Rudolph Stratz
Herzblut
Rudolph Stratz

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I

Es war seltsam, welch eine Wandlung in Jakobe Ansold von dem Augenblick ab vorging, wo sie den Entschluß gefaßt hatte, in nächster Zeit das Haus ihres Mannes für immer zu verlassen. Sie wunderte sich selbst darüber, daß sie nun auf einmal ganz ruhig wurde. Sie begriff es nicht; nach all dem Sturm die plötzliche Stille – nach einem Seelensturm durch Monate hindurch, den niemand auf Erden kannte, niemand ahnte außer ihr – und am wenigsten ihr Mann.

Seit sie in diesen ersten Septembertagen so weit gekommen, lebte sie innerlich wieder auf. Die Blässe wich. Die Teilnahmlosigkeit, in der sie lange Stunden des Tages und halbe Nächte voll eines unbestimmten Grauens, sie könne noch einmal über dem allem den Verstand verlieren, vor sich hingedämmert, machte einer klaren Abschiedsstimmung Platz, das bittre ratlose Lächeln, das so oft, wenn sie sich unbeobachtet wußte, um ihre Mundwinkel gezuckt, verschwand. Nur einen eigenen starren Ausdruck hatte sie in den Augen, wenn sie, wie jetzt oft, plötzlich in Gedanken verloren mitten im Zimmer stehen blieb und vor sich hinschaute – in die Ferne hinaus, als suche sie da draußen etwas – neues Land – einen festen Punkt – und sähe doch nur uferlose Weite.

Kaum klangen aber auf dem Flur Schritte und es näherte sich jemand, so gewannen ihre Züge jene lebhafte und etwas scheue Freundlichkeit, mit der sie nun allen, auch ihrem Mann, begegnete. Es lag Schuldbewußtsein darin. Schon eine stumme Bitte um Verzeihung für das Kommende. Aber er bemerkte davon nichts. Er war froh, daß seine Frau nach all dem Trübsinn und den Nervengeschichten und Verstimmungen dieses Sommers, die er sich nicht hatte erklären können, endlich wieder ein vernünftiger Mensch wurde, und schob das auf die nun eingetretene kühle, klare Herbstluft und machte sich weiter keine Gedanken darüber, sondern schimpfte bei Tisch auf den Dienst und die Vorgesetzten, namentlich auf den Major, der ihm und den drei anderen Hauptleuten des Bataillons das Leben unnütz sauer mache, und auf seinen unfähigen Oberleutnant, diese Schlafmütze, der er nicht einen halben Tag mit ruhigem Herzen die Kompanie anvertrauen könne. Und dann kamen nach dem Essen die Kaffeetassen und vom Treppeneingang her, wo die Ordonnanz mit der Blechmappe stand, die Parolebücher und vor dem Hause hielt der Bursche das gesattelte Pferd und der Hauptmann Ansold stand auf und gab seiner Frau einen flüchtigen, gewohnheitsmäßigen Kuß wie immer in den zehneinhalb Jahren, seit sie verheiratet waren, und knöpfte sich den Überrock zu und machte, daß er hinaus nach den Schießständen kam, um dort unversehens um die Waldecke herum mit einem Donnerwetter in die allgemeine Bummelei hineinzufahren, und Jakobe war wieder allein.

Sie hatte jetzt die Gewohnheit, wenn er aus dem Zimmer war, noch eine Weile still zu sitzen und die Augen zu schließen. Das war nicht Furcht vor der Zukunft, sondern ein Trieb, die Gegenwart zu vergessen, so zu tun, als sei die schon gar nicht mehr wirklich um sie herum vorhanden. Dies Dämmergrau vor den Wimpern, das der Schein vom Fenster her rosig erhellte, war besser als alles, was man hier sah und hörte und erlebte . . .

Und aus dem Wandspiegel, vor dem sie stand, schaute, wenn sie die Wimpern wieder erhob, eine fremde Frau sie an, und sie betrachtete ihr gläsernes Ebenbild mit einer stummen, bangen Neugier – einem steten Zweifel, ob sie das sei – noch sei – und frug sich wieder: wer bist du? – und was willst du werden? und sah dies schmale, leidenschaftliche Gesicht, von dem so viele ihr sagten, daß es schön sei, in der Regelmäßigkeit seines Ovals, der Zartheit und Klarheit seiner Farben. Auf einer Schweizer Reise, bei Wengen, hatte einmal eine Dame, mit der sie Bekanntschaft geschlossen, beim Enzianpflücken plötzlich aufgeblickt und lebhaft gesagt: »So sind Ihre Augen!« und dabei hatte sie auf das seltsame, tiefe Dunkelblau der Alpenblume gewiesen, die sie in der Hand hielt – eine Farbe, in die man tief hineinschauen konnte, ohne auf den letzten Grund zu kommen, wie bei einem einsamen Gebirgsee. Jakobe Ansold wußte ja selbst, daß ihre Augen das Schönste an ihr waren. Sie ließ die Stirne darüber stets frei und trug das reiche, aschblonde Haar nach hinten ausgewellt. Ihre Gestalt war, in ihrer Mittelgröße, noch mädchenhaft schlank, obwohl sie sich den dreißig näherte. Und zuweilen, wenn sie in den Stuben umherging und zwecklos abstäubte und zurecht rückte und sich dabei wieder für einen Augenblick irgendwo im Spiegel sah, schossen ihr ganz nichtige Äußerlichkeiten durch den Kopf, die mit ihrer bevorstehenden Abreise zusammenhingen, wie etwa: das weiße Kleid, das du jetzt anhast, brauchst du nicht mehr einzupacken! Da draußen wirst du dich doch immer unauffällig dunkel anziehen müssen, damit die Leute nicht noch mehr auf dich schauen, als sie es ohnedies schon tun werden! – Und dann war es ihr, als sagte jemand neben ihr: Ach, du führst es ja doch nicht aus! Du spielst ja nur mit dem Gedanken, einmal von hier wegzugehen! Das ist für dich nur ein schmerzstillendes, betäubendes Mittel gegen die Öde und Leere deines Lebens.

Wenn diese Stimmung jetzt zu stark in ihr wiederkehrte, dann tat Jakobe Unsold etwas, was ihr sonst zu schmerzlich war: sie öffnete die Türe zu der kleinen Kammer neben dem Schlafzimmer, nach dem Hofe hinaus. Da stand noch das schmale, eiserne Bettchen, in der Ecke lehnte das Schmetterlingsnetz und hing die grünlackierte Botanisiertrommel, auf dem Tisch lagen die blauen Hefte, in denen sie selbst mit ihrem Sohn das Einmaleins durchgerechnet und Schönschreiben geübt hatte. Und dabei stiegen ihr jedesmal die Tränen in die Augen. Wie hatte sie ihren Mann gebeten, den kleinen Burschen noch nicht in das Kadettenkorps zu stecken, ihren einzigen mit seinen kaum neun Jahren! Ein paar Jahre konnte man doch noch wenigstens warten, ihn ihr lassen! Sie hatte ja sonst nichts! Und die Erziehung im Kadettenkorps tat doch gar nicht gut – dies Heranwachsen ganz ohne Mutterliebe und Frauennähe – es war ein roher Spartanerdünkel, den man da züchtete – das wußten doch so viele – das alles hatte sie ihrem Mann gesagt und immer nur die Antwort erhalten: Ich war auch im Kadettenkorps und bin nicht umgekommen, sondern ein ordentlicher Offizier geworden, und so gut wie jede andere Kompanie im Regiment ist meine fünfte auch – also wird es meinem Sohn auch nichts schaden, wenn er denselben Weg geht . . .

Das war vor einem Jahr gewesen. Ihr Mann hatte damals nicht gewußt, was er tat. Das sagte sie sich jedesmal, wenn sie wieder mit zuckenden Lippen in dem verlassenen Stübchen stand. Indem er ihr das einzige nahm, was sie besaß, hatte er sie freigemacht. Nie hätte sie die Kraft gefunden, diese vier Wände zu verlassen, solange in ihnen noch das fröhliche Kinderlachen scholl. Die Tränen, die in der Erinnerung an das alles über ihre Wangen rannen, hatten eine grausame, stählende Kraft. Sie machten ihr das Herz hart. Wenn sie diese Türe wieder hinter sich in das Schloß drückte, dann stand ihr Entschluß so unbeugsam da, daß sie die Anwandlungen einer schwachen Stunde nachträglich gar nicht mehr begriff. Es war wie ein Naturgebot. Sie mußte fort. Und ging fort, so wie nur erst die Manöverzeit da war. Und inzwischen lag schon eine Abschiedsstimmung über allem. Es war bereits der Anfang der Befreiung. Vieles, was sie früher geschmerzt, betrübt, gelangweilt hatte, verlor jetzt seine wirkende Stärke, war nur noch ein Gleichnis für das nahe Ende. Und auch freundlichere Dinge sprachen zu ihr und wichen zurück und schwanden. Was nur mit der Gewohnheit des bisherigen Seins zusammenhing, sagte ihr Ade und löste sich von ihr und ließ sie ziehen, in blaue Ferne, wie die langsam segelnden weißgeballten Sommerwolken am Himmel, über dem alten märkischen Städtchen, seinen spitzen hohen Kirchtürmen, den Giebeln und Dächern, der Backsteinringmauer mit ihren verwitterten Bollwerken aus der Hussitenzeit, dem Marktplatz, wo die Riesenlinde das Standbild des Kaiser Wilhelm überschattete, den breiten Straßen, deren fast einziger Pulsschlag des Lebens das ewige Hin und Her zwischen der Infanteriekaserne und dem Exerzierplatz war, von dem der Wind den ganzen Tag über verwehte Geräusche, Kommandos, Trommelwirbel, Trompetenstöße herübertrug. Von früh bis spät marschierten die Abteilungen zum Dienst oder kamen von ihm und klirrten die Offiziersäbel auf dem Pflaster und führten die Burschen ledige Pferde. Man hörte des Abends den Zapfenstreich und des Morgens die Reveille vor den Fenstern – es schien fast, als sei das ganze Ackerstädtchen nur um die mächtigen, vierstöckigen Quadrate der Mannschaftsquartiere herumgebaut, und Jakobe Ansold, der Generalstochter, die von ihrer frühesten Kindheit ab nur in dieser Luft preußischen Waffentums geatmet, wäre das auch ganz natürlich erschienen.

Am fremdesten dünkte ihr jetzt ihr eigenes Heim. Es hatte ihr nie recht Freude gemacht. Es war kaum ein Stück in diesen Zimmern, an dem ihr Herz mit irgend einem inneren Anteil hing. Die ganze Ausstattung war seinerzeit rasch und billig angeschafft worden, so gut oder so schlecht es eben der damalige Oberst von Dolmar, ihr Vater, bei seinen knappen Mitteln und vielen Kindern zu erschwingen vermochte. Eine Mitgift hatte er seiner Tochter überhaupt nicht geben können. Nur diese karge Aussteuer. Und das war ja eben das Glück, die große Freude der Familie gewesen, daß Jakobe, mit eben erst achtzehn Jahren, im Regiment selbst einen soliden, tüchtigen jungen Leutnant als Freier gefunden, der sofort das Kommißvermögen aus eigenen Mitteln auf den Tisch zu legen und sie heimzuführen im stande war. Man wußte ja – sie selbst am besten – wie schwer arme Offizierstöchter unter die Haube kamen. Alle Welt hatte ihr zugeredet, sie gedrängt . . . und sie hatte Ja gesagt in einer dumpfen Hoffnung, daß das wohl das Glück sei . . .

Das schien ihr jetzt so lange her . . . ein ganzes Menschenleben lang – und war doch wenig mehr als zehn Jahre, die still und einförmig in der kleinen Garnison verstrichen waren, und an die viele weitere, ebensolche sich gereiht hatten, wäre nicht dieser Sommer gewesen – die innerliche Entwurzelung, die große Lebenswende – und nun der Strich unter allem.

Sie kannte ja ihren Mann. Aber sie staunte manchmal doch, daß er so gar nichts merkte, sondern aß und schlief und seine Kasino- und Exerzierplatzneuigkeiten erzählte, wie sonst. Freilich, sie waren jetzt ganz besonders selten beisammen. Er hatte diesmal, wo das Regiment in das Kaisermanöver ging, alle Hände voll zu tun und brütete über der Generalstabskarte in dem dumpfen Bewußtsein, daß er da oben, bei den höheren Vorgesetzten als guter Kompaniechef, aber nicht gerade als ein Kirchenlicht galt, und stand in tiefem Sinnen vor seinen beiden etwas ältlichen Hauptmannspferden, zweifelnd, welcher von beiden, der Fuchs oder der Braune, bei der großen Parade des Auges Seiner Majestät würdiger sei, und verhandelte stundenlang mit dem Feldwebel und Kammerunteroffizier über Weiße Hosen und zweite und dritte Garnituren. So sahen sich die beiden Gatten tagsüber kaum mehr, und Abends war der Hauptmann Ansold, wenn er nicht seine allwöchige Kegelpartie im Kasino oder seinen Skatabend mit dem Stabsarzt hatte, so müde, daß er meist bald nach dem Essen sich auf das Kanapee legte und einschlief. Anfangs hatte er sie dabei früher um Entschuldigung gebeten. Dann war er es gewohnt und fand es sehr behaglich und sie saß dabei und machte sich mit irgend einer Handarbeit zu schaffen und warf zuweilen über die Lampe hin einen langen Blick nach dem Schläfer – sonderbar ernst – forschend wie nach einem fremden Mann . . .

Und so verstrichen die Abende – und so verstrichen die Tage – langsam einer nach dem andern und einer dem andern gleich und die Zeit des Manövers kam.

Schon über die vorhergehende Woche warf es seine Schatten voraus. Hauptmann Ansold beriet sich eindringlich mit den Herren der Kompanie und schrieb sich ein Verzeichnis der blau- und rotverkapselten Flaschen, die man in der Weinkiste, der sogenannten »Bundeslade«, auf den Gepäckwagen mit sich führen sollte, eine Anzahl Offiziersdamen machte sich reisefertig und fuhr mit Kind und Kegel über die drei Herbstwochen in ein Bad, zu den Eltern, zu Verwandten auf das Land, im Gasthof »zum deutschen Haus« stiegen außer den Schnittwaren-, Wein- und Papierreisenden ein halbes Dutzend unbekannter jüngerer Herren in Zivil ab und kam am folgenden Morgen in der vollen Pracht der Waffen als die dritte diesjährige Garnitur der Reserveleutnants zum Vorschein.

Tags darauf lag der ganze Kasernenhof voll Stroh. Man konnte von den Ansoldschen Fenstern aus in die ungewohnte Unordnung sehen, in der die Zahlmeister herumstiegen, die Feldwebel schimpften, Büchsenmacher, Militärhandwerker, Lazarettgehilfen, Schießunteroffiziere, Ordonnanzen, Burschen durcheinander liefen, und endlich wurden von der Wohnung des Obersten die Fahnen abgeholt, das Regiment formierte sich und kam mit Trommelwirbel und Pikkoligeschrill die Hauptstraße herunter, eine lange Kette blitzender Helme und matter Gewehrläufe – an der Spitze das erste Bataillon, dann das zweite – voran die fünfte Kompanie. Vor der ritt Jakobes Mann, den Gaul sehr vorsichtig mit den Zügeln kurz haltend, denn das Pflaster war holperig und die Stute alt – den blanken Säbel in der Rechten, die Schuppenketten unter dem Kinn, was seinem gutmütigen, breiten, trotz des Schnurrbarts etwas leeren und nichtssagenden Gesicht einen martialischen Ausdruck verlieh. Seine Augen waren immer matt. Er war recht kurzsichtig und richtete sich auch jetzt unwillkürlich in den Bügeln auf, wie um seinem Blick nachzuhelfen, während er nach oben spähte, ob da nicht seine Frau am Fenster stände und ihm noch einen Gruß auf den Weg zuwinkte.

Aber Jakobe war in die Mitte des Zimmers zurückgetreten. Das konnte sie nicht. Mochte er jetzt lieber enttäuscht sein und verdrossen über ihre Saumseligkeit weiter reiten, als daß sie sich das letzte Mal, wo sie beide sich als Mann und Frau in die Augen sahen, auch noch verstellte. Sie stand, die Arme schlaff herabhängen lassend, an dem runden Sofatisch und rührte sich nicht und hörte von unten weiter und weiter die schweren, gleichmäßig stampfenden Tritte der Mannschaft und das Getrappel der Offizierspferde, und hatte die Empfindung, daß jetzt eben, in dem Augenblick, wo ihr Mann betroffen nach dem leeren Fenster ihrer Wohnung hinaufgeblickt, eigentlich ihre Trennung von ihm vollzogen sei. Und zugleich setzte, schon in der Ferne, an der Spitze des ersten Bataillons nach dumpfem Paukenschlag die Regimentsmusik ein. Sie spielte das alte fröhlich-wehmutige: »Muß i denn, muß i denn zum Städtele 'naus . . .« und Jakobe Ansold dachte sich, das gelte auch für sie, und zum ersten Mal war das alles stärker als sie, und sie setzte sich auf das Sofa nieder und legte den Kopf auf die Arme und weinte lange Zeit.

Dann aber kehrte ihre Spannkraft wieder. Bisher hatte sie nur planen und denken können. Nun war die Zeit zum Handeln gekommen, und dies Handeln fiel ihr jetzt so leicht, daß ihr alles, was sie tat, als völlig selbstverständlich und notwendig erschien. Noch Vormittags ging sie auf die Post und schrieb auf ein Telegrammformular eine kurze Anfrage: »Kann ich morgen zu Dir auf Besuch kommen? Gruß. Jakobe« – und versah die Depesche mit der Aufschrift: »Fräulein von Kritzing, Schulvorsteherin, Berlin«. Fünf Stunden später traf die Antwort ein: »Willkommen«. Das alte Fräulein von Kritzing, Jakobes mütterliche Freundin und entfernte Verwandte, war zu praktischen Sinns und hatte mit ihrer privaten Mädchenschule viel zu viel zu tun, als daß sie sich den Kopf über die plötzliche Anmeldung zerbrach. Und Jakobe Ansold nickte und begann ganz ruhig und ordnungsmäßig, zum Staunen ihres Mädchens, das mit ihr allein in der Wohnung zurückgeblieben war, ihre Reisevorbereitungen zu treffen. Sie hatte früher immer eine besondere Angst gerade vor diesen Stunden gehabt. Sie fürchtete, ein plötzlicher Anfall von Verzweiflung über ihr verfehltes Leben könne sie im entscheidenden Augenblick übermannen. Aber zu ihrer eigenen Überraschung blieb sie ganz gelassen. Es war ihr alles gleichgültig – die Stadt, die ihr durch zehn Jahre eine Heimat geblieben – die Menschen darin – manche hatte sie ganz gern, andere waren ihr zuwider gewesen – das lag nun schon alles hinter ihr. Sie ordnete, was zu ordnen war, voll von der kühlen Umsicht der Hausfrau, die ihr Heim fremden Händen anvertrauen muß und Sorge trägt, daß inzwischen kein Schaden geschieht. Es lag eine schützende Kraft gegen neues Zagen in diesem alltäglichen Tun, in diesem Falten von Kleidern und Wäsche, diesem Verschließen von Schränken und Kästen, diesem Herablassen von Vorhängen und Überziehen von Möbeln und Abrechnen mit dem Mädchen.

Nachdem das Haus bestellt, war ihre eigene Habe rasch gerichtet. Sie nahm nur wenig mit, nur das Allernotwendigste. So war der Tag herumgegangen. Das Abendrot färbte die Giebel des Städtchens und die weite märkische Ebene dahinter, als sie schwer aufatmend den Koffer schloß. Sie hatte von früh ab fast nichts mehr zu sich genommen und lag nun die ganze Nacht schlaflos mit offenen Augen da. Aber das schwächte ihre Kräfte nicht. Die waren zu angespannt, die fieberten in einem Übermaß von Willen dem Morgen entgegen.

Zeitig am nächsten Tage erschien der Musketier des Wachkommandos, den sie sich bestellt, um ihre Sachen auf die Bahn zu schaffen. Sie selbst ging mit dem Mädchen, das die Handtasche trug, hinterher, und auf dem ganzen Weg hatte sie nur die eine Angst, daß jemand anderer auch mitreisen und ihr seine Gesellschaft aufdrängen könne. Aber sie sah niemanden. Nur die Kommandeuse begegnete ihr auf ihrem Morgenspaziergang und blieb stehen, um sie zu begrüßen, so äußerst kühl sie sonst seit diesem Sommer auch gegen die junge Frau war, und war ganz Neugier: »Also auch Sie weg, Frau Ansold? Na ja – unsere Manöverwitwen heutzutage – das fliegt nur so in alle Winde! . . . Ich wollt', ich könnt' es auch . . . Wohin geht denn die Reise, Frau Ansold?«

»Nach Berlin.«

»Ach . . . Ihren Vater besuchen . . . er lebt doch noch in Berlin – der alte Herr – nicht wahr?«

»Jawohl . . .«

»Und auch Ihre Geschwister?«

»Ein verheirateter Bruder, im sechsten Garderegiment.«

Die Kommandeuse nickte zustimmend bei Erwähnung der Garde. Das Gesicht der kleinen, spitzen Dame bekam einen achtungsvollen Ausdruck. Die Freiherren von Dolmar waren doch eine schöne alte Familie, wenn sie auch seit Generationen kein Geld mehr hatten. Und Frau Ansolds Vater Generalmajor z. D. Warum gab nun sie gerade das schlechte Beispiel im Regiment . . .? Wie oft hatte sie, die Gattin des Obersten, diesen Sommer, als das Gerede über Jakobe Ansold aufkam, mit ihrem Mann über das alles, und was wohl an der Sache wahr sei und was nicht, gesprochen, und ob man den Hauptmann Ansold – den einzigen natürlich wieder im ganzen Städtchen, der von nichts wisse, zur Versetzung eingeben oder lieber vorerst kein großes Aufhebens machen und zuwarten sollte, ob sich die Sache nicht von selber im Sande verlaufe. So war es denn auch geschehen und schien das richtige gewesen zu sein. Soweit man sehen konnte, war wenigstens alles glücklich vorüber und die Lästermäuler verstummt, aber ein gewisses Mißtrauen lag doch noch in der Stimme der Frau Oberst, während sie sich liebenswürdig von Jakobe verabschiedete: »Also empfehlen Sie uns bitte bestens Ihrem Herrn Vater und fragen Sie ihn, ob er sich nicht aus Danzig, vor zwanzig Jahren, an uns erinnert!«

Das sagte sie jedesmal bei dieser Gelegenheit, und der alte Herr wußte sich nie der Bekanntschaft zu entsinnen und setzte hinzu, es sei ihm auch ganz gleich. Die beiden Damen reichten sich die Hand, und Jakobe Ansold verbeugte sich zum letztenmal vor ihrer Vorgesetzten und legte den Rest des Weges bis zum Bahnhof zurück und stieg dort, Musketier und Mädchen entlassend, in den Zug und war, als der sich bald darauf in Bewegung setzte, in einer sonderbar teilnahmlosen Stimmung, die tiefe Erschöpfung und der Rückschlag nach der Erschütterung der letzten vier Monate war.

Und draußen, vor den Wagenfenstern, entschwand langsam und immer schneller im Rollen des Zuges die Stadt. Die Giebel, die Mauern, die Kasernen, die Gärten vor den Toren – da war die weite Fläche des Sees, drüben am anderen Ufer von einförmigen, schwarzen Föhrenwänden eingerahmt – nun grüßte nur noch der alte Kirchturm von St. Peter aus der Ferne – das flache Land begann – weitgestreckte, abgeerntete Roggenfelder, Kartoffeläcker mit reihenweise gebückten Buddlern, Männer, Frauen und Kinder, den berittenen Inspektor wie einen Sklavenvogt hinter sich, scheu äugendes Rehwild in Rudeln am Rand der Forst, dazwischen einmal, mehr zurück, ein Herrensitz im Park, vom Schornstein der Brennerei überragt, die langen flachen Dächer des Wirtschaftshofs neben sich. Und schon tauchten, nach kaum dreistündiger Fahrt, die ersten, noch mitten im Ackerland stehenden vierstöckigen Mietskasernen als Wahrzeichen der Nähe der Reichshauptstadt auf, und bald darauf war Jakobe Ansold am Endpunkt einer Reise, die so kurz und doch die Wende ihres ganzen Lebens gewesen, und fuhr in einer Droschke durch die halbe Stadt, vom Osten bis in den stillen Südwesten, wo in den Hintergebäuden eines älteren, aber stattlichen Wohnhauses die Kritzingsche Schule war.

Es ging auf Mittag. Vor dem Portal harrte schon eine ganze Anzahl von Müttern, Kinderfräulein, Offiziersburschen und älteren Geschwistern ihrer Schutzbefohlenen da drinnen, und gerade, als Jakobe Ansold das Haus betreten wollte, quoll es ihr wimmelnd und schwatzend und lachend und krabbelnd in allen Altersstufen vom siebten bis zum sechzehnten Jahre entgegen, und füllte die Stufen und den Eingang, und sie mußte ein paar Minuten warten, bis sie in den Flur gelangen und im Vorderhaus zu der kleinen, drei Treppen hoch belegenen Privatwohnung des Fräuleins von Kritzing emporsteigen konnte. Die war bereits daheim. In dem etwas altmodischen, mit einer Menge eingerahmter Photographien von Marineoffizieren und früheren Schülerinnen der Anstalt geschmückten Stübchen, in das das öffnende Mädchen die junge Frau geführt, kam sie dieser rasch entgegen, gab ihr statt vieler Begrüßungsworte einen schallenden Kuß und sagte dann nach ihrer resoluten Art und ohne weitere Umschweife: »Na – da bist du ja also! Nu wasch dich mal fix! Dann wollen wir essen!«

Sie war ein kleines, rundliches und lebhaftes Fräulein in den Sechzigern, das blühende, pausbäckige und stets heitere Gesicht von schon ganz weißem Haar umrahmt, das ihr etwas Mütterliches gab. Sie und Jakobe nannten sich du – die alte Dame noch aus Gewohnheit aus der Zeit her, da die andere als Backfisch zu ihr in die Schule gegangen war, die junge Frau, seit sie durch die Heirat ihres ältesten, in Breslau stehenden Bruders mit einer Kritzing, einer Nichte der Schulvorsteherin, vor einigen Jahren mit dieser verwandt geworden war, die ihrerseits die Tochter eines verstorbenen Vizeadmirals war und durch besondere Fürsprache schon vor einem Vierteljahrhundert ihre lohnende Schulkonzession erhalten hatte.

»Da bist du ja also!« wiederholte Fräulein von Kritzing und sah ihrem Gast befriedigt in das schöne, ernste Gesicht. »Und in Schwarz? Und was machst du denn für eine Miene wie ein Leichenbitter? Es ist doch niemand gestorben?«

»Nein, Tante! . . . Ich . . .«

»Na . . . solange man lebt, geht's immer weiter!« sagte das alte Fräulein unbekümmert. Sie war längst über Kämpfe und Versuchungen hinaus. Ihre Jugendliebe, wegen der sie unvermählt geblieben, ruhte auch schon viele Jahre im Grab. »Was hast du denn in Berlin vor? Besorgungen? Deinen Vater habe ich vorige Woche gesehen . . .: Bummelzivil – Hütchen schief – Stöckchen in der Hand . . . da tänzelt er nur so die Linden lang . . . der Mann wird wahrhaftig alle Tage jünger! Ich habe ihm auch gesagt: Wenn so ein preußischer General ausschaut . . . aber er feixt nur und schlägt sich weiter seine Siebzig um die Ohren! Na . . . und bei Axels« – sie meinte Jakobes jüngsten Bruder, den Leutnant im sechsten Garderegiment – »steht's ja so weit gut! Weißt du das Neueste von der Anna: Sie hat den Hofkoller! Sie muß diesen Winter vorgestellt werden! Sie hat sich jetzt schon photographieren lassen, in einer Courschleppe – na, von hier bis Potsdam, das langt noch nicht! Da ist nun das ganze Persönchen drin eingewickelt und glubscht oben 'raus, als wollte sie fragen: Was kostet die Welt . . .?«

»Gott ja, Tante . . . Ich weiß ja, wie Anna ist . . .«

»Und was sie neulich geliefert hat? Da sagt dein guter alter Vater: ›Schade, daß wir Ansolds nicht auch hier in Berlin haben!‹ Und sie darauf: ›Ja, aber für eine bürgerliche Offiziersdame ist es doch manchmal hier recht peinlich!‹ . . . Da habe ich ja nun milde gesagt: ›Weißt du, Jakobe ist eine geborene Dolmar und die Dolmars waren schon mit den Quitzows auf du und du, und du bist eine geborene Huschke. Nimm mir's nicht übel!‹ Und sie darauf ganz patzig: ›Deswegen kann ich doch an den Hof und Jakobe nicht!‹ – Na . . . ich will ja gewiß nichts gegen den alten Holz-Huschke sagen – aber er ist doch nun einmal der Holz-Huschke . . .«

Sie sprach das voll Empörung über den Vater der jungen Frau von Kritzing, den Kommerzienrat, der als der Inhaber eines weit ausgedehnten Holzhandels im ganzen Osten der Monarchie bekannt war. Dann stockte plötzlich ihr Redefluß: »Nun aber mal Schluß! Ich schwatze und schwätze! Erzähle was von dir! Wie geht es dir? Was bringst du Gutes?«

Und nun konnte die junge Frau erst zu Worte kommen und versetzte ruhig: »Ich bringe nichts Gutes, Tante . . . Ich bringe mich . . .«

Fräulein von Kritzing hob den Kopf und sah sie aufmerksam an. Die heitere Geschäftigkeit verschwand plötzlich aus ihren Zügen. Sie wurde sehr ernst. So frug sie: »Um Gottes willen . . . Was ist denn passiert, Jakobe?«

»Es ist weiter gar nichts passiert – und wird auch nichts passieren – nicht das geringste . . . dafür stehe ich dir! . . . Nur . . .«

»Nun also – warum jagst du einem dann solch einen Schrecken ein?«

»Nur . . . Leopold weiß gar nicht, daß ich nach Berlin gefahren bin . . .«

»Mit wildem Urlaub . . .? Sieh mal an! Und sitzt da und tut, als könne sie nicht bis drei zählen! Na – beruhige dich: Deswegen stürzt der Himmel auch noch nicht ein . . .«

». . . und ich werde ihm jetzt erst, von hier aus, schreiben, daß ich hier bin und daß ich nie wieder zu ihm zurückkomme . . .«

Es war eine Pause nach ihren Worten. Das alte Fräulein faltete unschlüssig die Hände im Schoß und sah Jakobe Ansold an, ob sie denn noch bei Trost sei, und die saß ganz still da und schwieg. Und als die andere endlich fassungslos wiederholte: »Du willst überhaupt nicht mehr zu deinem Mann zurück?« – nickte sie nur ein einfaches: »Ja.«

»Das heißt also –, Gott verzeihe mir die Sünde – du willst dich scheiden lassen?«

»Wenn er einwilligt – ja!«

»Und wenn er nicht einwilligt . . .?«

». . . Dann gehe ich doch nicht zu ihm zurück! Dazu kann mich niemand zwingen!«

Fräulein von Kritzing holte ihr Tuch heraus und begann bitterlich zu weinen. Die junge Frau schaute kalt zu ihr hinüber. Die rosigen Farben ihres Gesichts waren nicht um ein bißchen blasser geworden. Nur eine stille Härte lag auf ihm.

»Werde doch ruhiger, Tante!« sagte sie endlich, da jene immer weiter schluchzte. »Ich bin es ja auch . . .«

Aber die kleine alte Dame war zu erschrocken. Sie sah mit nassen Augen auf und rang nach Luft. »Ja – höre ich denn überhaupt recht! Du willst fort . . .? Einfach . . . so fort? Warum denn um des lieben Himmels willen . . .? Kind . . . schweige dich doch nicht so aus . . . das gibt einem ja ganz den Rest . . . mir dreht sich ja ohnedies schon das Zimmer im Kreis . . .«

Jakobe Ansold schüttelte ihren schönen Kopf.

»Ich kann dir das jetzt nicht so auf einmal alles sagen . . . es ist zu viel und es geht auch zu viel darin gegeneinander . . . ich finde auch nicht gleich die rechten Worte, um das anderen klar zu machen . . . da muß die Zeit dazu da sein – und die innere Ruhe – und vor allem das Vertrauen . . . und darum frage ich dich, Tante: Hast du das Vertrauen, daß ich ganz schuldlos bin – wenn ich es dir versichere?«

»Ach – liebes Kind . . . die Leute haben viel von dir gesagt in diesem Sommer! Bis hierher nach Berlin und zu mir ist es aus eurem Nest in der Mark gedrungen! Ich habe es nie geglaubt, weil ich dich kenne . . .«

»Und hast du auch das Vertrauen, daß ich mich auch in Zukunft ganz schuldlos halten werde . . .?«

»Ja, hältst du es denn nicht für eine Schuld, wenn man seinen Mann verläßt?«

»Nein. Wie ich es tue, nicht!«

»Und seinen Sohn?«

Zum ersten Male verlor Jakobe Ansold etwas die Fassung. Ein Schein von Schmerz, von Haß glomm in dem tiefen, leuchtenden Schwarzblau ihrer Augen auf. Sie sagte: »Verlasse ich ihn denn? Man hat ihn mir ja genommen, schon vor einem Jahr! Ich bin fern von ihm, wo ich auch bin! Hätte ich ihn, glaub mir, dann säße ich nicht hier . . .«

Das greise Fräulein schüttelte kummervoll den Kopf. Sie war darin keine Richterin. Sie konnte der Frau, der Mutter, da drüben nichts entgegnen. Und diese sagte jetzt, wärmer und herzlicher als bisher: »Wenn du noch ein bißchen Zutrauen zu mir hast, dann, bitte, laß mich bei dir bleiben – nur kurze Zeit – bis ich eine Stellung und Tätigkeit gefunden hab' . . .«

»Was denn für eine?«

»Das weiß ich noch nicht! Da mußt du mir raten!«

»Ich weiß es aber selber nicht! . . . Geld hast du keines . . . Deine Verwandten werden sich von dir zurückziehen . . . Etwas Besonderes hast du nicht gelernt . . .«

». . . alle anderen Menschen leben doch auch . . .«

». . . weil sie einander helfen! Und dir werden bald mehr helfen wollen, Jakobe, als gut ist . . .«

»Niemand soll mir helfen!«

Die junge Frau sprach das so finster entschlossen, daß die andere verstummte. Das Mädchen hatte die Türe geöffnet, um zu melden, daß angerichtet sei. Ihre Herrin scheuchte sie unwillig mit einer Handbewegung hinaus. Dann saß sie da, immer noch die Hände im Schoß, und überlegte. Und endlich faßte sie einen Entschluß und versetzte: »Sieh mal, Jakobe . . . Von selber hätte ich ja nie davon angefangen . . . ich hasse Klatschereien – das ist gut für müßige Leute . . . ich habe zu viel zu tun . . . aber wo du jetzt so weit bist, da kann ich mir nicht helfen, da muß ich dich jetzt aufs Gewissen fragen: Was war das diesen Sommer mit dir und diesem Herrn von Wölsick . . .?«

»Gar nichts, als daß er im Juni und Juli eben da war, wo ich auch war – in unserer Garnison!«

»Was tat er denn da?«

»Er machte eine Reserveoffiziersübung bei den Dragonern. Er hat doch das große Majorat Sommerwerk in der Nähe unserer Stadt. Eigentlich lebt er in Berlin und ist da auch bei den Gardeulanen Reserveoffizier. Aber er ließ sich zu uns in die Provinz kommandieren, um während der Zeit auch nach dem Gut sehen zu können. Auf dem ist er sonst nie. Nur seine Mutter wohnt darauf.«

»Was ist er denn?«

»Er ist Dr. jur. und Regierungsassessor a. D.«

»Und lebt als Privatmann?«

»Ja. Das heißt – beschäftigt ist er immer!«

»Als er diesen Sommer kam, kannte er dich da schon?«

»Nein – wir lernten uns erst zwei Wochen nach seiner Ankunft zufällig bei einem Wohltätigkeitsfest kennen.«

»Und von da ab habt ihr viel miteinander verkehrt?«

»Ja.«

»Ihr seid auch zusammen spazieren gegangen?«

»Ja. Oft.«

»Und auch, zusammen mit einem Ehepaar von den Dragonern, in seinem Automobil gefahren?«

»Ja. Ich war schon unvorsichtig.«

»Und was sagte denn dein Mann dazu?«

»Nichts.«

»Aber Herr von Wölsick war bei euch im Hause?«

»Gewiß! Er machte Besuch und kam einmal zu Tisch.«

»Aber bei seiner Mutter, auf Sommerwerk, warst du nicht?«

»Nein.«

»Er hat dich auch nie dazu aufgefordert?«

»Nein.«

Die Stimme der jungen Frau klang gepreßt und Fräulein von Kritzing sagte: »Aber darauf hättest du doch bestehen müssen! Das hätte doch gerade allem Gerede die Spitze abgebrochen!«

»Ich habe gar nichts bedacht . . . in der Zeit . . .«

Einen Augenblick war es still. Dann forschte die Freundin weiter: »Wie nun seine Übung zu Ende war, da ist er wieder fort?«

»Ja.«

»Nach Berlin zurück?«

»Wahrscheinlich.«

»Wieso sagst du ›wahrscheinlich‹?«

»Weil ich seitdem von ihm nichts mehr gesehen und gehört hab'!«

Und plötzlich stand Jakobe Ansold auf und trat vor die Schulvorsteherin hin und sagte, während ein leidenschaftlicher Schmerz jäh über ihre Züge zuckte: »Und ich werde auch nie wieder etwas von ihm hören. Ich werde nie wieder in einen Verkehr mit ihm treten, weder mündlich, noch brieflich, noch durch Dritte! Da kannst du sicher sein!«

Das alte Fräulein war sitzen geblieben und schaute verdutzt und ratlos zu ihr auf.

»Das geht über meine Fassungskraft, Jakobe! Wenn dem so ist, wie du sagst, dann wird dir jeder Mensch antworten: Ja, warum bleibst du dann nicht bei deinem Manne?«

»Ich sage dir ja, Tante, das ist nicht so, wie ich jetzt noch bei dir da zwischen Tür und Angel stehe, mit ein paar Worten zu erklären! . . . Aber ich werde es dir gewiß erklären, so gut ich kann, sobald ich kann – vielleicht heute abend noch, wenn du mich bei dir behältst . . .«

Fräulein von Kritzing stand mitten im Zimmer vor dem Goldfischglas. In das sah sie hinein, in ihre Gedanken verloren. Ihr praktischer Sinn gewann jetzt, wo sie allmählich die erste Bestürzung überwunden hatte, die Oberhand, und sie wandte sich zu ihrem Gast um und sagte: »Nun wollen wir einmal ganz offen sein, Jakobe! Du nimmst es gewiß nicht übel. Es ist furchtbar lieb von dir, daß du gerade zu mir gekommen bist und Vertrauen gehabt hast, und ich will das gewiß nicht enttäuschen. Aber, in einer so heiklen Geschichte – wo du doch deinen Vater in Berlin hast und einen verheirateten Bruder . . . wäre es denn da nicht besser, wenn du . . .?«

»Wenn ich zu meinem Vater ginge? Ich kann es nicht, Tante! Nicht nur, weil er gar nicht darauf eingerichtet ist, mich aufzunehmen – er hat doch keine ordentliche Wirtschaft, sondern nur einen Diener, und ißt irgendwo und läuft in Berlin herum und meint im Spaß, er sei ein Junggeselle mit sechs Kindern und vierzehn Enkeln – aber auch wenn das anders wäre: Ins Vaterhaus zurückkehren – das ist wie eine Flucht ins alte Nest – ein ängstlicher Unterschlupf – beinahe lächerlich nach zehn Jahren – nein, ich habe den Entschluß ganz aus freiem Willen gefaßt, ohne einen Menschen zu fragen, ich will jetzt auch die volle Verantwortung dafür tragen!«

Und mit einem herben Spott um den Mund setzte sie hinzu: »Oder kannst du dir mich jetzt als Gast bei meinem Bruder und seiner Frau vorstellen? Die und eine geschiedene Schwägerin im Hause . . .! Ich kann es ja überhaupt niemandem auf der Welt verargen, wenn er unter diesen Umständen für meine Gesellschaft dankt!«

Sie hatte hastig und erregt gesprochen. Es schien, als wartete sie nur auf den ersten Wink, um wieder zu gehen und sich mit ihren Habseligkeiten von neuem einer Droschke anzuvertrauen. Aber Fräulein von Kritzing beugte sich zu dem Handgepäck, das noch im Zimmer stand, hernieder, nahm die Reisetasche in die rechte, die Plaidrolle in die linke Hand und schritt damit ohne weiteres zu der Nebentüre, deren Klinke sie mit dem Ellenbogen öffnete.

»So!« sagte sie. »Da ist dein Zimmer! Du kennst es ja von früher! Gib mal deinen Hutkarton herüber! Danke . . . Dein Koffer kommt gleich! Also da mache es dir nun bequem und bleibe darin, solange du willst! Ich bau' jetzt auf die Zeit. Hoffentlich kommt die schreckliche Geschichte doch noch irgendwie ins Geleise!«

Jakobe dankte ihr nicht mit Worten. Als sie hinter der anderen in das freundliche Stübchen getreten war, schlang sie ihr von rückwärts den Arm um die Schulter und beugte sich zu ihr nieder und küßte sie stumm und scheu auf die Wange. Und nun wurde die kleine dicke Dame von neuem von Ergriffenheit überwältigt. Sie legte ihren mit einem Häubchen geschmückten Kopf an Jakobes Brust – höher reichte sie nicht – und schluchzte wieder so bitterlich drauf los, als sei ihr und nicht jener alles Leid im Leben widerfahren. Und die junge Frau sah von oben tränenlos auf sie herab. Dann setzte sie sich, nachdem Fräulein von Kritzing sie verlassen, am Schreibtisch nieder und warf hastig die Zeilen auf das Papier – die Feder jagte ihr förmlich in der Hand – sie besann sich keinen Augenblick – sie schüttelte sich die schwere Last ihres bisherigen Geheimnisses ab, indem sie, ohne aufzublicken, ohne ein Wort durchzustreichen, an ihren Mann in das Manöverquartier schrieb:

»Du erhältst diesen Brief von mir aus Berlin, und was er Dir bringt, ist der schwerste Schritt meines Lebens. Ich habe lange mit ihm gerungen. Aber ich muß ihn tun. Ich kann nicht zurück, und es schmerzt mich nur so sehr um Deinetwillen, daß er Dich so unerwartet trifft. Und doch liegt vielleicht gerade darin, daß Du so wenig von mir kennst, so gar nichts sahst, was in den letzten Monaten in mir vorging, für mich wieder eine Rechtfertigung.

»Ich will es Dir kurz und einfach sagen: Ich habe heute, nachdem Du in das Manöver bist, ebenfalls unser Haus verlassen. Ich habe damit bis zu diesem Zeitpunkt gewartet. Hätte ich es getan, während Du noch da warst, so wäre es eine Flucht gewesen! So ist es eine Abreise, die zunächst niemandem weiter auffällt, und um unserer beider willen ist jedes unnötige Aufsehen vermieden, bis wir uns miteinander ganz ausgesprochen haben und hoffentlich zur Übereinstimmung über die Zukunft gekommen sind.

»Denn das muß ich Dir nun mit schwerem Herzen und ganz festem Willen sagen: Zurück zu Dir kann ich nicht mehr. Nie wieder. Ich habe hier bei Therese Kritzing ein vorläufiges Unterkommen gefunden und will versuchen, mir von hier aus ein neues Leben durch meiner Hände Arbeit aufzubauen, ohne die Hilfe oder die Gegenwart eines Dritten. Darauf gebe ich Dir einen Eid: Es hat kein Dritter auf meinen Entschluß eingewirkt – es ist kein Dritter in meiner Nähe und in meinem Leben und wird es nie sein.

»Die Gründe meines Entschlusses – ich bin sie Dir schuldig. Aber ich weiß nicht, wie ich sie in den Rahmen eines Briefes bringen soll. Schreiben läßt sich derlei nicht, wenigstens jemandem nicht, der einem so nahe steht wie Du mir und doch weniger von mir weiß als viele andere Menschen und so unvorbereitet ist auf das, was nun kommen mußte. Da versagt die Feder. Die Worte bekommen eine ganz andere Bedeutung – sie werden ganz anders gelesen, als man sie beim Schreiben empfand – man entfremdet sich noch mehr, statt sich zu begreifen.

»Wir müssen uns sprechen. Hier in Berlin. Bei der Kritzing. Wann Du kommen kannst. Da will ich dann ganz offen sein und versuchen, Dir zu erklären, was in mir vorgegangen ist und wie ich jetzt bin, und warum eine Ehe wie die unsere, die vor mir und meinem Gewissen keine mehr ist, getrennt werden muß. Es muß sein. Du tust mir so leid. Du hast ja an alle dem gar keine Schuld. In tiefem Schmerz

Jakobe.«



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