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Siebentes Kapitel.
Die Entführung

Es mochte etwa zehn Uhr sein, und Dick war, gegen den Grabenrand gelehnt, kurze Zeit in einen Dämmerzustand versunken, als Esther, mit einem Paket in der Hand, die Straße heraufkam. Ein instinktives Gefühl, vielleicht auch der ferne, leichte Schritt, erweckten Dicks Lebensgeister, während die Geliebte noch eine ziemliche Strecke entfernt war. Er erhob sich halb und blinzelte verschlafen in die Natur. Es dauerte einige Zeit, bis er seine Gedanken gesammelt hatte. Er war mit einem gewissen verwirrten und kindlichen Gefühl der Freude erwacht, wie ein Mann, der über Nacht ein Vermächtnis empfangen hat. Doch langsam erstarb dieses Empfinden, und plötzlich und überwältigend folgte die Erkenntnis der Wahrheit. Das ganze Erlebnis der verflossenen Nacht stand mit jeder Einzelheit wieder vor seinem Geiste, als sähe er alles unmittelbar in rascher Folge noch einmal an seinem Auge vorüberziehen, und er erhob sich von dem Grabenrand und schritt mit kläglichem Mute seiner Geliebten entgegen.

Mit stetigem festem Schritt kam sie auf ihn zu, das Antlitz zwar bleich, aber sonst allem Anscheine nach vollkommen gefaßt. Und sie zeigte weder Ueberraschung noch Erleichterung noch Freude, ihren Liebsten dort zu finden. Sie reichte ihm auch nicht die Hand.

»Hier bin ich«, sagte er.

»Ja«, erwiderte sie, und dann, ohne Pause oder irgendeine Veränderung in der Stimme, fügte sie hinzu: »Ich will, daß du mich fortbringst.«

»Fort?« wiederholte er. »Wie? Wohin?«

»Heute noch«, sagte sie. »Es ist mir gleich, wohin. Aber ich wünsche, daß du mich fortbringst.«

»Für wie lange? Ich verstehe dich nicht«, stammelte Dick.

»Ich werde nie wieder hierher zurückkehren«, war alles, was sie antwortete.

Unsinnige Worte, ausgesprochen wie diese, mit vollkommener Ruhe in Benehmen und Stimme, üben auf den Geist des Hörers eine doppelte Wirkung aus. Dick war bestürzt. Er erholte sich von seinem Erstaunen nur, um in Zweifel und Unruhe zu versinken. Er blickte auf ihre frostige Haltung, so entmutigend für einen Liebhaber, und bebte vor dem Gedanken, den ihr Verhalten verriet, zurück.

»Zu mir?« fragte er. »Bist du zu mir gekommen, Esther?«

»Ich will, daß du mich fortbringst«, erwiderte sie mit steigender Ungeduld. »Bring mich fort – bring mich fort von hier!«

Die Lage war nicht genügend geklärt. Dick fragte sich beunruhigt, ob sie wohl ganz bei Sinnen wäre. Sie fortzubringen, sie zu heiraten, ihr zuliebe sich die Hände wundzuarbeiten, dazu war Dick bereit, doch er verlangte ihrerseits ein Zeichen der Liebe. Er gehörte nicht zu jenen dickhäutigen und kleinmütigen Männchen, die ihre Liebste lieber mit der Spitze des Bajonetts erobern, als auf sie verzichten. Er wollte, daß ein Weib sich mit zwingender Bereitwilligkeit, wenn nicht mit Inbrunst, in seine Arme würfe, aber Esthers Wesen zeugte eher von Verzweiflung als von Liebe: es erkältete ihn und machte ihn besonnen.

»Liebste«, drängte er, »sage mir, was du wünschst, und du sollst es haben. Vertraue mir deine Gedanken an, dann kann ich dir raten. Aber von hier fortgehen, ohne Plan, ohne Vorbedacht, in der Hitze des Augenblicks, ist verrückter als verrückt und kann zu nichts führen. Ich spreche nicht wie ein Mann, aber ich spreche die Wahrheit. Und ich sage dir noch einmal: die Sache ist sinnlos und ungerecht und verderblich.«

Sie sah ihn mit einem trüben matten Blick des Zornes an. »Du willst mich also nicht fortbringen?« fragte sie. »Gut, ich werde allein gehen.«

Und sie begann den Weg weiterzuschreiten. Doch er stellte sich ihr entgegen.

»Esther! Esther« rief er.

»Laß mich gehen – berühr mich nicht, welches Recht hast du, dich einzumischen? Wer bist du, daß du mich anzurühren wagst?« stieß sie hervor, schrill und zornig. Gerade durch ihre Heftigkeit kühn gemacht, packte er sie rauh am Arme und hielt sie fest, während er sprach.

»Du weißt recht gut, wer ich bin und was ich bin, und daß ich dich liebe. Du sagst, ich wolle dir nicht helfen; doch dein Herz weiß das Gegenteil. Du bist es, die mir nicht helfen will, denn du willst mir nicht sagen, was du wünschst. Du siehst – oder könntest es wenigstens sehen, wenn du dir nur die Mühe gäbest, zu sehen –, wie ich hier gewartet habe, gewartet die ganze Nacht, um zu deinen Diensten bereit zu sein. Ich verlange nur Aufschluß. Ich verlange nur, daß du dich besinnst. Und ich verlange von dir und bitte dich, dir deine Phantastereien noch einmal zu überlegen. Doch wenn dein Entschluß feststeht, mag es sein. Ich werde nicht länger bitten. Ich werde dir Verhaltungsmaßregeln geben und werde nicht erlauben – nicht erlauben, daß du allein fortgehst.«

Eine Zeitlang blickte sie ihn mit kaltem, bösem Forschen an wie jemand, der die Beschaffenheit eines Werkzeuges prüft.

»Gut, führe mich also fort«, sagte sie mit einem Seufzer.

»In Gottes Namen«, sagte Dick. »Komm mit mir in die Stallungen. Wir werden den Ponywagen nehmen und zur Station fahren. Heute abend bist du in London. Ich bin so ganz dein, daß keine Worte das noch zu verstärken vermögen. Das weißt du, und alle Worte sind sinnlos. Möge Gott mir helfen, daß ich gut zu dir bin, Esther – möge Gott mir helfen, denn du willst es ja nicht.«

Ohne ein weiteres Wort machten sie sich gemeinsam auf den Weg und waren bereits eine ziemliche Strecke von dem Gatter entfernt, ehe er bemerkte, daß sie noch immer das Paket trug. Sie gab es ihm widerstandslos; doch als er ihr seinen Arm bot, schüttelte sie nur den Kopf und verzog den Mund. Die Sonne schien klar und freundlich. Der Wind traf frisch und scharf ihre Gesichter und duftete nach Wäldern und Matten. Als sie in das Tal des Thyme hinabstiegen, durchdrang das Murmeln des Flusses die Luft wie ein ständiges Lachen. Auf den fernen Bergen vollführten Sonnenschein und Schatten entlang den Hängen einen Wettlauf und sprangen von Spitze zu Spitze. Erde, Luft und Wasser, alles erschien besser und gesünder und barg in sich mehr von dem beißenden Salze des Lebens als an einem gewöhnlichen Morgen; und von Ost nach West, vom tiefsten Tal bis zur Höhe des Himmelsgewölbes, aus jedem Blick, aus jeder Berührung, aus jedem Duft konnte das menschliche Wesen die begeisternde Vernunft, die Dauerhaftigkeit und die Seele des Weltalls schöpfen.

Durch all diese Schönheit trippelte Esther mit kleinen Schritten wie ein Vogel, aber schweigend und mit einer Wolke um ihre dichten Brauen. Sie schien weder die Natur noch die Gegenwart ihres Gefährten zu empfinden. Ihr eigenes Selbst nahm sie völlig in Anspruch, und sie blickte weder rechts noch links, nur immer unverwandt vor sich auf den Weg. Als sie jedoch zu der Brücke kamen, machte sie halt, lehnte sich über das Geländer und starrte einen Augenblick auf die durchsichtige braune Fläche und auf die rasch vorübereilenden Gischtgebilde der Fälle.

»Ich will hinuntergehen und trinken«, sagte sie und stieg den gewundenen Pfad zum Ufer hinab.

Dort trank sie gierig aus ihren Händen und netzte ihre Schläfen mit dem Wasser. Die Kühle schien einen Augenblick den Zauber zu brechen, der auf ihr lastete, denn anstatt sofort wieder in dumpfen, unermüdlichen Schritt vorwärtszuhasten, stand sie noch fast eine Minute lang dort, wo sie war, und blickte gerade vor sich nieder. Und Dick sah oben von der Brücke, auf der er stand und über sie wachte, ein seltsames und unbestimmtes Lächeln langsam über ihr Gesicht gleiten und dann plötzlich schwinden, und düster wie zuvor stand sie da. Das Gefühl der Ferne, das für einen Liebenden so grausam zu ertragen ist, lastete mit jedem Augenblick schwerer auf ihrem Gefährten. All ihre Gedanken waren geheim, ihr Herz war verschlossen und verriegelt, und er stand ausgeschlossen und flehte vergebens mit seinen Augen.

»Fühlst du dich besser?« erkundigte sich Dick, als sie sich endlich ihm wieder zugesellte, und nach dem Zwang so langen Schweigens klang ihm seine Stimme selbst fremd im Ohr.

Sie sah ihn fast eine Minute lang an, bevor sie antwortete, und als sie es tat, geschah es nur mit der einen Silbe: »Ja.«

Dicks Besorgnis erkaltete. Die Worte erstarben ihm auf der Zunge. Selbst seine Augen, bar jeden Trostes, hörten auf, die ihren zu suchen; und sie gingen stumm weiter durch Kirton, wo ein alter Mann ihnen mit den Blicken folgte und sie vielleicht um ihre Jugend und ihre Liebe beneidete. Und weiter gingen sie durch das Efeutal, wo die Mühle das Wasser aufschäumen ließ und leise Donnerworte grollte, und durch den gedämpften Schatten des Grundes, dort, wo der Müller vor dem Tore das Mehl von seinen Händen klopfte und ein Liedchen pfiff, und herauf durch das hohe Gestrüpp, von wo aus man die Berge auf der anderen Seite erblickte und wieder hinunter den Hügel zu den Hinterhöfen und Nebengebäuden von Nasebyhaus. Den ganzen Weg entlang war Esther vorangeschritten und Dick gehorsam nachgeschlichen. Doch als sie sich den Ställen näherten, eilte er voraus und übernahm die Führung. Er würde es vorgezogen haben, wenn sie ihn auf der Straße erwartet hätte, während er ging und den Wagen holte, aber nach so zahlreichen Zurückweisungen und Ablehnungen fehlte ihm der Mut, diesen Vorschlag zu machen. Vielleicht dünkte es ihn auch klüger, seine Begleiterin nicht aus dem Auge zu verlieren. So betraten sie im Gänsemarsch, wie ein Landstreicher und sein Weib, den Hof. Der Stallknecht zog die Augenbrauen hoch, als er den Befehl empfing, den Ponywagen anzuspannen, und er hielt sie während der ganzen Vorbereitung hochgezogen. Esther stand starr und steif und blickte unverwandt auf einige Hennen in der Ecke des Hofes. Master Richard, dachte der Stallknecht, ist nicht in seiner gewöhnlichen Verfassung. Und wirklich, Richard trug das Paket wie einen Talisman und stand entweder teilnahmslos da oder rannte plötzlich mit lebhaften Schritten hin und her. Dann hatte er es offenbar auch verabsäumt, seine Hände zu waschen, und erweckte den Eindruck eines Menschen, der von einer etwas ausgedehnten durchschwärmten Nacht zurückkehrt. Auf des Stallknechtes Gesicht machte sich allmählich ein Ausdruck geltend, als hätte er Lust, zu pfeifen, und kaum war der Wagen um die Ecke gebogen und ratterte mit diesem unerklärlichen Paare die Landstraße entlang, da brach auch schon das Pfeifen los – gedehnt und langsam und tremolierend, und nachdem sich der Knecht wenigstens auf diese Weise Erleichterung verschafft hatte, drückte er den Rest seines Erstaunens in einem schlichten englischen Worte aus, vertraut dem Munde von Jan Maat und jedem russischen Schachtarbeiter. Dann eilte er, die Neuigkeit im Gesindezimmer von Nasebyhaus zu verbreiten. In etwas mehr als einer Stunde würde das Mittagessen auf dem Tisch stehen und der Gutsherr beim Niedersetzen schwerlich verfehlen, sich nach Master Richard zu erkundigen. Wie der intelligente Leser vermutlich vorauszusehen vermag, ist der Betreffende nämlich ausersehen, in dieser Geschichte eine Rolle zu spielen.

Inzwischen hatten Dick ernste und bittere Gedanken beschäftigt. Es schien ihm, als wäre seine Liebe von ihm gewichen. In Wahrheit war sie jedoch nur eine kleine Strecke fortgegangen. Er brauchte nur den rechten Klang zu finden, und Esthers Herz würde ihn wiedererkennen und sich erweichen. Dennoch wagte er nicht, seinen Mund zu öffnen, und fuhr schweigend weiter, bis sie das große Parktor passiert hatten und in den Kreuzweg längs der Mauer einbogen. Dann sagte er sich, daß er jetzt oder nie reden müßte.

»Siehst du nicht, daß du mich tötest?« rief er. »Sprich zu mir, sieh mich wenigstens an! Behandle mich wie ein menschliches Geschöpf!«

Sie wandte sich langsam und sah ihm ins Gesicht mit Augen, die freundlicher blickten. Er ließ die Zügel fallen und ergriff ihre Hand, und sie leistete keinen Widerstand, obgleich der Druck unerwidert blieb. Doch als er sie mit seinen Armen umschlang und ihre Lippen zu küssen versuchte –, weiß Gott, nicht wie ein Liebhaber, das wollte er gar nicht, sondern wie ein Verzweifelter, der sein Schicksal auf die Probe stellt –, zog sie sich mit gerunzelter Stirn zurück, ungestüm den Kopf wendend, und schob ihn mit der Hand von sich. Da blieb kein Raum mehr für Zweifel. Und Dick sah klar wie das Sonnenlicht, daß sie Ekel vor ihm empfand oder einen tiefen Groll nährte.

»Du liebst mich also nicht«, sagte er und zog sich gleichfalls von ihr zurück, als hätte ihn ihre Berührung gebrannt. Und dann, als sie keine Antwort gab, wiederholte er die Frage in einem anderen Tone, herrisch und dennoch rührend. »Du liebst mich nicht, du liebst mich also nicht!«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Warum fragst du? Oh, wie soll ich es wissen? Es waren ja alles nur Lügen – Lügen und Lügen und Lügen!«

Da rief er ihren Namen, scharf wie ein Mann, der eine tätliche Beleidigung empfangen hat. Es war das letzte Wort, das zwischen ihnen gewechselt wurde, bis sie den Bahnhof von Thymebury erreichten.

Die Station lag einsam im Moor, jedoch an der Hauptstrecke nach London. Die nächste Stadt, Thymebury selbst, war sieben Meilen entfernt in der, das Tal der Thymebahn genannten Schlucht.

Es war jetzt fast halb ein Uhr. Der Zug war gerade abgegangen und bis halb vier, zu welcher Zeit der Lokalzug einlief, um den um dreiviertel vier eintreffenden Expreßzug zu erreichen, ruhte jeder Verkehr. Der Stationsvorsteher hatte sich bereits in seinen Garten begeben, der eine halbe Meile abseits in einer Senke des Moors lag. Ein Dienstmann, der grade fortgehen wollte, übernahm die Sorge für den Wagen und versprach, ihn vor Dunkelwerden nach Nasebyhaus zurückzubringen. Nur ein tauber, verdrießlicher, uralter Mann blieb als Anstandswärter für Dick und Esther.

Ehe noch der Wagen fortgefahren war, hatte das junge Mädchen den Bahnhof betreten und sich auf einer Bank niedergelassen. Vor ihr erstreckte sich das endlose, öde, offene Moorland, dessen einzige Grenze der Horizont war. Zwei Schienenstränge, ein Waggonschuppen und ein paar Telegraphenstangen bildeten die einzige Aussicht. Die Stille wurde durch nichts unterbrochen außer durch das Summen der Telegraphendrähte und das Rufen der Kiebitze in dieser Einöde. Mit Nahen der Mittagszeit hatte sich der Wind mehr und mehr gelegt. Es war zum Ersticken heiß, und die Luft flimmerte im Sonnenlicht. Einen Augenblick zögerte Dick auf der Schwelle zum Bahnsteig. Dann war er mit zwei Schritten an ihrer Seite und sprach fast schluchzend:

»Esther, habe Mitleid mit mir. Was habe ich getan? Kannst du mir nicht vergeben? Esther, du liebtest mich einst – kannst du mich nicht noch lieben?«

»Wie kann ich dir das sagen? Wie soll ich es wissen?« antwortete sie. »Du bist für mich nur eine Lüge – eine einzige Lüge, vom ersten bis zum letzten. Du lachtest über meine Torheit, spieltest mit mir wie mit einem Kinde zur gleichen Zeit, als du mir erklärtest, du liebtest mich. Was war wahr? War überhaupt etwas wahr oder war alles nur Hohn und Spott? Ich bin zu müde, das herauszufinden. Und du sagst, ich hätte dich geliebt. Ich liebte meines Vaters Freund, dich liebte ich nie; nie hörte ich etwas von dir, bis jener Mann kam und meine Enttäuschung begann. Gib mir meinen Vater zurück, sei, was du vorher warst, und dann magst du von Liebe reden.«

»Kannst du mir denn nicht vergeben – kannst du es nicht?« fragte er.

»Ich habe nichts zu vergeben«, lautete die Antwort, »du verstehst mich nicht.«

»Ist das dein letztes Wort, Esther« fragte er kreideweiß und biß sich auf die Lippen, damit sie nicht zittern sollten.

»Ja, das ist mein letztes Wort«, erwiderte sie.

»Dann sind wir hier unter falschen Voraussetzungen und bleiben nicht länger hier. Hättest du mich noch geliebt: recht oder unrecht, ich würde dich mit mir fortgenommen haben, denn dann hätte ich dich glücklich machen können. Jetzt aber – ich muß offen sprechen – was du vorschlägst, ist erniedrigend für dich und eine Beleidigung für mich und eine häßliche Lieblosigkeit gegen deinen Vater. Dein Vater mag so oder so sein – du müßtest ihn doch wie ein Mitgeschöpf behandeln.«

»Was meinst du damit?« zischte sie. »Ich überließ ihm mein Haus und all mein Geld. Das ist mehr, als er verdient. Ich wundere mich, daß du es wagst, mit mir über jenen Mann zu sprechen. Und außerdem ist das ja alles, wonach er trachtet. Mag er es nehmen. Aber ich will nie wieder etwas von ihm hören!«

»Ich dachte, Väter hätten etwas Romantisches für dich?«

»Ist das Hohn?« forschte sie.

»Nein, es ist ein Argument! Niemand kann dich zwingen, ihn zu lieben. Aber erniedrige ihn nicht vor seinen eigenen Augen. Er ist alt, Esther, alt und niedergebrochen. Selbst mir tat er leid, und doch bedeutete er für mich den Verlust alles dessen, worauf ich hoffte. Schreibe deiner Tante. Wenn ich ihre Antwort sehe, kann ich ruhig fortgehen, und ich werde dich selbst zu deiner Tante Tür bringen. Doch inzwischen mußt du nach Hause zurückkehren. Du hast kein Geld und bist daher hilflos und mußt tun, was ich dir sage. Und glaub mir, Esther, ich tue alles nur zu deinem Besten, nur zu deinem Besten, so wahr mir Gott helfe.«

Sie hatte ihre Hand in ihre Tasche gesteckt und sie leer wieder herausgezogen.

»Ich rechnete auf dich«, klagte sie.

»Dann rechnetest du richtig«, erwiderte er. »Ich werde aber nicht, um dich einen Augenblick zu erfreuen, uns beide für unser Leben unglücklich machen. Und da ich dich nicht heiraten kann, sind wir schon allzu lange fortgewesen und müssen gleich nach Hause gehen.«

»Dick!« schrie sie plötzlich. »Vielleicht könnte ich vielleicht mit der Zeit – vielleicht –«

»In dieser Sache gibt es kein Vielleicht«, unterbrach sie Dick. »Ich muß gehen und den Wagen holen.«

Damit verließ er die Station, glühend vor Leidenschaft und Tugend. Esther, deren Augen bei seinen letzten Worten Leben bekommen und deren Wangen sich gerötet hatten, versank nach einer Sekunde wieder in einen Zustand der Versteinerung. Ohne Bewegung blieb sie während seiner Abwesenheit, und als er zurückkehrte, duldete sie es wie eine Idiotin oder wie ein ermüdetes Kind, daß er sie in den Wagen hob und die Rückfahrt antrat. Verglichen mit dem, was sie jetzt war, schien ihr Zustand am Morgen tatsächlich noch ein natürlicher. Sie saß bleich und kalt und schweigend da, und in ihren Augen war keine Spur von Leben. Der arme Dick peitschte und peitschte auf das Pony, und einmal versuchte er zu pfeifen, aber sein Mut war dahin. Dichte Wolken der Verzweiflung ballten sich in seiner Seele, und nur von Zeit zu Zeit durchdrang ein jäher Blitzstrahl der Sehnsucht und der Reue diese Dunkelheit. Er hatte seine Liebe verloren; er hatte sie verloren, für immer verloren.

Das Pony war müde, die Höhen dehnten sich lang und steil, und die Luft war schwüler denn je, denn jetzt schwieg der Wind gänzlich. Es schien, als wollte diese unselige Fahrt nie enden, als würde der arme Dick nie fähig sein, Esther zu verlassen, und sich selbst nur immer noch elender machen. Sein einziger Wunsch war, ihrer Gegenwart und den Vorwürfen ihrer abgewandten Blicke zu entgehen. Er hatte seine Liebste verloren –, so glaubte er, er hatte seine Liebste verloren, für immer.

Sie befanden sich bereits unweit des Häuschens, als sein Herz noch einmal schwankte, und noch einmal wandte er sich ihr zu und sprach leise und eifrig, in abgerissenen Sätzen.

»Ich kann nicht ohne deine Liebe leben«, schloß er.

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, erwiderte sie, wie ich glaube, vollkommen aufrichtig.

»Dann«, sagte er, aufs tiefste verwundet, »mag deine Tante selbst kommen und dich holen. Natürlich kannst du über mich gebieten, wie es dir gutdünkt, aber ich glaube, so ist es besser.«

»O ja«, sagte sie müde, »so ist es besser.«

Das waren die einzigen Worte, die bis gegen vier Uhr zwischen ihnen gewechselt wurden. Als der Wagen die Straße hinauffuhr, zeigte sich das kleine Haus zwischen den belaubten Hängen. Eine dünne Rauchwolke stieg senkrecht aus dem Schornstein auf, die Blumen in dem Garten, der Hagedorn am Wege ließen in der Hitze die Köpfe hängen; nur der Klang der Hufe unterbrach die Stille. Unmittelbar vor dem Zaune ritt ein livrierter Diener langsam auf und ab und führte ein gesatteltes Pferd am Zügel. Mit Schaudern erkannte Dick seines Vaters Braunen.

Ach, armer Richard, was hat das zu bedeuten?

Der Diener stieg pflichtgemäß ab und nahm den Wagen unter seine Obhut. Dennoch hatte Dick den Eindruck, als zöge er mit einem leichten Grinsen den Hut. Esther, teilnahmsloser denn je, ließ sich herabhelfen und durchquerte den Garten in langsamem und mechanischem Schritt. Und Dick, der dicht hinter ihr folgte, hörte aus dem Innern des Hauses seines Vaters zu einem Anathema erhobene Stimme und die schrilleren Töne des Admirals, der in kriegerischer Weise antwortete.


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