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Herr Wernher und der Kuckuck

Herrn Wernher war groß Leid geschehn
Von einer Ungetreuen,
Nun mochte er nicht die Sonne sehn
Und nicht durch den blühenden Frühling gehn,
Nicht lachen mehr und sich freuen.

»Was frommt mir mein stolzes Ahnenschloß.
Darf ich's mit ihr nicht teilen?
Was frommt mir der Diener und Knappen Troß,
Mein Edelfalk und mein Berberroß?
Kann alles die Wunde nicht heilen.

Am liebsten versteckt' ich mein Herzeleid
Im Schatten der Klostermauern,
Und wär' ich nur dort erst dem Herrn geweiht,
Und trüge der frommen Brüder Kleid,
So dürft' ich in Frieden trauern!« –

Herr Wernher stieg langsam, gesenkt das Haupt,
Zum Stift im Tale hernieder;
Er, dem mit der Liebsten das Glück geraubt,
Schritt traurig den Burgweg, frisch belaubt,
Unter Weißdorn und blühendem Flieder.

Schon blickte das Kloster durch den Tann,
Er sah seiner Pforte Stufen,
Ein Glöcklein hub lockend zu läuten an, –
Was stockte der Fuß dem schreitenden Mann?
Einen Kuckuck hörte er rufen.

Da dacht' er des Brauches, so oft geübt
In seinen Kinderjahren:
»Kuckuck, Prophete, wenn's dir beliebt,
Sag', wieviel Jahr mir zu leben noch gibt
Der Himmel? Möcht's wohl erfahren!«

Und der Kuckuck aus vollem Halse schrie, –
Herr Wernher zählte und zählte.
»O endet dies Jammerleben denn nie?« –
Doch der eifrige Kuckuck weiterschrie,
Bis eins nur an fünfzig fehlte.

Da setzt' sich Herr Wernher am Wegesrand
Zu Thymian und roten Nelken,
Hob sein Haupt und sah in das blühende Land:
»Soll ich wirklich dort hinter der grauen Wand
Nun fünfzig Jahre lang welken?

Soll fünfzig Jahre das Ordenskleid
Mit Fasten und Beten tragen?
Soll fünfzig Jahre ums Herzeleid
Dem Waffenspiel und dem frohen Gejaid
Und der goldnen Freiheit entsagen?«

Und ein Lächeln flog über des Jungherrn Gesicht:
»Kuckuck, hab' Dank für dein Mahnen!
Mir scheint, mit dem Kloster eilt es noch nicht!«
Und er wandte den Blick zum Sonnenlicht
Und schritt heimwärts zur Burg seiner Ahnen.


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