Rudolph Stratz
Herzblut
Rudolph Stratz

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II

Jakobes Brief erreichte den Hauptmann Ansold am Abend des dritten Manövertags, als er in einem kleinen verregneten märkischen Nest mit seinem Freunde, einem anderen Kompaniechef, in einem kahlen Stübchen zusammen saß, fror, rauchte, auf die Quartiermacher schimpfte und nach der Uhr sah, ob das Gepäck denn noch nicht käme und man sich endlich menschlich machen und zum Essen gehen könne. Draußen dämmerte es. Der ewige Gleichschritt immer neu einrückender Truppenteile dröhnte auf dem nassen Pflaster, Batterien rasselten und schüttelten langsam vorbei, irgendwo in der Nähe putzten Regimentsmusiker ihre feucht gewordenen Blechinstrumente und entlockten ihnen sonderbare, kurze, heulende Probetöne, der Bursche war verschwunden, um die Pferde Gott weiß wo unterzubringen, und Leopold Ansold, der sonst während des Manövers immer in besonders guter Laune war, ging unwirsch im Zimmer auf und nieder, und sein Gefährte, der Häuptling der Sechsten, gähnte nur, weil er zu faul war, zu reden, und sich außerdem Mittags wütend über den Major geärgert hatte. Eine Weile schwiegen beide und horchten mißgestimmt auf das Prasseln der Regentropfen, die der Herbstwind gegen die Scheiben trieb, und dabei hellte sich das Gesicht des Hauptmanns Ansold ein wenig auf. Da nahte der Feldwebel – das war doch etwas – nun kam die Geschichte allmählich in Gang, und er nickte dem Eintretenden freundlicher als sonst zu und warf einen Blick auf die Dienstsachen, die jener brachte, und auf einen Brief mit den Schriftzügen seiner Frau, der obenauf lag, und öffnete den zerstreut. Eigentlich hätte er es lieber nachher getan – die militärischen Angelegenheiten gingen vor – er wollte auch nur dem Feldwebel Zeit lassen, seinen abgebrochenen Bleistift wieder zu spitzen – und dann sagte er plötzlich dumpf vor sich hin: »Wa – was?« und ließ die Hand mit dem Schreiben sinken und stand da und rührte sich nicht mehr.

Sein Untergebener wagte nicht, ihn anzureden. Endlich begann er doch: »Herr Hauptmann, der Herr Stabsarzt sagt, das sei gar kein Knöchelbruch, womit der Einjährige Funk sich dicke täte, sondern einfach 'ne Sehnenzerrung und . . .« aber da verstummte er schon wieder, so sonderbar geistesabwesend sah ihn sein Kompaniechef an und so wunderlich murmelte er: »So . . so . . der Funk . . . schön . . . gehen Sie nur wieder, Krause, mit allen Ihren Wischen!« und kaum war der Feldwebel aus dem Zimmer, so schnallte der Hauptmann sich seinen Säbel um, stülpte den Helm auf, fuhr in die feuchten Handschuhe, den feuchten Mantel, und stürzte davon, quer über die Straßen, in der Dunkelheit fast rennend, zu der Wohnung des Obersten, der ihn bei seinem Eintritt erstaunt frug: »Na – was ist denn los? Brennt's bei Ihnen, Ansold?«

»Herr Oberst – ich muß auf der Stelle nach Berlin!«

»Ja – warum denn?«

Und der andere stieß hervor: »Meine Frau ist auf einmal dort und will nicht wieder zu mir! Ich verstehe das einfach nicht . . . verzeihen Herr Oberst . . . ich bin wie vor den Kopf gehauen . . . ich . . .«

Ihm fehlten die Worte. Er schaute verwirrt seinem Vorgesetzten ins Gesicht und schämte sich plötzlich, daß er das alles gesagt habe. Auch der Oberst blieb einen Augenblick still, in raschen und sehr ärgerlichen Gedanken. Wäre er doch lieber im Sommer dem Rat seiner Frau gefolgt, daß für das Ehepaar Ansold eine gründliche Lüftung – eine Versetzung an die Weichsel oder die Vogesen, das gesündeste sei! Und er hatte immer wieder gezaudert und sich zu dem Bericht an höherem Ort nicht entschließen können. Nun hatte er den Lohn seiner Vogelstrauß-Politik.

Und der große schwere Hauptmann ihm gegenüber, den er ja freilich nie für den Klügsten gehalten, wiederholte ganz mechanisch: »Ich begreife gar nicht, wie so was möglich ist . . . ich fürchte, meine Frau hat den Verstand verloren!«

Da nahm ihn der Oberst an der Hand und ließ ihn neben sich auf das Sofa sitzen und sprach mit ihm, halblaut und eindringlich wie ein Freund. Und das Gesicht des anderen wurde allmählich schreckensvoll, mit vor Staunen halboffenem Munde, da er jetzt, als der letzte, zu spät, das alles erfuhr, was seit Monaten die sämtlichen Menschen seiner Umgebung und im Städtchen über ihn gedacht und hinter seinem Rücken gesprochen hatten, und er tat einen schweren Atemzug, während der Regimentskommandeur schloß: »Da habe ich Ihnen nun reinen Wein eingeschenkt und gezeigt, wie der Verkehr Ihrer Frau mit Herrn von Wölsick sich vor den Außenstehenden widerspiegelte, und wie er von denen beurteilt wurde, ob mit Recht oder Unrecht, das weiß ich nicht! Aber es schien mir besser, Sie sind doch ein bißchen aufgeklärt und vorbereitet, ehe Sie diese schwere Reise nach Berlin antreten. Umso ruhiger werden Sie dort auftreten können! Wir wollen doch vor allem um Gottes willen nicht unnötig die Öffentlichkeit beschäftigen – nicht wahr? Das liegt in unser aller Interesse und nicht zum mindesten in dem des Regiments! Nun reisen Sie, Ansold! Kopf hoch! Beurlaubt sind Sie natürlich für die nächsten Tage . . .«

Es war dem Hauptmann Ansold wie ein Traum, daß er stumm dem Oberst die Hand drückte und wieder durch die regennassen dunklen Gassen schritt und mit Mühe im Wirtshaus ein Fuhrwerk auftrieb, das rasch angespannt wurde und ihn die Stunde Wegs bis zur nächsten Eisenbahnstation brachte. Da mußte er wieder lange warten, und dann fuhr er die halbe Nacht hindurch in einem Kleinbahnzug, der alle fünf Minuten hielt, und fröstelte in seinen feuchten Sachen und schaute, einsam im Abteil, durch die Scheiben in die finstere Nacht hinaus und grübelte dumpf und halb geistesabwesend über den Blitzschlag aus heiterem Himmel, der ihn getroffen, und erreichte endlich die Schnellzugsstation und saß wieder lange Zeit zwischen einem Haufen Volks in einer schmutzigen Bahnhofswirtschaft und trank wie die andern im Morgengrauen Kaffee und hörte, wie der Mecklenburger Inspektor neben ihm am Tisch zwei anderen Ökonomen in Pelzmützen und Wasserstiefeln sein Leid über die winterliche Zuckerrübenkampagne klagte, und wunderte sich über den Menschen. Alle Leute kamen ihm heute wundersam vor, alle Dinge neu und unbegreiflich, Berlin, das er endlich erreichte, schien ihm eine fremde Stadt, durch die er teilnahmlos hindurchfuhr, bis zu dem Kritzingschen Hause. Da stieg er empor und klingelte und frug das öffnende Mädchen mit einer rauhen und lauten Stimme, so, als wolle er ein gestohlenes Eigentum zurückfordern, nach seiner Frau.

Fräulein von Kritzing empfing ihn in ihrem kleinen Salon. Es verstimmte ihn, daß sie ihm zur Begrüßung in stummer Teilnahme wie einem Witwer die beiden Hände entgegenstreckte und dann gleich eifrig mit ihrem Trost begann: »Es wird ja noch alles gut – glauben Sie mir, lieber Hauptmann Ansold – wir müssen nur Geduld haben . . . Sie ist in einer Krisis, die wird sich lösen . . . dann findet sie ihren Halt wieder . . . in solch einer Stimmung, wie sie jetzt ist, kann ja kein Mensch auf die Dauer bleiben . . .«

»Wo ist sie denn?«

»Sie wird gleich kommen! Seien Sie nur mild gegen die Arme! Glauben Sie mir: das ist die beste Arznei!«

Fräulein von Kritzing sah dabei zuversichtlich zu ihrem Gegenüber empor, mit einem Schimmer von Hoffnung auf ihrem rotwangigen, weißumrahmten Gesicht. Und der Hauptmann Ansold hätte ihr so gerne geglaubt. Aber er konnte es nicht – was wußte sie, die alte Jungfer, von derlei? Und er wiederholte in gereiztem Ton: »Wo bleibt sie denn?«

Und Fräulein von Kritzing antwortete etwas verletzt: »Aber, lieber Herr Hauptmann, es ist jetzt dreiviertel acht Uhr Morgens. Wir waren ja noch gar nicht auf Ihr Kommen gefaßt. Jakobe muß sich doch ein bißchen zurechtmachen . . .«

Leopold Ansold brummte etwas Unverständliches und ging in dem Stübchen auf und nieder, auf dessen Teppich er noch die Spuren der Manövererde der Mark mitgebracht hatte. Dann blieb er plötzlich stehen und versetzte hastig: »War dieser Herr von Wölsick etwa schon hier, seit Sie Jakobe aufgenommen haben?«

»Ich bitte Sie! . . . Er ist schon seit vier Wochen im Ausland . . . Auf der Insel Wight. Jetzt soll er mit befreundeten, englischen Großindustriellen ins schottische Hochland gegangen sein – auf die Jagd . . .«

»Und von dort kommen Briefe hierher . . . und Jakobe beantwortet sie . . .?«

»Er weiß nicht, daß Jakobe hier ist . . . er weiß überhaupt nichts von ihr . . . die beiden sind, seit er damals von Ihnen fort ist, außer jedem Verkehr . . .!«

Der Hauptmann Ansold setzte sich, stellte seinen Helm daneben auf den Boden, lachte dumpf auf und sagte, zwischen den Zähnen: »Kinder . . . macht keine Witze . . . ne, bitte, bitte . . . die Zeit ist zu ernst . . . macht keine Witze mit mir! Da bin ich doch nicht dumm genug dazu, das zu glauben . . .«

»Es ist aber doch so, lieber Herr Hauptmann!«

»Warum wäre sie denn dann in des Teufels Namen von zu Hause weg?«

»Das sagt sie mir auch nicht! Das sei etwas, das ich nicht verstünde! . . . damit mußt' ich bisher zufrieden sein!«

Die Türe zum Nebenraum öffnete sich und Jakobe trat ein. Ihr Mann sprang hastig auf. Die beiden Gatten schauten sich stumm ins Auge.

Das alte Fräulein zog sich leise zurück. Im Hinterhaus läutete schon durchdringend die Schulglocke und harrte ihrer die Literaturstunde in der Selekta, wenn sie auch fühlte, daß sie heute die ganze Zeit, statt an das Verhältnis Leonores zu Tasso an den Hauptmann Ansold und seine Frau würde denken müssen, und daran, daß es Menschen gab, die nach Schmerzen dürsteten, die sich selber Wunden schlugen, nur um zu fühlen, daß sie lebten – Menschen, wie Jakobe da drüben . . .

Im Zimmer, das sie verlassen, war es eine Minute ganz still. Der Hauptmann Ansold stand in dessen Mitte, gerade dem großen Wandspiegel gegenüber. In dem sah er einen bleichen, übernächtigen Mann mit unordentlichem Haar in einer von Regen und Schmutz eines langen Manövertages durchweichten Uniform, die Knöpfe wasserblind, Pferdehaare an den Schößen des Waffenrocks, die hohen Stiefel und die Sporen von trockenem Landstraßenlehm bedeckt – er schämte sich nachträglich, daß er in einem solchen Zustand mitten durch Berlin hatte fahren können, zum Glück zu ganz früher Stunde. Und je mehr er sich unrasiert fühlte und ungesäubert und ohne reine Wäsche, desto mehr erbitterte ihn förmlich der Anblick Jakobes, die so frisch wie immer vor ihm stand. Sie hatte das aschblonde Haar flüchtig hinten aufgesteckt, ein weißes Morgenkleid floß in weichen Falten an ihrer schlanken Gestalt hernieder, der zarte, rosige Hauch ihrer Wangen war um keinen Schimmer blässer gegen früher. Der blaue Glanz der Augen ungetrübt. Nichts an ihr verriet eine besondere Erregung. Nur sehr ernst sah sie aus.

Sie schwieg und wartete, wie er beginnen würde. Und er fand nicht gleich den Anknüpfungspunkt. Der war ihm jetzt eben durch das Gespräch mit Fräulein von Kritzing ganz verschoben worden. Bisher hatte er sich auf der langen Nachtfahrt mit seinen Gedanken an das Nächstliegende, an die Auseinandersetzung mit diesem Herrn von Wölsick gehalten. Die war einfach und klar. Der andere war ja Reserveoffizier. Und nun schied Herr von Wölsick, fürs erste wenigstens, ganz aus dem Handel aus. Er hatte gar nichts damit zu tun, er war überhaupt nicht zur Stelle. Für den Hauptmann Ansold blieb nur Jakobe übrig. Und er brach in seiner Unentschlossenheit und Erregung los: »Ja . . . du stehst da und ich soll reden und weiß doch wahrhaftig gar nicht, wie ich das machen soll . . . wie ich die richtigen Worte finden soll, die gegenüber einer Frau noch möglich sind . . . sogar einer Frau gegenüber, die das getan hat wie du . . .«

Sie zuckte die Achseln und sagte nur: »Ich habe nichts getan, dessen ich mich zu schämen brauche . . . ich bin fort, in das Haus meiner Freundin. Das ist alles!«

Ihre Gelassenheit empörte ihn. Er begann heftig am ganzen Körper zu zittern, stützte sich mit beiden Händen auf den Säbel, beugte den Oberkörper vor und schrie sie förmlich an: »Und mein Haus . . . an das hast du nicht gedacht? . . . Was ich nun da anfangen soll . . .? Wie ich da etwa leben soll ganz allein . . . ohne Frau? ohne Kind?«

Kaum hatte er das Wort »Kind« ausgesprochen, da verließ sie ihre Ruhe. Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Sie ließ ihn nicht weiter reden. Sie klammerte sich an diese von ihm hingeworfene Silbe, in der für sie alles lag – von der Rechtfertigung bis zur Anklage.

»War unser Haus nicht schon verwaist?« frug sie. »Hast du nicht unser einziges Kind herausgenommen und unter fremde Leute gesteckt? Habe ich dich nicht verzweifelt, beinahe auf den Knieen gebeten, nur meinen Jungen zu lassen, das einzige, was ich hab' – und hast du es nicht doch getan? War ich nicht jetzt schon ganz allein im Haus? Warum soll ich das leiden und andere nicht?«

»Darum handelt es sich jetzt nicht . . .« Er unterbrach sie barsch.

»Doch. Gerade darum. Von daher kommt alles! Einem das Kind wegnehmen, das ist – ihr versteht das ja alle nicht – als wenn man eine Schutzmauer einreißt – und nun steht man frei da – und um einen ist eine Weite. Und in einem ist eine Leere. Und dann . . .«

Er wollte zu Worte kommen. Aber sie hob abwehrend die Hand. Sie war, in dieser Zwiesprache zwischen ihnen, der angreifende Teil. Er mußte sich auf die Abwehr beschränken, so ratlos stand er in all seinem Zorn ihr gegenüber, und sie sagte etwas ruhiger: »Was war denn unsere Ehe? Diese ganzen zehn oder elf Jahre? Wir wollen doch einmal ehrlich sein und die Dinge sehen, wie sie sind. Erinnerst du dich, wie du mir ganz plötzlich bei meinem Vater im Garten unserer Dienstwohnung deinen Heiratsantrag machtest? Ich war wie aus den Wolken gefallen. Ich fing vor Schreck an zu weinen – lieber Gott – mit achtzehn Jahren – und diese ersten Tränen, die sind, weiß der Himmel, vorbildlich gewesen für alles, was nachher kam . . .«

Er zuckte die Achseln. Ihm schien ihre Ehe nachträglich gar nicht so unglücklich gewesen zu sein. Es erstaunte ihn förmlich, das zu hören! Er hatte sich immer ganz wohl gefühlt! Und sie fuhr fort: »Du weißt, daß ich anfangs nein sagte! Durchaus! ich wollte nicht! ich wehrte mich! ich fühlte ganz deutlich: wir beide paßten nicht zusammen. Das hab' ich dir auch gesagt . . .«

»Ich hab' dich so geliebt,« versetzte der Hauptmann Ansold. Es war der erste weiche Klang in seiner Stimme.

»Das heißt, ich war hübsch! . . . ja! Und dann kam mein Vater und dann kam Mama und dann kam, ich weiß nicht mehr wer, und alle sagten, was ich schon selber auswendig wußte: Du hast vier Brüder – dein Vater hat kein Vermögen. Er kann über Nacht den Abschied kriegen. Dann langt es kaum mehr zum Notwendigsten! Greif zu, Kind! . . . Das ist das vernünftigste! . . . und schließlich war ich vernünftig . . .«

Ein bitteres Zucken war um ihre Lippen. Ihr Mann sagte mürrisch: »Das brauchst du alles nicht zu wiederholen – Dinge, die wir beide kennen! Ich will wissen, was jetzt passiert ist . . .«

»Das hängt alles zusammen und läßt sich nicht trennen. So wie ich bin, bin ich doch in den zehn Jahren erst geworden. Und wäre es auch in der ersten Zeit nicht geworden – damals, als du mich noch mit deiner grundlosen Eifersucht plagtest und es nach jeder Gesellschaft und jedem Spaziergang die gräßlichsten Szenen zwischen uns gab! . . . In der Zeit war ich oft genug so weit, daß ich mich am liebsten hätte scheiden lassen oder einfach aus dem Hause gelaufen wäre – wenn ich mein Kind nicht gehabt hätte. An das klammerte ich mich förmlich. Das war mein Halt im Leben – mein Schutzengel gegen alles, auch gegen mich selbst . . .«

Sie brach ab, um Atem zu holen, so stürmisch hatte sie gesprochen, und ehe er etwas erwidern konnte, hub sie wieder an: »Und wie dann der zweite Abschnitt unserer Ehe kam, wie du allmählich ganz stumpf und gleichgültig gegen mich wurdest – auch durch meine Schuld – ich liebte dich ja nicht und zeigte es – ich weiß es wohl – und du immer mehr ins Kasino gingst und eigentlich nur noch zum Essen und Schlafen nach Hause kamst, da war mir das Kind wieder mein ganzer Trost. Es wuchs heran, es füllte meinen Tag aus – da wußte ich doch, wozu ich auf der Welt war, und war gewiß nicht glücklich, aber wunschlos. Ich lebte so hin – du auch – wir hatten uns soweit ineinander gefunden, daß wir uns zur Not ertragen konnten – es gibt gewiß viele solche Ehen – nach außen merkt man es ja kaum – und es wäre auch so geblieben – da mußtest du mir den Jungen nehmen und in das Kadettenkorps stecken! . . . Verzeih mir Gott, Leopold . . . aber es war nicht viel anders, als wenn jemand ein Streichholz nimmt und sein eigenes Haus in Brand setzt . . .«

Der Hauptmann Ansold stand, von ihr abgewandt, am Fenster. Sein breiter Rücken verdunkelte die Scheiben. Jetzt drehte er sich um und schrie in einer plötzlichen Wut: »Genug mit dem Gerede! Ich will die Wahrheit wissen! Was ist zwischen dir und dem Wölsick?«

Dabei trat er rasch und drohend auf sie zu. Sie fürchtete sich nicht vor ihm. Sie blieb ruhig stehen, wo sie war. Er machte dicht vor ihr halt, die Fäuste geballt, mit rotem Gesicht, und versetzte dumpf: »Die alte Kritzing hat mir eben eine Seeräubergeschichte erzählt, es sei zwischen dir und dem Wölsick alles aus! . . . Er hätte überhaupt nicht die Hand im Spiele bei deinem Streich! Das glaube ich nicht! . . . Das ist Unsinn! Also nun, hier, Aug' in Auge, hab wenigstens so viel Mut und gestehe, wie es wirklich ist . . .«

»Ich habe Mut genug! Aber es ist genau so, wie die Kritzing sagt! Ich habe Herrn von Wölsick seit Ende Juli nicht mehr gesehen, kein Lebenszeichen von ihm empfangen oder ihm gegeben und will es auch in Zukunft nie tun!«

»Und das soll ich glauben?«

Sie richtete sich hoch auf. Ein zorniger Schein durchleuchtete ihre tiefblauen Augen.

»Das schwöre ich dir! Bei unserm Kind! . . . Ich habe mir nichts vorzuwerfen!«

Leopold Ansold schaute seine schöne Frau unschlüssig an. Dann ging er langsam, in leisem Klirren der Sporen, durch das Zimmer und schlug sich ein paarmal mit der flachen Hand vor die Stirn: »Verrückt!« sagte er dabei. »Einfach verrückt!« Und da sie nichts erwiderte, wiederholte er ihr brüsk ins Gesicht hinein: »Ich glaube wirklich, Jakobe, du bist nicht ganz bei Trost!«

»Mag sein, daß du und eine ganze Menge anderer Menschen mich nicht verstehen! Die meisten sogar wahrscheinlich! Aber ich kann euch nicht helfen: es ist über mich gekommen und ich tue, was ich muß . . .«

»Was ist denn über dich gekommen? Daß dieser Lump, dieser Wölsick, dir . . .«

Er verstummte, in einem leisen Bangen vor Jakobes Gesichtsausdruck.

»Ich spreche diesen Namen nicht mehr aus!« sagte sie. »Und ich spreche auch nicht mehr von ihm selber und was er mir war. Das ist abgetan. Vorbei für immer. Ich will nur von mir reden, wie ich jetzt vor dir hier stehe. Das ist das, was uns beide angeht. Und da ist es richtig, daß durch ihn in diesem Sommer eine Umwälzung in mein ganzes Leben gekommen ist. Ich war ja schutzlos. Ich hatte ja meinen Sohn nicht mehr. Darum war alles, was mich umgab, eine Lüge. Und diese Lüge ist unter seinem Einfluß in mir zusammengebrochen. Mir gingen auf einmal die Augen auf. Ich merkte jetzt erst, daß, wenn ich es ernstlich prüfte, nichts, aber auch nichts mehr in unserer Ehe einen inneren Bestand hatte. Es war alles nur noch Gewohnheit und Scheu vor neuem Streit und Schmerz, weil wir uns ja früher so oft und unnütz wehgetan hatten, und Verstellung vor den Dienstboten und Druck von außen – der eherne Reifen, den ihr im Regiment um alles spannt – und das alles fiel in diesem Juni und Juli von mir ab! –

»Und das hat dieser Wölsick angerichtet!« Ihr Mann murmelte es in unterdrückter Wut zwischen den Zähnen. »Aber der Kerl soll sich hüten! Und wenn er zehnmal in Schottland steckt, ich find' ihn schon . . .«

Seine Gedanken gingen den ausgetretenen Weg, dem Angriffspunkt zu, den seine Augen zu erkennen vermochten, dem Dritten in der Ehe. Jakobe zuckte die Schultern.

»Mache du da, was du willst,« sagte sie. »Das geht mich nichts an. Er ist weg. Und ich rede hier nur von mir! . . . Und als er damals weg war von mir und alles um mich auf einmal leer und still war und nichts mehr kam, siehst du, Leopold, da ist etwas in mir erwacht, was ich eigentlich nie in meinem Leben gekannt hab' – und am wenigsten von dem Tag ab, wo ich ohne Liebe, nur der Versorgung wegen, ja gesagt hab' – der Stolz . . .«

Der Hauptmann Ansold riß die Augen auf: »Das sagst du jetzt . . . in dieser Lage, in die du dich seit vorgestern gebracht hast!«

Und sie wiederholte, ihm fest in das Gesicht sehend: »Jawohl, der Stolz! . . . Ich will es gar nicht leugnen: Es war diesen Sommer etwas Großes in mir – etwas Gewaltiges, wie ich es nie in meinem Leben empfunden habe! . . . Wie es auch ausgegangen ist, wie auch andere mit Recht oder Unrecht darüber denken mögen – vor mir selber hat es mich geadelt und erst voll zum Menschen gemacht – und so sehr ich nun darunter leiden mußte – wenn ich die Wahl hätte, ich möchte es nicht missen, denn es hat mir die Freiheit gegeben!«

Sie hatte sich in Erregung geredet. Sie atmete schwer.

»Und das ist das, was ich meinen Stolz nenne. Den bekam ich, wie ich wieder allein war, im August und September, ganz allmählich, von einem Tag zum anderen mehr. Das war wie ein Schrecken. Der wuchs und ich frug mich plötzlich: Was tust du denn noch in diesem Hause?«

»In unserem Hause?« schrie der Hauptmann Ansold.

»Ja. In unserem Hause – ohne Daseinszweck, seit man dir dein Kind genommen hat, von einem Manne bekleidet und genährt und beschirmt, den du nicht liebst – der deiner zu seinem Glücke längst nicht mehr bedarf – kein geistiges Band zwischen dir und ihm – nichts Innerliches – und dies Nebeneinanderleben auf engem Raum – das schien mir auf einmal so entwürdigend für mich . . . so demütigend . . . im Vergleich zu dem, was ich fühlte – was in mir etwas Heiliges war, trotz aller Schmerzen und Enttäuschungen – das ertrug ich nicht – ich wäre dran zu Grunde gegangen, auf die Dauer, und fühlte doch noch so viel Kraft in mir – viel mehr als früher, und Stolz . . . jawohl: ich sage immer wieder ›Stolz‹ – und alles in mir schrie: fort! . . . fort! . . . du mußt unabhängig sein – ohne Lüge und Zwang – nach dem, was du in dir durchlebt hast – und da hab' ich's getan und will die Folgen tragen, und weiter kann ich nichts sagen! Ob du mich verstanden hast, das weiß ich freilich nicht!«

Und Leopold Ansold sagte dumpf vor sich hin: »Nein – weiß Gott, das ist mir zu hoch! . . . Das sind alles Redensarten – weiter nichts . . .«

Dabei sah er sie nicht an und ging im Zimmer auf und ab, langsamen schweren Schrittes, daß die Nippsächelchen auf dem Glasspind zu seinem Säbelrasseln klirrten. Sie folgte ihm mit den Blicken, die Hände ineinander ringend, in ihrer Hilflosigkeit, ihm das, was sie fühlte, zu erklären, und versetzte noch einmal: »Begreifst du das denn nicht, daß solch eine Ehe eine Sünde ist . . . vor dem Geist der Ehe? . . . Eine größere Sünde als manche gebrochene Ehe? . . . Begreifst du nicht das Herabwürdigende einer solchen Ehe für mich, so wie ich das begriffen hab' in diesem Sommer? . . . Da bin ich ein anderer Mensch geworden . . . Ich habe mich selbst gefunden . . . Mehr weiß ich nicht zu sagen . . . Es gibt keine anderen Worte dafür . . . Ich bin fertig . . .«

Es war, als habe ihr Mann auf ihre letzten Sätze gar nicht mehr geachtet. Er starrte vor sich auf einen Punkt in der Luft.

»Da hat der Altar gestanden!« sagte er. »Da war der Pfarrer. Da haben wir gekniet, du und ich, und er hat dich gefragt, ob du meine Frau sein willst in guten und bösen Tagen – und du hast ›ja‹ geantwortet, vor Gott und aller Welt . . .! Fühlst du denn gar kein Gewissen, nun zehn Jahre später einfach nach Berlin zu fahren und solch einen Schwur vor unserm lieben Herrgott im Himmel zu brechen, als wäre da weiter gar nichts dabei . . .? Schau doch einmal in den Spiegel, Jakobe, ob du dich darin noch ansehen kannst – mach dir das doch einmal klar!«

Und sie wiederholte: »Zehn Jahre später! – da sagst du's selber! Das ist's! Das bin nicht mehr ich, die das damals geschworen hat . . .«

»Doch! Da stehst du!«

»Nein! Ich habe nicht gewußt, was ich tat. Ich war noch ein halbes Kind mit meinen kaum achtzehn Jahren. Sonst hätte ich es überhaupt nicht getan . . .«

Plötzlich schleuderte Leopold Ansold den Stuhl, um dessen Rückenlehne er bisher im Stehen die rechte Hand geklammert hatte, von sich in die Ecke, eine Welle roter Wut lief über sein Gesicht und verlor sich unter dem schon sehr dünnen Haarwuchs der Schläfen, er zitterte am ganzen Körper und schrie mit erhobenen Fäusten: »Und dabei soll es bleiben . . . bildest du dir ein?«

»Ja.«

»Und ich, denkst du, lasse mir so was einfach gefallen?«

»Sprich doch ruhiger! Das Haus läuft ja zusammen!«

Er beachtete ihre Worte nicht. Schwerfällig ging er auf sie zu. Sie bebte. Aber sie stand aufrecht. Seine Stimme wurde noch stärker: »Und ich soll der Dumme sein, mit dem du deine Narrenspossen treibst! . . .? Und soll nicht mal einen haben, an den ich mich halten kann? Dieser Kerl, der Wölsick, einfach weg? Fort aus dem Schuß? Tut, als hätte er kein Wässerchen getrübt? Du hier ganz ruhig bei der alten Tante . . . und ich allein daheim in unserem Hause? – nein, Kinder . . . das ist verrückt – das ist mir zu bunt . . . da haue ich drein! Du kommst mit, verstehst du . . . Ich will dir Mores lehren! . . . Du kommst mit, auf der Stelle!«

»Ich bleib' hier!« sagte Jakobe. »Bitte, Tante Therese, laß uns jetzt allein!«

Das galt dem Fräulein von Kritzing, die es in ihrer Aufregung hinten in der Schule nicht hatte aushalten können und die Literaturstunde einer ihrer eben unbeschäftigt im Lehrerinnenzimmer sitzenden und Tee trinkenden Damen übergeben hatte. Jetzt streckte sie angstvoll ihr gutes, pausbäckiges, von weißen Löckchen unter der Spitzenhaube umrahmtes Gesicht durch den Türspalt und bat flehentlich, so als ob ihr damit ein persönlicher Gefallen geschähe: »Bringt euch nur nicht um . . . hier in meiner Wohnung!«

Dann zog sie sich wieder zurück. Der Hauptmann Ansold hatte unterdessen keuchend weitergeredet. Er stammelte eigentlich nur noch und stieß die Worte gewaltsam hervor: »Und ich . . . in der Garnison . . . da ganz allein . . . was soll ich denn da dem Mädchen sagen . . . und dem Burschen . . . und allen Leuten . . . wo du steckst! Nett! . . . sehr nett . . . wenn sie da alle mit Fingern auf mich weisen . . . und hinter meinem Rücken faule Witze reißen . . . und die jüngsten Dachse im Kasino mich heimlich auslachen, weil ich nichts gemerkt hab' und der Oberst mir erst die Augen aufgemacht hat. Natürlich muß mich der Oberst versetzen lassen . . . Gott weiß wohin . . . jetzt eben, wo ich die Kompanie mit Mühe und Not in die Höhe gebracht hab', muß ich sie lassen und darf mich mit einer neuen herumrackern . . . in der Wasserpolackei oder sonst wo . . . sehr hübsch wird sich das in der Konduitenliste machen: ›Frau durchgegangen – sonst brauchbarer Offizier‹ – das ist ein Knacks für immer! . . . Davon erhole ich mich nie . . . und wenn der Herbert in den Ferien heimkommt und mich fragt: ›Wo ist denn die Mama?‹ – was soll ich ihm dann sagen – He du! – was soll ich ihm dann sagen? . . . Gib Antwort . . .«

»Sag, ich wäre hier und er müsse mich besuchen!«

Der Hauptmann Ansold packte in einem erneuten sinnlosen Wutanfall seine Frau an der Schulter und schüttelte sie hin und her. Sie ließ es geschehen, sie schwankte unter seiner Faust, mit geschlossenen Augen und fest zusammengebissenen Zähnen. Es schoß ihr durch den Kopf, was die alte Kritzing eben gesagt: Bringt euch nur nicht um! – Und sie dachte sich zum ersten Mal: Jetzt tut er's am Ende wirklich . . .

»Willst du jetzt mitkommen oder nicht?«

Seine Stimme klang heiser. Sie fühlte seine keuchenden, noch von einem leichten Tabakhauch der Morgenzigarre durchwehten Atemzüge dicht vor ihrem Antlitz. Sein Griff tat ihr weh. Sie konnte sich kaum auf den Füßen halten, und er wiederholte leise und drohend: »Willst du jetzt mitkommen – zum letzten Mal . . .«

»Ich kann doch nicht! Herrgott im Himmel! . . . Ich kann doch nicht!«

Sie hatte die großen blauen Augen aufgerissen und es ihm ins Gesicht hinein geschrien und er ließ plötzlich von ihr . . . Er wich ein, zwei Schritte zurück . . . seine rechte Hand fuhr in die Tasche und es durchzuckte sie blitzschnell: Da hat er den Revolver stecken . . . den kleinen, runden Armeerevolver, den er immer hat . . . er zieht ihn heraus . . . gleich ist das Zimmer voll Knall und Rauch und Blut . . . Nur jetzt tapfer sein! Sie wich nicht einen Zoll breit zurück – sie veränderte ihre Haltung nicht . . . sie schaute ihrem Mann fest ins Auge . . .

Und über dessen Gesicht glitt eine Veränderung . . . ein plötzlicher, bitterer Schmerz . . . seine Hand brachte keine Waffe zum Vorschein, sondern das Taschentuch. Er brauchte es, denn die Tränen liefen ihm nun auf einmal in der jähen Erschöpfung nach dem Zornausbruch die Wangen hernieder. Die trocknete er und wandte sich ab und schnaubte sich dann heftig, zwei-, dreimal hintereinander, und ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken, das Tuch wieder vor den Augen, und rührte sich nicht mehr, sondern schluchzte nur noch dumpf in sich hinein.

Jakobe stand vor ihm. Sie war blaß geworden und atmete rascher. Der Spitzeneinsatz ihres Morgenrocks hing an der linken Halsseite zerrissen herab. Aber sie war ganz ruhig. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, in dem Staunen war und Mitleid und eine leise an Verachtung anklingende Härte, schaute sie auf ihren weinenden Mann herab. Eigentlich hatte er sich so benommen, wie sie von ihm ungefähr erwartet hatte. Deswegen hatte sie auch nie besondere Furcht vor dieser Begegnung verspürt.

Es war ein langes Schweigen zwischen den beiden. Dann stand er auf und versetzte finster, in wiedergewonnener Ruhe: »Es bleibt mir jetzt nur noch die eine Hoffnung, daß du mit der Zeit zur Vernunft kommst. Du mußt doch allmählich aus dem Taumel, in dem du jetzt bist, aufwachen, und dir selber sagen, wie mutwillig du dir mit einem solchen Schritt dein ganzes Leben für immer ruinierst. Du verlierst Namen, Familie, Geld, Verkehr, alles bei einer solchen Trennung – und was tauschst du dafür ein? – das möchte ich bloß wissen . . .«

»Mich!«

»Nichts!« sagte er. »Aber auch nichts, was eines solchen furchtbaren Opfers wert wäre! Das bedenke doch! Habe doch ein bißchen Pflichtgefühl und Selbstachtung und . . .«

Sie hob den Kopf.

»Weiß Gott: ich habe meine Selbstachtung für mich! Gerade jetzt! und ihr anderen könnt ja über mich denken, was ihr wollt!«

»Ich werde vier Wochen warten!« sagte ihr Mann. »Zum Glück ist das jetzt während des Manövers möglich. Du bist eben bei deinen Verwandten in Berlin zu Besuch, das wundert vorläufig niemanden. Und ehe es so weit kommt, daß ein Skandal entsteht, bin ich wieder hier, dann wirst du dich entscheiden!«

»Ich habe mich doch schon längst entschieden!«

»Inzwischen werde ich dir noch schreiben und werde deinen Vater und deine Brüder benachrichtigen. Ich weiß, daß sie in einem solchen Fall auf meiner Seite sein und mir helfen werden.«

Jakobe seufzte nur mit einer leichten Bewegung der Ungeduld bei dieser Aussicht.

»Vielleicht gelingt es unserer aller Bemühungen doch noch, dich auf den rechten Weg zu bringen!« schloß ihr Mann. Er wandte sich dabei zur Tür. »Wenn sich das aber nicht erfüllt, glaube nur nicht, daß ich dann in der Geschichte den Pojaz spielen und mir alles gefallen lassen werde! Dann suche ich mir meine Leute – vor allem den Wölsick – magst du jetzt mit ihm auch stehen, wie du willst. Und was dabei herauskommt, dafür trägst du die Verantwortung . . .«

Er wartete auf eine Erwiderung von ihr. Aber es kam keine. Und nachdem er eine Weile unschlüssig dagestanden, drückte er plötzlich rauh die Klinke auf, kehrte Jakobe den Rücken und verließ ohne Gruß das Zimmer. Sie hörte, wie er nebenan mit Fräulein von Kritzing sprach und, ohne sich die Mühe zu nehmen, seine Stimme zu dämpfen, zu ihr sagte: »Ich zähle auch auf Sie, liebe Cousine, wie auf die Unterstützung der ganzen Familie. Wir müssen alle zusammenhalten. Dann muß sie doch schließlich Raison annehmen! Die Situation ist ja für sie unhaltbar . . . einfach lächerlich auf die Dauer . . .«

Was jene darauf erwiderte, vermochte Jakobe nicht zu verstehen, wahrscheinlich gar nichts Zusammenhängendes. Das alte Fräulein war zu verwirrt und beängstigt durch diesen plötzlichen Aufruhr, die wilden Stimmen, die nassen Augen, innerhalb ihrer stillen vier Wände. Sie war noch ganz auseinander, als sie zu Jakobe hereinkam, während draußen schwer die Flurtüre ins Schloß schlug, und sich erschöpft hinsetzte und klagte: »Nein – Kinder – es ist schrecklich mit euch! So benehmen sich doch keine Christenmenschen! . . . Wie ihr da eine Ehe von zehn Jahren in Fetzen reißt, als wäre es ein altes Hemd – es blutet einem ja das Herz, so was zu sehen . . .«

»Es ist ja nun vorbei, Tante – für immer – Gott sei Dank!«

Jakobe stand am Fenster. Da unten ging ihr Mann quer über die Straße, vornüber gebeugt, die Hände in den Taschen des Paletots. Er kehrte sich nicht mehr nach dem Hause um, sondern winkte einer geschlossenen Droschke, stieg schwerfällig ein und fuhr mit ihr um die Ecke. Und Jakobe Ansold schob, von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, den Halsausschnitt ihres Morgenkleides etwas mit der Hand zurück. Auf der linken Schulter war ein großer blauer Flecken – ein paar kleinere daneben – da, wo ihr Mann sie geschüttelt hatte. Die betrachtete sie. Ein seltsames Lächeln ging über ihr Gesicht. Dann schaute sie wieder vor sich hin und weiter über die Dächer in die Ferne . . .



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