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Sechstes Kapitel.
Der verlorene Vater sinkt von Stufe zu Stufe

Wir wollen uns nicht über alle Einzelheiten der Rückkehr und Einnistung des Admirals verbreiten, sondern rasch bis zu der Katastrophe eilen und nur ein paar besonders einschneidende Vorfälle chronistisch aufzeichnen, wobei wir uns gänzlich auf das Zeugnis Richards stützen müssen, denn Esther hat bis heute über diese kritischste Zeit ihres Lebens nie den Mund geöffnet. Und was den Admiral anbetrifft – nun, obgleich dieser Seeoffizier noch lebt und jetzt zum Glück in einer Hafenstadt untergebracht ist, wo er ein Fernrohr hat und im Vorgarten eine Flagge hißt, so ist er unfähig, den leisesten Lichtschimmer auf jene Angelegenheit zu werfen. Wieder und wieder hat er dem Verfasser gegenüber erklärt: »Wenn ich wüßte, worum es sich eigentlich gehandelt hat, Herr, will ich – – sein«, mit einem Wort: sein, was er, wie ich hoffe, nicht ist. Dann pflegte er das Bildnis seiner Tochter, eine Photographie, anzublicken, mit einem versonnenen Ausdruck sein Haupt zu schütteln und sich zum Trost einen frischen Grog zu mischen. Nur einmal habe ich es erlebt, daß er darüber hinausging und seine Gefühle Esther gegenüber in einem einzigen, aber beredten Wort ausdrückte.

»Ein Schlingel, Herr«, sagte er nicht zornig, eher belustigt, und trank dabei einen kräftigen Schluck auf ihre Gesundheit. Sein schlimmster Feind müßte gestehen, daß er ein Mann ohne Bosheit war. Nie in seinem Leben hegte er einen Groll: dazu fehlte ihm der nötige Geschmack und die Konzentrationsfähigkeit.

Doch schon während dieser dunklen Periode hatte sich in Wahrheit ein Drama vollzogen, dessen Schauplatz verschlossen vor aller Augen in dem Herzen Esthers lag. Hätte das Schicksal mit diesem warmherzigen, geraden, halsstarrigen Mädchen anders verfahren, ja, wären die Ereignisse nur in einer anderen Folge über sie hereingebrochen – gewisse Dinge haben eben ihre logische Konsequenz –, der ganze Verlauf dieser Erzählung würde sich anders gestaltet haben, und Esther wäre nie fortgelaufen. So aber geschah es, daß sie, durch eine Reihe von Handlungen und Worten, von denen wir nur wenig wissen, und durch eine Folge von Gedanken, die jeder sich selbst vorstellen mag, innerhalb von vier Tagen aus dem Traum eines ganzen Lebens gerissen wurde.

Die erste greifbare Ursache dieser Entzauberung war eine vollständige Malausrüstung, die Dick am Freitagabend nach Hause brachte. Der Admiral hockte in der Ofenecke, wieder einmal etwas Whisky mit Soda »nippend«, während Esther mit ihrer Arbeit am Tische saß. Beide standen auf, um den Ankömmling zu begrüßen, und nachdem das junge Mädchen Dick von seiner unförmigen Last befreit hatte, machte sie sich daran, die Geschenke vor ihrem Vater auszubreiten. Van Tromps Laune sank um mehrere Grad; ja, er wurde direkt brummig.

»Gott schütze mich«, sagte er und fügte in einem Tone offener Feindseligkeit hinzu: »Ich muß dich wirklich bitten, Kind, dich nicht in meine Angelegenheiten einzumischen.«

»Vater, verzeihe mir«, entschuldigte sich seine Tochter. »Ich weiß, daß du deine Kunst aufgegeben hast.«

»Oh! Gewiß!« rief der Admiral. »Bis zum Tage des Jüngsten Gerichts habe ich nichts mehr mit Kunst zu schaffen!«

»Noch einmal: verzeih mir!« wiederholte sie fest. »Aber ich kann nicht, nein, ich kann nicht glauben, daß du darin recht tust. Angenommen, die Welt ist ungerecht, angenommen, daß niemand dich versteht, so hast du doch noch eine Pflicht gegen dich selbst und, oh! verdirb mir nicht die Freude über deine Heimkehr! Zeige mir, daß du mein Vater sein kannst, ohne deine Bestimmung zu vernachlässigen. Ich bin nicht wie andere Töchter. Ich werde auf deine Kunst nicht eifersüchtig werden und will versuchen, sie zu verstehen.«

Die Situation war widerlich possenhaft. Richard stöhnte; Es drängte ihn, aufzuspringen und den ganzen Humbug aufzudecken. Und der Schwindler selbst? Glaubt ihr, ihm war leichter ums Herz? Ich persönlich bin überzeugt, daß ihm einfach erbärmlich zumute war. Aber er vertuschte seine Qualen durch einen vollkommen albernen und unwürdigen Wutausbruch, in dessen Verlauf er seine Pfeife in mehrere Stücke zerbrach, Schnaps und Wasser in das Kaminfeuer schleuderte und Worte gebrauchte, die nur allzu eindeutig waren, obwohl es unklar blieb, auf wen sie zielten. Das dauerte jedoch nur kurze Zeit. Van Tromp wurde wieder er selbst und befand sich drei Minuten nach diesem ersten Ausbruch in köstlichster Laune.

»Ich bin ein alter Narr«, gestand er offen. »Man hat mich als Kind verwöhnt. Du, Esther, du schlägst eher deiner Mutter nach. Du hast ein krankhaftes Pflichtgefühl, besonders für andere. Kämpfe dagegen an, mein Schatz – kämpfe dagegen an. Na, und was die Farben betrifft, eines Tages werde ich sie schon verwenden. Und zum Beweis, daß es mir damit Ernst ist, will ich Dick höflich ersuchen, eine Leinwand vorzubereiten.«

Dick wurde also mit dieser niedrigen Aufgabe betraut. Der Admiral kümmerte sich nicht darum, wie er's machte, sondern beschäftigte sich ruhig mit einem neuen Grog und seinem amüsanten Geschwätz.

Bald danach erhob sich Esther und ging unter irgendeinem guten und schlechten Vorwande zu Bett. Dick blieb, an die Leinwand gekoppelt, etwa eine Stunde lang van Tromp ausgeliefert, zurück.

Am nächsten Sonntag fand, wie es scheint, eine kleine Auseinandersetzung zwischen Esther und ihrem Vater statt. Gegen Nachmittag traf Dick den letzteren aus der Richtung des Wirtshauses heimkehrend, wo er mit dem Wirte fast Freundschaft geschlossen hatte. Dick wunderte sich, wer wohl diese Ausflüge bezahlte, und bei dem Gedanken, daß der Ruchlose sein Taschengeld aus der gleichen Quelle bezog, aus der er auch Kost und Logis schöpfte, nämlich aus der armen Esther Freigebigkeit, packte ihn fast der Wunsch, den alten Gentleman niederzuschlagen. Dieser dagegen strömte über von stolzem Getue, von Grazie und Heiterkeit.

»Lieber Dick«, sagte er und nahm seinen Arm, »das ist nachbarlich von Ihnen. Es beweist Ihren Takt, mir zu begegnen, grade da ich mich nach Ihnen sehne. Ich bin in glänzender Laune, und dann brauche ich einen Freund.«

»Es freut mich, zu hören, daß Sie glücklich sind«, erwiderte Dick erbittert. »Wahrhaftig, es gibt ja auch nicht viel, Sie zu beunruhigen.«

»Nein«, stimmte der Admiral zu, »nicht viel. Ich habe mich rechtzeitig davongemacht; und hier, nun hier gefällt mir alles. Ich bin ein Mann von schlichten Passionen. Apropos, Sie haben mich noch nie gefragt, wie mir meine Tochter gefällt.«

»Nein«, sagte Dick herb, »das habe ich bestimmt nicht.«

»Heißt das, Sie wollen es nicht? Und warum nicht, Dick? Sie ist meine Tochter, natürlich; und ich bin ein Mann von Welt und ein Mann von Geschmack und vollkommen berufen, mit Unparteilichkeit eine Meinung abzugeben – ja, Dick, mit Unparteilichkeit. Ganz offen: ich bin von ihr nicht enttäuscht. Sie hat ein hübsches Gesicht; das hat sie von ihrer Mutter. Ich darf daher wohl sagen, ihr Aussehen gefällt mir. Sie ist mir ergeben, mir völlig ergeben.«

»Sie ist die beste Frau auf der Welt!« brauste Dick auf.

»Dick!« rief der Admiral und machte scharf halt. »Das hab' ich erwartet. Lassen Sie uns – lassen Sie uns zurück in die ›Trevanion Arms‹ gehen, um uns bei einer Flasche über die Sache auszusprechen.«

»Bestimmt nicht!« erklärte Dick. »Sie haben bereits viel zuviel getrunken.«

Der Parasit war im Begriff, diese Bemerkung übelzunehmen, aber ein Blick in Dicks Gesicht und die Erinnerung an die Art, wie sie in Paris miteinander verkehrt hatten, kamen seiner Klugheit zu Hilfe und hielten ihn zurück.

»Wie Sie wollen«, sagte er, »obwohl ich nicht verstehe, was Sie meinen – oder befürchten. Doch wenn Sie es vorziehen, wollen wir einen Spaziergang machen. Sie sind noch ein junger Mann. Wenn Sie erst in meinem Alter sein werden … Ah, um fortzufahren, Sie gefallen mir, Dick; Sie haben mir vom ersten Augenblick an gefallen, und, um die Wahrheit zu sagen, Esther ist ein bißchen phantastisch, und es würde besser sein, wenn sie verheiratet wäre. Sie besitzt selbst Vermögen, wie Sie natürlich bemerkt haben; es stammt gleich ihrem Aussehen von dem armen, lieben, gütigen Geschöpf, ihrer Mutter. Sie ward gesegnet in ihrer Mutter. Ich denke, sie wird auch in ihrem Gatten gesegnet sein, und Sie, Dick, sind der richtige Mann, Sie und kein anderer. Heute nacht noch werde ich Esthers Neigung sondieren.«

Dick stand entgeistert. »Mr. van Tromp, ich beschwöre Sie, tun Sie persönlich, was Sie wollen, aber um Gottes willen lassen Sie Ihre Tochter in Ruhe.«

»Es ist meine Pflicht«, erwiderte der Admiral, »und unter uns, Sie Spitzbube, entspricht es auch meiner Neigung; ich bin als Heiratsvermittler so gut wie eine Mutter. Es wird für Sie besser sein, heute abend fernzubleiben. Leben Sie wohl! Sie überlassen Ihre Sache guten Händen. Ich habe den nötigen Herzenstakt für solche Angelegenheiten. Es ist nicht mein erster Versuch.«

Alle Argumente waren vergebens. Der alte Gauner blieb bei seinem Entschluß. Richard verhehlte sich durchaus nicht, wie sehr das seine Aussichten beeinträchtigen konnte und kämpfte heftig dagegen an. Einmal zeigte sich ein Hoffnungsschimmer. Der Admiral brachte zum zweitenmal einen Abstecher nach den »Trevanion Arms« in Vorschlag, und als Dick auch diesen zurückwies, war es einen Augenblick ungewiß, ob der alte Säufer nicht auf eigene Faust dorthin zurückkehren würde. Wäre das der Fall gewesen, so hätte Dick sich natürlich auf die Strümpfe machen und Esther vor dem, was kommen sollte, warnen und ihr sagen können, wie es angefangen hatte. Aber nach einer Pause entschied der Admiral sich doch für einen Trunk zu Hause und machte sich dorthin auf den Weg.

Ueber die »Sondierung« wissen wir keine Einzelheiten. Am folgenden Tage bemerkte man den Admiral, sehr sorgfältig gekleidet, in der ländlichen Kirche. Er fand die richtigen Stellen im Gesangbuch und stimmte in die Responsorien und Lieder ein, als hätte er von Kindheit an nichts anderes getan. Seine Erscheinung erregte, wie es auch in seiner Absicht lag, die Aufmerksamkeit der Kirchenbesucher. Der alte Naseby zum Beispiel hatte ihn bemerkt.

»Es saß uns da so ein vertrunken aussehender Lump in der Kirche gegenüber«, sagte er zu seinem Sohn, als sie nach Hause fuhren. »Weißt du, wer das war?«

»Irgendein Mensch – van Tromp, glaube ich«, entgegnete Dick.

»Noch dazu ein Ausländer«, bemerkte der Gutsherr. Dick konnte sich gar nicht genug beglückwünschen, daß er noch so glücklich durchgeschlüpft war. Hätte der Admiral ihn mit seinem Vater getroffen, was wäre wohl das Ergebnis gewesen? Doch ließ sich eine solche Katastrophe lange hinausschieben? Es schien ihm, daß der Sturm nahe bevorstünde; aber das Unwetter war noch näher, als er vermutete.

Zurückgehalten von Furcht und Scham, ging er am Nachmittag nicht in die Villa, und als das Diner in Nasebyhaus vorüber war und der Gutsherr sich zu einem behaglichen Dämmerstündchen zurückgezogen hatte, schlüpfte Dick aus dem Zimmer und lief zuerst querfeldein, teils um Zeit zu gewinnen, teils um zu verhindern, daß sein Mut erlahme. Jetzt haßte er den Gedanken an das Häuschen und den Admiral, und wenn er auch Esther nicht haßte, fürchtete er sich doch, an sie zu denken.

Ihm fehlte der Schlüssel zu ihren Gedanken, aber er konnte seinem eigenen Herzen nicht verhehlen, daß er in ihrer Achtung gesunken sein mußte, und der Anblick ihrer Verblendung quälte ihn wie eine Beleidigung.

Er klopfte und wurde eingelassen. Das Zimmer sah genau so aus wie bei seinem letzten Besuch; Esther saß am Tisch und van Tromp neben dem Kamin.

Aber der Ausdruck auf den Gesichtern beider erzählte eine sehr abweichende Geschichte. Das Mädchen war blasser als gewöhnlich, ihre Augen waren verdunkelt, Schatten lagen darunter, und ihr sanftester Blick war gespannt und starr. Das Gesicht des Admirals dagegen war gerötet, schlaff und schweißbedeckt; die Backen hingen welk über seinen Hemdkragen; sein Lächeln war verloren und unstet, und er hatte die natürliche Kontrolle über seine Augen so völlig eingebüßt, daß das eine aufwärts gerichtet war, als wolle es das Wachstum des Furunkels beobachten. Wir hüten uns vor bösen Urteilen, aber der Admiral war bestimmt nicht nüchtern. Als Richard eintrat, machte er nicht einmal den Versuch aufzustehen, sondern schwenkte nur flüchtig seine Pfeife durch die Luft und blinzelte ein Willkommen. Esther beachtete ihn so wenig wie möglich.

»Ah, Dick!« rief der Maler, »ich bin in der Kirche gewesen, ja, auf mein Wort, und ich sah Sie dort, obgleich Sie mich nicht sahen, und ich sah da ein verteufelt appetitliches Frauenzimmer. Beim Himmel! Wenn nicht diese Kahlköpfigkeit wäre und eine gewisse Gebrechlichkeit – deren Vorhandensein ich mir nicht verhehle –, wenn es nicht das wäre, na, und jenes, und die andere Sache – ich – ich hab' vergessen, was ich sagen wollte. Nein, nicht das, nicht diese Geschichten, ich muß einen Haufen Sachen sagen. Ich bin heut abend in sehr mitteilsamer Laune, heute will ich all meine Geheimnisse ausplaudern, ja, siebenzig mal siebenzig. Ich stehe, wie ich das nenne, auf der Bühne, und alles, was ich mir wünsche, um so glücklich zu sein wie Nebukadnezar, ist ein Zuhörer, selbst wenn er taub wäre.«

Von den beiden Stunden, die jetzt folgten, ist es unnötig, mehr zu geben als eine Skizze. Der Admiral war außergewöhnlich albern, dann und wann versonnen, doch nicht wirklich anstößig. Es war klar, daß er die Gegenwart seiner Tochter nie vergaß und seine Themen und die Art seiner Rede so wählte, daß sie eine Dame nicht beleidigen konnten. Fast bei jeder anderen Gelegenheit würde sich Dick über die Szene amüsiert haben. Van Tromps trunkgefärbte Selbstgefälligkeit ging bisweilen über bloße Eitelkeit hinaus. Er wurde leutselig und weitschweifig, versuchte seine Zuhörer vollständig in sein Vertrauen zu ziehen und verriet ihnen seine geheimsten Ansichten über sich selbst. Schwankend zwischen dieser Selbsterkenntnis, die beträchtlich war, und seiner Eitelkeit, die ungeheuer war, schuf er ein seltsames Zwitterwesen und benannte es mit seinem eigenen Namen. Wie plusterte er sich auf wegen Tugenden, die das Herz eines Cäsar oder des heiligen Paulus erfreut haben würden! Und dann wieder vollendete er sein Bildnis mit einem jener Pinselstriche von erbarmungslosem Realismus, den der Satiriker so oft vergebens sucht.

»Ja, da ist Dick«, sagte er. »Der ist schlau. Er durchschaute mich gleich beim erstenmal, als wir uns trafen, und sagte es mir direkt ins Gesicht. Na, und ich hatte den Mut, gute Miene dazu zu machen. Ich trage Ihnen das nicht nach, Dick. Sie hatten ganz recht. Ich bin ein Schwindler.«

Man kann sich vorstellen, wie Esther unter dieser neuen Art litt, in der sich ihre beiden Idole miteinander unterhielten.

Und dann wieder beiläufig:

»Das war«, fuhr van Tromp fort, »als ich meine traurigen Schmierereien hinklecksen mußte.«

Und wieder ein wenig später setzte er leicht lachend, mit einem Anschein von Aufrichtigkeit hinzu: »Nie habe ich auch nur im leisesten gezögert, irgendeine menschliche Kreatur auszusaugen.«

Jetzt sprang Dick auf. »Ich glaube« sagte er, »es wäre vielleicht für uns alle besser, zu Bett zu gehen.« Und er lächelte ein verlegenes, um Entschuldigung bittendes Lächeln.

»Keineswegs!« rief der Admiral. »Ich weiß einen Spaß, der zweimal soviel wert ist. Die Katze hier«, und er wies auf seine Tochter, »soll ins Bett gehen. Doch Sie und ich, wir bleiben auf, bis alles blau ist.«

In finsterem Stolz erhob sich Esther. Zwei tödliche Stunden hatte sie gesessen und gelauscht, während welcher ihr Ideal sich selbst besudelte und seine Gottähnlichkeit wegspöttelte. Ihre Illusionen schwanden eine nach der anderen. Und jetzt wollte er sie ins Bett schicken, in ihrem eigenen Hause? Jetzt nannte er sie Katze! Grade jetzt, als er diese Worte, in seinen Stuhl zurücksinkend, aussprach, zerbrach er das Rohr seiner Pfeife in drei Stücke. Nie wandte sich ein Schaf mit einer gebieterischeren Stirn gegen seinen Scherer. Esthers Stimme klang ruhig, der Ton war ziemlich leise, aber vollkommen klar, und während sie sprach, stand sie vor ihm in der schlichtesten und mädchenhaftesten Haltung.

»Nein« sagte sie, »Mr. Naseby wird die Güte haben, sofort nach Hause zu gehen, und du wirst dich ins Bett begeben.«

Die zerbrochenen Stücke der Pfeife entsanken des Admirals Fingern. Nach seinem Aussehen zu schließen, schien er allzu lange in einer seiner unwürdigen Welt gelebt zu haben. Aber es ist merkwürdig: er versuchte keine Einwendung und saß da, wie vom Donner gerührt, mit offenem Munde. Dick wandte sich rasch der Tür zu, er konnte nichts anderes tun, als Esther zu gehorchen. Auf der Diele wagte er, als die Tür hinter ihm geschlossen war, stehenzubleiben und ihr zuzuflüstern:

»Du hast recht gehandelt.«

»Ich handelte, wie es mir gefiel«, sagte sie. »Kann er malen?«

»Viele Leute lieben seine Gemälde«, erwiderte Dick mit erstickter Stimme. »Ich tat es nie. Ich habe das auch nie gesagt«, fügte er, ohne angegriffen worden zu sein, hinzu.

»Ich frage dich, ob er malen kann. Ich will mich nicht vertrösten lassen. Kann er malen?« wiederholte sie.

»Nein«, sagte Dick.

»Liebt er seine Kunst?«

»Ich glaube, nicht mehr.«

»Und er ist ein Trinker.« Mit Haß betonte sie dieses Wort.

»Er trank.«

»Geh«, sagte sie und wandte sich, um wieder das Haus zu betreten, als ein neuer Gedanke sie fesselte. »Triff mich morgen früh beim Gatter«, sagte sie.

»Ja«, erwiderte Dick.

Und dann schloß sich das Tor hinter Dick, und er stand allein in der Dunkelheit. Ein dünner Lichtstrahl drang über die Türschwelle, und ein warmer sanfter Schimmer fiel durch das Fenster. Das Dach des Häuschens, einige der Hügel und die Haselnußstauden grenzten sich in tieferer Dunkelheit scharf gegen den Himmel ab, aber alles andere war unbestimmt, atemlos und stumm wie das Grab.

Dick verharrte, als Esther ihn verlassen hatte, steif, auf ein Bein gestützt, während der andere Fuß nur mit den Zehenspitzen den Boden berührte; und während er so dastand, lauschte er mit seiner ganzen Seele. Das Geräusch eines hart auf den Boden gestürzten Stuhles ließ sein Herz erstarren. Dann senkte sich wieder Schweigen über Haus und Nachbarschaft. Was sich während dieser Zwischenzeit ereignet hatte, blieb für die Welt ewig ein Geheimnis. Als das vorüber war, sprach Esthers Stimme gleichförmig und ohne Unterbrechung vielleicht eine halbe Minute lang. Und sobald sie schwieg, durchquerten schwere, unsichere Tritte das Wohnzimmer und stiegen schlurfend die Treppe hinauf. Das junge Mädchen hatte ihren Vater gezähmt; van Tromp war gehorsam zu Bett gegangen. Soviel war für den Lauscher auf der Landstraße gewiß. Und dennoch stand er mit gespanntem Ohr und wartete voll Angst und Leid im Herzen. Wäre Esther ihrem Vater gefolgt, hier, wo sich Menschen und Natur zum Schweigen verschworen hatten, so hätte das Dick auf seiner Wacht vor dem Tore sofort vernehmen müssen. Aber konnte Esther nicht ohnmächtig geworden sein oder war sie gar tot, da sich im Haus nichts regte?

Er hörte, wie die Hausuhr bedächtig die Sekunden maß; für ihn aber stand die Zeit still. Eine fast abergläubische Angst lähmte seine Sinne. Endlich konnte er es nicht länger ertragen. In zwei Sätzen durchquerte er den kleinen Garten und preßte sein Gesicht gegen die Fensterscheibe. Der Vorhang, der nicht ganz heruntergezogen war, ließ unten am Fenster eine etwa zollbreite Spalte frei, so daß das ganze Zimmer vor Dicks Blicken offen lag. Esther saß aufrecht am Tisch, das Haupt auf die Hand gestützt, die Augen starr auf die Kerze geheftet. Ihre Brauen waren leicht zusammengezogen, der Mund war ein wenig geöffnet, ihre ganze Haltung ruhig und gefaßt. Dick sah deutlich, daß sie atmete. Das Geräusch von Dicks Nahen hatte sie nicht aufgeschreckt. Bald durchbrach ein störender Ton das tiefe Schweigen der Nacht: die Uhr erhob ihre Stimme, erst quarrend wie ein Rebhuhn, dann rief es elfmal »Kuckuck«. Noch immer blieb Esther unbeweglich und starrte auf den Leuchter. Mitternacht folgte und dann ein Uhr morgens, und noch immer hatte sie sich nicht gerührt, und Richard Naseby hatte es nicht gewagt, das Fenster zu verlassen. Endlich, es mochte halb zwei Uhr sein, flackerte die Kerze, die Esther so eifrig beobachtet hatte, und beim letzten Aufflammen des Papiers sprang sie mit einem Aufschrei auf die Füße, blickte sich um, löschte das Licht, wandte sich ab, und er hörte, wie sie eilig in der Dunkelheit die Treppe hinaufstieg. Wieder blieb Dick allein in der Finsternis jenem trostlosen, dumpfen Geisteszustand überlassen, in welchem ein Mensch glaubt, jetzt müßte das Unheil das Schlimmste vollbracht haben, und bei diesem Gedanken er sich fast befreit fühlt. Er wandte sich zum Gehen und wanderte langsam dem Gatter zu. Esther hatte ihm keine Stunde genannt, und er war entschlossen, sie sollte ihn, wann sie auch käme, wartend dort finden. Als er am Gatter anlangte, begann der Tag zu dämmern, und er lehnte sich über den Zaun und beobachtete, wie die Schatten nach und nach wichen. Endlich brach die Sonne aus einer Wolkenwand hervor, die sich allmählich im Osten zu lichten begann. Ein den Tag verkündender Wind hatte sich aufgemacht, um die blätterbedeckte Erde sauber zu fegen und die angesammelten Tautropfen aufzuschlürfen. Mein Gott, dachte Dick, kann nach diesem qualvollen Tage ein neuer Tag kommen? Ihm fehlte das Wissen von morgen.


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