Schwäger, den Oberleutnant oder den Korvettenkapitän, oder seinen Schwiegervater, den General z. D. von Dolmar, als Unterhändler.

Und wer von diesen Herren im bunten Rock auch kam, er kam mit einer Drohung. Einer Drohung in irgend einer Form. Und das, worauf sie schließlich immer hinauslief, war: »Sie haben meine Frau – oder meine Tochter – oder unsere Schwester – kompromittiert und ihre Ehe zerstört. Wollen Sie ihren Ruf wiederherstellen und sie als Geschiedene heiraten? Bitte Antwort! Ja oder nein!« Dann konnte er nicht mehr zu Jakobe. Das hätte dann so ausgesehen, als würde er durch Ansoldsche und Dolmarsche Pistolenläufe, die sich gespannten Hahns von rechts und links auf ihn richteten, zwangsweise zu ihr hingeführt. Was er tat, mußte er vorher und freiwillig tun. Und bald! Sofort! Jede Stunde war kostbar. Jede Minute! Wer stand ihm dafür, daß nicht im nächsten Augenblick der dumpfe Gongschlag der Flurklingel draußen einen unwillkommenen Besucher ankündigte? In Eile kleidete er sich mit Michaels Hilfe in einen schwarzen Besuchsanzug, dann stieg er in sein Automobil – jetzt war der Antrieb da, jetzt mußte es geschehen! – und fuhr bis zum Eingang der Straße, in der die Kritzingsche Schule lag. An der Ecke hieß er den Chauffeur warten und legte die kurze letzte Strecke zu Fuß zurück.

Um ihn war das alltägliche Berliner Leben, nur in diesen altfränkischen Gegenden der Weltstadt weniger hastend und geräuschvoll als anderswo. Und er sah im Gehen diese Droschkenkutscher und Hausdiener, diese Frauen aus dem Volke in ihren Umschlagtüchern und Arbeiter in den Destillen und behaglich vor ihren Kramläden stehenden, kleinen Geschäftsleute mit einem unwillkürlichen Wohlwollen an. Er war jetzt in seiner alten Stimmung wie vor den Katastrophen, zu Beginn des Herbstes. Er hatte wieder das Bewußtsein freundlicher und gleichmäßiger Überlegenheit über Menschen und Dinge, das sonst sein Rückgrat gewesen. Er hing von niemanden mehr ab und hielt sein Geschick in eigener Hand und lenkte es, wie er es haben wollte, und daß er sich dabei noch großmütig und vornehm bis in die Fingerspitzen benahm, war das Beste, das, was ihn selber nachträglich immer wieder ein wenig verblüffte und weihevoll stimmte. Es hob ihn in seinen eigenen Augen, daß er in dieser entscheidendsten Wendung im Dasein eines Mannes nicht wie früher nur an sich, sondern auch an eine andere Menschenseele dachte, und die tröstete und aufrichtete und zu sich emporzog.

Ob es wirklich solch ein Opfer war, eine so schöne und lebenswarme Frau wie Jakobe Ansold zu begehren? In ihm waren Erinnerungen an Stunden dieses Sommers, wo aus dem Getändel und Spiel mit dem Feuer mehr als einmal ein Funken auch auf ihn übergesprungen war. Ein Glück, daß seine Vernunft dann stets noch rechtzeitig ihren kalten Wasserstrahl zur Stelle hatte! Das war schon oft so gewesen. Deswegen hatte er nie eine Besorgnis empfunden. Darin konnte er sich auf sich verlassen, auch heute noch. Sein Herz ging mit ihm so wenig durch wie sein Kopf. Was er jetzt auf dem kurzen Weg zu Jakobe Ansold empfand, das war eine Mischung von Weichheit und Lächeln und Verlangen und Mitleid mit der armen, schönen jungen Frau, die nichts mehr auf der Welt hatte als ihn und für die er alles war. Das war ein angenehmes Gefühl, das gab Stolz und Ruhe. Er atmete nicht stärker als sonst, während er die Treppen zu der Kritzingschen Wohnung hinaufstieg, so sicher war er seiner selbst und seiner guten Sache.

Aber der Druck auf den Klingelknopf brachte ihm gleich eine Enttäuschung. Frau Ansold war nicht hier, wie ihm das öffnende Mädchen mitteilte, sondern drüben im Hof, im Schulgebäude. Jetzt war es zwanzig Minuten nach elf. Vor Mittag kam sie nicht herüber! Und ihr seine Karte hinübersenden, damit sie jetzt gleich erschien – nein – das Mädchen lehnte das entschieden ab. Frau Ansold dürfe in den Dienststunden nicht gestört werden. Sie habe zu viel zu tun.

Erich von Wölsick zuckte die Achseln. Er hatte sich Jakobes Tätigkeit nicht so ernsthaft gedacht – mehr als einen Vorwand, unter dem sie bei ihrer Freundin blieb. Er frug die Magd: »Wie lange ist denn die gnädige Frau jeden Tag da drüben?«

»Frau Ansold? von acht bis zwölf und von zwei bis sechs – manchmal auch länger!«

Er seufzte unwillkürlich. Acht Stunden täglich in dem düsteren Hinterbau, in dessen Hof kaum mehr die Sonne hinunterschien – das war ja kaum ein Leben mehr! Sein Mitleid mit Jakobe Ansold, die um seinetwillen soviel Mühsal ertrug, wuchs noch, während er dem Mädchen in das leere Wohnzimmer des Fräulein von Kritzing folgte. Da mußte er sich nun wohl oder übel fast dreiviertel Stunden gedulden. Ihm war unbehaglich in dem kleinen Raum. Der war so altjüngferlich – es roch förmlich darin nach Lavendel und Pfefferminz – der Kanarienvogel schmetterte – der Goldfisch schwamm in seiner Kugel – es gab eingerahmte Photographien an den Wänden und gehäkelte Schonerchen auf dem Sofa und so viel Nippzeug und Krimskrams überall, daß man sich kaum zu bewegen wagte. Er paßte nicht hierher, er paßte überhaupt nicht recht in eine höhere Mädchenschule, das sagte er sich mit einem Anflug von Verdruß, während er Platz nahm, und die Hände in den Taschen, die Beine ausgestreckt, untätig vor sich hinsah. Er hatte nicht einmal eine Zeitung bei sich, um zu lesen. So sprang er wieder auf und trat an das Fenster und schaute hinaus. Aber die Leute auf der Straße langweilten ihn jetzt. Diese Budiker und Laufburschen und Rollkutscher waren ihm zuwider. Die Minuten verstrichen in tödlicher Schwerfälligkeit und jede nahm ein Stück der freundlichen, siegessicheren Wärme, mit der er gekommen, mit sich. Es gab nichts Gefährlicheres für die Stimmung als eine derartige Geduldsprobe. Mißmutig ging er in dem kleinen Raume auf und nieder und zog immer wieder die Uhr zu Rate. Er empfand es fast als eine Kränkung, daß Jakobe Ansold, die doch von gar nichts wußte, ihn hier warten ließ. Und mehr und mehr verflog seine Ruhe und machte der Ungeduld des Harrens Platz. Da endlich erscholl vielfaches Kindergeschrei von unten herauf. Die ganze Straße war belebt von dem Schwarm der Kleinen, die aus dem Portal quollen und sich nach rechts und links verteilten und mit Geschwatze und Gekicher und Gelaufe verloren. Wieder war es eine Weile still. Dann knackte draußen leise ein Drücker im Schloß der Flurtüre und er vernahm, wie die Magd etwas sagte, und hinterher eine weiche, halblaute, umflorte Frauenstimme, bei deren Klang er zusammenzuckte: »Wer ist da? Der Herr Hauptmann?«

Es schien, daß sie ihren Mann erwartete oder wenigstens auf dessen nochmaligen Besuch gefaßt war. Wieder murmelte das Mädchen einige Worte. Und dann hörte er nach kurzer Pause ein ruhiges: »Ach so . . .! Es ist gut!«

Er hatte seine Karte draußen gelassen. Sie wußte gewiß, wer hier war. Aber er hatte nicht die geringste Erregung aus ihrem Ton herausmerken können. Sie kam auch noch nicht. Seine unbestimmte Erwartung und Hoffnung, sie würde ihre Überraschung nicht bemeistern können, schnell die Tür öffnen, vor ihm stehen, wie sie ihm auch zürnte – erfüllte sich nicht. Sie machte sich noch zurecht, wie jede Dame, die mitten aus ihrer Tätigkeit heraus einen Besucher empfängt, und das Mädchen für alles steckte zum Überfluß auch noch den Kopf durch die Türe und meldete: »Frau Ansold läßt bitten, noch ein kleines Weilchen zu verziehen!«

Er biß sich auf die Lippen. Dann ärgerte er sich wieder über sich selbst. Das war doch bisher alles ganz natürlich, aber es stimmte nicht zu dem Bilde, das er sich von ihrer beider Begegnung gemacht. Da war er der gewesen, der erschien und handelte und bestimmte – nicht der, den man hier in dem muffigen Stübchen warten und nervös gähnen ließ.

Und da endlich gingen leise Schritte durch das Nebengemach, die Türe öffnete sich und Jakobe Ansold trat ein.

Zum ersten Male sah er sie wieder von Angesicht zu Angesicht, denn ihr Bild neulich auf der Straße war doch nur wie ein Schatten der Nacht gewesen. Und sein Eindruck war ein neues Staunen, wie schön sie sei – schöner als all seine Erinnerung – und dann eine plötzliche Beruhigung vor sich selbst. Jetzt auf einmal begriff er sich und diesen Sommer. Wie er, der Kühle und Erfahrene, damals hatte so unbesonnen sein können, dies Rätsel hatte ihm nachträglich in seiner Reue und seinem Ärger gar nicht in den Kopf gewollt. Aber für diese Frau war man unbesonnen! Das sagte er sich und fühlte den leisen, atemraubenden Schauer ihrer Nähe. Er hatte sie sich blaß und abgehärmt gedacht. Das war sie gar nicht. Sie hatte ihre rosigen Farben von einst – das reiche aschblonde Haar war wie damals gewellt. Nur viel ruhiger schien sie ihm gegen früher. Anstatt des sommerlichen Weiß, in dem er sie fast stets gesehen, umschloß ein schwarzes Kleid ihre schlanke Gestalt. Sie erinnerte viel mehr an eine junge, ihre Trauer tragende Witwe, als an eine Frau, die sich von ihrem Mann aus Liebe zu einem anderen scheiden ließ. Und ihre dunkelblauen Augen ruhten so eigentümlich auf ihm, prüfend, förmlich fragend: Was suchst du hier? Was willst du noch von mir? . . . daß davor der letzte Rest seiner Gottähnlichkeit verflog. Er hätte nun gleich reden sollen. Er wollte es auch. Aber er fand nicht die rechten Einleitungssätze. – Er konnte damit so viel verderben, weil er nicht einmal mehr zu ahnen vermochte, in welcher Stimmung sie eigentlich ihm gegenüber stand. Drum schwieg er. Nur die Hand streckte er halb aus, mit einem ernsten Blick, und diese Bewegung war wie eine stumme Bitte um Verzeihung.

Jakobe Ansold tat, als ob sie seine Rechte nicht bemerkte. Sie wies auf einen Sessel und sagte: »Bitte, nehmen Sie Platz, Herr von Wölsick! Und entschuldigen Sie bitte das Warten! Ich hörte jetzt erst, daß Sie da seien.«

Dann setzte sie sich ihm gegenüber auf einen ziemlich entfernt stehenden Stuhl, legte die Hände im Schoß übereinander und schaute ihn aufmerksam an. Von draußen, von der Küche her, hörte man das Poltern und Rasseln der Magd. Der Kanarienvogel sang. Sonst war es in dem Zimmer still. Und nach einigen Augenblicken frug Jakobe mit einer klaren Stimme: »Was haben Sie mir zu sagen, Herr von Wölsick?«

»Viel . . .«

Sie schwieg. Er setzte gedämpft hinzu, sich etwas vorbeugend, ihr Auge suchend: »Darf ich . . .?«

Und während er das sagte, schien es ihm lächerlich, daß er sie erst noch um Erlaubnis bat! Er war doch der Herr der Sachlage. Noch einmal flackerte die Erlöserstimmung in ihm auf. Er war der Gebende. Das mußte sie schließlich auch einsehen. Aber sie tat nichts dergleichen, sondern versetzte nur: »Reden Sie, bitte, Herr von Wölsick!«

Wieder sah er mit Staunen auf die junge Frau, die ihm aufrecht und ruhig gegenüber saß. Was wollte sie nur? Er hatte Anklagen erwartet, Tränen, Ausbrüche der Leidenschaft, wie das ihrem Charakter entsprach – oder auch heißen, dankerfüllten Jubel – alles – nur nicht diese unheimliche Kälte – die bei ihr – dazu kannte er sie zu genau – doch nur eine Maske war.

Das reizte ihn. Er wollte wissen woran er war. Und so versetzte er knapper und rauher, als er selbst wünschte: »Vor allem eine Frage, liebe Freundin: Warum mußte ich erst nach Wochen, durch fremde Menschen, erfahren, daß Sie sich von Ihrem Mann getrennt haben? . . .«

»Warum sollte ich Ihnen das sagen? . . .«

Diese Gegenfrage verblüffte ihn. Endlich begann er leise und eindringlich, mit mehr Wärme in der Summe: »Jakobe – bin ich denn nicht der Erste dazu? . . .«

Ihre Lippen bewegten sich. Es war, als unterdrückte sie ein rasches: »Der Letzte!« Aber sie schüttelte nur den Kopf und er fuhr fort: »Habe ich denn nicht ein Anrecht darauf?«

»Ich glaube, dies Anrecht hat niemand! Denn ich bin niemandem Rechenschaft darüber schuldig als meinem Mann. Und ihm ist sie geworden!«

Und während er noch nach einer Erwiderung suchte, setzte sie, immer im selben gleichmäßigen Tonfall, hinzu: »Im übrigen – ich nehme an, daß Sie nicht gekommen sind, um mich auszufragen, sondern um mir etwas zu sagen, Herr von Wölsick . . .«

»Ich wollte Ihnen eben vor allem sagen, daß ich keine Ahnung von Ihrer Übersiedelung nach Berlin hatte! Sonst hätte ich nicht so lange auf mich warten lassen!«

»Ob Sie mich jetzt aufsuchen oder ein paar Wochen früher oder später, Herr von Wölsick – das zähle ich Ihnen nicht nach. Die Unterredung, die wir jetzt miteinander haben, sind wir uns schuldig. Die mußte einmal sein. Aber wann, das ist gleichgültig.«

»Für mich nicht. Denn bis dahin müssen Sie mich im Verdacht einer Härte, einer Gefühllosigkeit haben . . .«

Sie schlug die Augen auf und sah ihn fest an. Das verwirrte ihn. Er wich unwillkürlich ihrem Blick aus und fuhr fort: »Weiß Gott, Jakobe – wenn Sie mich verdammen, so ist das Ihr gutes Recht – so, wie ich Ihnen jetzt erscheine! Aber man soll niemanden ungehört verurteilen! Darum sitze ich hier . . .« Und während er das aussprach, ärgerten ihn schon seine eigenen Worte. Sie drückten ihn herab – ohne Not. Er gab sich wie ein Angeschuldigter, der sich rechtfertigte, statt daß er als Gnadenspender, als Glücksbringer kam. Und so fügte er mit sonderbar trockener Kehle hinzu: »Sie müssen ja natürlich glauben, daß für mich das alles hinter mir lag – daß ich Sie vergessen hatte oder vergessen wollte – und doch habe ich immer an Sie gedacht – ich kam von Ihnen nicht los. Das hat mich ja gerade auf Reisen getrieben. Ich hatte sonst gar keinen Grund, auf einmal nach England zu gehen.«

»Und ich glaubte, Sie wollten dort Moorhühner schießen!«

Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand.

»Das tat ich allerdings, das hängt doch gar nicht miteinander zusammen. Man kann doch nicht den ganzen Tag dasitzen und . . . Wir wollen das alles doch ernst auffassen, Jakobe! Es ist doch wahrhaftig dazu angetan . . . Es gibt doch nichts Ernsteres – für Sie und für mich . . .«

»Ja, reden Sie nur, Herr von Wölsick!« So sprach sie. Es klang ganz einfach. Aber in ihren Augen las er: Lüge, Lüge.

Er wollte das nicht lesen. Der Zorn regte sich in ihm. Er war jetzt darauf verbissen, sein Ziel zu erreichen – und umso hartnäckiger, je weniger sie ihm entgegenkam. Er begriff sie nicht. Er sah sie scharf an. Es war keine Spur eines Lächelns auf ihrem ruhigen, schönen Gesicht, dessen zarter wie durchsichtiger Schimmer seine Farbe nicht verlor – nicht bleicher wurde und auch nicht röter, was er auch zu ihr sprach. Und doch fühlte er ihr Lächeln, nach jedem Satz aus seinem Munde – ein inneres Lächeln, durch das sie über dem stand, was er hier mit stockender Stimme vorbrachte. Das machte ihn ungeduldig. – Das machte ihn unsicher . . . er richtete sich im Stuhl auf und sprach heftig: »Erinnern Sie sich, wie ich von Ihnen Abschied nahm, Jakobe?«

Sie nickte nur. Einen Augenblick war die Stimmung von einst über ihnen beiden – der schwüle Sommerabend vor der kleinen Stadt – der Schatten der alten Linden – die grauen Hussitenmauern, das Knarren der Frösche im nahen See – blaßblau dämmernder Himmel über der märkischen Weite, für eine Sekunde war das da, nur für eine Sekunde, und er versetzte: »Daß ich nach diesem Abschied nichts mehr von mir hören ließ, und so lange im Ausland blieb, diese meine Haltung wäre unverantwortlich . . . wenn sie eben das wäre, als was sie auf den ersten Blick erscheint. Denn da ist die Sache ganz einfach. Da wäre das alles für mich nichts gewesen, als die flüchtige Begegnung einiger Wochen – etwas, das man erlebt, weil es sich gerade bietet und rasch vergißt . . .«

Sie sah ihn aufmerksam an. Aber sie redete nichts und er beugte sich vor und sagte eindringlich, halblaut: »Ja – wenn es diese kleine Leidenschaft gewesen wäre, ein Strohfeuer, das aufflackert und nach kurzem wieder erlöscht – dann wäre nicht mehr viel zu erklären und noch weniger zu entschuldigen, dann wäre ich einfach ein Kerl, wie deren Dutzende herumlaufen und sich mit ihrem bißchen Gewissen, wenn sie je eins hatten, längst abgefunden haben. Aber es war viel mehr, Jakobe – es war zu viel! Zu groß!«

Sie schwieg.

»Ich will ganz ehrlich sein!« fuhr er fort, mit fester Stimme. Nun endlich brauchte er keine Beschönigung mehr. Es war wirklich so, wie er sagte: »Ich hatte die Absicht, das niederzukämpfen, was ich empfand. Ich glaubte sogar, ich müßte es. Das sei ich Ihnen schuldig. Sie waren nach außen hin in einer klaren und ruhigen Lebensstellung. Ich bildete mir ein, ich hätte kein Recht, Sie da herauszureißen – Sie in Zweifel zu stürzen – alles, was Ihnen bisher Halt gab, zu erschüttern. Mir erschien, da Sie nun einmal schon verheiratet waren, die schmerzhafte und doch schonende Kur eines Abschieds ohne Worte, für immer, als eine Notwendigkeit, für uns beide. Das war schwach! das war kleinherzig. Ich weiß es. Ich bereue es. Ich begreife es hinterher nicht mehr. Aber wirklich, das wurde mir erst allmählich klar, daß es Lagen im Leben gibt, wo man sich und den anderen nicht schonen darf, weil man es gar nicht kann . . . wo man sich durchsetzen muß, im Stärksten, was in einem lebendig ist, gleichgültig gegen alles andere – und dieser Kampf zwischen diesen beiden Gewalten in mir, das sind die drei Monate gewesen, Jakobe, in denen ich nichts von mir hören ließ . . .«

»Das heißt, Sie hofften, ich würde mich allmählich wieder in die alte Lage finden und mich beruhigen, wenn auch nicht so rasch wie Sie!« sagte Jakobe Ansold.

»Nein doch! Ich wiederhole Ihnen, ich habe damit gerungen . . .«

»Sie haben gar nicht gerungen, und waren nur nachträglich sehr erschrocken, als Sie auf einmal hörten, ich sei in Berlin.«

Er biß zornig die Lippen zusammen.

»Jakobe – ich weiß gar nicht, in welchem Tone Sie mir heute begegnen. Haben Sie doch Achtung vor meinen Worten wie ich vor den Ihren . . .«

»Ich habe noch gar nichts gesprochen!«

Er stutzte einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Und das, was Sie dann taten, das war in meiner seelischen Krisis der letzte Anstoß. Diese Erschütterung hat mir die Augen geöffnet und meinen Entschluß zur Reife gebracht . . .«

Sie unterbrach ihn: ». . . zu mir hierher zu kommen. Ja, da sind Sie. Aber wenn ich in den alten Verhältnissen geblieben wäre, dann also . . .«

»Auch dann hätte ich schließlich den Weg zu Ihnen gefunden!«

»Nie!« sagte Jakobe Ansold. »Sie haben doch die beneidenswerte Fähigkeit, alles Unangenehme zu vergessen. heute übers Jahr würden Sie sich schon gar nicht mehr daran erinnert haben, daß da draußen irgendwo ein Mensch existiert, den Sie im Vorbeigehen geknickt haben. Mag der selber sehen, wie er zurecht kommt. Vielleicht richtet er sich ja auch wieder irgendwie halbwegs auf, und wenn nicht, ist es weiter auch kein Verlust. Es gibt ja so viele! Was liegt schließlich an einem – nicht wahr, Herr von Wölsick?«

»Wenn Sie in dieser Art zu mir reden, Jakobe, können Sie keine Antwort von mir verlangen!«

»Und doch versprachen Sie vorhin freiwillig, Sie wollten jetzt einmal ganz offen sein.«

»Und ich sage Ihnen ganz offen: wie konnte ich denn wissen, daß Ihr Zusammentreffen mit mir von solch einschneidendem Einfluß auf Ihr ganzes Leben werden würde? Erst Ihre Tat hat mir das doch bewiesen!«

»Herr von Wölsick – Sie waren doch nicht blind . . . Wir sind doch beide keine Kinder.«

»Natürlich habe ich bemerkt, daß sich in Ihnen eine Wandlung vollzog. Es war mir nur nicht bewußt, wie weit diese Wandlung ging – Ich dachte, es gäbe da auch wieder eine Umkehr oder wenigstens eine Grenze. Ich glaubte . . .« Er brach ab und fuhr ruhiger fort: »Wer so schön ist, wie Sie, Jakobe, und so zu seinem Manne steht wie Sie, an den muß die Gelegenheit zu einer solchen Wandlung schon oft von außen herangetreten sein. Ich war nicht eitel genug, mir einzubilden, daß ich gerade erst von solch allmächtigem Einfluß auf Sie sein müßte. Ich war überzeugt, Sie hatten diesen Kampf schon hinter sich und hätten sich mit dem Gedanken an Ihre unglückliche Ehe ein für allemal abgefunden.«

Sie nickte: »Gewiß! Ich habe ja auch darüber im Sommer mit Ihnen gesprochen, wie über alles, was irgendwie im Zusammenhang mit mir stand. Das erschien mir damals ganz natürlich, daß Sie alles von mir wissen mußten. Es war mir eine Wohltat, das bißchen Beichte. Eigentlich war ja auch nichts zu beichten. Es hätte mir in früheren Jahren freilich manchmal etwas gefährlich werden können, so wie ich war und wie gerade meine Nächsten mich nie sahen – ich wußte die Gefahr, – aber ich kannte auch das Gegenmittel. Für eine Frau in meiner Lage war das Kind die natürliche Schutzwehr. An der prallte so vieles ab. Hinter ihr fühlte man sich immer wieder geborgen. Die hat man mir vor einem Jahr genommen – und dann kamen Sie. Aber wann Sie auch gekommen wären, – ob damals oder schon früher – Ihre Wirkung auf mich wäre immer eine viel stärkere gewesen als irgend eine andere vorher!« –

»Und meine Meinung war immer, diese Wirkung könne keine so tiefe sein! Denn sonst hätten Sie mich gehen heißen, als Sie anfingen, es gewahr zu werden . . .«

»Das hätte ich freilich sollen . . . ehe es zu spät war! Das hab' ich mir selber oft genug gesagt. Aber ich wollte nicht. Ich konnte nicht mehr. Es war schon zu stark. Einmal wollte ich etwas vom Leben haben und Sie erleben – ganz! Ich hatte ja so gar nichts vom Leben – es war ja so leer in mir – ich bin ohne Nahrung, ohne Menschen geblieben, von Anfang an . . . ich kannte ja gar nicht, was das heißt, sich von etwas erfüllen lassen, das einen durchdringt . . . ändert . . . reift . . . zur Selbsterkenntnis bringt. Da bot mir das Schicksal eine Gelegenheit, ich möchte sagen, aufzuwachen – durch Sie! Nun, ich bin nicht vorbeigegangen! Ich hab' es getan! Und tät' es wieder! . . .«

»Gewiß, Jakobe –! aber wenn Sie sich nun beklagen . . .«

Ihre blauen Augen wurden noch größer als sonst, vor Erstaunen.

»Worüber beklage ich mich denn? zu wem? Wer hat je ein Wort der Klage von mir gehört? Wollen Sie mir das nicht erklären, Herr von Wölsick . . .«

»Ich meinte nur . . .«

»Bitte, Sie sagten, ich klagte! Etwa meinem Vater? Meinen Geschwistern? Die sehe ich kaum in der Woche einmal! Oder Fräulein von Kritzing? . . . Bei der jammere ich nicht, sondern tue meine Pflicht. Oder gar Ihnen? Herr von Wölsick – habe ich Sie gerufen? habe ich Ihnen je nur eine Zeile geschrieben, irgend etwas von Ihnen gewollt? Sie sind auf einmal freiwillig hier ins Zimmer getreten. Mein Wunsch war es nicht!«

Die Türe öffnete sich. Das rundliche kleine Fräulein von Kritzing kam geschäftig und ahnungslos herein, um ein Päckchen rückständiges Schulgeld in ihrem Schreibtisch zu verschließen, und blieb beim Anblick des Besuchers betroffen stehen. Als Jakobe ihn vorstellte und seinen Namen nannte, wurde ihr freundliches Matronengesicht unter den weißen Löckchen ganz rot vor Aufregung und Schrecken. Sie machte eine kurze Verbeugung und zog sich, die Klinke vorsichtig wie in einem Krankenzimmer ins Schloß drückend, zurück. Jakobe war bei ihrem Kommen aufgesprungen. So stand sie plötzlich Erich von Wölsick gegenüber, der sich wieder gesetzt hatte, und lachte jäh auf. Sie konnte ihre Leidenschaft nicht mehr beherrschen.

»Und alle, die zu mir kommen, wollen von mir dasselbe. Ich soll zurück. Es soll alles wieder so werden, wie es war. Wahrscheinlich sitzen auch Sie hier, um mir gut zuzureden! . . . Jeder predigt mir Vernunft. Und daß ich unvernünftig sein muß, wenn ich nicht untergehen will, das versteht keiner! Höchstens Sie könnten es! denn Sie haben das alles in mir freigemacht! Wie ich da stehe, da bin ich Ihr Werk! Sie haben auf unseren Spaziergängen, in unseren Gesprächen Stein um Stein die Mauern abgebrochen, die um mich waren. Ich war nicht glücklich und Sie sagten: ›Aber du bist dazu geschaffen, glücklich zu sein‹. Ich war meinem Manne fremd und Sie sagten: ›Er verdient dich nicht‹. Ich litt unter meinem leeren Leben und Sie sagten: ›Dein Leben kommt erst!‹ . . . Sie haben mich ganz angefüllt mit Trotz gegen mein Schicksal und meine Umgebung. Durch Sie ist in jenen Wochen eine fremde Macht über mich gekommen und hat mich über alles bisher hinausgehoben, – ich hatte einen Rausch von Freiheit . . . ich lebte in einer einzigen atemlosen Ahnung von etwas übermenschlich Großem . . . Unbekanntem . . . das langsam heraufzog . . . das mich mitnehmen sollte – hinaus aus allem fort . . . und dann kam ein Sommerabend, Herr von Wölsick, und dann waren Sie weg . . . und ich schlug die Augen auf und fand mich da, wo ich immer gewesen war, die letzten zehn Jahre, und um mich ging das Leben seinen Gang, als wäre nichts geschehen.«

Er hatte sich langsam erhoben. Sie standen einander gegenüber und sie fuhr fort: »Und ich möchte nur das eine wissen, Herr von Wölsick, ob Sie in dieser Zeit darnach, als Sie, wie Sie behaupten, für sich und mich den Arzt der Seele spielten, während Sie drüben in England Rebhühner aus der Luft holten – ob Sie sich da wirklich klar gemacht haben, in welcher Verfassung Sie mich zurückgelassen haben. Ich glaube nicht, daß Sie es liebten, daran zu denken. Es war doch peinlich für Sie, sich das vorzustellen . . . diese jammervolle Ernüchterung . . . das Schleichende, Trostlose einer Selbsttäuschung, die man gar nicht begreift . . . bei der man sich an den Kopf faßt und an sich selber irre wird und an allen Menschen und an unserem Herrgott im Himmel . . .«

»Jakobe – ich habe Ihnen schon gesagt, was die Gründe waren, die mich zwangen, vorläufig zu schweigen . . .«

»Und ich glaube Ihnen davon genau so viel wie Sie selber – nämlich Nichts! Nicht ein Wort! . . . Das alles haben Sie sich nachträglich zurechtgelegt. Diese Spiegelfechterei gehört mit zu Ihrem Kondolenzbesuch bei mir, so gut wie Sie sich einen schwarzen Rock angezogen und die Krawatte geknüpft und die Handschuhe zugeknöpft haben. Ein Mann wie Sie erscheint immer tadellos vor einer Dame – das weiß ich! . . . Und wenn ich jetzt zurückschaue, dann weiß ich auch ganz genau, was sich damals begeben hat: Ihre achtwöchige Dienstzeit war um – also war auch ich um! . . . Bitte, lassen Sie mich jetzt ausreden, Herr von Wölsick – und Sie sagten sich höchstens im Coupé auf der Heimfahrt nach Berlin: ›Arme Frau . . . aber schließlich, lieber Gott . . . was soll man machen . . .!«

»Sie tun mir großes Unrecht, Jakobe! Ich habe es viel, viel schwerer empfunden!«

Sie achtete gar nicht auf seine Worte. Ein Lächeln verächtlichen Stolzes glitt über ihr schönes Gesicht.

»Ich stand ja freilich damals nicht so kühl über den Dingen, wie Sie, Herr von Wölsick. Ich besaß nicht Ihre geistige Freiheit, in jeder Sache gerade die Notwendigkeiten zu entdecken, die für Sie nützlich sind! Das ist ja Ihre Stärke. Sie sind ein Virtuose des Lebens! Und wir anderen dürfen glücklich sein, Ihnen zu dienen! Aber ich faßte es anders auf! Soll ich Ihnen sagen, was ich damals glaubte?«

»Ich bitte Sie darum!«

Er murmelte es und schaute dabei zu Boden. Sie warf mit einer jähen Bewegung den Kopf in den Nacken.

»Ich sage es Ihnen ins Gesicht und scheue mich dessen nicht, mir ist es heilig – auch das, was ich damals dachte – auch die feierliche, andächtige Stimmung, aus der es mir kam. Die ersten acht Tage, als Sie weg waren, da war ich noch glücklich – da lachte ich innerlich, da ging ich wie eine heimliche Königin unter den Leuten, da dachte ich in meiner gläubigen Torheit nicht anders, als Sie seien nur zu Ihrer Mutter nach Sommerwerk gefahren und zu Ihrer Schwester nach Berlin – und zum Rechtsanwalt und hätten alles Nötige geordnet – und dann würden Sie zurückkommen und mir sagen: ›Lasse dich von deinem Manne scheiden und werde meine Frau . . .‹«

Es war eine kurze Stille, dann versetzte Erich von Wölsick: »Jakobe . . . ich möchte jetzt . . .«

»Nein! Lassen Sie mich bis zu Ende reden – ohne Unterbrechung! Es soll nun alles heraus bis aufs Letzte! . . . In jenen acht Tagen ging ich viel spazieren – in einer Traumstimmung – ganz allein für mich. Da begegnete mir einmal im Wäldchen vor der Stadt die Kommandeuse und lächelte, wie sie schon weiter wollte, so recht niederträchtig und sauersüß: ›Nun, Herr von Wölsick ist ja jetzt in England?‹ und ich nahm all mein Herz zusammen in beide Fäuste und verriet nichts und wurde nicht blaß und sagte nur: ›So?‹ – und die alte Spinne sagte: ›Ja! Seine Mutter erzählte es mir gestern – sie kam von Sommerwerk wegen Besorgungen – wir trafen uns im Laden. Er will ein Viertel- oder Halbjahr drüben bleiben!‹ Mit dem Giftstich ging sie und es war gut, daß das Wäldchen so dicht war und niemand hat sehen können, wie ich da im Gebüsch am Boden gelegen hab' und mir die Lippen blutig gebissen und die Grasbüschel mit den Händen ausgerissen und kaum hab' weinen können, sondern gestöhnt hab', wie ein wundes Tier. Dann bin ich endlich aufgestanden und hinunter bis an den Teich. Da war viel Schilf und das Wasser schlammig und kaum zwei Fuß tief, und wie ich da stand, fiel es mit gar nicht ein, mich Ihretwegen zu ertränken, Herr von Wölsick! das werd' ich nie tun. Dazu leb' ich viel zu gern, obwohl ich gar nichts vom Leben hab'! Ich bin umgedreht und in die Stadt zurückgegangen – wie es schon dämmerte, damit niemand meine Unordnung und mein versteinertes Gesicht sehen sollte. Ich war so erstaunt – so furchtbar erstaunt. Ich dachte immer noch, ich träumte. Und doch fühlte ich bei jedem Schritt: ich wurde wieder ein anderer Mensch – zum zweiten Male – und dies Mal erst, nach dieser Erfahrung, ganz ich selbst! . . .

»Von da ab war ich frei. Oder ich wurde es allmählich in nächster Zeit und fand mich ganz allein auf der weiten Welt. Das war kein Gefühl der Erlösung. Ich hatte nicht nur Sie verloren, nein, schon vorher war durch Sie das letzte innere Band zwischen meinem Mann und mir gerissen – nur war mir, als ob ich auch mein Kind begraben hätte – es war ja so weit weg – ich sah es ja fast nie – als ob ich keinen Vater, keine Geschwister, keine Freunde mehr hätte – niemanden, der mich verstand, wenn ich hätte reden wollen. Rings um mich war nur ein einziges großes Schweigen – das Schweigen, das von Ihnen kam . . . –

»Und ich änderte mich. In meiner Stellung zu meinem Mann. Sie wissen, daß ich ihn nie geliebt habe. Aber ich hatte mich an ihn gewöhnt, ich möchte sagen, wie an ein körperliches Leiden – es schmerzte mich jeden Tag, jede Minute mit tausend Kleinigkeiten – aber ich nahm es hin und dachte nicht mehr weiter darüber nach. Ich wußte ja, wie er war . . .

»Aber nun auf einmal, nachdem Sie mich aus allem herausgeführt und dann auf freiem Felde stehen gelassen hatten und weggegangen waren . . . ich kann das kaum schildern, was das eigentlich in mir war . . . es war ein plötzliches Entsetzen, eine Beschämung: du lebst in einem fremden Hause, mit einem fremden Menschen zusammen. Sie nennen ihn deinen Mann aber er ist dir fremd. Er weiß nichts von dir – du willst nichts von ihm – ihr seid von einander so weit entfernt, als lebtet ihr in zwei verschiedenen Weltteilen, und doch ist er dir ganz nah' und du bist sein Eigen. Es war, als fielen mir Schuppen von den Augen – wie beim Sündenfall . . . es war, wie unter dem Baum der Erkenntnis . . . ich fühlte: so darfst du nicht mehr weiter leben, und wenn man euch zehnmal getraut hat. Du verrätst damit dich selbst – du würdigst dich herunter! Was du erlebt hast, ist das Heiligste und Schmerzlichste, das soll dich adeln an Körper und Seele – dich lehren, nun gerade den Kopf hoch zu tragen – in deinem Unglück – und nicht, ihn wieder unter das alte Joch zu ducken – nein – nur fort . . . nur fort . . .«

Sie verstummte, sie war etwas blaß geworden und atmete schwer. Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Und wenn ich mir das alles auch nicht gesagt und klar gemacht hätte – es wäre ganz dasselbe gewesen: ich wäre doch weggegangen – dann eben blindlings – ohne Überlegung – aber geschehen wäre es . . . ich mußte es tun . . . es blieb mir gar keine Wahl . . . Seit wir uns kennen gelernt haben, konnte ich einfach nicht mehr bei meinem Manne bleiben! . . . Wie Sie sich dabei zu mir stellten, das war eine andere Sache. Die kam bei diesem Entschlusse gar nicht in Betracht. Den habe ich gefaßt, für mich! . . . Freilich unter Ihrer Nachwirkung auf mich. Sie sehen, ich leugne die Macht gar nicht, die Sie über mich ausgeübt haben – ich gestehe das ganz freimütig ein – ich beklage mich auch nicht mit einem Worte – dazu bin ich viel zu stolz, Herr von Wölsick! – im Gegenteil . . . ich habe noch Grund, Ihnen zu danken! Ohne Sie hätte ich die Kraft, mich loszumachen, nie gefunden. Ich hätte mich bis an mein seliges Ende in der Verkrüppelung einer unglücklichen Ehe weiter geschleppt. Nun bin ich frei – wenn es auch weh getan hat . . . sehr weh . . . Aber wollen wir uns nicht wieder setzen? Wir stehen so im Zimmer umher. Das ist ja gar nicht nötig. Wir können doch in aller Ruhe miteinander reden . . .«

Sie bebte vor Aufregung am ganzen Körper, während sie das sagte und dabei gleichgültig zu lächeln versuchte. Es gelang ihren zuckenden Lippen nicht. Auch er war zu erregt, um zu sprechen. Ein paar Augenblicke saßen sie stumm einander gegenüber. Nur das Schmettern des Kanarienvogels im Raum unterbrach die Stille der kleinen, altjüngferlichen Stube. Jakobe stand auf und deckte ein Tuch über den Vogel. Als sie wieder zurückkam und Platz nahm, murmelte Erich von Wölsick, vor sich zu Boden schauend: »Und warum sind Sie da gerade nach Berlin, Jakobe? . . .«

»Weil man in der größten Stadt am leichtesten verschwindet und ein neues Leben anfängt . . . Ich will doch arbeiten – oder vielmehr – ich will eigentlich nicht – es ist gar nicht so schön – aber ich muß. Denn ich habe kein Geld! . . . Hier hab' ich Arbeit gefunden – Gott sei Dank!«

»Aber das kann doch nicht immer so weiter gehen!«

»Warum denn nicht? . . .«

»Nun – schon die Ihrigen werden vielleicht einmal Einspruch erheben . . .«

»Was für ein Recht haben sie denn dazu! Wer kann mir denn Vorschriften machen? Herr von Wölsick, begreifen Sie doch endlich, was Sie aus mir gemacht haben! Sie haben mich aufgeweckt! Die sechs Wochen zwischen uns – die waren für mich ein einziges, fortgesetztes: ›Steh auf und wandele.‹ Nun geh' ich meines Wegs geradeaus – unbeirrt – ohne rechts und links zu schauen – durch den Anstoß, den Sie mir gegeben haben – und weder Sie werden mich zurückhalten oder zur Umkehr zwingen noch sonst jemand . . .«

»Aber wohin führt der Weg!«

»Nun – man schlägt sich durchs Leben, bis man einmal stirbt . . .«

»Aber für Sie, Jakobe . . . gerade für Sie, ist doch solch ein Leben nichts! Es bietet Ihnen ja viel zu wenig . . . es ist ja so grau in grau . . .«

»Ich habe längst gelernt, auf Glück im Leben zu verzichten, Herr von Wölsick! . . . Schon seit zehn Jahren. Mir genügt, daß einmal etwas Großes in meinem Leben gewesen ist. Und das danke ich Ihnen! Sie werden nie einen Vorwurf von mir hören! Nur meine Ruhe will ich haben. Und darum ist das unser erstes und letztes Gespräch. Sie sollen wissen, woran Sie sind. Dann wollen wir uns nicht mehr sehen . . .«

»Ich hoffe nicht, Jakobe!«

Sie hob den Kopf.

»Es ist mir nicht nur meines Rufes wegen unmöglich, Herr von Wölsick – von dem hab' ich ja selbst ein gut Teil diesen Sommer mit offenen Augen für Sie geopfert – nein – in mir empört sich alles gegen den Gedanken, noch irgend welche Gnadenbrocken von Ihnen zugeworfen zu bekommen! Dazu bin ich viel zu gut! Dazu hab' ich viel zu viel Stolz, um Ihren Anblick jetzt noch zu ertragen!«

»Ich meine es auch nicht so, Jakobe!«

Es war ein tiefer Ernst in seiner Stimme. Sie sah flüchtig zu ihm hin und wieder weg. Er bemerkte, wie eine leise, verräterische Röte des Ahnens, des Verstehens dessen, was kommen sollte, ihre Wangen überlief und gleich darauf wieder einer bei ihr ganz ungewohnten, fast unheimlichen Blässe Platz machte. Er rückte sich auf seinem Stuhl zurecht und frug: »Sind Sie jetzt fertig mit dem, was Sie sagen wollten, Jakobe?«

»Ja – ganz!«

»Darf ich nun ein paar Worte von mir aus reden? . . . über mich!«

»Sie haben mir ja schon die Gründe Ihres Verhaltens dargelegt!«

»Aber ich fürchte, Sie haben nicht alles geglaubt!«

»Nicht ein Wort!«

Er zuckte zusammen, dann versetzte er: »Sie sind schonungslos! Aber das gibt mir gerade das Recht, noch einmal das Wort zu erbitten. Ich will mich auch nicht wiederholen! Ich habe es nicht nötig. Ich habe Ihnen jetzt etwas ganz anderes, viel Größeres zu sagen. Und wenn ich es gesagt habe, werden Sie mir auch alles Frühere glauben . . .«

Sie hatte jetzt äußerlich ihre Ruhe wieder. Aber es klang doch gepreßt, als sie entgegnete: »Also bitte – ich höre!«

Wieder gab es eine Störung. Die Dienstmagd klopfte. Nebenan wurde die Suppe kalt. Jakobe ging zur Türe. Er hörte, wie sie durch den Spalt auf ein Gemurmel draußen erwiderte: »Nein – es ist ganz gleich, Luise, ob ich heute Mittag esse oder nicht!« – dann setzte sie sich wieder hin – es waren immer zwei Schritte Entfernung zwischen ihren beiden Stühlen – und nun hub er an: »Ich weiß, Jakobe: ich bin ein Egoist . . .«

»Das ist auch meine Überzeugung, Herr von Wölsick!«

»Oder vielmehr, ich war es bisher – Durch eine gewisse Naturnotwendigkeit mußte ich mich nach meinem Lebensgang von Kind auf dazu entwickeln . . .«

»Ich glaube, Herr von Wölsick, es liegt mehr im Menschen selber . . .«

»Aber die Verhältnisse bringen es zum Durchbruch. Bedenken Sie, was es heißt, von seinem dritten Lebensjahr ab nicht etwa Majoratserbe, nein, schon Majoratsbesitzer zu sein – der Mittelpunkt eines ganzen, weitverzweigten Geschlechts . . . Mein Leben lang hat meine Eitelkeit sich darin gesonnt. Es ist ja an sich gewiß eine ganz behagliche Vorstellung, daß für einen selbst so ziemlich alle Rechte reserviert sind und für die anderen die Pflichten. In diesem Bewußtsein haben Sie mich erst erschüttert, Jakobe! . . . Von da ab kam mir allmählich die Erkenntnis, daß der freieste Mensch auf der Welt auch der ärmste ist – daß wir uns an anderen bereichern müssen, um wir selbst zu werden. Das weiß sonst jeder. Man könnte sagen: ›Je weniger einer hat, desto lieber gibt er es her!‹ Mir hatte das Schicksal so viel gegeben, daß ich nichts hatte und es nicht einmal merkte. Vielleicht wäre ich mein Leben lang damit zufrieden gewesen – es bedurfte so starker und leidenschaftlicher, mein Tiefstes aufwühlender Empfindungen, wie sie in diesem Sommer . . . ja – ich sehe Ihr Gesicht, Jakobe – ich sehe ein Lächeln darauf, das wirklich nicht zu dem Ernst dieses Augenblickes paßt . . . Sie geben sich nicht die Mühe, Ihre Zweifel an meinen Worten zu verbergen . . .?«

»Nein.«

»Und ich werde mir nicht die fruchtlose Mühe geben, Sie mit Worten überzeugen zu wollen. Daß das umsonst ist, das hab' ich schon einsehen müssen. Besser als alles Reden ist eine Tatsache, die keine andere Deutung mehr zuläßt. Und deswegen bin ich hier! Wissen Sie, wie ich es meine, Jakobe?«

»Bitte – fragen Sie mich jetzt nicht, Herr von Wölsick, sondern sagen Sie, was Sie zu sagen haben . . .«

Er hatte jetzt, im Vorgefühl seiner triumphierenden Überraschung, seine Sicherheit völlig wiedergewonnen. Er sah ihr fest ins Auge. Sie hielt seinen Blick ruhig aus. Dann frug er: »Nach dem, was Sie mir gesagt haben, Jakobe, nehme ich an: Es ist Ihr fester Wille, sich von Ihrem Mann scheiden zu lassen!«

»Ja, natürlich!«

»Und hat er schon eingewilligt?«

»Bisher noch nicht. Er hofft immer noch, ich komme zu ihm zurück!«

»Und wenn nun etwas eintritt, was ihm diese Hoffnung durchaus und für immer nimmt – wird er dann seine Zustimmung zur Trennung geben?«

»Es wird ihm schließlich überhaupt nichts anderes übrig bleiben. Ich nehme ja auch keine Unterstützung von ihm – das Kind bleibt im Kadettenkorps – es kostet ihn wirklich nur ein einfaches ›Ja‹ . . .«

»Und Sie kostet es auch nur ein Ja, Jakobe!«

Er beugte sich mit einem ernsten, innigen Blick vor, um ihre Hand zu ergreifen. Sie zog sie scheu zurück. Dann stand sie langsam auf. Plötzlich war sie totenblaß geworden. Auch er hatte sich erhoben. Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie standen einander dicht gegenüber.

Und so sagte er einfach: »Jakobe – wenn Sie frei sind, dann, bitte ich Sie: werden Sie meine Frau . . .«

Sie erwiderte nichts. Er fuhr fort: »Und sagen Sie jetzt schon allen Leuten, frei und öffentlich, wie ich es auch tun werde, daß wir uns von heut' ab durch Gewissenspflicht, so wie sonst Verlobte, aneinander gebunden erachten, bis uns das Gesetz die Vereinigung gestattet . . .«

Es war eine lange, schwere Pause. Ihn befremdete ihr Schweigen. Stürmischen Jubel, aufjauchzende Dankbarkeit hatte er ja nicht mehr erwartet, seit er sie gesehen – aber wenigstens Tränen der Erschütterung, der Rührung, einen stummen Blick, in dem viel alter Schmerz und Verzeihung lag . . . Aber nichts von alledem . . . Sie blieb so ruhig, so kalt – so gefaßt, wenn sie auch sehr bleich war . . . und endlich sprach er gedämpft: »Jakobe . . . finden Sie denn kein Wort der Erwiderung?«

Es kam kein Laut von ihren Lippen.

»Sind Sie so bewegt? überrascht Sie das so? Aber weswegen sonst hätte ich wagen dürfen, hierher zu kommen?«

»Sie konnten kommen, um mir zur Rückkehr nach Hause zuzureden. Um das abzuschneiden, sagte ich Ihnen gleich, wie ich zu meinem Manne stehe. Oder Sie wollten bloß unsere früheren Beziehungen fortsetzen. Dann hätte ich Ihnen die Türe gewiesen. Oder eben . . . ich war auch auf dies dritte gefaßt, aber weitaus am wenigsten . . . es ist am unwahrscheinlichsten für Sie . . .«

»Es ist nicht Wahrscheinlichkeit, sondern Wahrheit!« er breitete die Arme ein wenig aus, ein leichtes hoffendes Lächeln flog über sein Gesicht. »Hier stehe ich, Jakobe! . . . und statt aller anderen Reue bitte ich Sie noch einmal, mit allem Ernst und aller Liebe: Werden Sie meine Frau . . .«

»Nein.«

Er trat zwei Schritte zurück. Er traute seinen Ohren nicht.

»Was sagen Sie, Jakobe?«

»Nein!«

Die junge Frau stand unbewegt vor ihm, die Arme ruhig herabhängen lassend, den Kopf etwas zurückgelegt. Um ihn tanzte das Zimmer. Das Blut hämmerte in seinen Schläfen. Er bezwang sich und sagte mit mühsamer Fassung: »Jakobe . . . ich glaube, wir verstehen uns noch nicht. Sonst wäre Ihre Antwort nicht möglich! Ich komme und tue, was nur ein Mann vermag: Ich biete Ihnen meine Liebe, meinen Namen, mein Vermögen, meine gesellschaftliche Stellung . . . ich führe Sie heraus aus den unklaren, kläglichen Verhältnissen, in denen Sie jetzt sind . . . ich stehe neben Ihnen zum Schutz gegen jeden, der etwas gegen Sie sagen sollte – gegen jeden, Jakobe – und Ihre Antwort heißt: ›nein!‹ Ja, was wollen Sie denn noch?«

»Nichts!«

»Wieso – nichts?«

»Ich will gar nichts von Ihnen, Herr von Wölsick! Ich habe das schon mehrfach gesagt.«

»Und Sie weisen mich ab?«

»Das tue ich!«

»Aber Sie wissen nicht, was Sie damit tun!«

»Ich sagte eben noch: ich war sogar auf Ihre Werbung gefaßt . . . unter anderem und war von vornherein entschlossen, sie abzulehnen, wenn es dazu kommen sollte . . .«

»Aber warum denn nur, um Gottes willen? Das verstehe ich nicht!«

»Weil Sie mich eben überhaupt nicht verstehen, Herr von Wölsick – ich hab' Ihnen zu erklären gesucht, daß ich von meinem Manne weg bin, weil mir solch eine Ehe ohne Liebe mit allem, was damit zusammenhängt, weit schlimmer, herabwürdigender, dem Gefühl widersprechender erschien, als den meisten von uns eine Liebe ohne Ehe! Alles habe ich daran gegeben, um mir meine Freiheit zu erringen und meinen Stolz dazu. Und nun, wo ich das habe nach Opfern, wie sie schwerer wahrhaftig kein Mensch bringen kann, nun soll ich beides wieder verleugnen und wieder zu einem Manne gehen, der mich nicht liebt . . .?«

». . . der Sie nicht liebt? – aber um Gottes willen, Jakobe . . . mein Antrag spricht doch für mich . . . der beweist doch alles . . . der löst doch jeden Zweifel . . .«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Was Sie zu dem Antrag gebracht hat, weiß ich nicht. Ich will für Sie das Beste annehmen und glauben, daß sich das Gewissen in Ihnen geregt hat, daß Sie sich nachträglich dazu für verpflichtet halten! Das wird ein bißchen die Bitterkeit in meiner Erinnerung an Sie mildern. Oder ist es ein anderer Grund . . . Vielleicht . . . aber jedenfalls: Liebe ist es nicht!«

»Und wenn ich Ihnen schwöre, Jakobe . . .«

»Dann schwören Sie falsch! Ich kenne Sie, Herr von Wölsick! Ich glaube Ihnen nicht . . . Sie dachten wohl, das sei selbstverständlich, daß ich Ihnen aus diesem Stübchen hier in Ihr Schloß folge . . . aber Sie täuschten sich darin. Sie täuschen sich überhaupt immer in mir. Das ist Ihr Verhängnis . . .«

Die Wut über ihre Weigerung, über den Spott in ihren Worten brach in ihm durch. Er schrie förmlich, unbekümmert, ob man es nebenan hörte . . .

»Und auf was warten Sie, Jakobe? Wollen Sie hier verkommen und verblühen – da drüben, drei Treppen hoch im Hinterhaus, Tag aus Tag ein im Bureau sitzen und Briefe schreiben, bis Ihr Haar grau wird? . . .«

»Lassen Sie das doch meine Sorge sein, Herr von Wölsick!«

»Aber es ist doch Wahnsinn . . . eine Frau wie Sie . . . der alles draußen im Leben offen steht . . . durch mich . . .«

»Ich lebe mein Leben! Ich will's nicht von Ihnen borgen!«

»Aber was für eines! . . . Wo ist denn da Raum für Glück . . . für irgend etwas, um das es der Mühe wert ist, zu leben?«

»Wenig. Aber ich bin wohl die Erste nicht, der es so geht. Und werde wohl nicht die Letzte sein!«

Er machte noch einen Versuch. Er näherte sich ihr, ganz dicht, und sagte leise: »Jakobe . . . bin ich Ihnen denn so ganz gleichgültig geworden . . . seit dem Sommer . . . so ganz wie jeder andere Mensch? Ich kann es nicht glauben . . . und wenn Sie mich haßten, so würde ich es merken. Aber ich merke immer noch etwas anderes bei Ihnen, Jakobe, was ich gar nicht verdiene . . . soll das nicht doch noch für mich sprechen?«

Sie schwieg.

»Oder täusche ich mich, Jakobe? Habe ich wirklich gar keine Macht mehr über Sie?«

Nun hob sie den Kopf und nickte.

»Sie haben eine Macht auf mich ausgeübt, tiefer als die aller anderen Menschen zusammen, die mir je in meinem Leben begegnet sind.«

Und wieder versuchte er, ihre Hände zu ergreifen, und bat: »So überlassen Sie sich doch dem, was Sie fühlen, Jakobe . . . Tun Sie es für sich und mich . . . helfen Sie uns beiden . . .«

Sie legte die Arme auf den Rücken. Dann versetzte sie: »Ich habe es jetzt schon oft gesagt und komme immer wieder darauf zurück: stärker als alles ist mein Stolz! Es kommt überhaupt nicht darauf an, was meine Empfindungen sind – über die bin ich niemandem Rechenschaft schuldig, denn ich dränge mich niemandem auf – sondern, was Sie fühlen! Oder vielmehr nicht fühlen. Denn ich weiß es jetzt ganz genau, Herr von Wölsick, und habe es acht Tage nach unserer Trennung im Sommer gewußt: Sie haben mich nie geliebt . . .«

»Doch, Jakobe . . .«

»Nein! denn dann hätten Sie es nicht übers Herz bringen können, mich so zu behandeln, wie Sie mich behandelt haben . . .«

Er zuckte die Achseln. Der Grimm über ihren unerwarteten Widerstand wurde immer stärker in ihm, und er wiederholte heftig: »Doch, Jakobe! wenn ich Ihnen nun die heilige Versicherung gebe . . .«

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Sie unterbrach ihn und sagte mit einer eigentümlichen Ruhe: »Gibt es eigentlich etwas auf der Welt, was Ihnen heilig ist, Herr von Wölsick – außer Ihnen selber natürlich?«

Er überhörte absichtlich ihre letzten Worte. »Das ist eine sonderbare Frage an jemanden, der Edelmann und Offizier ist!« sagte er schroff.

»Also könnten Sie wahrhaftig hier stehen und mir Ihr Ehrenwort darauf ablegen, daß Sie diesen Sommer nicht mit mir gespielt haben, weil Sie gerade nichts Besseres vorhatten? . . . Sehen Sie, Herr von Wölsick . . . dieser Bruchteil einer Sekunde, dies augenblickliche Stutzen hat Sie verraten. Sie brauchen doch ein bißchen Zeit zu dem Entschluß, Ihr Ehrenwort falsch abzugeben! Nun täten Sie's ja wahrscheinlich! Aber nun will ich es gar nicht mehr!«

Er schwieg eine kurze Weile und sah finster vor sich hin. Endlich begann er: »Ich verzichte darauf, immer wieder über diesen Sommer mit Ihnen zu sprechen, Jakobe! wir verstehen uns da nicht. Es handelt sich für uns nicht mehr um das, was gewesen ist, sondern was jetzt ist . . . mögen Sie früher von mir glauben, was Sie wollen – aber es ist doch inzwischen eine Wandlung in mir vorgegangen.«

»Beweisen Sie mir das doch erst, Herr von Wölsick!«

Er verlor fast die Geduld.

»Herrgott im Himmel . . . was kann ich mehr tun, als daß ich da bin und . . .«

»Das beweist mir nur, daß Sie mich heiraten wollen, aus Gründen, die ich nicht kenne und die Sie vielleicht ehren! Daß Sie mich aber lieben, das beweist mir das nicht . . . und ich weiß wahrhaftig nicht, warum ich von dem einen Manne, den ich nicht liebe, zum anderen gehen soll, der mich nicht liebt! . . . so oder so verlöre ich meine Selbstachtung, gerade das, was Sie in mir erweckt haben . . .«

»Und an Ihre Zukunft denken Sie nicht?«

»Nein! Ich überlasse es Ihnen, Herr von Wölsick, immer nur sich zu sorgen, wie es einem nach außen hin recht gut ergeht. Für mich gibt es Dinge – über denen verachte ich mein eigenes Wohl und Wehe . . . die halten mich aufrecht! Das ist eben Ihr Fehler, daß Sie diese Kräfte nicht zu sehen vermögen, die oft in ganz unscheinbaren Menschen, wie mir, verborgen sind. Darum täuschen Sie sich in den Menschen, so klug Sie sind! Und nun gehen Sie, Herr von Wölsick, und vergessen Sie diese Stunde. Die gibt Ihnen sonst hinterher zu viel Rätsel auf! Die lösen Sie doch nicht . . .«

»Jakobe . . . wenn ich gehe, in dieser Weise gehen muß, dann komme ich nie wieder!«

»Das weiß ich! das will ich! das ist gut, daß Sie einmal jemanden getroffen haben, der stärker war als Sie! Die Stunde ist für mich eine Erlösung. Behalten Sie Ihr Geschenk! Ich brauche Ihre Gnade nicht! . . . Steigen Sie nur beschämt die Treppe wieder hinunter! mich werden Sie nicht weinen sehen und nicht schwach sehen beim Abschied . . . dazu hab' ich zu viel von Ihnen gelernt! Und hab' mein Lehrgeld dafür bezahlt! mit meinem Herzblut! Und nun ist's genug! . . . alles ist klar zwischen uns! Gehen Sie, Herr von Wölsick!«

»Jakobe . . . Sie sind in einer Erregung . . .«

»Und wenn ich's bin – ich weiß, was ich sage! Gehen Sie, Herr von Wölsick!«

»Sie werden es zu spät bereuen, Jakobe!«

Sie machte mit dem Kopf eine Bewegung nach der Tür.

»Gehen Sie, Herr von Wölsick!«

Er zuckte zusammen. Es traf ihn wie ein Hieb. Seine Faust ballte sich um die Krempe des Zylinders, den er langsam vom Stuhl nahm. Er murmelte zwischen den Zähnen: »Jakobe . . . das ist Ihr letztes Wort?«

». . . Ja!«

»Sie wissen, was das bedeutet?«

»Gehen Sie, Herr von Wölsick!«

Jetzt zeigte sie sogar mit der Hand in der Richtung nach dem Ausgang. Er wandte sich ab und verließ stumm das Zimmer.



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