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Fünftes Kapitel.
Des verlorenen Vaters erstes Auftreten zu Hause

Dieses ereignete sich an einem Dienstag. Am folgenden Donnerstag, als Dick auf Verabredung früher als gewöhnlich nach dem kleinen Häuschen ging, begegnete ihm zu seinem Schrecken auf der Straße ein Landwägelchen aus Thymebury mit den menschlichen Ueberresten Miß M'Glashan's. Sie ließ sich jedoch nicht herab, ihn beim Vorbeifahren zu bemerken. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und drückte größte Sorge um das Gepäck aus, das rings um sie aufgestapelt lag. Dick blieb stehen und überlegte, was dieser Umstand wohl zu bedeuten hätte. Aber es war ein so herrlicher Tag, daß er keine Lust hatte, etwas Schlimmes anzunehmen. Dennoch mußte sich in der Villa etwas Tragisches ereignet haben, etwas von entscheidender Natur, denn in dem Wagen befand sich Miß M'Glashan samt ihrem kleinen Erbe in braunen Packpapieren auf der Reise, und der alten Dame Verhalten verriet heißen Kampf und völlige Niederlage.

Würde das Haus ihm etwa verschlossen sein? War Esther allein zurückgeblieben, oder war ein neuer Beschützer aus der Reihe der Millionen Europäer in Erscheinung getreten? Es liegt im Wesen der Liebe, die nahen Verwandten des geliebten Gegenstandes zu verabscheuen. Viele Kapitel in der Geschichte der menschlichen Rasse haben dieses Gefühl gerechtfertigt, und besonders das Verhalten von Onkeln hat schon häufig eine Rüge von Seiten des unabhängigen Romanschriftstellers erfahren. Miß M'Glashan erschien Dick jetzt im rosigen Lichte des Mitgefühls. Wer auch ihr Nachfolger sein mochte, Dick fühlte, die Veränderung konnte nur zum Schlechten sein. Seine Gedanken eilten ihm voran, und mit jedem Schritt wuchs seine Besorgnis. Als er endlich den Garten betrat, klang eine bekannte Stimme an sein Ohr, und er blieb wie angewurzelt stehen, diesmal aber nicht von Zweifeln gebannt, sondern durch die unleugbare Gewißheit eines Unheils. Der Blitz hatte eingeschlagen: der Admiral war da. In dem panischen Schrecken dieses Augenblicks wollte Dick die Flucht ergreifen, aber Esther hielt, wenn ihr Geliebter erwartet wurde, scharf Ausguck. Im Nu war sie an seiner Seite, übervoll von Neuigkeiten und Freude, zu glücklich, um seine Verlegenheit zu bemerken, und in einem goldenen Ueberschwang des Entzückens, der sich nicht in Worten, sondern nur in Zärtlichkeiten ausströmen konnte. Sie ergriff ihn an den Fingerspitzen (indem sie sich vorbeugte, um seine Hände erreichen zu können, denn ihr einziger Gedanke war, Zeit zu sparen), zog ihn an sich, stieß ihn vor sich zur Tür hinein und stellte ihn Mr. van Tromp, bekleidet mit einem Anzug aus französischem Samt und mit einem bemerkenswerten Furunkel auf der Nase, Angesicht in Angesicht gegenüber. Dann, als wäre dieses das Höchste, was sie an Freude ertragen konnte, wandte sich Esther ab und eilte aus dem Zimmer. Die beiden Männer blieben allein zurück und blickten sich beide in ziemlicher Verwirrung an. Natürlich war van Tromp der erste, der seine Fassung wieder gewann. Mit vornehmer Geste streckte er seine Hand aus.

»Sie kennen also mein kleines Mädchen, meine Esther?« fragte er. »Das ist schön; das ist, was ich von der Heimat erwartet habe. Heimat! Ein seltsames Wort für den alten Freibeuter. Doch wir alle haben eine Sehnsucht nach Heimat und Häuslichkeit, mögen wir dies Gefühl noch so tief verbergen. Diese Sehnsucht hat mich hierher geführt, Mr. Naseby«, schloß er mit einem Ausdruck, der auf der Bühne sein Glück begründet haben würde, so angemessen, so schwermütig, so hoheitsvoll, so ganz eines Weltmannes und Philosophen würdig. »Hier sehen Sie einen zufriedenen Menschen.«

»Ich sehe«, sagte Dick.

»Nehmen Sie Platz«, fuhr der Parasit fort und ging mit gutem Beispiel voran. »Fortuna war gegen mich (ich nippe grade ein wenig Likör – nach meiner Reise). Es ging mit mir bergab, Mr. Naseby; unter uns, ich stand da, décavé. Ich lieh mir 50 Franken, schmuggelte meine Handtasche am Portier vorbei – eine Arbeit, die erheblichen Takt erforderte – und hier bin ich!«

»Ja«, sagte Dick, »hier sind Sie.« Er fühlte sich völlig idiotisch.

In diesem Augenblick betrat Esther wieder das Zimmer. »Freust du dich, ihn wieder zu sehen?« flüsterte sie ihrem Geliebten ins Ohr, und das Frohlocken in ihrer Stimme unterbrach das Flüstern fast wie Gesang.

»Oh, gewiß, sehr.«

»Das wußte ich«, erwiderte sie. »Ich erzählte ihm, wie du ihn liebst.«

»Bedienen Sie sich«, sagte der Admiral, »bedienen Sie sich! Wir wollen auf ein neues Leben trinken.«

»Auf ein neues Leben!« wiederholte Dick und hob das Glas an die Lippen, setzte es aber unberührt wieder hin. Für einen Tag hatte er genug Neuigkeiten.

Esther saß auf einem Schemel zu ihres Vaters Füßen, hielt ihre Knie mit den Armen umschlungen und blickte stolz von einem ihrer beiden Besucher zum andern. Ihre Augen glänzten, so daß man nie sicher war, ob nicht Tränen in ihnen ständen. Leichte Wonneschauer durchrieselten ihren Körper. Bisweilen preßte sie ihr Kinn gegen die Brust. Dann warf sie ekstatisch den Kopf zurück, mit einem Wort: sie befand sich in jenem Zustande, da man von einem Menschen sagt, er wisse sich vor Glück nicht zu fassen. Es wäre schwer, Richards Leiden zu übertreiben. Inzwischen schwatzte van Tromp unaufhörlich: »Ich vergesse nie einen Freund«, sagte er, »ebensowenig einen Feind; von letzteren hatte ich freilich nur zwei – mich selbst und das Publikum. Und ich denke, an beiden habe ich hübsch freigiebig Rache genommen.« Er kicherte. »Aber diese Zeiten sind ein für allemal vorbei. Van Tromp existiert nicht mehr. Er war ein Mann, der Erfolge hatte. Ich denke, Sie wissen es, ich hatte Erfolge. Doch wir wollen deren fürder nicht mehr Erwähnung tun.« Mit einem Lächeln zupfte er seine Krawatte zurecht. »Wie gesagt, jener Mann existiert nicht mehr: durch einen Willensakt habe ich ihn vernichtet. Aehnliche Beispiele finden Sie in der Literatur. Erst ein glänzender und außergewöhnlicher Aufstieg, bemerkenswert für alle Kenner, einschließlich der Gerichtsdiener, möchte ich sagen; und dann, presto! Ein ruhiger, gewitzigter alter Bonhomme, der seine Rosen züchtet. In Paris, Mr. Naseby –« ...

»Nenne ihn Richard, Vater«, sagte Esther.

»Also Richard, wenn es mir gestattet ist. Wahrlich, wir sind ja alte Freunde und jetzt nahe Nachbarn; apropos, was für Nachbarn sind wir eigentlich, Richard? Ich glaube, dieses Häuschen steht auf Ihres Vaters Grund und Boden – eine Familie, die ich hoch schätze – und der Wald gehört, so viel ich weiß, Lord Trevanion. Nicht, daß ich mich darum kümmere. Ich bin ein alter Bohemien, ich habe mit der Gesellschaft in schroffster Form gebrochen. Ich schnitt sie, während ich mich im Glück befand, und ernte jetzt meinen Lohn: auch in meinem Niedergang kann ich sie noch mit Würde schneiden. Das sind so unsere kleinen amours propres, meine liebe Tochter: dein Vater muß sich seine Selbstachtung wahren. – Ich danke dir; ja bitte, nur ein Schlückchen, ein Schlückchen, verdünnt – Dank, besten Dank, du verwöhnst mich. Aber, was ich gerade sagen wollte, Richard, oder worüber ich sprechen wollte, man ließ meine Tochter hier versauern; ihre Tante war nur eine Anstandsdame; daher, in Par[e]nthese, lieber Richard, ihr Mißtrauen gegen mich. Meine Art und die dieser Tugendwächterin sind Pole – die gegensätzlichsten Pole. Doch jetzt, da ich hier bin, jetzt, da ich den Kampf aufgegeben habe und hinfort nur noch für ein einziges meiner Werke leben will – ich bin so bescheiden, es für mein bestes Werk zu erklären – für meine Tochter – jetzt werden wir das alles in Ordnung bringen. Was ist's mit den Nachbarn, Richard?«

Aus Richards Antwort ging hervor, daß zahlreiche vornehme Familien im Tale des Thyme wohnten.

»Sie werden uns bei ihnen einführen«, erklärte der Admiral.

Dicks Hemd wurde klatschnaß. Er stammelte eine unbeholfene Entschuldigung, er müsse leider aufbrechen, was Esther auf Dicks Scheu, aufdringlich zu erscheinen, zurückführte und daher sehr zu Dicks Gunsten auslegte.

Sie versuchte, ihn zurückzuhalten.

»Vor unserem Spaziergang?« rief sie. »Ausgeschlossen! Ich muß meinen Spaziergang haben.«

»Wir wollen alle gehen«, sagte der Admiral, sich erhebend.

»Du weißt ja gar nicht, ob wir dich heute brauchen können«, rief Esther und lehnte sich zärtlich an seine Schulter. »Ich möchte mich mit meinem alten Freunde über meinen neuen Vater besprechen. Aber du darfst heute trotzdem mitkommen. Du darfst alles tun, was du willst. Ich habe mir fest vorgenommen, dich zu verwöhnen.«

»Ich würde gern noch einen Tropfen trinken«, sagte der Admiral und schenkte sich ein Glas Brandy ein. »Es ist erstaunlich, wie mich diese Reise ermüdet hat. Ich fange an, alt zu werden. Ja, ich werde alt, ich werde alt – und mit Trauer muß ich hinzufügen – kahl.«

Kokett stülpte er sich einen weißen Schlapphut auf den Kopf – sein Benehmen war das eines Herzensbrechers. Esther hatte bereits ihren Hut aufgesetzt und war fertig, als er noch in einem Spiegel das Resultat seiner Bemühungen studierte. Das Furunkel nahm seine Aufmerksamkeit etwas schmerzlich in Anspruch.

»Wir sind jetzt der Herr Papa; wir müssen ehrbar sein«, sagte der Admiral zur Erklärung seines stutzerhaften Wesens zu Dick; dann ging er zu dem Schirmständer und wählte sich einen Stock aus.

Wo waren die eleganten Stöcke seiner Pariser Zeit? Dieser Stab war eine Stütze für das Alter und bestimmt für ländliche Szenerien. Dick fing an, des Mannes Freude an seiner neuen Rolle zu verstehen und zu würdigen, als er sah, wie sorgfältig der Admiral »seine Maske« vorbereitet hatte. Selbst einen besonderen Schritt hatte er sich für diesen ersten Landausflug mit seiner Tochter zugelegt, einen Schritt, der bewunderungswürdig paßte. Er ging mit Anstrengung, er stützte sich auf den Stock; er blickte sich mit trauriger, lächelnder Freude über alles, was er sah, um; er erkundigte sich sogar nach dem Namen einer Pflanze und schalt sich selbst einen alten Stadtvogel, entfremdet der Natur. »Dieses Landleben wird mich wieder jung machen«, seufzte er. Beim Abenddämmern erreichten sie die Spitze des Berges. Die Sonne war im Untergehen, alle Farben hatten sich im Westen zusammengezogen, die feinsten Umrisse der Höhen wurden durch die sanften, schrägen Strahlen hervorgehoben, und das weite Moor, von Tälern und Haselnußhecken wie von Adern durchzogen, erstreckte sich westlich und nördlich in einem dunstigen Glorienschein.

Der Maler in van Tromp erwachte.

»Gott, Dick!« rief er, »welche Tinten!«

Eine Ode von vierhundert Versen hätte Esther nicht so zu rühren vermocht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen des Glücks. Ja, das war der Vater, von dem sie geträumt, wortkarg, freundlich, ein Maler im innersten Herzen und im Wesen ein echter Gentleman. Gerade in diesem Augenblick entdeckte der Admiral ein Haus am Wege und etwas über der Haustüre, das man als ein Wahrzeichen für die Hoffnungsvollen und Durstigen deuten konnte.

»Ist das nicht ein Wirtshaus?« erkundigte er sich und deutete mit seinem Stocke auf das Schild.

Eine auffällige Veränderung klang aus seiner Stimme, als messe er der Frage besondere Wichtigkeit bei: Esther lauschte in der Erwartung, etwas Witziges oder Kluges zu vernehmen.

Dick bejahte die Frage.

»Kennen Sie es?« erkundigte sich der Admiral.

»Ich bin wohl hundertmal an der Kneipe vorübergegangen, das ist alles«, erwiderte Dick.

»Ah«, rief van Tromp und schüttelte mißbilligend sein Haupt. »Sie gehören also nicht zu der alten Garde! Sie müssen die Welt erst kennenlernen. Sehen Sie mich an. Ich entdecke ein Wirtshaus, unmittelbar bei meinem eigenen Hause, und mein erster Gedanke ist: mein Nachbar. Ich werde vorangehen, um mit meinem Nachbarn Bekanntschaft zu schließen; nein, ihr braucht nicht mitzukommen; es dauert nur eine Minute.«

Rasch schritt er auf die Schenke zu und ließ Dick und Esther allein auf der Straße.

»Dick«, flüsterte Esther, »ich bin so froh, mit dir ein paar erforderliche Worte sprechen zu können. Ich fühle mich ja so glücklich. Ich muß dir tausend Dinge sagen und muß dich bitten, mir etwas zuliebe zu tun. Stell dir vor, er ist ohne Malkasten, ohne Staffelei gekommen, und ich möchte ihn mit allem ausrüsten. Bitte besorge alles in Thymebury. Du sahst ja eben, wie sich sein Herz der Malerei zuwandte. Sie können ohne ihre Kunst nicht leben«, fügte sie hinzu und dachte dabei vielleicht an van Tromp und Michelangelo.

Bis zu diesem Augenblick war ihr an Dicks Benehmen nichts aufgefallen. Sie war zu glücklich, um neugierig zu sein. Und sein Schweigen in Gegenwart des großen und vornehmen Wesens, das sie Vater nannte, war ihr nur natürlich und lobenswert erschienen. Aber jetzt, da sie allein waren, wurde sie sich auf einmal einer Schranke zwischen sich und ihrem Geliebten bewußt, und Unruhe regte sich in ihrem Herzen.

»Dick!« rief sie, »du liebst mich nicht.«

»Ich liebe dich«, sagte er herzlich.

»Und doch bist du unglücklich! Du bist so seltsam! Du – du freust dich nicht, meinen Vater zu sehen«, schloß sie und ihre Stimme brach.

»Esther«, sagte er, »ich versichere dir, daß ich dich liebe; wenn du mich liebst, weißt du, was das bedeutet, und daß ich nur den einen Wunsch habe, dich glücklich zu sehen. Glaubst du, ich kann deine Freude nicht mitempfinden? Esther, ich tue es. Wenn ich traurig bin, wenn ich beunruhigt bin, wenn – – Oh, glaube mir, versuche es, und glaube an mich«, rief er, einer vielleicht glücklichen Eingebung folgend, unter Verzicht auf alle weiteren Argumente.

Doch der Argwohn des jungen Mädchens war erweckt, und obwohl sie die Sache nicht weiterverfolgte (denn sie sah bereits ihren Vater zurückkehren), ging sie ihr keineswegs aus dem Kopf. In diesem Augenblick kränkte sie einfach die Selbstsucht eines Mannes, der durch seine finsteren Blicke und seine gequälte Sprache ihr Glück trübte. Es gibt nichts, was eine Frau schwerer zu verzeihen vermag als die Sprache eines Leids, das sie selbst, wenn auch nur im Augenblick, nicht teilt. Im nächsten Moment vermutete sie, er wäre auf ihren Vater eifersüchtig, und deswegen verachtete sie ihn, trotz gewisser Entschuldigungsgründe, die sie dafür fand. Doch so oder so, der gefahrdrohende Anfang einer Trennung zweier Herzen war in Sicht. Esther befand sich im Widerstreit mit ihrem süßesten Freunde; sie konnte fürder nicht in sein Herz blicken, hörte darin nicht die gleiche Sprache wie in ihrem eigenen. Sie konnte nicht länger an ihn als die Sonne denken, die nur Glück über ihr Leben strahlte. Zum erstenmal hatte sie sich mit einer Bitte an ihn gewandt, und er hatte kalt und düster geantwortet und Finsternis und Frost über sie gebreitet. Um alles in einem Wort zusammenzufassen: ihre Liebe begann, obgleich noch kaum merklich, zu schwinden.


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