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Drittes Kapitel.
Im Namen des Admirals

In Zukunft kamen Dick und sein Vater nie wieder auf diesen Gegenstand zu sprechen. Sie verkehrten auf einem Fuße kühler Höflichkeit. Der aufrechte alte Gentleman wurde – gesteift durch ständigen Aerger – noch aufrechter, sobald er mit seinem Sohne zusammentraf; er erkundigte sich nach Dicks Gesundheit und sprach mit erschreckender Höflichkeit über das Wetter und das Getreide. Seine Aussprache war nadelspitz, seine Stimme kalt zurückhaltend, bestimmt. Bisweilen zitterte sie vor unterdrückter Empörung. Dick hatte ein Gefühl, als wäre sein Leben zu einem jähen Abschluß gelangt. Seine Theorien und seine Gewandtheit hatten ihn im Stich gelassen; sein vorzeitiges Weltmanntum, auf das er bei seinen Reisen so stolz gewesen war, »schrumpfte zusammen wie ein erbärmlich Ding« vor dieser echten Sorge. Stolz, verletzte Ehre, Trauer und Achtung führten täglich in seinem Herzen einen wilden Streit; bald wollte er sich, um Haaresbreite, seinem Vater auf Gnade und Ungnade unterwerfen; bald sich heimlich in der Nacht auf und davon machen, um nie wieder nach Nasebyhaus zurückzukehren. Er litt beim Anblick seines Vaters, ja ihn quälte selbst die Nähe dieses ihm so vertrauten Tales, wo jeder Winkel seine besondere Geschichte hatte und ihn mit Erinnerungen aus der Kinderzeit bestürmte. Wenn er in ein anderes Land zu lauter Fremden flüchtete, wer weiß, ob er nicht dort seinem Schicksal entgehen und seinen leichten Sinn zurückgewinnen könnte? Von jenem höchsten Gipfel der Hügel, der, einem mahnenden Finger gleich, dann und wann von einem Pfeil des Sonnenlichts getroffen, aufblitzte, konnte der Schäfer bei klarem Wetter den Schein des Meeres erspähen. Dort, glaubte Dick, läge die Hoffnung. Aber sein Herz versagte, wenn er den alten Herrn anblickte, und er blieb. Sein Geschick war nicht das eines Reisenden durch Meer und Land; sein Reiseweg sollte ihn in das Gebiet des Geistes führen, und früher als er glaubte, war ihm bestimmt, diese Reise anzutreten.

Eines Tages traf es sich, daß sein Weg ihn in eine Gegend des Hügellandes führte, die ihm fast unbekannt war. Mühsam hatte er sich durch einen unwegsamen Wald gearbeitet und trat hinaus auf ein Hochmoor, das sich bis zu den Bergen dehnte. Unweit auf einer Kuppe streckten ein paar schottische Föhren ihre Zweige gen Himmel. Ein klarer Quell entsandte vom Fuße des Hügels ein Miniaturflüßchen, das sich durch Heidekraut schlängelte. Ein Hagelschauer war soeben vorübergezogen, aber jetzt strahlte die Sonne, und die Luft duftete von Tannen und Heu. Auf einem Stein unter den Bäumen saß eine junge Dame und zeichnete. Wir sind daran gewöhnt, Frauen vermöge ihrer Kleidung in einer gewissen symbolischen Verklärung zu betrachten. Der leichteste Weg, sich unsere Gebieterin ins Gedächtnis zu rufen, ist, sie uns als ein sehr kompliziertes Ding, hauptsächlich aus Unterröcken bestehend, vorzustellen. Doch Menschentum hat allmählich über Kleidung triumphiert; der Anblick, die Berührung eines Kleides haben Leben bekommen; und das Weib, das sich früher hinter diesen materiellen Hüllen verbarg, hat jetzt ihr Gewand völlig durchdrungen und ist aus ihm herausgetreten.

Es war lediglich ein schwarzes Kleid, das Dick Nasebys Auge fesselte. Aber es ergriff Besitz von seinem Denken, und alle anderen Gedanken schwanden. Dick trat näher, und das Mädchen drehte sich um. Ihr Gesicht bezauberte ihn. Es war ein Gesicht, wie er es sich ersehnt hatte, und gleich einem Atemzug nahm er es in sich auf.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er und nahm seinen Hut ab. »Sie sind Malerin?«

»Oh!« stieß sie hervor, »nur zu meiner Zerstreuung. Ich verachte das Zeug.«

»Zehn zu eins, Sie tun sich selbst unrecht«, erwiderte Dick. »Außerdem ist die Kunst eine Art Freimaurerei. Ich zeichne selbst, und Sie wissen, was das bedeutet.«

»Nein! Was hat das zu bedeuten?« erkundigte sie sich.

»Zweierlei«, war seine Antwort; »erstens, daß ich kein sehr schlimmer Kritiker bin, und zweitens, daß ich ein Anrecht habe, Ihr Bild zu sehen.«

»Oh, nicht doch«, sagte sie und verdeckte den Block mit beiden Händen. »Ich schäme mich.«

»Aber ich könnte Ihnen vielleicht einen Rat geben«, meinte Dick; »obgleich ich nicht selbst Künstler bin, habe ich doch zahlreiche Künstler kennengelernt; in Paris waren viele Künstler meine Freunde, und ich trieb mich meistens in Ateliers herum.«

»In Paris?« rief sie und Ihre Augen begannen zu blitzen. »Ist Ihnen je Mr. van Tromp begegnet?«

»Begegnet? Mir? Gewiß! Warum? Sie sind doch nicht des Admirals Tochter?«

»Des Admirals? Nennen die Leute ihn so?« erkundigte sie sich. »Oh, wie reizend von ihnen! Es sind wohl die jüngeren Künstler, die ihn so nennen, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Dick etwas gedrückt.

»Jetzt werden Sie auch verstehen«, sagte sie mit einem nicht wiederzugebenden Ton edelsten, befriedigtsten Stolzes, »warum ich meine Skizzen nicht zeigen möchte. Van Tromps Tochter! Des Admirals Tochter! Ich bin entzückt über den Namen. Der Admiral! Sie kennen also meinen Vater?«

»Natürlich«, entgegnete Dick. »Wir sind einander häufig begegnet. Wir waren sogar befreundet. Er hat vielleicht meinen Namen erwähnt – Naseby.«

»Er schreibt so selten. Er ist so beschäftigt, so ganz seiner Kunst hingegeben! Manchmal habe ich fast den Wunsch«, fügte sie lachend hinzu, »mein Vater wäre ein einfacherer Mann, dem ich helfen könnte – dem ich eine Stütze sein könnte; doch nur manchmal, wissen Sie – und auch nur mit halbem Herzen. Er ist ein großer Maler! Haben Sie seine Werke gesehen?«

»Ich habe einige gesehen«, erwiderte Dick, »sie – sie sind – sehr niedlich.«

Sie lachte laut auf. »Niedlich?« wiederholte sie. »Ich merke, Sie haben für Kunst nicht viel übrig.«

»Stimmt«, gab er zu, »aber ich weiß, daß zahlreiche Leute froh sind, Mr. van Tromps Gemälde kaufen zu können.«

»Nennen Sie ihn den Admiral!« rief sie. »Das klingt so hübsch und vertraut, und ich freue mich beim Gedanken, daß er so geschätzt wird und daß die jungen Maler zu ihm aufblicken. Er wurde nicht immer richtig gewürdigt. Lange Jahre hat er ein schreckliches Leben gehabt. Und wenn ich denke« – Tränen traten in ihre Augen – »wenn ich daran denke, könnte ich fast verrückt werden. Doch jetzt will ich nach Hause gehen. Sie haben mich ganz glücklich gemacht. Sie müssen wissen, Mr. Naseby, daß ich meinen Vater seit meinem sechsten Jahre nicht mehr gesehen habe, und dennoch lebt er den ganzen Tag in meiner Erinnerung! Sie müssen kommen und mich besuchen; meine Tante wird entzückt sein, das weiß ich genau. Und dann werden Sie mir alles erzählen, – alles, was Sie von meinem Vater wissen. Bitte, bitte!«

Dick half ihr, das Zeichenmaterial zusammenzupacken, und als alles fertig verschnürt war, reichte sie Dick ihre Hand und erwiderte herzlich deren Druck.

»Sie sind meines Vaters Freund«, sagte sie. »Wir wollen auch gute Freunde werden. Sie müssen kommen und mich recht bald besuchen.«

Dann verschwand sie in raschem Lauf den Hügel hinunter, und Dick stand da in einem Zustand der Verwirrung, ja sogar der Pein. Manches an dieser Begegnung war lächerlich. Aber das schwarze Kleid und das Antlitz, das dazu gehörte, und die Hand, die er in seiner gehalten hatte, stimmten ihn ernst. Wie sollte er sich unter den gegebenen Umständen verhalten? Vielleicht dem Mädchen aus dem Wege gehen? Hm. Er würde darüber nachdenken. Vielleicht ihr die Wahrheit mitteilen? Was hätte das für einen Zweck? Zehn zu eins, ihre Verblendung war so groß, daß er damit keinen Erfolg haben würde. Oder die Täuschung aufrecht erhalten? Die Tatsachen beschönigen? Ihre falsche Vorstellung noch unterstützen, ohne jedoch direkte Lügen auszusprechen? Nun, auch darüber würde er noch nachdenken und auch, ob er nicht doch eine erneute Zusammenkunft vermeiden sollte. Ueber diesen letzten Punkt dachte er so gründlich nach, daß der nächste Nachmittag ihn bereits auf dem Wege, sie zu besuchen, sah.

Inzwischen war das junge Mädchen direkt, leicht wie ein Vogel, vor Freude jubilierend, nach Hause geeilt, zu der kleinen Villa, in der sie allein mit einer unverheirateten Tante lebte. Sofort berichtete sie der alten Dame, einer grämlichen, sechzigjährigen Schottin mit zitterndem Kopf, ihre Begegnung und ihre Einladung.

»Ein Freund von ihm?« rief die Tante. »Was ist er für ein Mensch? Wie sagtest du, war sein Name?«

Sie wurde totenstill und starrte die alte Frau fassungslos an. Dann sehr langsam: »Ich sagte dir doch, er wäre meines Vaters Freund; ich habe ihn in mein Haus gebeten, und er wird kommen.«

Damit ging sie auf ihr Zimmer und blieb dort den ganzen Abend und stierte die Wand an. Miß M'Glashan – das war der Name der Tante – las in der Küche mit der Freude einer Märtyrerin in einer dicken Bibel. Es mochte gegen halb vier Uhr sein, als sich Dick, äußerst sorgfältig gekleidet, vor der Tür des Häuschens einstellte. Er klopfte, und eine Stimme bat ihn, einzutreten. Die Küche, die sich direkt nach dem Garten öffnete, wurde durch das Laubwerk verdunkelt, aber er konnte trotzdem das junge Mädchen erkennen, als es aus dem entferntesten Winkel auf ihn zueilte. Diese zweite Begegnung mit ihr überraschte ihn. Ihre starken, schwarzen Augenbrauen sprachen von einem leicht erregbaren, aber schwer zu besänftigenden Temperament; ihr Mund war klein, nervös und schwach. Es lag etwas Gefährliches und verborgen Trotziges in ihrem Wesen, aber auch vieles, das ehrenhaft, mitfühlend, ja sogar edelmütig anmutete.

»Meines Vaters Name«, sagte sie, »macht, daß Sie herzlich willkommen sind.« Und sie reichte ihm ihre Hand wie eine Gunstbezeugung. Es war eine freundliche Begrüßung, obgleich etwas gekünstelt. Dick fühlte sich wie im siebenten Himmel. Sie führte ihn durch die Küche in das Wohnzimmer und stellte ihn Miß M'Glashan vor.

»Esther«, sagte die Tante, »bereite bitte für Mr. Naseby den Tee.«

Sobald das Mädchen zu diesem gastfreundlichen Zweck hinausgegangen war, durchquerte die alte Frau das Zimmer und trat fast drohend dicht vor Dick hin.

»Sie kennen jenen Menschen?« erkundigte sie sich in herrischem Flüsterton.

»Mr. van Tromp?« fragte Dick. »Gewiß kenne ich ihn.«

»Nun? Und was bringt Sie hierher?« rief sie. »Ihre Mutter kann ich nicht schützen – sie ist tot –, wohl aber das Kind.« In ihrer Stimme lag ein Klang, der den armen Dick mit Bestürzung erfüllte. »Mann, worum handelt's sich jetzt?« fuhr sie fort. »Braucht er Geld?«

»Gnädige Frau«, sagte Dick, »ich glaube, Sie verkennen meine Stellung. Ich bin der junge Mr. Naseby von Nasebyhaus. Meine Bekanntschaft mit Mr. van Tromp ist wirklich nur ganz oberflächlich. Ich fürchte, Miß van Tromp hat unsere Intimität in ihrer Einbildung übertrieben. Ich weiß positiv nichts von seinen Privatangelegenheiten und kümmere mich auch nicht um sie. Ich traf ihn zufällig in Paris – das ist alles.«

Miß M'Glashan schöpfte tief Atem. »In Paris? Nun, und was halten Sie von ihm? – Was halten Sie von ihm?« wiederholte sie in schärferem Tone, als Richard, dem eine solche Frage nicht nach seinem Geschmack war, auf eine Antwort warten ließ.

»Ich fand, daß er ein sehr angenehmer Gesellschafter sei«, entgegnete er.

»Ah«, sagte sie, »wirklich? Und womit verdient er sich sein täglich Brot?«

»Ich vermute« stieß Dick hervor, »Mr. van Tromp besitzt zahlreiche großzügige Freunde.«

»Dafür verbürge ich mich«, höhnte sie. Und bevor Dick noch ein Wort sagen konnte, war sie aus dem Zimmer verschwunden.

Esther kam mit dem Teebrett zurück und setzte sich.

»Und jetzt«, sagte sie behaglich, »erzählen Sie mir alles über meinen Vater.«

»Er –«, stammelte Dick, »er ist ein sehr angenehmer Gesellschafter.«

»Ich fange bald an zu glauben, daß er ein angenehmerer Gesellschafter ist als Sie, Mr. Naseby«, sagte sie lachend.

»Sie vergessen, ich bin seine Tochter. Fangen Sie mit dem Anfange an, und erzählen Sie mir alles, was Sie von ihm gesehen haben, alles, was er gesagt hat, und alles, was Sie antworteten. Sie müssen ihn doch irgendwo getroffen haben. Beginnen Sie damit.«

Er fing also an zu berichten: wie er den Admiral malend in einem Kaffeehause erblickt und wie die Kunst ihren Vater so gefesselt hätte, daß er nicht hatte warten können, bis er zu Hause gewesen wäre, um – nun –, um seine Gedanken hinzuwerfen; daß seine Gedanken (dies als Antwort auf eine Frage) aus einem krähenden Hahne und zwei pickenden Hühnern bestanden hätten; daß er in seinem Atelier ein Gemälde nach einem griechischen Vorwurf in Arbeit hätte, das in mehrfacher Hinsicht sehr bemerkenswert zu sein schiene; wie nie jemand das Atelier, in dem dieses Kunstwerk rasch, wenn auch im Verborgenen, seiner Vollendung entgegenreifte, gesehen habe, noch seine genaue Lage kenne, wie (dies als Antwort auf eine entsprechende Anregung) diese Scheu dem Admiral, Michelangelo und anderen gemeinsam wäre; wie sie (Dick und van Tromp) auf den ersten Blick Bekanntschaft geschlossen und noch am gleichen Abend zusammen diniert hätten; wie er (der Admiral) einmal einem Bettler Geld gegeben hätte; mit welcher Rührung er von seiner kleinen Tochter spräche; wie er sich einmal Geld geborgt hätte, um ihr eine Puppe zu senden – ein Charakterzug, würdig eines Newton, war doch seine Tochter damals schon wenigstens neunzehn Jahre alt gewesen –; wie, falls die Puppe nie ihren Bestimmungsort erreicht hätte (was sie in der Tat niemals tat), dieser Zug um so charakteristischer wäre für den höchsten Grad schöpferischen Intellekts; wie – nein, nicht schön – bestrickend er wäre, ja, Dick wollte so weit gehen, einfach bestrickend zu sagen, wie seine Schuhe glänzten, wie schwarz sein Rock wäre, kein Cutaway, nein, ein Gehrock; und so fort und so fort, meterweise. Es war eigentlich erstaunlich, wie wenig Lügen nötig waren. Alles in allem übertreiben die Leute die Schwierigkeiten des Lebens. Eine leichte Wendung, nur ein Ruderschlag dann und wann, und das Reich der doppelsinnigen Unterhaltung ist – einen willigen Zuhörer vorausgesetzt – unbegrenzt.

Ab und zu stattete Miß M'Glashan dem Wohnzimmer einen erkältenden Besuch ab; dann wurde die Aufgabe ganz erheblich schwieriger. Aber Esther gegenüber, die ganz Auge und Ohr war, das Gesicht vor Spannung leuchtend, floß sein Redestrom ohne Unterbrechung und Stockung, und sein Geist war nie um treffliche Ausflüchte verlegen.

Was für ein Nachmittag war das für Esther!

»Ach« sagte sie endlich, »wie gut es tut, all das zu hören! Sie müssen wissen, meine Tante ist engherzig und furchtbar fromm. Sie kann das Leben eines Künstlers nicht begreifen. Mich jedoch erschreckt das alles nicht«, fügte sie großartig hinzu, »ich bin eines Künstlers Tochter.«

Dieser Ausspruch tröstete Dick hinsichtlich seines Betruges. Die Täuschung war ja schließlich gar nicht so schlimm. Und wenn es auch wirklich Schwindel war, war dieser Schwindel nicht ein frommer Betrug? Konnte es eine höhere Aufgabe geben, als in dem Herzen einer Tochter das kindliche Vertrauen und die kindliche Ehrfurcht lebendig zu erhalten, die, selbst falsch angebracht, sie gleich einem geistigen Edelstein schmückte? Vielleicht regte sich bei Dick daneben noch ein Hintergedanke: ein Schatten von Feigheit, der egoistische Wunsch, zu gefallen. Der arme Dick war ja auch nur ein Mensch, und was würdet ihr an seiner Stelle getan haben?


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