Rudolph Stratz
Herzblut
Rudolph Stratz

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III

Vor der niederen grauen Front des Auswärtigen Amts in Berlin hielt eine Taxameterdroschke in dem feinen, eiskalten Oktoberregen, der die menschenleere Wilhelmstraße übersprühte, und innen, in seinem Arbeitszimmer, sagte der Geheime Legationsrat von Teichardt etwas ungeduldig zu seiner Frau, die ihn, einen Brief in der Hand, mitten in die Dienststunden hinein besucht hatte: ». . . und außerdem laß doch den Wagen draußen nicht so lange warten! Das kostet ja wieder ein Heidengeld! fahre schon in Gottes Namen zu Erich hin! Es hilft doch nun einmal nichts!«

Er war ein sehr großer, breitschultriger Mann in den Vierzigern mit Bismarckschnurrbart, Glatze und vielen Schmissen. Die kleinen Augen blickten scharf und klug hinter dem goldenen Kneifer. Er wiederholte jovial, aber sehr bestimmt: »Ich hab' zu tun, Hermine! Da liegt der angefangene Bericht und es ist bald sechs Uhr Abends! Du weißt: ich liebe es überhaupt gar nicht, daß du mir hier in die Aktenbude hereinschneist! Nun dalli, Kind! Es ist dein Bruder! Beiß in den sauren Apfel . . .«

Frau von Teichardt, geborene von Wölsick, war eine Frau, die weniger hübsch als distinguiert aussah, sehr schlank, sehr elegant gekleidet, zehn Jahre jünger als ihr Mann. Über ihr scharf geschnittenes, lebhaftes und bewegliches Gesicht glitt erneut ein Schatten, und sie versetzte ärgerlich: »Das ist so echt Mama! Mir schreibt sie's und ich darf es Erich ausrichten! Warum schreibt sie ihm denn nicht direkt? Bloß um sich Ungelegenheiten zu ersparen! . . . Ich weiß wirklich nicht, wer von den beiden der größere Egoist ist, Mama oder Erich!«

»Erich!«

Der Geheimrat erwiderte das phlegmatisch. Die Hände auf dem Rücken stand er da und schaute in das Abenddämmern des schon herbstlich kahlen Parks hinaus, der sich vor den Fenstern seines Bureaus zur Königgrätzerstraße hin erstreckte. Er liebte seinen Schwager nicht besonders, aber er war viel zu sehr ein Mann des praktischen Lebens, um es mit ihm zu verderben, der als Majoratsherr aus freien Stücken seiner Schwester eine so ansehnliche Jahresrente gab.

Und diese meinte: »Das dachte ich mir schon lange, daß er doch einmal an den Unrechten kommen würde – oder an die Unrechte! Nun macht eine mal Ernst aus seinem Spiel! Das wird ihm eine Lehre sein . . . ich sag' dir: ich nehm' diesmal kein Blatt vor den Mund!«

»Mache es nur nicht zu bunt!« sagte ihr Mann etwas besorgt, mit dem Gedanken an die Zulage. »Schließlich . . . diese Frau Hauptmann Ansold . . . mag sie von ihrem Mann fort sein – ich begreife ja, daß es deiner Mutter höchst peinlich ist, wenn in ihrer ganzen Nachbarschaft, rings um Sommerwerk herum, von diesem unwillkürlichen Geniestreich Erichs geredet wird – aber was geht das uns an? Wir brauchen da wahrhaftig nicht Partei zu ergreifen!«

»Doch! Ich bin auch Frau! Mich erbittert das! Das ist doch nicht der erste Mensch, den er sich so vom Weg gepflückt und wieder weggeworfen hat.«

»Und du bist sicher, daß er noch von gar nichts weiß?« frug ihr Mann.

»Nein! Offenbar nichts! . . . wo er doch erst vor ein paar Tagen aus dem Ausland zurück ist. Vorgestern nachmittag, als er bei mir war, erzählte er von allem möglichen – aus Schottland – und daß er für diesen Herbst genug von der Jagd habe und deswegen gar nicht erst nach Sommerwerk gehen und Mama besuchen wolle . . . Du verstehst: weil er glaubt, sie, die Frau Ansold, sei noch dicht daneben, in der Garnison bei ihrem Mann, und bei Leibe kein Zusammentreffen wünscht . . . natürlich: er hat die Geschichte schon halb vergessen . . . dann ärgert es ihn jedesmal, wenn andere so ein unangenehmes Gedächtnis für ihn haben!«

»Ja – er hat eine merkwürdige Anziehungskraft für die Menschen!« sagte der Geheimrat. »Worin die eigentlich besteht . . . na . . . Hermine . . . es sind schon wieder fünf Minuten verstrichen . . . da liegt mein Bericht . . . die Weltgeschichte wartet . . . Willst du den Reichskarren umschmeißen? Nein? . . . dann fahre davon! . . . Auf Wiedersehen zu Tisch!«

Frau von Teichardt seufzte, während ihr Mann sie zur Tür hinausgeleitete, nahm ihr Kleid auf und ging die Treppe hinab und an dem ehrerbietig grüßenden Pförtner vorbei zum Wagen. Auf der kurzen Fahrt die Linden entlang und durch das Brandenburgertor saß sie aufrecht mit gespanntem Gesichtsausdruck da. Und da standen schon die Pferde in einer der kurzen, vornehmen, den Königsplatz umgebenden Straßen still und die Geheimrätin zog im Erdgeschoß eines altmodischen Herrschaftshauses die Klingel, neben der ein Schild: »Dr. jur. Erich von Wölsick-Sommerwerk« angebracht war.

Der öffnende Diener trug keine Livree, sondern einen einfachen schwarzen Gentlemananzug. Er war ein kleiner, mickeriger Mensch, sorgenvoll und glatt rasiert. Frau von Teichardt sah ihn wie immer mit einem stillen Mißfallen an. Sie wußte, daß ihr Bruder sich von ihm förmlich tyrannisieren ließ, was ihm bei anderen Leuten nie vorkam, und frug den Unentbehrlichen kurz, aber gezwungen freundlich: »Mein Bruder zu Hause, Michael?«

»Jawohl. Aber im Bad.« Michael lispelte es und Frau von Teichardt zuckte die Achseln, während sie durch die von ihm aufgerissene Tür in das Arbeitszimmer trat. Das war auch wieder eine von Erichs Marotten: zweimal täglich baden, des Morgens und des Abends! Ungeduldig ging sie in dem großen, durch gedämpftes, elektrisches Licht erhellten Raum auf und nieder, der gar nichts von der weichlichen und zweifelhaften Eleganz einer sprichwörtlichen Junggesellenwohnung an sich hatte. Schon die vielen Bücher in den geschnitzten Schränken und auf dem großen Schreibtisch gaben ihm ein ernstes Gepräge. Die Besucherin warf gar nicht erst einen Blick darauf. Sie wußte, es war ja doch lauter unverständliches Zeug: Jurisprudenz, Staatswissenschaft, Nationalökonomie, Statistik . . . Broschüren über Finanz- und Börsenfragen – es war früher bei den Wölsicks nicht Mode gewesen, sich mit derlei zu befassen. Man diente – schon seit der Zeit des Großen Kurfürsten, oder bewirtschaftete seine Güter. Erich, der mit vier Jahren seinen Vater verloren hatte und ganz selbständig aufgewachsen war, war der erste ganz moderne Mensch dieses alten Geschlechts.

Er hatte in Eile Toilette gemacht und trat jetzt durch eine Seitentüre ein, ein gut aussehender, schlanker und ziemlich großer Mann über die Mitte der dreißig. Um seinen dunkelblonden Schnurrbart spielte jenes, in seiner Herzlichkeit so unwiderstehliche, liebenswürdige Lächeln, das seine Schwester an ihm so wohl kannte. Damit fing er jeden. Es war unglaublich, wie er sich seine Nächsten um die Finger wickelte.

»Entschuldige, Helme!« sagte er lachend. »Wenn ich geahnt hätte, welche Ehre mir bevorsteht, dann wäre ich schon jetzt im Frack und weißer Binde! In einer halben Stunde muß ich es nämlich sein. Da bin ich zum Diner geladen. Aber bis dahin habe ich noch Zeit!«

Er setzte sich ihr gegenüber.

»Helme – du siehst famos aus . . . es fällt mir schon seit einiger Zeit auf . . . Du kommst jetzt erst in deine vorteilhaftesten Jahre – ne, ne – winke nicht ab – es ist schon so . . . erhalte dich nur recht schlank! Nichts schrecklicher als eine dicke Ministerfrau . . .«

Seine Schwester errötete unter dem Schleier. Ministerfrau . . . das war ja der große Traum ihres Lebens. Und ein erfüllbarer. Der Geheimrat von Teichardt hatte eine schöne Karriere vor sich. Ihr wurde warm ums Herz. Erich sagte einem doch immer gleich angenehme Dinge, sowie man eintrat, wo einem andere mit Klagen über schlechtes Wetter und Influenza und Ärger im Dienste kamen! Er gab den Leuten Zuckerplätzchen. Ihm kosteten sie ja nichts. Und aus diesen letzteren Gedanken heraus wurde sie plötzlich sehr ernst und sagte: »Ich bin gekommen, um in einer äußerst wichtigen Angelegenheit mit dir zu sprechen!«

Erich von Wölsick bot seiner Schwester die Zigarettendose an und steckte sich, da sie den Kopf schüttelte, selber eine in Brand. »Es wird schon nicht so wichtig sein,« meinte er dabei gemütlich.

»Doch! für dich und uns alle!«

»Na – dann nur Mut und Kürze! . . . Los, Helme!«

Er streckte dabei bequem die Beine aus und sah sie, wie immer amüsiert über die Aufregung anderer Leute, lächelnd aus seinen klaren hellbraunen Augen an. Er war überhaupt ein hübscher Mensch mit seinen regelmäßigen aristokratischen Zügen und der peinlichen Gepflegtheit seines Äußeren. Seine Schwester zögerte. Sie hütete sich wohl, mit der Türe ins Haus zu fallen. Dann, das wußte sie, bekam sie nur eine schroffe Absage.

»Ich muß ein bißchen weit ausholen, Erich!« begann sie langsam, und da lachte er auch schon: »Sage doch nur einfach, wie viel? – und es ist gut!« Er ging zum Schreibtisch und nahm ein Checkbuch aus dem Pult. »Eintausend, Helme – oder soll ich gleich zweitausend Mark schreiben? – Kannst du damit Weihnachten überstehen?«

Ach gewiß hätte Frau von Teichardt das Geld brauchen können – die vier Kinder daheim – das Fest vor der Türe – dann der Berliner Januar – es schoß ihr allerhand durch den Kopf . . . da konnte auch noch das neue Persianerjakett für sie abfallen – und die fehlende große Träne unten an der Diamantagraffe . . . sie kannte ja Erichs verschwenderische Freigebigkeit, den anderen, nicht vom Glücke gesegneten Wölsicks gegenüber – und ganz besonders zu ihr – und er wiederholte auch noch im Spaß: »Ist's genug? Es soll mir niemand vorwerfen, daß ich meine leibliche Schwester verhungern lasse!« – Aber diesmal kämpfte sie entschlossen diese Anwandlung von menschlicher Schwäche nieder und versetzte förmlich erbittert: »Ja – so bist du immer! . . . gegen alle! . . . dem einen stopfst du den Mund mit Geld – den anderen speisest du mit netten Worten ab – für jeden hast du etwas . . . und keinen nimmst du ernst, sondern spielst damit – gerade als ob wir alle Bleisoldaten wären . . .«

Sie hatte beinahe Tränen in den Augen, aus Zorn gegen ihn und Kummer über das entgangene Geld. Er war ganz verwundert.

»Bleisoldaten!« sagte er. »Na – da hättest du gestern den Vetter Wölsick sehen sollen – du weißt, von der Feldartillerie, dem ich vor sechs Jahren das halbe Kommißvermögen zur Heirat gegeben hab'! . . . Es war ja ein tüchtiger Riß in meinen Beutel . . . nun kamen sie auf einmal angerückt – auf Urlaub in Berlin – er, die Frau, drei Kinder – die Kinder hatten doch weiß Gott Veilchensträußchen in der Hand und schrien schon in der Türe: ›Heil, Onkel! Heil!‹ und die kleine Frau heulte wie ein Schloßhund und der dicke Klaus Wölsick biß sich auf die Zähne, um es nicht auch zu tun, und schüttelte mir mindestens zehnmal krampfhaft die Hand . . . na . . . und Michael kochte Kaffee und besorgte Kuchen – und ich saß als glücklicher Ehestifter im Kreise der Meinen – auf jedem Knie ein Balg – förmlich wie ein Patriarch – ihre Photographie haben sie mir auch mitgebracht . . . dort drüben liegt sie . . . es war wirklich nett . . .«

Ein weichliches, verwöhntes Lächeln flog bei den letzten Worten über seine Züge, der Ausdruck eines vom Glück überschütteten Menschen, der gerne auch den anderen ihren bescheidenen Anteil gönnt, und seine Schwester sah ihn an und dachte sich: jawohl, Ehestifter! . . . als Ehezerstörer sitzest du da und wirst es bald genug erfahren . . . und laut sagte sie: »Ich möchte wirklich wissen, Erich, wie du dir eigentlich deine Zukunft denkst . . .«

»Meine Zukunft?« Er war erstaunt. »Na – sehr nett, Helme!«

»Ja, aber wie?«

Ihr Bruder zündete sich eine neue Zigarette an und sah auf die Uhr. Es war noch eine Viertelstunde Zeit.

»Wie? So wie ich es mir immer gedacht habe! Aktiver Offizier wollte ich nicht werden – mit dem jur. et cam. hat es heutzutage nur noch bis zum Regierungsassessor Sinn, wenn man nicht in der Bureaukratie verknöchern will, – so bin ich mit dem abgeschnappt . . . ins neue Land hinüber . . . das ist ja in Deutschland für uns Wölsick und Genossen der Handel und die Industrie leider noch immer . . . in England sind sie längst klüger . . . da wissen die Lords und ihre Söhne ganz genau, wo das Geld steckt – na . . . und jetzt bin ich so weit . . . war Bankvolontär – hab' meine Reisen nach Amerika und England gemacht – Volkswirtschaft studiert, in die Politik hineingeschaut . . . mir hier überall in Berlin meine Verbindungen geschaffen . . . nun suche ich mir ein Feld für meine Tätigkeit in der Hochfinanz . . .«

»Dabei verstehe ich nur das eine nicht!« sagte Frau von Teichardt. »Unser altes Sommerwerk ist gewiß schön und wertvoll und wirft dir eine hohe Rente ab – aber doch nicht so viel, daß du dich dadurch selbst mit großen Kapitalien an einem Unternehmen beteiligen kannst . . .«

»Nein. Das natürlich nicht.«

»Also müßtest du in solch einem Unternehmen doch in irgend einer Form als höherer Angestellter tätig sein! Und inwieweit eine derartige Abhängigkeit deinem Charakter und deinem Namen und deiner Position als Majoratsherr entspricht – verzeihe, wenn ich mich da in deine Angelegenheiten mische – aber mir erscheint das von vornherein ganz unglaublich.«

»Deswegen hab' ich es ja auch noch nicht getan!« sagte Erich von Wölsick gelassen. Der Zug lebhafter Klugheit auf seinem Gesicht hatte einen leise spöttischen Anstrich, während er seine Schwester ansah und die ihn und sie schließlich zögernd versetzte: »Nun ja . . . also . . .«

Er schwieg und rauchte und blickte lächelnd zur Decke. Er kam ihr nicht zu Hilfe. Frau von Teichardt war zu vorsichtig, um weiter in ihren Bruder zu dringen. Damit reizte man nur seinen Widerspruch. Dann war er einer der verschlossensten Menschen, die sie kannte. und konnte herausfordernd höhnisch werden. Sie blieb ein paar Augenblicke stumm und sagte dann: »Eigentlich habe ich deine Pläne für dein äußeres Leben nicht so sehr gemeint – die kenne ich ja schon, wenigstens in großen Zügen – und will mir auch kein Urteil gestatten, ob ein Wölsick durchaus mit Börsenpapieren und Streiks und allerhand sonderbaren Leuten zu tun haben muß, um seinen Platz in der Welt auszufüllen! Das mußt du besser wissen und wirst schon nicht zu kurz kommen! Darum ist mir nicht bang! . . . sondern um dich selber – um dein Inneres – meine ich, Erich – was aus dem schließlich wird . . .«

Ihr Bruder warf ihr einen mißtrauischen Blick zu.

»Ich hab' schon oft darüber nachgedacht, Erich . . .« fuhr seine Schwester fort, »ob du nicht einmal würdest dafür büßen müssen, daß du absolut nicht im stande bist, irgend einen Menschen wirklich, innerlich zu achten! Es ist ja gewiß nicht allein deine Schuld! Es liegt nicht nur daran, daß du ja von Haus aus ein ungewöhnlich gescheiter Mensch bist, sondern auch an deiner Erziehung. Es war ein Unglück, daß unser Vater gestorben ist, wie wir erst drei und vier Jahre alt waren! Du hast viel zu früh gewußt, daß du Majoratsherr bist! Mir ist es unvergeßlich, wie wir einmal spazieren gingen und Mama und ich dir riefen: ›Komm aus dem Gras heraus!‹ Und du Knirps standst mitten in der Wiese, die dir fast bis über die Ohren reichte, und antwortetest ganz pomadig: ›Ihr habt hier gar nichts zu sagen! Das Gras gehört mir! Wies gehört mir!‹ und fuhrst dabei mit dem Schmetterlingsnetz so ungefähr über den halben Horizont hinaus! . . . Mama hatte schon damals keine Autorität über dich – und nach ihrer unglücklichen zweiten Heirat natürlich . . . Solch ein Stiefvater, der . . .«

»Na – lassen wir ihn!« sagte Erich trocken. »Er ist tot. Was ist denn nun der langen Rede kurzer Sinn?«

»Ich meine: du bist immer verwöhnt worden im Leben. Vom ersten Tag ab, wo du auf der Welt warst, hat man um deine Gesundheit gebetet und gezittert. Wenn du starbst, hatte Mama ja nichts mehr. Immer ist dir alles nach Wunsch gegangen. Auf der Ritterakademie warst du gleich der Primus, in Bonn haben sie dich zum ersten Chargierten im Korps gemacht, als Referendar haben sie dich aussuchen lassen, zu welcher Regierung du wolltest – jetzt wieder nimmt dich Berlin W. mit offenen Armen auf . . . du bist so gewohnt, daß alle Türen vor dir von selber aufspringen und alle Leute dir aus dem Weg treten! . . . Daß du aber dafür verantwortlich bist, was du aus den Leuten machst . . .«

Erich von Wölsick war aufgestanden und tat ein paar Schritte durch das Zimmer. Er gähnte leicht hinter der vorgehaltenen Hand. Das Gespräch langweilte ihn. Es schien auf eine allgemeine Klage seiner Schwester über ihn hinauszulaufen. Das war bei ihr eine ganz neue Torheit. Die sollte sie sich nicht erst angewöhnen.

»Du mußt eben die Leute vor mir warnen, Helme!« sagte er ernsthaft. »Michael!« er drückte auf den Knopf! . . . »Punkt fünf Minuten vor halb Acht muß ich fahren . . . entschuldige!« er wandte sich, während der Diener verschwand, wieder an seine Schwester. »Aber zu spät kommen bei einem Diner wird einem bekanntlich nie verziehen!«

»Wo bist du denn eingeladen?«

»Bei Neerlages!«

Sie machte eine unwillkürliche Bewegung. Dann frug sie anscheinend leichthin: »Viel Leute?«

»Ja, wahrscheinlich! Gott sei Dank ist es ein Herrendiner! – da wird man wenigstens satt . . . lauter Bankgrößen . . . Kohlen-, Eisen-, Kupfer-, Kalimenschen . . . Geld, sag' ich dir, Helme . . . Geld . . .«

»Also an Damen nur Frau und Tochter . . .«

»Nur Frau und Tochter.«

Die beiden Geschwister schwiegen. Plötzlich lachte Erich von Wölsick hell auf.

»Helme! . . . Du machst so ein unendlich kluges Gesicht. Das machen offenbar alle Frauen, wenn sie denken, sie haben so was glücklich herausgebracht!«

»Ich habe vorläufig noch gar nichts gesagt!«

»Aber gedacht – Helme – gedacht! Man konnte förmlich hören, was du dachtest!« Ihr Bruder setzte sich ihr wieder gegenüber, schlug ein Bein über das andere und fuhr, die Zigarette in der Hand, gleichmütig fort: »Siehst du: wie so ein Leutnant, der mit Zittern und Zagen in Helm und Epaulettes anklopft, um sich Braut und Mitgift zu holen – das hab' ich eben nicht nötig! Und das ist das einzige, was solch einem alten Millionär imponiert, daß man sein Geld gar nicht braucht. Das erschreckt ihn! Das kann er sich anfangs gar nicht vorstellen, daß ich zum Beispiel zu dem alten Neerlage sage: ›Verehrter Herr Generalkonsul . . . auf eine Mitgift verzichte ich! Ich bin reich genug, um meiner Frau selber jeden in meinen Kreisen üblichen Komfort zu gewähren! Aber geben Sie mir Gelegenheit zu einer Tätigkeit! Dann verdiene ich noch viel mehr und werde deshalb umsoweniger jemals Ansprüche an Ihren Beutel stellen‹ – das ist die Art, Helme, wie man Teilhaber an einer Weltfirma wird und sich nichts dabei vergibt . . .«

So ruhig er sonst war, der Gedanke hatte ihn unwillkürlich erregt. Er schritt wieder rasch in dem Zimmer auf und nieder. Er bereute nicht, es seiner Schwester gesagt zu haben. Es dachten sich doch schon zu viele Leute ihr Teil über seinen Verkehr in dem Neerlageschen Haus in der Tiergartenstraße. Davon hatte auch Frau von Teichardt schon genug gehört, denn nun frug sie schnell: »Also es ist wahr: du willst Fräulein Neerlage heiraten!«

»Vielleicht! . . . wenn sie mich nimmt . . .«

»Weißt du das denn noch nicht?«

»Na . . . ich will jedenfalls vorher meiner Sache sicher sein! Ich gehöre nicht gern zu den Leuten, die mit einem Korb am Arm abziehen und – offen gestanden, Helme, ich kriege keinen Korb, weder von ihr noch von den beiden Alten – das haben mich Freunde des Hauses schon im Vertrauen erraten lassen – ich brauche mich nur noch zu erklären . . . und das kann ja sehr bald sein . . .«

Er warf einen Blick durch die angelehnte Tür in sein Toilettezimmer nebenan, um sich zu überzeugen, daß da Frack, Weste und weiße Binde bereit lagen – alles andere zur Gesellschaft Nötige hatte er bereits nach dem Bade angelegt – und fuhr dann ruhiger fort: »Warum du dabei so versteinerte Augen machst, Helme, verstehe ich nicht. Das ist eben eure Enge! In allen unseren Kreisen noch! Unser Geschlecht ist sechshundert Jahre alt! ich erwerbe mir nur ein Verdienst, wenn ich seinen Reichtum vermehre!«

»Das meine ich auch nicht!« sagte seine Schwester. »Aber es ist so charakteristisch für dich, daß du immer nur von der Firma Neerlage sprichst . . .«

»Firma ist es gar nicht! . . . der alte Neerlage ist doch Teilhaber der Charlottenburger Bank, mindestens anderthalbdutzendfaches Aufsichtsrats-Mitglied . . . und . . .«

»Also gut . . . daß du immer von dieser Bank sprichst und nie von dem Fräulein Neerlage selber . . .«

»Ach . . . das ist doch so ein vernünftiger Mensch!«

Weiter sagte Erich von Wölsick von ihr zunächst nichts. Er lächelte wieder mit der Zufriedenheit eines Mannes, der eine wichtige glücklich begonnene Sache ebensogut zu Ende zu führen im Begriffe steht. Endlich hub er an: »Ich bilde mir natürlich auch nichts Unnötiges ein. Wenn ich ihr ja auch selbstverständlich nicht direkt mißfalle, so ist es doch mehr eine Verstandesheirat . . .«

»Von deiner Seite? Das glaube ich dir aufs Wort!«

»Nein. Bei ihr auch! Sophie Neerlage . . . – so wie sie ist, wird sie in gewissem Sinn allen Problemen des Lebens nur mit der Vernunft beikommen – unwillkürlich – auch der Ehe. Sie ist nun einmal eine innerlich sehr gleichmäßige und überlegene Natur, bei all ihrer Lustigkeit . . .«

»Nun . . . dann paßte sie ja zu dir . . .«

»Das hoffe ich!«

»Aber sie muß doch ganz bedeutend viel jünger sein wie du!«

»Sie wird im Januar sechsundzwanzig . . . Siehst du, das ist doch auch ein Beweis: wenn ein Mädchen mit dem Geld und dem Verkehr – und ihrem sehr angenehmen Äußern dazu – so lange ledig bleibt – dann ist sie kein gewöhnlicher Mensch – dann weiß sie schließlich sehr genau, was sie tut . . . und nun die Eltern . . . immerhin . . . wenn schon die Ahnenreihe ihr Loch kriegt – die Neerlages sind doch eine alte gute Patrizierfamilie, ursprünglich Pastoren aus Westfalen . . . wissen bis zum Ur-Urgroßvater hinauf Bescheid . . . ganz nett . . . kurz . . . ich glaube, ich bin da auf den rechten Weg gekommen – immer vorausgesetzt, daß es glückt . . . man soll nichts berufen . . .«

»Nein!« sagte Frau von Teichardt sehr ernst.

»Und wenn ich abergläubisch wäre, hätte ich überhaupt lieber nichts davon verraten, solange es noch im Werden ist . . . was machst du denn für ein Gesicht, Helme . . .?«

Seine Schwester rückte sich auf dem Stuhl zurecht. »Ich danke dir für dein Vertrauen!« sagte sie. »Aber nun erlaube mir ein paar Worte! im Auftrag von Mama. Sie hat mir aus Sommerwerk geschrieben und mich gebeten, es an ihrer Stelle zu tun . . . angenehm ist mir's nicht . . .«

Erich von Wölsick stand vor ihr und rang in komischer Verzweiflung die Hände.

»Was ist denn das nur heute mit dir für eine Druckserei, Helme! . . . Komm doch heraus mit der Sprache . . . ich beiße dich doch nicht! . . . Worum handelt es sich denn?«

»Um Frau Hauptmann Ansold!«

Im selben Augenblick verschwand der lässig liebenswürdige Ausdruck von den Zügen des anderen. Sie umwölkten sich. Sie wurden hart und verdrossen. Er versetzte schroff: »Seid so gut und laßt mich damit in Ruhe, du sowohl wie Mama! Ich habe die ganze Geschichte, weiß Gott, schon oft genug bereut. Es hat mir nachträglich vieles darin leid getan. Aber das Geschehene läßt sich nicht ändern. Es liegt nun einmal hinter einem!«

»Ja – das ist deine Lebensmaxime! Was dir unbequem wird, hört auf, für dich zu existieren! Sehr einfach! aber daß . . .«

Erich von Wölsick machte eine ungeduldige Handbewegung. »Verschone mich bitte mit deinen Strafpredigten!« sagte er finster, »erstens hast du keine Legitimation dazu und zweitens verstehst du das nicht! Es gibt Fälle im Leben, wo eine gewisse Grausamkeit in Wahrheit eine Wohltat für beide Teile bedeutet, weil sie eine unhaltbar gewordene Sachlage am raschesten und sichersten löst . . .«

»Und wie bitter weh das dem andern tut, daran denkst du nicht!«

Erich von Wölsick ging ärgerlich im Zimmer auf und nieder. Seine Schwester merkte, wie peinlich ihm die Erwähnung dieses Zwischenfalls vom vorigen Sommer war, und wie viel schwerer, als sie geglaubt hätte, der doch noch auf seinem Gewissen lastete.

». . . als ob ich mir keine Vorwürfe gemacht hätte,« versetzte er endlich, »ich war überhaupt unbesonnen in der ganzen Sache, von Anfang bis zu Ende! . . . das gebe ich alles zu! aber was sollt' ich denn nun machen? . . . es blieb doch nur der eine Weg!«

»Schön! dadurch ist für dich die Sache aus der Welt! aber die junge Frau . . .!«

»Mein Gott . . . die wird allmählich ihre Ruhe auch wiederfinden! oder hat es vielmehr schon!«

»Woher weißt du denn das?«

»Dessen bin ich sicher! sonst hätte ich doch nicht so gehandelt!«

»Dessen bist du gar nicht sicher, sondern du hast dir einfach nicht die Mühe genommen, darüber nachzudenken, was aus ihr wird! Das hätte dir unbehaglich werden können – da wären dir peinliche Bilder gekommen – so was liebst du nicht – also dekretierst du einfach: ›Frau Ansold verhält sich in Zukunft so und so! denn das ist mir am bequemsten!‹ . . .«

»Weißt du etwa das Gegenteil?«

»Ja.«

»Wieso?«

Er trat näher auf seine Schwester zu. Sie kreuzte die Arme über der Brust, sah ihn fest an und sagte langsam, in dem Vollgefühl ihrer Überlegenheit und einem inneren Triumph, ihn endlich einmal demütigen zu können: »Da ist Mamas Brief. In dem steht alles! ich lasse ihn dir da, damit du ihn nachher noch einmal durchlesen kannst. Frau Ansold hat schon in der ersten Hälfte September, also vor gut sechs Wochen sich von ihrem Mann getrennt und will um keinen Preis zu ihm zurück. Er hat mit ihr gesprochen. Umsonst! Er hat ihr einen Monat Bedenkzeit gegeben. Umsonst. Er war wieder bei ihr. Umsonst. Sie bleibt dabei, sich scheiden zu lassen . . . das weiß nun schon die ganze Garnison und die Nachbarschaft.«

»Ja . . . um Gottes willen . . .« Erich von Wölsick setzte sich auf den nächsten Stuhl und griff sich mit der Hand an die Stirn. »Da müßte ich aber doch der erste sein, der das wüßte! Das hätte sie mir doch geschrieben! mir wurden doch alle meine Briefe nach Schottland nachgeschickt! . . . es war nie eine Zeile von ihr darunter.«

»Nun eben! es scheint, daß sie, nachdem du nichts mehr hast von dir hören lassen, dir auch nichts mehr mitzuteilen hat. Erklären kann ich es auch nicht. Ich kenne sie ja gar nicht. Aber getan hat sie's! fort ist sie! das steht fest!«

Es entstand eine Pause. Endlich fing Erich von Wölsick halblaut: »Wo ist sie denn hin?«

»Hierher, nach Berlin! Du kannst ihr jeden Tag auf der Straße begegnen.«

Er zuckte zusammen.

»Sie hat eine Verwandte hier!« fuhr die Geheimrätin fort. »Ein altes Fräulein von Kritzing, die Vorsteherin einer höheren Mädchenschule. Bei der hat sie eine Stelle als Sekretärin inne, sitzt tagsüber im Bureau und führt die Korrespondenz mit Eltern und Schulbehörden und was weiß ich und wohnt auch dort und lebt ganz eingezogen und wartet, daß ihr Mann in die Scheidung willigt, wozu er sich offenbar vorläufig noch nicht entschließen kann. Und du bist an allem schuld – und die Tragödie spielt sich kaum eine halbe Stunde von dir entfernt ab, und du sitzt da und rauchst Zigaretten und merkst von nichts!«

»Mir hat niemand etwas gesagt!« Erich von Wölsick sprang wieder vom Stuhl auf und durchmaß in langen, von steigender innerer Unruhe beflügelten Schritten das Zimmer von einem Ende bis zum anderen. Seine Schwester sah, wie er an sich halten mußte, um seine Erregung zu unterdrücken, und doch merklich mit den Fingern zitterte, während er den Brief aufhob, einen Blick hineinwarf und ihn wieder fallen ließ, und sie versetzte: »Mit den vielen Anklagen und Betrachtungen, die Mama darin schreibt, wollte ich dich nicht behelligen. Darum las ich ihn nicht vor. Es handelt sich ja nur um die Tatsache. Die hat ja natürlich noch keiner dir hinterbracht. Die Nächstbeteiligten erfahren ja so etwas immer später als alle anderen Menschen. Das ist eine alte Geschichte. Der Mann soll ja auch wie aus den Wolken gefallen gewesen sein über den Entschluß seiner Frau. Die hat damit euch beide überrumpelt, und ihr scheint sie beide nicht ganz gekannt zu haben. Aber jedenfalls – um Sommerwerk herum ist der Skandal schon fertig. In kurzem schlägt die Geschichte ihre Wellen bis nach Berlin . . .«

»Ach wo!« ihr Bruder stieß es hervor. Er war stehen geblieben und stampfte ein paar Mal in ungeduldigem Zorn auf den weichen Teppichboden. Und wieder ruhiger werdend sagte er: »Und wenn Frau Ansold wirklich hier ist, glaubst du denn, daß sich Berlin darüber aufregt?«

»Berlin? . . . Was heißt Berlin?« Frau von Teichardt zog die Schultern hoch. »Vergiß bitte nicht, daß Frau Ansold einen Mann hat. Dieser Hauptmann Ansold ist, scheint's, ein büffeliger Mensch – langsam, aber furchtbar zäh in allem, was er einmal im Kopfe hat.«

»Ein Dummkopf ist er . . . ich kenne ihn doch!«

»Mag sein! Jedenfalls hat er mehrfach seine feste Absicht erklärt, sich an dich zu halten, wenn seine Frau nicht zu ihm zurückkommt. Du wirst dich also wahrscheinlich in nächster Zeit mit ihm auseinanderzusetzen haben, und die Folgen einer solchen Auseinandersetzung können sehr leicht die Öffentlichkeit in Berlin beschäftigen!«

Sie deutete mit unwillkürlich bangen Augen die Möglichkeit eines Zweikampfs an. Erich von Wölsick lächelte dazu nur höhnisch. Und sie fuhr fort: »Des ferneren: Frau Ansolds Vater ist der Generalmajor z. D. von Dolmar, lebt auch, wie du wohl weißt, hier in Berlin. Überall sehr bekannt. Ich glaube nicht, daß der alte Herr die Hände in den Schoß legen und sich die Sache so mit ansehen wird. Seine vier Söhne stehen alle in der Armee und Marine, zwei davon in Berlin – da hast du Offiziere über Offiziere gegen dich . . . Du bist selbst preußischer Offizier und mußt Farbe bekennen – du wirst wohl auch als Zeuge im Scheidungsprozeß vernommen werden – und wie du dich aus alledem herausziehen willst, ohne daß etwas in die Öffentlichkeit dringt und deine Verlobungszirkel stört, das ist mir ein Rätsel!«

Frau von Teichardt konnte sich nicht erinnern, ihren Bruder je wirklich betroffen gesehen zu haben. Aber jetzt saß er da, hatte die Hände in den Taschen und starrte vor sich hin, mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich seine peinlichste Überraschung, seinen Ärger, seine vorläufige Ratlosigkeit erkennen ließ. Und die Geheimrätin hatte an sich die Genugtuung, daß auch er, der Schlaue, Kühle, Glatte einmal in die Falle gegangen war! Aber andererseits hing ihr eigenes Schicksal und das ihrer Familie zu eng mit dem des Bruders und Majoratsherren zusammen, und so fing sie, da er kein Wort redete, von neuem an: »Ja. So stehen die Dinge, Erich! und was nun weiter geschehen soll, das muß wohl überlegt werden. Wenn du mich oder meinen Mann irgendwie brauchst – du weißt: du findest uns immer bereit, dir zu raten oder zu helfen, so gut wir können . . .«

»Ich hab' noch nie einen Menschen um Rat gefragt!« sagte ihr Bruder. »Und zu helfen pflege ich mir selber . . .«

»Ja . . . aber diesmal bist du doch so in der Geschichte darin, Erich . . .«

Sie hatte das übereifrig gesprochen. Er erhob sich plötzlich.

»Sei so gut und dränge dich nicht auf!« versetzte er so schroff, daß sie sich auf die Lippen biß und verstummte. Und zugleich murmelte von der sich leise öffnenden Lauschertür her Michael, der Kammerdiener: »Gnädiger Herr, es ist sieben Minuten vor halb Acht!« Und Erich von Wölsick stieß einen halblauten Ruf des Schreckens aus und eilte mit einem flüchtigen ›Entschuldige!‹ gegen seine Schwester in das Toilettenzimmer. Zu verwünscht, jetzt gerade in Gesellschaft zu müssen! Er war so wütend und ungeduldig, daß ihm das Knüpfen der Krawatte nicht gelang. Michael nahm ihm schließlich die Schleifen aus der Hand und half ihm in Weste und Frack und lief mit dem Kölnisch Wasser-Zerstäuber hinter ihm her in den Flur, wo Frau von Teichardt bereits stand.

Sie war sehr verschnupft und antwortete auf die Fragen ihres Bruders, ob sie ihn in seinem Automobil begleiten wolle, nur kurz: »Danke! ich hab' die Droschke!« reichte ihm die Fingerspitzen und stieg in ihren Wagen und dachte sich, während der davonrumpelte: Es ist schon wahr, man soll nie zu geschäftig sein!

Gleich darauf leuchteten draußen vor den Scheiben zwei weiße Rundaugen auf, ein Automobil überholte in rasendem Lauf die Kutsche, und Frau von Teichardt erkannte die Gestalt ihres Bruders, der, vornübergebeugt, den Zylinder in die Stirne gedrückt, die Hände in den Taschen des Paletots, in dem offenen Gefährt saß.

Im nächsten Augenblick war das über den Königsplatz hin verschwunden. Es bog in den nächtigen Tiergarten ein, die Kaffeebuden der Richard Wagnerstraße tauchten auf, der weite dunkle Spiegel der Spree – der Lichterschein von Moabit, das einsame Schloß Bellevue – Erich von Wölsick sah nicht rechts und links. Er ließ sich den kalten Herbstwind um die Ohren pfeifen, und in seinem sonst so klaren Kopf wirrten sich die Gedanken – sie tanzten in langen, höhnenden Reihen – er konnte sie nicht sammeln – deutlich bewußt blieb ihm nur eine ohnmächtige Wut, daß ihm gerade jetzt, in der entscheidendsten Wendung seines Lebens, das Schicksal solch einen Knüttel zwischen die Beine warf – gerade von einer Richtung her, wo er es am wenigsten erwartet! Da schien alles schon so ruhig und abgetan. Jakobe Ansold war eine freundlich schmerzliche, ein bißchen wehmütige, ein bißchen lächelnde Erinnerung, wie ein Bild von einer Reise, die man gemacht – aus einem Lande, in das man nie wiederkehrt – an das man nur zuweilen später, in verlorenen Stunden denkt und sich freut, daß man auch das vom Schicksal mitgenommen hat. Und nun stand sie auf einmal wieder lebendig vor ihm da, und er frug sich vergeblich in seiner düstern Laune, in Reue und Ärger über das, was er da angerichtet: ›Warum hat sie's denn nur getan . . .?‹

Er schüttelte immer wieder den Kopf. In dem war ein Wirrwarr von Stimmungen und Gedanken, und er hatte eine wahre Angst, daß er in dieser Verfassung unter fremde Leute würde treten und gleichgültiges Zeug mit ihnen würde reden müssen. Er wäre viel lieber durch die Nacht weiter gefahren, hinaus ins Freie, bis in den Grunewald, wo er so oft in diesem Frühjahr die Neerlages in ihrer Villa am Wannsee besucht hatte. Damals hatte sich, als Abschluß des Gesellschaftswinters, der Ernst der Zukunft zwischen ihn und Sophie Neerlage gelegt, und es war, als sie sich trennten, – er, um zum Regiment, sie, um mit ihren Eltern nach Ostende zu gehen – eine stillschweigende Vereinbarung zwischen ihnen gewesen, sich im Sommer noch einmal alles zu überlegen und dann im Herbst die Entscheidung fallen zu lassen. Und da war schon das prunkvolle Neerlagesche Haus, dessen Lichterfülle weithin von der Tiergartenstraße her durch das kahle Geäst des Parkes schimmerte. Und ehe er sich recht von seiner Betäubung erholt – ihm schien, er sei eben erst in dieser Minute in sein Automobil gestiegen – hielt dieses vor dem Portal – Diener sprangen herzu und halfen ihm heraus – und er ging nachdenklich, mit gesenktem Kopf, in die Vorhalle. Sonst war er hier schon in einer halben Siegerstimmung eingetreten, ein Vertrauter des Hauses und hoffentlich bald mehr. Heute zum ersten Mal kam er sich wie ein Eindringling vor.

Mitten in dem Saal, in den er trat, stand Sophie Neerlage. Er wußte, daß sie jedes Jahr ein paarmal nach Wien fuhr oder ihren Vater auf einer Geschäftsreise nach Paris begleitete, um sich dort ihre Toiletten anfertigen zu lassen, Roben wie die, die da in schweren, weißschillernden Seidenfalten an ihrer ebenmäßigen, beinahe überschlanken Gestalt herniederfloß. Sie wandte ihm den Rücken zu, während sie mit einem Haufen Herren, der sie umdrängte, sprach. Er sah das Diamantengeglitzer in ihrem reichen hellbraunen Haar, das Schimmern des Perlenkolliers um ihren weißen Nacken und dachte unwillkürlich wie stets, wenn er sie erblickte, daß sie mit ihrer hohen, einen ganzen Salon beherrschenden Erscheinung genau dem Bild entsprach, das er sich bisher für die Zwecke seiner Zukunft und seiner Karriere von seiner Frau gemacht.

Jetzt drehte sie im Geplauder das Haupt nach ihm und nickte ihm vertraulich zu, während er zuerst ihre Eltern begrüßte. Ihre ausdrucksvollen Züge waren nicht eigentlich schön, aber fesselnd, mit kühlen graublauen Augen. In denen war der beinahe herausfordernde Gleichmut der reichen Erbin. Und dazu stimmte das leise ironische Lächeln, das zuweilen, ohne daß sie selber es wußte, beim Reden und Zuhören im Gesellschaftskreise um ihre Lippen spielte.

Sie achtete nur wenig auf die Erzählung einer alten, vor ihr stehenden Exzellenz und sah zu Erich von Wölsick hinüber, der ihrer Mutter die Hand küßte und dann den jovialen Händedruck ihres Vaters, des Generalkonsuls empfing, der, klein, korpulent und kräftig, mit weißem Vollbart und elfenbeinerner Glatze zwischen seinen Gästen stand und meinte: ». . . 'nen Abend, lieber Herr von Wölsick . . . na . . . da sind Sie ja! . . . ich dachte schon, Sie hätten's verschwitzt . . .«

Erich von Wölsick murmelte ein paar Worte, noch ganz betäubt. Und während dessen stand auf einmal Sophie Neerlage neben ihm, reichte ihm unbefangen die Hand und sagte, während er sich über die beugte, lachend: »Guten Abend, Herr von Wölsick! Wissen Sie, was Exzellenz,« sie wies dabei auf den alten schwerfälligen Würdenträger, der ihr gefolgt war, »mich eben frug, wie Sie hereinkamen? ›Wer ist denn der junge Herr da ohne die vielen Orden? Das muß ja etwas ganz Besonderes sein!‹«

Die anderen um sie, die grauköpfigen Geheimen Kommerzienräte und Generaldirektoren, stimmten in die Heiterkeit ein. Auch Erich von Wölsick zwang sich dazu. Er ärgerte sich, daß er es tat, und es tun mußte, nachdem er ja nun einmal hier war. Er hätte zu Hause bleiben müssen und die Aufregung und Bestürzung in sich ebben lassen. Es wäre schließlich gar nicht so schlimm gewesen, unter irgend einem Vorwand abzusagen. Gerade bei einem Herrenessen. Da verursachte ja die Platzfrage keine solche Schwierigkeiten. Besser hätte es sich jedenfalls gemacht, als daß er nun vor Sophie Neerlages Augen schweigsam und zerstreut dastand – er, der sonst so vollkommen Herr seines Willens und seiner Stimmung war.

Aber nun konnte er nicht wieder weg und saß bei Tisch zwischen zwei Herren, deren Namen er bei der Vorstellung nicht einmal verstanden hatte und von denen jeder, seine Unergiebigkeit bemerkend, nach rechts und links zu seinem anderen Nachbar sprach, und vermochte kaum etwas zu essen, und hörte ganz benommen um sich herum das gedämpfte Gemurmel, in dem die hellen Stimmen der Frauen fehlten, das Gerede über Reichsbankdiskont und Kurse und Emissionen, das Schlürfen und leise Tellerklappern, und sah die vielen Glatzen, die Kettchen und Sterne unter weißen Schlipsen, ein paar breite farbige Bänder quer über steifen, porzellanfarbenen Hemdeinsätzen – und schaute stumm und mißmutig zu Sophie Neerlage hinüber. Sie war eigentlich doch schön – sie hatte wenigstens alle Mittel, sich schön zu machen – eine Kleidung von reichster Einfachheit – den erlesensten Schmuck – die tannenschlanke, hohe Erscheinung – und sie benutzte diese Hilfen und sah blendend aus – eine Frau, die, wo sie auch erschien, den Mittelpunkt bildete. Gewiß, so mußte seine Frau sein. Es gab vielleicht ein paar Kleinigkeiten an ihr zu ändern. Sie scherzte und lachte ein bißchen zu laut mit den alten Herren um sie herum – sie hörte oft nicht recht zu, wenn man sprach, sondern war mit den Augen wo anders und mit den Gedanken an einem dritten Ort – sie urteilte oft trotz ihrer Klugheit obenhin – aber wie sollte sie denn auch anders sein nach acht Jahren Ausgehens? Das bißchen Nervosität und Fahrigkeit gab sich von selber.

Und doch wunderte er sich, wie er überhaupt dazu kam, heute Ausstellungen an ihr zu machen. Das war, weil er seine Gedanken von Jakobe Ansold nicht los brachte. Alles, was er um sich hörte, bezog er wider seinen Willen auf sie und diesen unglücklichen Zwischenfall. Neben ihm sprachen sie von irgend einem Geschäft, und ein dicker alter Herr sagte kauend: »Unter uns: er ist ein dummer Kerl und bleibt's« – und Erich von Wölsick fuhr es durch den Kopf: Natürlich ist der Hauptmann Ansold ein Dummkopf! Aber solche Leute sind zäh! – und als gegenüber jemand versetzte: »I wo – die Generalversammlung wird ganz ruhig verlaufen!« hatte er sofort die Vorstellung: Wird der alte General, Jakobes Vater, sich ruhig verhalten oder auch mit seinen Söhnen in die Geschichte mischen: So oder so . . . es kommt von allen Seiten . . .

Schließlich mußte er sich beherrschen. Er konnte nicht immer so stumm dasitzen und verwickelte seinen Nachbar zur Rechten in ein Gespräch, einen großen, blonden, schmalschultrigen Mann mit einem weichen, regelmäßigen Gesicht und träumerischen blauen Augen, offenbar auch ein Mitglied der Hochfinanz. Denn er redete über den Tisch hin etwas vom Textilexport nach den Vereinigten Staaten – aber mit einem gewissen nachsichtigen Lächeln, als komme es eigentlich wenig darauf an, und gleich darauf von einer Vorlesung über Frührenaissance an der Berliner Universität, so als ob er sie selber hörte – und von einer Neuerwerbung der Nationalgalerie. Und der Herr zur Linken Erich von Wölsicks nannte ihm auf seine halblaute Frage den Namen des anderen: Dr. Schmidt von Wildenwarth, aus einer sehr reichen, kürzlich erst geadelten Eisen-, Erz- und Kohlenfirma mit dem Sitz in Brünn – und er deren Berliner Vertreter, oder eigentlich mehr ein unabhängiger, seinen Privatstudien und künstlerischen Neigungen lebender Mensch! Seine Gemäldesammlung in seiner Villa in Wannsee, gerade neben Neerlages, sei bekannt . . . teure Sachen darunter . . . davon verstände er etwas . . .

Erich von Wölsick sagte: »So, so!« und vergaß es sofort wieder und wartete ungeduldig, bis endlich die Tafel aufgehoben wurde und man sich in den anstoßenden Gemächern verteilte. Und während er da, die Kaffeetasse in der Hand, zwischen den anderen Herren stand und um ihn die ersten Zigarrenwolken in die Luft stiegen, kam plötzlich der Trotz über ihn. Die beste Deckung war doch der Hieb. Wie – wenn er gleich sein Glück versuchte – heute abend noch – bei Sophie Neerlage?

Sein Herz begann zu klopfen. Er stellte seine Tasse behutsam auf einen Kaminsims, legte seine Zigarette weg, und ging dann leise, förmlich auf den Fußspitzen, als dürfe er kein Geräusch machen, über den dicken Teppich in den großen Salon hinüber.

Dort hatte er vorhin den beiden Damen des Hauses nach der Mahlzeit die Hand geküßt. Jetzt kam allmählich die Zeit, wo sie sich zurückzogen und die Herren unter sich ließen. Frau Neerlage saß noch da, aber Sophies schlanke, hohe Gestalt sah er nur noch wie einen weißen Schimmer in dem anstoßenden halbdämmrigen Boudoir. Sie ging ganz langsam, zögernd, durch das hin, so als ob sie etwas suchte, und er durfte sich nicht beeilen, ihr zu folgen. Das wäre aufgefallen. Erst nach ein paar Minuten war er wie unabsichtlich auch an die Schwelle des kleinen Raums geraten und schlenderte, anscheinend um ein Bild an der Wand zu besichtigen, hinein und ging, da er sie nicht mehr fand, weiter durch die folgenden, ganz menschenleeren Gemächer.

An deren Ende war nach dem Garten hinaus eine Bücherei. Da stand sie an einem der geöffneten, kostbar geschnitzten Rokokoschränkchen und rückte ein paar Bände hin und her. Oder tat wenigstens so. In Wirklichkeit erwartete sie ihn. Das merkte er sofort und sie wußte, daß er es merkte. Aber das brachte sie nicht in Verlegenheit. Sie sah ihn ruhig aus ihren kühlen, graublauen Augen an, in einer halben Frage: Was tust du denn da. Bis hierher verirren sich doch sonst die Gäste nicht . . . – und er trat näher zu ihr hin, die ihm hier unter vier Augen, in dem matterhellten Gemach, in der Kostbarkeit ihres Schmuckes und Kleides, mit ihrem wunderbaren Wuchs, ihren weißen Schultern, so begehrenswert wie noch nie erschien – nicht nur als die reiche Erbin, sondern als die Frau – und so sagte er, in einem innerlichen Ärger, daß er doch wohl oder übel mit einer Gleichgültigkeit anfangen mußte: »Darf ich herein? oder schicken Sie mich wieder fort?«

Er fühlte wohl: er hätte jetzt, in dieser Gunst des entscheidenden Augenblickes gleich damit beginnen sollen: »Ich bin Ihnen gefolgt . . . ich möchte Ihnen etwas sagen, was mir schon lange auf den Lippen schwebt . . .« – aber dazu fehlte ihm der Entschluß. Gerade heute, wo er ihn am nötigsten brauchte! Während er sprach, hatte er die sonderbare Vorstellung, als stände Jakobe Ansold hinter ihm und hörte seine Worte mit an, und dadurch kamen diese unsicher heraus, und es fehlte ihnen an Wärme und Klang.

Sophie Neerlage war plötzlich etwas blaß geworden, das sah er deutlich – aber sie antwortete ganz gelassen: »Ja . . . ich gehe aber gleich selber weg, Herr von Wölsick . . . hinauf in mein Zimmer! Ich wollte mir bloß noch etwas zum Lesen für den langweiligen Abend mitnehmen . . .!«

Dabei wies sie auf das Buch, das sie rasch aus der Bibliothek gelangt hatte. Er schaute es an und lachte: »Ach wo! . . . der zweite Band von Buckles Geschichte der Zivilisation in England . . . das werden Sie doch nicht lesen! . . . Kommen Sie . . . wir setzen uns lieber und plaudern noch ein bißchen . . .«

Auch sie lachte. Die flüchtige Röte, die dabei jetzt wieder ihre Wangen überlief, ließ sie in ihrer leichten Verlegenheit auffallend hübsch und wie ein ganz junges Mädchen erscheinen. Sie sagte kein Wort, sondern gehorchte ihm und nahm ihm gegenüber Platz. Dabei flog ihr Auge unwillkürlich suchend durch die Vorderräume, ob da auch niemand käme und sie störte. Und dieser eine Blick, diese einzige halb unbewußte Kopfbewegung verriet ihm genug. Die hieß, daß sie jetzt seine Werbung erwartete. Und daß sie sie, weil sie sie erwartete, auch annahm . . .

Dabei war durch ihre beiderseitige Heiterkeit schon das Eis gebrochen. Er konnte so leicht jetzt in unbefangenem und vertraulichem Ton fortfahren, und dabei zuckte es ihm durch den Sinn: Und in den nächsten Tagen kommt dann der Skandal – der Hauptmann Ansold schießt sich mit mir – läßt sich von seiner Frau scheiden – und mein Schwiegervater in spe sagt mir: »Verehrtester . . . solche Geschichten regelt man, ehe man als Freier auftritt!« – Und dieser Gedanke lähmte ihn förmlich, und er begriff gar nicht, wie er, Erich von Wölsick, so trocken und hölzern sagen konnte: »Ich bin so froh, daß wir uns wieder sehen können, mit Briefen – das ist doch immer nur so ein Notbehelf.«

»Ja. Aber ich bleibe dieses Jahr nicht lange in Berlin!«

Er schaute sie fragend an. Sie fuhr fort: »Gleich nach Weihnachten will ich weg, zu meinen Verwandten nach Petersburg. Und da einmal einen rechten russischen Winter mitmachen.«

»Da haben Sie sich aber rasch entschlossen!«

»Erst in diesen Tagen.«

»Und warum eigentlich, gnädiges Fräulein?«

Sie zuckte die Achseln.

»Es ist doch einmal was anderes! Berlin habe ich doch nun wirklich schon genossen. Es wächst da schon eine ganz neue Generation heran. Ich fühle mich dazwischen schon ein bißchen einsam, wie ein Märchen aus alten Zeiten . . .«

Es war drollig, wie sie in der blühenden Jugendfrische ihrer fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre von sich schon halb wie von einer alten Jungfer sprach. Aber freilich: ihre gleichaltrigen Freundinnen waren wohl fast sämtlich schon unter der Haube. Man mußte Sophie Neerlages Geld und Erscheinung haben, um nicht allmählich von dem Nachwuchs beiseite gedrängt zu werden, und sie lachte und sagte: »Nein! ich spare mir meinen achten Berliner Winter gerne. Ich komme auf der Rückreise von Rußland nur eben auf eine Stippvisite hierher – so Anfang März, wenn in Petersburg die große Fastenzeit anfängt, und fahre dann gleich mit Mama weiter nach der Riviera.«

Und Erich von Wölsick begriff: Sophie Neerlage hatte nicht Lust, den ganzen Winter hindurch zu warten, wie es zwischen ihr und ihm werden sollte. Sie wünschte, daß er sich im November, spätestens Dezember, erklärte. Und wenn nicht, dann hatte sie schon vorher für einen guten Grund gesorgt, ein paar tausend Kilometer zwischen sich und ihn zu legen, statt ihm jede Woche einmal irgendwo in Gesellschaft begegnen zu müssen.

Sie sahen sich stumm und halblächelnd an. Beide waren beklommen. Und aus diesem schweren Schweigen zwischen ihnen heraus war es Erich von Wölsick klar, daß er eigentlich gar nicht mehr zurück konnte! Jetzt oder nie mußte er sie fragen, ob sie seine Frau werden wollte. Er las deutlich die Erwartung in ihren Zügen – beinahe schon ein Staunen, als er doch noch nicht damit herauskam, sondern noch einmal anhub, sie nach Petersburg zu fragen und ihren Verwandten dort, und ob sie sich nicht vor der nordischen Kälte fürchtete. Er bekam von ihr bereitwilligen Bescheid – sie sprachen eine Weile hin und her – leere Worte statt der paar bedeutsamen, seiner Frage und ihres »Ja«. Denn ein »Ja« wurde es. Bisher hatte er sich immer noch ein wenig davor gefürchtet, einen Korb zu bekommen. Das hätte ihr schon ähnlich gesehen. Sie hatte es schon ein paarmal früher so gemacht – mit einem Freier einen Winter über gespielt wie die Katze mit der Maus und ihn dann fallen gelassen. Aber in dieser Stunde sah er zu genau an ihrer Blässe, an ihrem unruhig von ihm in die Ecken abschweifenden Blick, ihrem unregelmäßigen Atem, daß ihm dies Schicksal nicht drohte. Sie war entschlossen, ihn zu heiraten . . .

Und ein leises Triumphgefühl kam über ihn. Also er und kein anderer, keiner von den vielen, die vor ihm ihr Glück versucht! Freilich, sie wählte ihn sich einfach aus der großen Schar als den Geeignetsten für eine Vernunftehe. Liebe sprach dabei nicht mit. Vielleicht war sie eine viel zu kalte Natur, um überhaupt zu lieben. Es war jedenfalls merkwürdig, daß in diesen ganzen langen Jahren sich nie auch nur das Gerücht einer leisen Schwäche für irgend jemanden an ihren Namen geknüpft hätte. Sie löste als Tochter ihres Vaters das Rechenexempel des Lebens mit dem Kopf, nicht mit dem Herzen.

Es war wieder eine Stockung in dem Gespräch zwischen beiden eingetreten. Von ferne klang gedämpftes Stimmengewirr und Lachen der Herren in dem Salon und aus dem Rauchzimmer. Die Räume vor der Bibliothek waren ganz leer. Nicht einmal ein Diener kam da und störte. Es waren nur sie zwei da. Und Jakobe Ansold. Von dem Gedanken an sie konnte sich Erich von Wölsick nicht befreien. Er hatte einen hilflosen Grimm gegen sie, daß sie ihm diese kostbarste Stunde seines Lebens zerstörte. Denn er las zu deutlich in Sophie Neerlages ruhigem, aber immer seltsameren Blick: ich gab dir die Gelegenheit, warum nutzest du sie nicht aus? was soll das bedeuten? meinst du, ich tue es ein zweites Mal?

Seine Kehle war trocken. Wie verwandelt kam er sich vor. Es war eine unerträgliche Lage und im Zorn, sich daraus zu befreien, raffte er plötzlich alle seine Kraft zusammen, räusperte sich ein paarmal und sagte entschlossen: »Ich hoffe immer noch, Sie gehen nicht nach Rußland, gnädiges Fräulein!«

Ohne zu antworten, holte sie tief Atem und sah ihn schweigend an, die Hände im Schoß. Ihr Blick verwirrte ihn. Er suchte mit dem Auge die Spitze seines Lackstiefels am Boden und fuhr stockend fort: ». . . es könnte doch allerhand geschehen . . . nicht wahr . . .«

Er wollte weiter sagen: ich könnte doch jetzt die Frage wagen, ob Sie mich durch Ihre Hand beglücken wollen? – er ärgerte sich selbst über diese Phrase – es fiel ihm keine bessere ein – es war ja auch gleich – aber er brachte sie nicht heraus – ihm fiel in dieser schicksalschweren Sekunde wieder ein: ich darf jetzt nicht – als anständiger Mensch – denn ich bin nicht frei – ich muß erst wissen, was Jakobe Ansold tut – was ihr Mann tut – ihre Angehörigen tun – ich kann doch nicht als Bräutigam den ganzen Schweif von Menschen hinter mir her in dieses Haus schleppen . . .

Es war so still, daß man deutlich das Tacken der Rokokouhr vom Spiegelpfeiler her hörte. Sophie Neerlage strich sich, ohne ihn anzuschauen, über ihr Kleid, mit einer leichten, unwillkürlichen Bewegung der Ungeduld, als ob sie, wenn er nun nicht bald redete, aufstehen und sich entfernen würde.

Wenn er ihr nun alles beichtete? Jetzt auf der Stelle? und sie erfuhr, daß er im Sommer, statt an die Ehe mit ihr zu denken, mit einer andern angefangen – dann schickte sie ihn fort. Und wenn sie es hinterher erfuhr, dann hatte er ihr etwas verschwiegen, was er ihr hätte sagen müssen, und die Verlobung ging in die Brüche. Es war zum Verzweifeln.

Sie kam ihm nicht zu Hilfe. Sie überließ dies Äußerliche der Werbung ganz seiner Weltgewandtheit und Selbstsicherheit – zwei Dingen, an denen es ihm sonst wahrhaftig nicht fehlte. Sie schwieg und wartete. Nun schon viel zu lange Zeit. Der Zeiger der Uhr rückte vor – die Stimmung verflog – er mußte sich eilen – sonst war es zu spät – und eben wollte er wieder anheben, zu sprechen, da tönten Stimmen – ganz nahe – zwei Herren kamen vom Salon her durch die Zimmerflucht und der eine sagte: »Na schön – wir können ja nachschlagen! aber ich wette mit Ihnen zehn gegen eins, daß . . .«

In diesem Augenblick sah er die beiden und trat schleunigst mit einem betroffen gemurmelten »O Pardon!« wieder von der Schwelle zurück. Aber Sophie Neerlage hatte sich schon erhoben und sagte freundlich: »Bitte . . . bitte . . . hier werden keine Geheimnisse verhandelt, Herr Geheimrat! Sie stören uns gar nicht! Lassen Sie sich ja nicht abhalten. Ich wollte ohnedies eben gehen! Guten Abend, meine Herren! Guten Abend, Herr von Wölsick!«

Sie reichte allen dreien – den beiden Finanzgrößen, wie ihrem Freier – mit gleicher Liebenswürdigkeit die Hand und verschwand durch die Seitentüre, die sie leise, ihre Schleppe aufraffend, hinter sich schloß. Gleich darauf nahm der eine arglose alte Herr geschäftig einen Band des Konversationslexikons aus dem Schrank und sagte: »Im letzten Supplement müssen wir nachschauen . . . so . . . da . . . da haben wir die argentinische Ausfuhrstatistik ganz genau.«

Und Erich von Wölsick stand mitten im Zimmer und wußte anfangs gar nicht recht, was eigentlich geschehen war, und ging schließlich langsam hinüber in den Salon – auch eigentlich ohne einen bestimmten Zweck. Aber hier in der Bücherei hatte er jedenfalls nichts mehr zu suchen, das war ihm klar . . .

Die Zahl der Gäste, unter die er sich mengte, hatte sich schon verringert. Alle Augenblicke verlor sich einer unauffällig gegen die Eingangshalle hin. Auch Erich von Wölsicks blonder Tischnachbar sagte eben lächelnd zu einem Bekannten: »Reich mir die Hand, daß ich mich heimlich drücke . . .« und versetzte dann unter dem Einfahrtstor, während er der Herbstkälte wegen sein weißes Cachenez zwischen Paletot und Hemdbrust schob: »Nun – Sie gehen auch schon, Herr von Wölsick?«

»Ja,« erwiderte Erich von Wölsick kurz. Er hatte es plötzlich da drin nicht aushalten können. Stumm stand er neben dem ihm unbekannten und gleichgültigen Dr. Schmidt von Wildenwarth, und der winkte einer Droschke. »Ich muß schauen, daß ich heim komme! Meine fünf Tyrannen erwarten mich schon! So nenne ich immer meine Frau und meine vier Buben! Kutscher: nach dem Wannseebahnhof. Guten Abend!«

Erich von Wölsick lüftete seinen Hut und ging dann allein seines Weges weiter, die Tiergartenstraße entlang. Er war zornig auf sich, zornig auf die Neerlages, zornig auf Jakobe Ansold, zornig auf die ganze Welt . . . Er war in einer argen Aschermittwochstimmung – so unzufrieden mit sich wie noch nie und all des gleichmütigen, freundlichen Selbstgefühls beraubt, das sonst sein Begleiter im Dasein war.

Ärgerlich schritt er dahin und schaute zum dunkeln, leise regenrieselnden Himmel auf. Und dachte an Hamlet: »So macht Gewissen Feige aus uns allen . . .« und in der Stille der Nacht kam ein düsteres Erstaunen über ihn, daß das bei ihm, gerade bei ihm möglich sei! Er war bisher noch nie auf ernstlichen Widerstand im Leben gestoßen, alles hatte sich seinem Willen gefügt. Er tat, was ihm beliebte. Geschehenes verschwand. Und nun auf einmal – er schüttelte unruhig und fassungslos den Kopf – widerfuhr es auch ihm, daß seine Taten aufstanden und wider ihn zeugten . . .



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