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Viertes Kapitel.
Esther über die kindlichen Beziehungen

Einen Monat später trafen sich Dick und Esther an dem Zaun neben dem Kreuzweg. Wäre außer den Vögeln und Insekten jemand anderes dort gewesen, um sie zu beobachten, er würde bemerkt haben, daß ihr Beisammensein ganz anders verlief als an früheren Tagen. Dick zog sie in seine Arme, und lange Zeit preßten sich ihre Lippen aufeinander. Dann hielt er sie auf Armeslänge von sich, und sie blickten sich lange in die Augen.

»Esther!« sagte er. Ihr hättet seine Stimme hören sollen!

»Dick!« sagte sie.

»Mein Liebling!«

Es dauerte einige Zeit, bevor sie weitergingen. Er schlang einen Arm um ihre Taille, und dicht aneinandergeschmiegt schritten sie weiter. Die Sonne, die Vögel, der Westwind, der durch die Bäume strich, ein Druck, ein Blick, das Umfassen eines einzelnen Fingers: diese Dinge vertraten bei ihnen die Stelle der Gedanken und erfüllten ihre Herzen mit Jubel. Der Pfad, dem sie folgten, führte durch ein lichtes Tannengehölz, dessen Boden mit Heide und Blaubeeren bedeckt war, und nicht ohne einen gewissen Ernst bat Dick Esther, sich auf diesem einladenden Teppich niederzulassen.

»Esther«, begann er, »es gibt etwas, das ich dir sagen muß. Du weißt, mein Vater ist ein reicher Mann, und du glaubst vielleicht, daß wir uns jetzt, da wir uns lieben, sobald es uns gefällt, heiraten können. Aber ich fürchte, Liebling, wir werden noch lange warten und unseren ganzen Mut zusammenraffen müssen.«

»Ich habe Mut zu allem«, sagte sie. »Ich besitze alles, was ich brauche. Mit dir und meinem Vater geht es mir so gut, und die Wartezeit ist so glücklich, daß ich ein ganzes Leben lang warten könnte, ohne müde zu werden.«

Bei Erwähnung des Admirals fühlte Dick einen stechenden Schmerz. »Hör mich zu Ende«, fuhr er fort, »ich hätte es dir schon eher sagen sollen. Aber ich schreckte von jeher vor dem Gedanken zurück. Wenn es möglich wäre, würde ich es dir auch jetzt noch nicht erzählen. Mein armer Vater und ich sprechen kaum miteinander.«

»Dein Vater?« wiederholte sie und wurde blaß.

»Das muß dich sonderbar berühren, und doch glaube ich nicht, daß ich mir etwas vorzuwerfen habe«, sagte er. »Ich werde dir erklären, wie alles kam.«

»Oh, Dick«, sagte sie, als sie ihn zu Ende angehört hatte. »Wie mutig du bist und wie stolz! Doch einem Vater gegenüber würde ich nicht stolz sein. Ich würde ihm alles sagen.«

»Was!« rief Dick. »Nach Monaten kommen und mich brüsten, daß ich die Absicht hatte, den Kerl zu verprügeln, und es dann doch nicht tat? Und warum tat ich es nicht? Weil mein Vater sich noch viel eselhafter benommen hatte, als ich annehmen konnte. Liebste, das ist Unsinn.«

Bei diesen Worten zuckte sie zusammen und zog sich ein wenig zurück. »Aber, wenn es doch gerade das ist, was er verlangt«, verteidigte sie sich. »Wenn er bloß wüßte, daß du diesen Wunsch gehabt hast, würde es ihn stolz und glücklich machen. Er würde einsehen, daß du trotz allem sein echter Sohn bist und die gleichen Gedanken und den gleichen ritterlichen Geist besitzt! Und dann hast du dir durch dein Schweigen ja nur selbst unrecht getan. Du verwarfst deinen ersten Entschluß doch nur, weil der Herausgeber schwach und arm war und sich entschuldigte. Wäre er ein großer, gesunder Mensch gewesen, mit einem Schnurrbart, du würdest ihn geschlagen haben. Gewiß, das hättest du getan, und wenn sich Mr. Naseby auch noch zehnmal ärger kompromittiert hätte. Glaubst du, wenn du es mir erzählst, und ich es sofort begreife, daß es schwerer sein würde, es deinem eigenen Vater zu sagen? Und daß er nicht sogar noch freudiger mit dir sympathisieren würde als ich? Ich liebe dich, Dick, aber immerhin ist er doch dein Vater.«

»Mein Liebling«, sagte Dick verzweifelt, »das verstehst du nicht. Du weißt nicht, was es heißt, tagtäglich ohne jedes Verständnis behandelt zu werden und täglich, während der Kinderzeit und Knabenzeit und auch noch als Mann, kleine Ungerechtigkeiten zu erdulden, bis dich das bloße Anhören zur Verzweiflung treibt, bis dich diese Dinge quälen wie ein Nachtgespenst, bis du fast den Anblick des Mannes, den du liebst und der vor allem doch dein Vater ist, verabscheust. Mit einem Wort, Esther, du weißt nicht, was es heißt, einen Vater zu haben; das ist es, was dich blind macht.«

»Ich verstehe«, sagte sie träumerisch, »du weißt, daß es mein Glück ist, einen Vater wie den meinigen zu besitzen. Und doch bin ich nicht vollkommen glücklich! Du vergißt, ich kenne ihn ja gar nicht. Du, du kennst ihn. Er ist bereits mehr dein Vater als meiner«, und sie ergriff Dicks Hand. Dicks Herz erstarrte fast zu Eis.

»Aber ich leide mit dir«, fuhr sie fort, »wie traurig und einsam mußt du dich fühlen.«

»Du mißverstehst mich«, stieß Dick hervor. »Mein Vater ist der beste Mann, den ich auf der ganzen Welt kenne. Er ist hundertmal mehr wert als ich, nur versteht er mich nicht, und das läßt sich nicht ändern.«

Eine Weile herrschte Schweigen. »Dick«, begann sie dann wieder, »ich möchte dich um etwas bitten. Es ist die erste Bitte, seit du mir sagtest, du liebest mich. Kann ich deinen Vater wenigstens einmal sehen? – Nur im Vorübergehen sehen, meine ich, so daß er mich gar nicht bemerkt.«

»Warum?« fragte Dick.

»Es ist nur eine Laune. Du vergißt, daß Väter für mich etwas Romantisches haben.«

Diese Andeutung genügte Dick. Er stimmte eilig zu, und mit der Qual und dem Widerwillen eines armen Sünders führte er sie einen Seitenweg hinunter und hieß sie sich in einem Gebüsch verbergen, von dem aus sie den Gutsherrn zum Essen vorbeireiten sehen konnte. Dort saßen sie beide schweigend, Hand in Hand, fast eine halbe Stunde. Endlich erklang in der Ferne der Hufschlag eines Pferdes. Das Parktor öffnete sich geräuschvoll, dann erschien Mr. Naseby, mit gebeugtem Rücken und bedrücktem, galligem Gesichtsausdruck, in langsamem Schritt näher reitend. Esther erkannte ihn sofort. Sie hatte ihn bereits früher wiederholt gesehen. Doch bei der völligen Gleichgültigkeit gegen alles, was außerhalb des Umkreises ihrer Liebe lag, hatte sie sich nie darum gekümmert, wer er wäre. Aber jetzt erkannte sie ihn sofort, fand ihn aber um zehn Jahre gealtert, verdüstert und abgespannt, mit dem Stempel schwerer Sorge auf dem Gesicht.

»Oh, Dick, Dick!« schluchzte sie, und Tränen liefen über ihr Antlitz, als sie es an seiner Brust barg. Auch seine Tränen strömten reichlich. Es war ein trauriger Heimweg. Und an diesem Abend, erfüllt von Liebe und guten Vorsätzen, versäumte Dick keine Gelegenheit, seinen Vater zu erfreuen, ihn von seiner Achtung und Liebe zu überzeugen, das zerrissene Band wieder anzuknüpfen und zwei Herzen zu vereinen. Aber ach! der Gutsherr war müde und mürrisch; den ganzen Tag hatte er über Dicks Entfremdung gebrütet – denn so nannte er es bei sich selbst – und mit Brummen, kalten Worten und kalten Schultern wies er alle Annäherungsversuche zurück und verschanzte sich erst recht hinter seinem gerechtfertigten Groll.


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