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Zweites Kapitel.
Ein Brief an die Zeitungen

Der alte Mr. Naseby besaß das unbeugsame, ungebildete Wesen der oberen Mittelklasse. Der Kosmos erschien ihm klar und einfach. Die Sache ist richtig oder die Sache ist falsch, pflegte er zu sagen. Damit war für ihn die Angelegenheit erledigt. Aus seinen Aeußerungen sprach eine verhaltene prophetische Energie, selbst bei den geringfügigsten Anlässen. Er durchschaute das verdammte Ding. Wenn man das nicht tat, konnte das nur auf einer Perversität des Willens beruhen, und das ließ ihm das Blut zu Kopfe steigen. Abgesehen von dieser Tatsache, die ihn zu einem etwas unbequemen Gefährten machte, war er einer der aufrechtesten, heißblütigsten, hitzköpfigsten alten Gentlemen in England. Von blühendem Aussehen, mit weißem Haar, dem Antlitz eines alten Jupiters und der Gestalt eines alternden Krautjunkers durchquerte er auf seinem kräftigen raschen Braunen das Tal der Thyme von einem Ende bis zum andern. Vor Dick, einem Burschen von Fähigkeiten, empfand er aufrichtigen Respekt, und Dick respektierte seinen Vater als den besten aller Männer; nur wurde dieser Respekt durch die vorsichtige Auflehnung eines Jünglings gemildert, der sich seine eigene Unabhängigkeit zu wahren entschlossen ist. So oft das Paar miteinander stritt, kam es zu einem offenen Bruch. Argumente waren billig, denn beide waren sehr positiv, und beide liebten es, ihren Verstand zu gebrauchen. Es war ein Genuß, Mr. Naseby die Kirche von England mit einer Flut von Flüchen verteidigen zu sehen oder ihn mit einem Enthusiasmus, der nicht ganz frei von altem Portwein war, asketische Moral verfechten zu hören. Dick wurde bei solchen Gelegenheiten in der Regel wütend, nicht zum wenigsten, weil er sich infolge der geschickten Dialektik seines Vaters nicht selten ins Unrecht gesetzt sah. Aber das verdoppelte nur seine Energie, und er erklärte mit innerster Ueberzeugung und in hitzigster Form, daß Schwarz Weiß wäre und Blau Gelb. Am nächsten Morgen aber lastete diese Zügellosigkeit des Streites wie ein Verbrechen auf ihm. Er pflegte dann seinen Vater auf der Terrasse aufzusuchen, auf der dieser regelmäßig vor dem Frühstück umherschlenderte und das weite Tal des Thyme überblickte.

»Ich muß mich wegen gestern abend noch bei Ihnen entschuldigen, Vater«, begann er gewöhnlich.

»Da hast du ganz recht«, fiel ihm der alte Gentleman dann meistens belustigt in die Rede. »Du sprachst wie ein Idiot. Lassen wir die Sache ruhen!«

»Sie mißverstehen mich, Vater. Ich denke an einen speziellen Punkt. Ich gebe zu, daß Ihre Beweisgründe bezüglich der Lehre von den Möglichkeiten eine starke Ueberzeugungskraft besitzen.«

»Natürlich besitzen sie die«, erwiderte sein Vater, »und jetzt begleite mich, wir wollen uns die Ställe ansehen; nur«, pflegte er hinzuzufügen, »schreib es dir hinter die Ohren und denke künftig daran, daß ein Mann von meinem Alter und meiner Erfahrung besser weiß, was er sagt, als so ein grüner Junge.«

Das Wort »Junge« sprach er gewöhnlich noch unangenehmer aus als der Durchschnitt der Väter, und die Selbstverständlichkeit, mit der er diese Entschuldigungen entgegennahm, schnitt Richard ins Herz. Er zog dann peinliche Vergleiche und erinnerte sich, daß immer er es war, der sich entschuldigte. Dies verlieh ihm in seinen Augen ein großes Uebergewicht und trug indirekt zu seinem besseren Benehmen bei; denn er war ebenso gewissenhaft wie vornehm denkend und auf nichts so stolz wie auf eine gerechte Unterwerfung.

So verliefen die Dinge bis zu der berühmten Gelegenheit, da Mr. Naseby, der großen Wert darauf legte, die Wahl eines tüchtigen Parteikandidaten ins Parlament zu sichern, einen flammenden Brief an die Zeitungen sandte. Der Brief wies so ziemlich alle Fehler auf, die Parteibriefe überhaupt besitzen können. Er hatte die energische Sprache eines Fanatikers. Er war persönlich. Er war ein wenig mehr als nur zur Hälfte unfair und etwa zu einem Viertel unwahr. Der alte Mann hatte keineswegs die Absicht, etwas Unwahres zu behaupten, das steht außer allem Zweifel; aber er hatte allzu rasch Klatsch, der seiner Voreingenommenheit entgegenkam, aufgegriffen, und ihn dann vorschnell, mit seinem Namen sanktioniert, in die Oeffentlichkeit geschleudert.

»Der liberale Kandidat ist ein öffentlicher Mantelträger. Ist das die Sorte Männer, die wir brauchen? Man hat ihn der Lüge geziehen, und er hat die Beleidigung hinuntergeschluckt. Ist das die Sorte Männer, die wir brauchen? Ich sage nein! Mit der ganzen Kraft meiner Ueberzeugung antworte ich: nein!«

Und dann unterzeichnete und datierte er den Brief mit dem ganzen Stolze eines Amateurs und sah sich in Gedanken schon am nächsten Morgen als Berühmtheit.

Dick, der von der ganzen Sache nichts wußte, war an jenem unheilvollen Tage als erster aufgestanden und ging mit der Zeitung in den Garten unter einen Baum. Er fand seines Vaters Manifest auf der einen Spalte und auf der anderen einen Leitartikel. »Soviel wir wissen«, hieß es in jenem Artikel, »hat niemand Mr. Naseby wegen dieser Angelegenheit um Rat gefragt, aber hätte ihn selbst die gesamte Wählerschaft angerufen, so wäre sein Brief gegen Mr. Dalton nicht weniger unedelmütig und ungerecht. Wir wollen Mr. Naseby nicht der Lüge beschuldigen, denn wir sind uns der Folgen zu klar bewußt. Allein wir werden uns gestatten, die tatsächlichen Verhältnisse der beiden Fälle, auf die sich dieser überhitzte Parteigänger bezieht, an einer anderen Stelle unseres Blattes darzulegen. Mr. Naseby ist zweifellos ein namhafter Großgrundbesitzer unserer Gegend, aber Treue den Tatsachen gegenüber, Anstandsgefühl und englische Grammatik sind noch wichtigere Eigenschaften als der Besitz von Grund und Boden. Mr. Naseby ist sicherlich ein bedeutender Mann. In seinen ausgedehnten Parkanlagen und seinen eine halbe Meile langen Gewächshäusern, in denen er wahrscheinlich seinen Verstand und sein Temperament hat ausreifen lassen, mag er zu seinen hörigen Vasallen sagen, was ihm beliebt: Allein – (wie die Schotten es ausdrücken): ›Hier denke niemand Herr zu sein!‹«

»Der Liberalismus«, fuhr der anonyme Schreiber fort, »ist ein zu starker und gesunder Bau, usw.« Richard Naseby las die ganzen Ausführungen von A bis Z. Quälende Scham packte ihn. Sein Vater hatte den Narren gespielt. Lärmend war er ins Feld gezogen, und geschlagen kehrte er nach Hause zurück. Im gleichen Augenblick, da er seine Trompete erklingen ließ, war er auch schon schmählich aus dem Sattel geworfen. Ueber die Tatsache konnte kein Zweifel bestehen. Alles ohne Ausnahme zeugte gegen den alten Herrn. Richard würde seine Ohren geopfert haben, hätte er die Zeitung unterdrücken können. Da das aber nicht möglich war, sattelte er sein Pferd, versah sich mit einem geeigneten Stock und ritt sofort nach Thymebury.

Der Herausgeber saß in einem großen trübseligen Zimmer beim Frühstück. Das Fehlen von Möbeln, die äußerste Dürftigkeit der Mahlzeit und der abgezehrte, brennende, schwindsüchtige Blick des Schuldigen entwaffnete unseren Helden. Dennoch packte er seinen Stock und stand fest und kriegerisch da.

»Haben Sie den Artikel in der Morgenzeitung geschrieben?« erkundigte er sich.

»Sie sind der junge Mr. Naseby? Ich habe ihn veröffentlicht«, erwiderte der Herausgeber und erhob sich.

»Mein Vater ist ein alter Mann«, sagte Richard. Und dann losbrechend: »Und ein verdammt viel besserer Kerl als Sie oder Dalton!« Er machte eine Pause und schluckte. Er hatte beschlossen, daß alles ordnungsgemäß vonstatten gehen sollte. »Ich habe Ihnen nur eine Frage vorzulegen«, fuhr er fort. »Angenommen, mein Vater sei falsch unterrichtet, wäre es da nicht anständiger gewesen, den Brief zurückzuhalten und sich privat mit ihm in Verbindung zu setzen?«

»Glauben Sie mir«, erwiderte der Herausgeber, »diese Möglichkeit stand mir nicht offen. Mr. Naseby teilte mir in einem Begleitschreiben mit, daß er seinen Brief noch an drei andere Zeitungen gesandt hätte, und drohte mir, wie er es nannte, mit Bloßstellung, wenn ich seine Ausführungen nicht in meinem Blatte veröffentlichte. Die Sache betrübt mich aufrichtig. Ich verstehe und billige Ihre Erregung, junger Herr, aber der Angriff auf Mr. Dalton war übel, sehr übel. Mir blieb keine Wahl; ich mußte Mr. Dalton meine Spalten für eine Antwort öffnen. Die Partei legt einem Pflichten auf, mein Herr«, fügte der Redakteur erregt hinzu wie jemand, der eine Gefühlsaufwallung unterdrückt, »und der Angriff war übel.«

Eine halbe Minute stand Richard da und verdaute diese Antwort. Dann siegte in seinem Herzen der Gott des Fair Play, und mit einem gemurmelten »Guten Morgen« floh er auf die Straße. Auf dem Heimwege trieb er sein Pferd nicht an, und es war schon spät, als er zum Frühstück erschien. Der Gutsherr stand mit dem Rücken gegen das Feuer in einem Zustande, der einen Schlagfluß befürchten ließ, die Hände unter den Schößen seines Rockes verkrampft. Als Richard eintrat, öffnete und schloß er den Mund wie ein Schellfisch, und seine Augen quollen heraus.

»Hast du das hier gesehen?« rief er aus und deutete auf die Zeitung. – »Ja, Vater.«

»So, du hast es gelesen. Wirklich?«

»Ja, ich habe es gelesen«, erwiderte Richard und blickte auf seine Füße.

»Nun?« forderte der alte Herr. »Und was hast du dazu zu sagen?«

»Man hat Sie anscheinend falsch informiert«, erwiderte Richard.

»Nun, und was jetzt? Ist dein Geist steril? Hast du kein Wort der Erklärung? Keinen Vorschlag?«

»Ich fürchte, Vater, Sie werden sich bei Mr. Dalton entschuldigen müssen. Das wäre gut – wirklich –, es wäre nur gerecht. Außerdem würde ein offenes Zugeständnis –«, Richard machte eine Pause. Kein Wort schien ihm delikat genug, seinen Gedanken weiter auszuführen.

»Dieser Vorschlag hätte von mir kommen müssen, verstanden?« brüllte der Vater. »In deinem Munde ist er nicht am Platze. Das ist kein Gedanke für einen loyalen Sohn. Wäre mein Vater in eine so schmähliche Patsche geraten, ich hätte den Herausgeber jenes Schandblattes verprügelt bis an die Grenze seines Lebens. Verprügelt hätte ich den Kerl, Herr! Das wäre zwar die Tat eines Esels gewesen, aber es hätte bewiesen, daß ich das Blut und die natürlichen Empfindungen eines Mannes besitze. Sohn? Sie sind kein Sohn! Kein Sohn von mir, Herr!«

»Vater!« rief Dick.

»Ich will Ihnen sagen, was Sie sind«[*], schalt der Gutsherr weiter. »Sie sind ein Benthamit. Ich enterbe Sie. Ihre Mutter wäre vor Scham gestorben. Ihre Mutter hätte für solch modernen Cant kein Verständnis gehabt. Sie glaubte – sie sagte – ach, ich bin froh, daß sie im Grabe ruht, Dick Naseby! – Falsch unterrichtet! Falsch unterrichtet, Herr? Besitzen Sie überhaupt keine Loyalität? Keine Lebenskraft? Kein natürliches Empfinden? Sind Sie ein Uhrwerk, he? Fort! Hier ist kein Platz für Sie! Fort! (Die Hände in der Luft schwenkend.) Pack dich! Laß mich allein!«

In diesem Augenblick blies Dick in einem wahren Nervensturm zum Rückzug. Seine Arterien sausten und klangen, und er erlitt einen derartigen seelischen Zusammenbruch, daß er unfähig war zu sprechen oder zu hören. Und inmitten all dieses Aufruhrs grub sich tief in sein Gedächtnis ein Gefühl unverzeihlicher Ungerechtigkeit ein.


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