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20

Aber die Tage jener kurzen, rasend bewegten Sommerzeit waren mit großen Ereignissen so zum Überlaufen angefüllt, daß Maechler den Schlag nicht voll ermaß, unter den ihn das Schicksal immer fester, immer unentrinnbarer festnietete. Wohl trieb es ihn nach dem Verlassen des Kammelschen Gasthauses ein Stück die Vogelsdorfer Straße hinauf bis an die ersten Häuser von Trennsdorf, schwenkte ihn dann von der Straße herunter ins Feld hinein, führte ihn zwischen den Teichen hin und her, als sei er nicht von ratlosem Unruhirren gepackt, sondern lüfte sich auf einem abgestohlenen Luftgänglein etwas die fast unerträglich gewordene Last tausendfacher Verantwortung, wohl saß er endlich an einem Teichrande in einer Erschöpfung nieder, die der tapfere Mann wohliges Verschnaufen nannte, und schob mit gutgespielter Gleichmütigkeit diese wilde, höllischbrennende Geschichte von dem satanisch besessenen Weibe, die aus der Erzählung des Gastwirts das Herz seines Lebens bedroht hatte, unter die unzähligen anderen grotesken Lappalien, mit denen die müßige Menge sich die geheime Furcht bunt und erträglich machte. Ja, es gelang ihm sogar, lustig aufzulachen, als er sich den kleinen Kammel vorstellte, wie ihn das Grauen manchmal geduckt und sein Gesicht verzerrt hatte. »So ein Hanswurst«, rief Maechler verächtlich aus und erhob sich unter einem neuen Lachstoß. Dann ging er mit weitausgreifenden Schritten nach Wilkau zurück, als gelte es, widerliches, dummes Geschmeiß auf dem Wege zu zertreten.

»Was denn? So ein Unsinn«, fragte er plötzlich stehenbleibend, »zum Teufel nochmal, ich hab sie doch nicht vergewaltigt!« Er fragte es so laut, daß er, durch den Klang seiner Stimme aus den unterirdischen Kreisen gerissen, erschrocken zu sich kam und furchtsam um sich schaute, ob jemand in der Nähe sei, der es gehört haben könne. Aber das Feld war weit und breit menschenleer. Das Getreide wogte seine jungen Ähren in einem heißen, leisen Wind, und der Spiegel der Teiche glitzerte wie eine silberne Haut. Die Dächer Wilkaus tauchten rot und grau aus den Baumkronen, die beiden Kirchtürme stießen ihre durchbrochenen Kropfenden wie immer in den Himmel.

»Unsinn«, murmelte Maechler vor sich hin und blies höhnisch ein halbes Lachen durch die Nase. Dieser kleine Schubiak von Kammel hatte sich nur wichtig machen wollen, um ihm als verbohrter Nachläufer des Schlossers beschwerlich zu fallen. Aus diesem Grunde auch waren die Männer von ihm zu dem unsinnigen Freibeutergange auf das Gebirge beredet worden.

Als er den Schloßplatz betrat, sah er den kleinen Drogen- und Farbenhändler Lemke mit dem blassen Kriechergesicht und dem spärlichen Kalmückenbärtchen unter der Ladentür stehen. Weil das Männchen irgendwie dem Gastwirt Kammel ähnlich war, wurde Maechler von einem Widerwillen erfaßt. Und als der Kleine bei seinem Herankommen schon von weitem ein paarmal devot zusammenklappte, juckte es den Gerber, auf ihn zuzugehen, ihn mit einem Griff vom Boden zu heben und zu fragen: »So, und Sie Jammerlappen glauben also auch an diese Gebirgsweibergeschichte?«

Aber bei dem Gruße Lemkes: »Guten Morgen, Herr Gemeindevorsteher. Was machen die Österreicher?« verflog der bittere Nebel um Maechler, er versetzte im verlangsamten Weiterschreiten dem Magerling ein freundliches Schläglein auf die Schulter und antwortete, lustig auflachend: »Was werden sie machen? Keile kriegen sie.«

Dann reckte er sich auf und nahm den weitausgreifenden sieghaften Schritt an, den die Wilkauer an ihm liebten. Lemke trat auf die Mitte des Bürgersteigs und sah dem Davongehenden bewundernd nach. »Ja, das ist ein Mann, wie wir ihn brauchen«, sagte er zu sich und kehrte schmunzelnd in den Laden zurück.

Als Maechler von der Rehberger Straße in die Feldgasse einbog, begann auf den beiden Türmen das Mittagsgeläut. Friedevoll und sicher schwang sich der Zwiegesang der Glocken hoch über der Mittagsschwüle über den Dächern durch die Luft wie ein entrückter ferner Segen, der beladene Herzen ihrem verschwiegenen Kummer entrückt. Der Gerber betrat den kleinen Ziergarten, zu dem er für sein Weib den alten Werkplatz verwandelt hatte, schritt die paar Gänge zwischen den Blumenbeeten hin und wider, und setzte sich auf die Bank, um das unruhige, dunkle Wogen in sich ganz loszuwerden. Aber immerfort sog das Düstere, Drohende an ihm, das durch die Erzählung Kammels über ihn gekommen war und das er doch abwehrte, in den hellen Kreis seines Denkens zu treten. Allein es flatterte schattenhaft in seiner Tiefe und eine unheimliche Hand streckte sich von hinten aus dem Unnennbaren nach ihm aus. Da verstummte das Geläut. Maechler sprang von der Bank auf und ging in sein Haus hinüber, Es war schon zum Mittagessen gedeckt. Jochen saß am Tisch und pinkte mit dem Löffel an seinem Teller. Als Maechler groß, breit und mit einer Art gewaltsamer Entschlossenheit in der Tür erschien, senkte der Junge nach einem Blick in sein ernstes Gesicht den Kopf, hörte sofort mit dem Geklapper auf und sah betreten vor sich hin. Maechler fuhr ihm zur Begrüßung über den Scheitel und sagte: »Na, Jochen«, trat zu seiner Frau, die, am Herd stehend, die Suppe in die Schüssel füllte, begrüßte auch sie mit gewalttätiger Leichtigkeit und fragte, was es Neues gebe. Lotte lachte ironisch auf und antwortete: »Neues? Das Neue, das du von draußen bringst, Maechler.« Der aber überhörte ihre gespitzten Worte, schritt unruhig in der Stube auf und ab, trat von Fenster zu Fenster und schlang das Essen hastig und achtlos hinunter.

Dabei redete er ingrimmig und in allgemeinen Ausdrücken von dem »Unsinn und Gequatsch« der Leute, das er sich zum Übelwerden anhören müsse, und wenn nicht mit dem Kriege was Entscheidendes passiere, so würden die Menschen tatsächlich noch verrückt. Während Maechler das belanglos und doch erhitzt herausstrudelte, vernichtend an seinem Essen schlang, vermied er es, Lotte voll anzusehen, stahl sich aber immer mit einem gierigen Blick in ihr Gesicht, wenn sie den Kopf seitlich wandte, um zu erkunden, ob und welche Veränderung mit ihr vorgegangen sei. Auf Jochen achtete er gar nicht. Nach diesem gejagten Essen schob er den Teller von sich, erhob sich mit jähem Ruck vom Stuhl und trat so leidenschaftlich auf Lotte zu, die auch aufgestanden war, daß sie betroffen einen Schritt zurückwich. Aber er ließ sie nicht entrinnen und faßte ihre beiden Hände so fest, als wolle er sie zu Mus zerdrücken. Sein Gesicht wurde blaß und zuckend. Seine Augen flackerten groß und erschreckt und bohrten sich so in sie ein, als gälte es, die letzten, heimlichsten Schleier vor ihrem Wissen zu zerreißen.

»Du, liebste Lotte! Ja?« stotterte er dabei hauchend.

Aber die Frau, die nicht wissen konnte, daß ein Schuldbeladener besorgt auf sie zugetrieben werde, sondern glaubte, irgendwelche Verwicklungen von draußen aus der Welt seien über ihm, bog sich zurück und fragte kühl:

»Ja, was ist dir denn, Maechler?«

Da ließ der Mann ihre Hände fahren und antwortete in einer Beglückung, die sie sich nicht erklären konnte: »O gar, gar nichts« und lief zur Tür hinaus.

Lotte sah ihm enttäuscht nach.

»Aha, wieder ... und ich?« sprach sie bitter vor sich hin und trat langsam an den Tisch, um abzuräumen.

Jochen hatte den Vorgang zwischen Vater und Mutter vom Fenster her beobachtet, wohin er bei dem unvermuteten Aufspringen Maechlers geflüchtet war und wußte nicht, um was es sich handelte. Als er seine Mutter blaß und mit einer tiefen Furche in die Stirn hinauf an den Tisch treten sah, kam er auf sie zu und fragte schüchtern, ob sie auch auf ihn böse sei wie Vater vorhin.

Da nahm Lotte seinen Blondkopf herzlich zwischen ihre Hände und sagte liebreich: »Wo denkst du denn hin, lieber Junge. Vater ist nicht böse auf dich. Der dumme Krieg jagt ihn nur auf allen Gassen umher. Ach und ich bin schon lange nicht böse auf dich. Du dummer Jochen, du bist doch das einzige, was ich auf dieser Welt habe.«

Sie küßte ihn wieder und wieder leidenschaftlich, bis ihr die Augen feucht wurden. Als sie das spürte, riß sie sich hastig auf, gab ihm einen kleinen Schub und sagte: »Und nun troll dich.«

Maechler lief indessen durch das ganze Haus, als müsse er sich überzeugen, daß alles noch an seinem alten Flecke stehe. Dann stürzte er sich wie ein Berserker in die Arbeit. Seine beiden Gesellen waren zu den Soldaten eingezogen worden. So mußte mit einem alten, klapprigen Gehilfen, den er auf gut Glück von der Landstraße aufgelesen hatte, der Betrieb notdürftig aufrechterhalten werden. Bald war er auf dem Boden und zählte die gewalkten Leder durch, bald schichtete er die Häute in den Tonnen um, bald untersuchte er die im Trockenschuppen aufgehängten Häute und sah nach, ob die Spreithölzer noch überall festsaßen. Er lief, als habe er vier Beine und arbeitete wie mit sechs Händen, und der grauköpfige, gerberische Sonnenbruder wurde in einen Fleiß getrieben, daß er Gott und die ganze Welt verwünschte und sich schwor, auf Nimmerwiedersehen auszurücken, sobald es irgend möglich sei. Denn wenn dieser Meister, in den offenbar der Teufel gefahren war, noch zwei Tage so unmenschlich fortrase, dann tat man besser, in den Krieg zu gehen und sich totschießen zu lassen.

Maechler aber gönnte sich kaum einen Augenblick Ruhe. Diese Schatten, die in ihm umgingen und an die er sich mit seinem Denken nicht heranwagte, so undurchdringlich und unheimlich sie waren, glaubte er totlaufen und mit seinen Händen erwürgen zu können. Immer wieder trat er auf ein kurzes Zeitstrichlein vor das Haus oder auf die Feldgasse und horchte in die Höhe, weil er sehnsüchtig war nach einem Klang entrückten Friedens, wie er im Geläut der Glocken am Mittag über ihn hingefahren war. Aber, obwohl er den von der ungestümen Arbeit hochgehenden Atem gewaltsam zurückhielt, in der stillen, stehenden Julihitze war nichts von dem seligen Tönen zu vernehmen, das er in einer Art jenseitiger Inbrunst ersehnte. Statt dessen vernahm er ein traumleises Donnern, das so schwach war, daß er glaubte, das Rollen seines eigenen Blutes zu hören. Diesen hauchschwachen Laut, der nichts war, als der Nachhall des Geschützkampfes der Königgrätzer Schlacht, die an jenem Nachmittage ihre ehernen Würfel zu Ende spielen ließ, hielt Maechler für das Brausen seines Blutes und die dunkle, seelenferne Unruhe seines Gewissens, und kopfschüttelnd und noch mehr belastet von dieser geheimnisvollen Berückung stürzte er sich wieder in seine mörderische Arbeit. Am Abend lag er vollkommen ausgepumpt und erschöpft in einer Übermüdung im Bett, die seine innere Reizbarkeit nicht geschwächt, sondern noch gesteigert hatte. Mit großen, trockenen Augen sah er unverwandt zur Decke des kleinen Schlafzimmers und kam zu der Überzeugung, seinem Weibe alles rückhaltlos sagen zu müssen, was sich einst vor langen Jahren zwischen ihm und der Paula Großmann abgespielt habe, um endlich die Pein loszuwerden, die ihn im tiefsten immer beunruhigt hatte und nun zu dieser unerträglichen Last geworden war. Endlich hörte er Lotte drunten die Haustür schließen. Sie kam leise die Treppe herauf, ging noch einmal in Jochens Kammer und betrat vorsichtig die Schlafstube, die indessen ganz finster geworden war.

Maechlers Pulse begannen zu fliegen. Er sah sich vor einem Abgrund stehen, im Begriff, sein reich gediehenes Leben und das Dasein seines Weibes und Jungen in diesen verjährten, nun weit aufgerissenen Schlund zu stürzen. Aber es mußte sein! »Droben Gnade, drunten Recht«, flog es ihm durch den Kopf. Lotte hatte sich entkleidet und mit einem leisen Gute-Nacht-Wunsch zu Bett gelegt, den Maechler nicht zu erwidern wagte. In einem letzten Ringen mit seiner Furcht lauschte er begierig auf die Atemzüge seines Weibes, die bald lang und tief einsetzten. Unter Überwindung eines Schwächeanfalls, der ihn wie ein Schwindel drehte, fragte er mit ausgehendem Atem: »Lotte, schläfst du schon?«

»Nein. Warum fragst du? Ich glaubte, du schläfst schon.«

»Ach, ich liege und kann keine Ruhe finden.«

»Was treibt dich denn wieder von draußen her?«

»Nun, weißt du, da hat mir heut morgen der kleine, eklige Kammel eine Sache erzählt, die mich den ganzen Tag verfolgt. Du hast's wohl zu Mittag gemerkt, daß ich ganz verstört war. Aber ich wollte dich damit verschonen und glaubte, es mit Arbeit unter mich zu kriegen. Allein, es hat mich nichts genutzt, und nun liege ich, und es geht wie ein Mühlrad in mir um. Da soll da drüben auf der böhmischen Seite des Kammes ein Weib rein wie eine Besessene hausen. Wen sie an Männern erwischt, den packt sie und rast ihn fast zu Tode, und jetzt im Kriege hat sie es besonders auf die Soldaten der Grenzwache abgesehen, lockt sie schamlos hinüber, tut sich in unersättlicher Brunst an ihnen gütlich und liefert sie dann den Feinden aus. Denn sie hat eine Wut, einen Haß auf alles, was preußisch ist, die sich keiner erklären kann ... und es geht die Sage... man spricht ... es ist rätselhaft ... allein, was passiert nicht mit den Menschen ...«

Da verließ den Bekenner der Mut. Es wurde schwarz in ihm. Er stotterte noch einige unverständliche Worte, die wie Schreie eines Ertrinkenden klangen, und verfiel dann in einen totenähnlichen Schlaf.

Lotte sprang erschreckt aus dem Bett, rief ihn an, rüttelte an ihm, machte Licht, streichelte seine Wangen, die blaß waren, küßte ihn auf die Stirn, die voll Schweiß stand. Es nutzte sie nichts. Er kam nicht zu sich. Sie bemühte sich, ihn aufzurichten. Endlich schlug er die Augen auf, sah erschreckt um sich, murmelte: »... ganz fern klingt ein Donner ...«, drehte sich auf die Seite und versank mit tiefem Ausschnaufen wieder in den totenähnlichen Schlaf, in dem er alles sich von dem Gewissen raste, was er Lotte wach bekennen wollte: seine Schuld, seine Not, seine Vaterschaft an dem Sohne dieses wilden Weibes. Lotte sah, wie sich seine Lippen fortwährend bewegten, wie er einmal an den Händen hob, als wolle er damit sein Gesicht bedecken.

Enttäuscht und bitter sah sie noch eine Weile diesem Schlafkampf ihres Mannes zu, aus dem sie die Bestätigung dessen aufs neue las, was seit langem ihr Herz bedrückte, daß sie Liebe gegeben hatte für etwas, was sie für Liebe gehalten hatte, und das es vielleicht auch gewesen war von seiten ihres Mannes, dessen Herz im tiefsten nicht eigentlich zu ihr, sondern in die Sorge für die Menschen getrieben wurde.

Sie löschte das Licht aus und kroch vorsichtig und umständlich-achtsam auf ihr Lager. Regungslos schaute sie lange mit großen Augen in die Nacht, um vollkommen über sich klar zu werden. O, nein, da war nichts in ihrem Leben und in ihr, dessen sie sich geschämt hätte und das sie innerlich doch nicht ganz verwinden konnte, trotzdem sie äußerlich stolz daran vorüberging. Durch nichts war dieser in tausend Gegenden des Gebens bewegte Mann vollkommen an sie zu fesseln. Selbst die rasende Leidenschaft, mit der sie ihn in dieser blinden Eifersucht auf die Welt oft an sich riß, vermochte ihn nicht dauernd an sie zu binden. Und das schlimme war, daß Maechler selbst, wie sie eben erfahren hatte, in seiner Hingabe an die Welt auf schwankem, unterhöhltem Boden stand. Bei Gott, sie konnte nichts dafür. Was sie quälte, war das beleidigte Unschuldsgefühl derer, die durch keine Lüge befleckt sind. Das und ähnliches sann das bedrängte Weib, bis sie spürte, wie das unheimliche Wesen mit den starren, schwarzen Augen aus der Luft wieder auf sie zukam. Sie fühlte noch, wie Maechlers heiße, bebende Hand einmal zart über ihr Gesicht strich, dann verfiel sie wieder in diese unnatürliche Schlafstarrheit bei offenen Augen.

*

Der andere Tag, der dieser schweren Nacht in dem Gerberhaus auf der Feldgasse folgte, war anfangs nicht dazu angetan, die dunklen, schicksalhaften Töne drohender und tiefer in das Leben der beiden Ehegatten zu führen. Im Laufe des Vormittags verbreitete sich die Kunde von einer großen Entscheidungsschlacht, die gestern in Böhmen geschlagen worden sei. Die Häuser leerten sich. Die Männer ließen ihre Arbeit im Stich. Die Frauen liefen von ihren Kochtöpfen weg. Auf allen Gassen und Plätzen sammelten sich Gruppen, die das folgenschwere Ereignis besprachen. Die einen behaupteten, die österreichischen Kanoniere hätten die Preußen in Grund und Boden geschossen. König Wilhelm und Moltke seien gefangengenommen worden, und nur Bismarck habe sich retten können. Andere wollten wissen, daß die Österreicher vollkommen geschlagen seien. Zehntausend, zwanzigtausend habe man gefangengenommen, unübersehbares Heeresgut sei erbeutet worden. Benedek mit seinem ganzen Heere befinde sich auf der Flucht, die Preußen hinter ihm her. Franz Josef, der Kaiser, habe abgedankt. Verzagtheit und Glück wogten durcheinander. Niemand wußte, woher die Nachricht gekommen war. Jeder glaubte, was seinem Wesen entsprach, bis gegen Mittag die Extrablätter des »Boten aus dem Riesengebirge« an allen Ecken klebten, die den vollkommenen Sieg der Preußen bei Königgrätz und den fluchtartigen Rückzug des österreichischen Heeres meldeten. Von den beiden Kirchtürmen donnerte das Geläut aller Glocken. Vom Dach des Schlosses wehten drei große schwarz-weiße Fahnen. Kaum ein Haus war ohne Flaggenschmuck. Gegen Abend sammelten sich Hunderte auf dem Schloßplatz. Maechler, der den ganzen Tag umhergewirbelt worden war, betrat von dem Langen Hause her, einem großen Barockbau, den des Grafen Schillings Vater für die kurgebrauchende hohe Geistlichkeit hatte erbauen lassen, den Schloßplatz, von dem lauten Durcheinanderwogen der Menschen angelockt, die in der Begeisterung zusammengelaufen waren, die jeden trug und die keiner ganz beherrschte. Man rief zu den Fenstern des Schlosses hinauf; aber der Graf erschien nicht, weil er, durch den Verdacht der Behörde verletzt, die Teilnahme an einer öffentlichen Kundgebung mit seiner Würde nicht vereinigen konnte. Als man die hohe Gestalt des Gerbers auftauchen sah, wie er mit seinen langen, entschiedenen Schritten herannahte, wandte sich aller Aufmerksamkeit ihm zu. »Der Vorsteher kommt, dort, Herr Maechler kommt.« »Bravo!« schrie es durcheinander. Der letzte schräge Abendsonnenstrahl ruhte über den Menschen. Er leuchtete dem Meister, der alle überragte, ins Gesicht, daß es aussah, als glänze es in Freude. Aber es war zergrübelt, wie übernächtigt, voll von einer kaum verborgenen Schwermut, die ergreifend wirkte. Man streckte ihm die Hände entgegen und schüttelte sie herzlich. Er konnte sich kaum der beglückten Aufregung und freudigen Achtung seiner Mitbürger erwehren. Betroffen und ein wenig schüchtern sah er von einem zum andern, schüttelte ratlos den Kopf und schrie endlich: »Kinder, seid bloß ruhig!« »Nein, Maechler soll reden«, krähte von irgendwoher die Stimme des kleinen Drogenhändlers Lemke, und im Nu war es die brausende Forderung der ganzen zusammengelaufenen Versammlung, der nicht zu widerstehen war. In der Nähe stand der Brettwagen eines Bauern, der in der Menschenmenge nicht weiterkonnte. Der Besitzer des Gefährts war abgestiegen und hielt die alten frommen Tiere am Zaume, die mit großen verwunderten Augen umhersahen, unwillig schnoben und dann und wann mißbilligend die Ohren bewegten. Als Maechler einsah, daß an ein Entrinnen nicht zu denken sei, sprang er auf den Breitwagen und rief mit seiner tiefen, weittragenden Stimme: »Wikauer! Meine lieben Mitbürger!«

Sofort trat lautlose Stille ein.

Erst sprach Maechler von der glorreichen Waffentat der Preußen, die zwar schwer errungen, aber hoffentlich endgültig sei, nannte ihren beispiellos schnellen Vormarsch einen Blitzzug und schilderte an der Hand der inzwischen eingelaufenen Nachrichten den Verlauf der Koniggrätzer Schlacht.

Dann ließ er eine kleine Pause eintreten und sah einen Augenblick sinnend vor sich hin.

Als er wieder zu sprechen begann, hatte seine Stimme einen anderen, tiefinneren Klang. »Wir Wilkauer und alle Bewohner dieses Kessels wissen es«, fuhr er fort, »das Wasser reißt Wälle, Dämme und Ufer ein. Aber die Hindernisse, die dem Fortschritt und der Höherentwicklung der Völker und Staaten entgegenstehen, sie können nur, Gott sei's geklagt, mit Menschenblut niedergebrochen werden. Wir danken von ganzem Herzen den Helden von Nachod, Trautenau, Skalitz, Schweinschädel und Königgrätz, den lebendigen und toten. In Zukunft wird Preußens Wille nicht mehr Österreichs Gnade sein. Daß aber die Früchte dieser Siege uns in Zukunft gedeihen, das, meine lieben Wilkauer, hängt nicht mehr von der Arbeit des Schwertes ab. Das muß in jedem einzelnen Bürger errungen werden. Ich wiederhole hier in diesem hohen, ereignisreichen Augenblick, was ihr alle tausendmal von mir gehört habt: Das Volk ist der Staat. Wie ihr seid, so wird der Staat sein in Gutem und im Bösen. Seid treu in der Pflicht eurer Tage, so schafft ihr dem Vaterlande gute Jahre. Soll es licht in der Zeit sein, so muß es erst licht in unserem Innern sein, licht von der Wahrhaftigkeit, gegenseitiger Duldung und Wertschätzung her, licht von der Hilfe für den schwachen Nebenmenschen her, aber auch und vor allem licht von dem ernsten Willen zur Reinheit in uns selber. Denn wer mit Schatten haust, dem wäre es besser, er läge unter den Toten von Königgrätz. Wisset, ein Held sein zum Tode ist schwer und herrlich. Schwerer und herrlicher ist ein Held sein im Leben.«

Während Maechler die letzten Sätze laut und hinreißend, wie ein Bekenntnis seines eigenen Willens, von dessen tieferer Bedeutung niemand etwas ahnte, über den Platz rief, näherte sich ein singendes Gröhlen betrunkener Männer, so, daß Maechler schnell die siegreichen Krieger, den König und das Vaterland hochleben ließ und die Nationalhymne »Heil dir im Siegerkranz« anstimmte, die alle begeistert mitsangen. Auch die Gröhler wurden mit fortgerissen. Es waren die drei Männer, die von dem Gastwirt Kammel angestiftet, als Freibeuter auf das Gebirge gegangen waren, um für die Ruchlosigkeiten des wilden böhmischen Weibes Rache zu nehmen. Allein ihr Heldengang hatte ein klägliches Ende genommen. Sie waren nach Überwindung von vielen Gasthäusern, und zwar erst gegen Abend in der Peterbaude angekommen. Dort hatten sie die angefangene Berauschung bis zur völligen Trunkenheit fortgesetzt und waren nun, immer noch nicht nüchtern, in Wilkau wieder eingerückt, als Männer, die das Bewußtsein erfüllte, die Schlacht von Königgrätz mitgewonnen zu haben. Von dem wilden Weibe sprachen sie so, als sei sie von ihnen für immer unschädlich gemacht worden.

Als das Lied verklungen war und die Menge sich nach allen Richtungen zerstreute, hörte man die Stimmen der trunkenen Helden das Gespräch der Heimkehrenden übertönen.

»Jawohl, Großmann heißt das Luder«, schrie immer wieder die blecherne Stimme des Barbiers Raschke, und die beiden andern bestätigten laut die Behauptung ihres Genossen. Dann blieben sie stehen und sangen nach der Melodie der Nationalhymne: »Heil dir im Großmannkranz« mißtönend und gröhlend über den Platz.

Maechler stand im Gespräch mit einigen Bekannten. Das Geplärr traf wie ein eisiger Schlag sein Herz. Sofort brach er die Unterhaltung ab.

»Das ist ja eine Verhöhnung. Den Rüpeln muß das Handwerk gelegt werden!« rief er entrüstet und begann, sich durch die Menge zu arbeiten. Ehe er aber in die Nähe der Sänger kommen konnte, hatten sie ihr Lied geendet, brachen in lautes Gelächter aus und trennten sich nach drei verschiedenen Richtungen. In der Ferne stimmte jeder den schönen Vers wieder für sich an, daß es Maechler vorkam, als werde seine verjährte Schande durch ganz Wilkau getragen. Ratlos und abgeschlagen ließ er sich von der Menge weiterschieben. Dann kehrte er, dumpf in sich hineinbohrend, auf den Schloßplatz zurück, der wieder öde und menschenleer dalag. Langsam, zögernd schritt er der Rehberger Straße zu und rang mit einem Taumel, der ihn immer stärker überfiel. Auf der Sandbrücke, die er absichtslos betreten hatte, lehnte er sich über das Geländer und starrte auf das Heidewasser hinunter, das leise plaudernd in der Finsternis dahinzog. Es war gut, daß er die Rüpel nicht gestellt hatte, denn dann wäre die Aufmerksamkeit aller erst recht erregt worden. Morgen, wenn die drei erwachten, war mit dem Rausch auch das meiste in ihnen verraucht. Außerdem nahm er sich vor, mit den beiden Geistlichen die Abhaltung eines Dankgottesdienstes zu besprechen, mit klingendem Aufzug des Militärvereins und einer Ansprache seines Vorsitzenden. Außerdem würden die Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz diese Geschichte bald vollkommen begraben, die für die anderen doch nur den Wert eines abenteuerlichen Gerüchtes hatte, wenn er sich nicht selbst verriet. Diese Überlegungen brachten Maechler wieder zu ruhigerer Besinnung. Trotzdem hatte er fortwährend die Empfindung, es stehe jemand hinter ihm und sehe ihn höhnisch an. Aber wenn er sich umdrehte, war die Nacht leer. Endlich stieß er sich gewaltsam vom Geländer ab, kehrte über die Brücke zurück und bog in die Feldgasse ein.

Als er das Gartenpförtchen zu öffnen im Begriff stand, kam Lotte die Stufen vom Vorplätzchen herunter, um, was sie schon einigemal getan hatte, nach ihm Ausschau zu halten. Als er ihre Hand in der seinen fühlte und ihre ruhige, klare Stimme hörte, war es ihm plötzlich sicher, er habe ihr vorige Nacht alles gestanden. Er umarmte sie in glückhaftem Frohgefühl und sagte ergriffen: »Nicht wahr, liebste Lotte, du bist nicht böse auf mich! Nein, es ist alles gut!«

Sie war beglückt über seine Zärtlichkeit, und armverschlungen gingen die beiden ins Haus.

Als Lotte vor dem Zubettgehen ihn schmeichelnd umfing, entzog er sich ihrem Liebesverlangen mit einem Kuß, denn es war ihm unmöglich, heut in ihren Armen zu ruhen.


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