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Auf diese ungewöhnliche Art vollzog sich die Einstellung Maechlers als Gesell bei dem Gerber, denn während des einfachen Mittagsmahles in der großen niedrigen, etwas schummerigen Stube, die zugleich Küche war, wurden alle Bedingungen besprochen, unter denen Maechler seine neue Stelle übernahm. Er erhielt einen Taler zehn Silbergroschen Wochenlohn und als Schlafraum eine Giebelkammer, die mit ihren Wänden aus gespundeten Brettern wie eine Bodenstube wirkte, deren Behagen noch durch eine Kommode, einen kleinen primitiven Tisch und einen Holzschemel betont wurde und Maechler eine Unterkunft bot, wie er sie noch an keiner Arbeitsstelle gefunden hatte. Während des Essens saß der Meister noch lange wie in einer Wolke von Bekümmernis und Sorge, gegen die er sich durch gütige Worte und ein liebevolles Auftauchen seines Gemütes vergeblich wehrte, so daß Maechler mit Erzählungen aus der vielfältigen Geschichte seiner Familie über die taube Stille hinweghelfen mußte, die an dem Hause, trotz der behaglichen, wohlgeordneten Bürgerlichkeit, wie eine geheime, schleichende Krankheit zehrte. Als er an den Bericht über den Grünen Baum geriet, zuckte es wieder in dem Gesicht Wennrichs auf, und ein mahnender Blick aus den Augen der ihm gegenübersitzenden Lotte bestimmte ihn, von dem wilden Geschehen aus dem Gasthaus als einer albernen, verrückten Sauferei zu sprechen, von der er in seiner Kammer nicht viel gespürt habe, bis auf den Singsang, mit dem ein Hinausgeworfener sich auf der Gasse verloren habe.

Dann wurde er auf den Werkplatz am Zacken geführt, dessen kümmerliche Verwahrlosung ihn erschreckte, und zuletzt zeigte man ihm noch den ziemlich geräumigen Garten hinter dem Hause, der mit einigen wohlgepflegten Blumenbeeten begann, aber hinter einer verwichtelten Strauchwelle in einem Durcheinander von Obstbäumen endete, um die sich offenbar seit Jahren niemand gekümmert hatte.

Gegen Abend verließ Maechler das Haus, um seine Sachen aus dem Gasthaus zu holen, wo er sich verabschiedete, ohne von seiner Einstellung in Wilkau zu sprechen. Das Felleisen mit dem Kotzenmantel über der Achsel, den Eichenheister in der Hand, trödelte er gaßauf und -ab durch Wilkau, aber jetzt mit dem Behagen eines Landfahrers, auf den ein sicheres Dach wartet. Der Himmel war wohl noch wetterverhangen, aber das Drohen, das nicht zur Entladung gekommen war, lag nun in erschöpften, unentschiedenen Wolken in der Höhe, und das Gebirge wurde von einem silberweißen Schleier vollkommen verhüllt. In diesem milchigen Dunkel wachte das Abendgeläut der beiden Kirchen auf und klang wie der Zwiegesang zweier Menschen, die mit zusammengebissenen Zähnen aufeinander einsummen. Da bog Maechler an der Sandbrücke von der Rehberger Straße in die Feldgasse ein und ging auf sein neues Heim zu, das er wider Willen gefunden hatte und dem er in einer Benommenheit sich verpflichtet hatte, die ihn noch jetzt wie der silberweiße Schleier erfüllte, hinter dem verborgen ein unsichtbares Gebirge wogte.

Er lächelte unmerklich in sich hinein, während er durch das schmale Vorgärtlein schritt und über die drei Stufen das Plätzchen unter dem Vorbau betrat, weil das kunterbunte Leben ihn auf unbegreifliche Weise in dieses verwunschene Haus undurchsichtiger, verhängnisvoller Schatten geführt hatte, indes doch sein ernster Sinn auf die Errichtung eines klaren, übersichtlichen Daseins stand. Aber, wer weiß, wozu es gut ist, und für lange blieb er wohl nicht. Mit diesem Gedanken klinkte er die Haustür auf und stand bald darauf mit dem lachenden Ausruf in der großen Wohnküche: »So, da bin ich! Guten Abend!« Der Tisch war schon gedeckt. Wennrich bastelte an der Öllampe herum, sie zu entzünden, Lotte ging in der Vorbereitung der Mahlzeit geschäftig auf und zu. Beide erwiderten seinen Gruß leise, ohne sich in ihren Hantierungen stören zu lassen, als sei er ein alter Bekannter. Er legte sein Felleisen neben den Uhrkasten an der Tür und stellte den Stock dazu.

Sobald sie aber in dem stumpfrötlichen Lichtkreise der Öllampe saßen, wurde Maechler von dem Meister mit herzlichem Handschlag willkommen geheißen und gebeten, sich an seinem Gehabe nicht zu stoßen, denn er spüre, daß das dunkle Schattenreiten ihn am längsten gequält habe. Irgendwie sei mit Maechlers Eintritt von draußen, aus der Welt, eine Tür aufgestoßen worden, und der frische Wind, der nun hereindringe, werde wohl das Finstere aus allen Winkeln treiben. Was an ihm liege, solle getreulich geschehen, daß er sich nicht als Fremder, sondern, wenn Gott wolle, als Sohn fühle. »Denn, wissen Sie, Maechler, ich habe einen Sohn gehabt und eine Frau und alles war Sonne und Wohlbehagen hier in diesem verdunkelten Hause, in dem nun Lotte das einzige Licht ist. Also nochmal gut Glück, guten Willen und Segen zum Anfang.« Er langte noch einmal herzlich nach Maechlers Hand, und auch Lotte war im Begriff, ihm die Rechte entgegenzustrecken, kam damit aber nicht weiter als bis in die Mitte des Tisches, errötete, rückte an dem Salznäpfchen und sagte einige befangene Worte. Darauf betete man nach katholischer Art und glitt in ein Gespräch über den handwerklichen Betrieb, aus dem Maechler erkannte, wie weit Wennrich von dem Unglück, das ihn getroffen hatte, beiseite geschoben worden war, und daß nicht er, sondern Lotte die Seele auch des kümmerlichen Betriebes bildete, das noch aus- und einsickerte. Er verwunderte sich über ihre klare und kluge Einsicht, der sie ohne Eitelkeit und Prahlerei Ausdruck gab, und fand ihre Zustimmung in der Überzeugung, daß unbedingt der Werkplatz von dem Ufer des Heidewassers wegverlegt werden müsse, daß auch an die Errichtung eines Trockenschuppens für Häute und Felle ehestens herangegangen werden müsse. Unaufdringlich wußte das Mädchen die Unterhaltung zu leiten und zu verhindern, daß ihr Vater sich an sein unterirdisches Minieren verlor, und Maechler unterstützte sie taktvoll und klug in diesem Bestreben. Als gegen das Ende hin der Disput sich an der Frage ein wenig erhitzte, wohin denn dann Werkplatz und Schuppen placiert werden müßten, geriet der Meister in einen immer heftigeren Unwillen über die Revolution, »diesen Unfug der dummen und prahlerischen Schreihälse und gottvergessenen Halunken«, die das ganze Leben unterwühlt hätten und auch schuld an dem Niedergang seines Betriebes wären, der vordem zu den besten und ertragreichsten des ganzen Kreises Rehberg gehört hätte. Noch ein Schritt und er stürzte kopfüber in die alte Fallgrube des erbittertsten Grames. Da aber griff Maechler energisch ein und schob den entgleisenden Wagen des Gesprächs dadurch auf einen höheren, abseitigen Weg, daß er den Anklagen Wennrichs zwar vollkommen recht gab, den erloschenen Aufruhr aber doch nicht ganz verurteilte, sondern ihn aus dem ewig berechtigten Zorn der Menschen herleite, sich gegen Willkür, Plackerei und Unterdrückung zu wehren. »Freiheit«, rief er, zuletzt selbst in Erregung geraten, aus, »Freiheit, jawohl; aber zuerst im Menschen selber. Recht, jawohl, aber zuerst recht tun gegen uns und andere. Bessere Zeiten, jawohl, aber nicht anders als durch Tüchtigkeit und Redlichkeit. So soll es sein, Meister, und so will ich sein für Sie und für mich. Denn das wissen wir beide, wenn eine schlechte Haut besser werden soll, so zerschneidet man sie nicht, sondern macht behutsam das Aas heraus. Die Revolutionsesel aber haben die Haut kreuz und quer durchschnitten und sich um das Aas nicht gekümmert. Das wird in Wilkau so gewesen sein, wie es überall war. Kopf hoch, Meister, wir machen es anders, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht gelingen sollte. Und nun: Gute Nacht!«

Er sprang auf, daß der Stuhl von seinen gestrafften Beinen polternd zurückgeschoben wurde. Lotte sah verwundert auf ihn, der so überraschend aus Wortkargheit und umsichtiger Zurückhaltung in solches Stürmen gerissen war. Ihre grau-grünen Augen, auf deren Grunde ein unaussprechlicher Schleier flimmerte, betrachteten ihn in einer Art furchtsamen Staunens.

»Sie haben recht, Maechler, ganz recht«, sagte sie in ergriffener Versunkenheit, nahm den Rock behutsam zusammen, indem sie sich vorsichtig erhob, und es schien, daß sie auf ihn zukommen wollte. Doch tat sie nur ein paar aufgelöste Schritte. Dann trat sie an die Uhr und zog sie auf. Wennrich achtete auf das rätselhafte Spiel zwischen den beiden nicht, sondern saß mit eingezogenem Kopf an seinem Platz und starrte weiten Auges vor sich hin. Beim Schnarren der Gewichtsketten fuhr er auf und sagte zu Maechler mit rauher Stimme, wie sie Abgetriebenen eigen ist: »Das ist klar, jawohl – jawohl.« Dann erhob er sich von seinem Stuhl und ging, immer wieder mit dem Kopfe nickend, in der Stube entschlossen hin.

Maechler stand betreten über die unbegreifliche Wirkung seiner kleinen Rede und wußte nicht, wie er aus dieser beladenen Wendung heraussteuern sollte. Auch Lotte bewegte sich nicht. Sie war an den Ofen getreten und sah aus dem Dunkel zu ihm hin. Da faßte er sich endlich, schob den Stuhl unter den Tisch und sagte: »Na ja, es ist Zeit, schlafen zu gehen.«

Anstatt ihm beizustimmen, gab Wennrich seinen zwecklosen Stubenwandel auf, langte sich seine Mütze von der Kommode und rief in bitterer Heiterkeit: »Bei mir noch nicht, und Lotte hat auch Ihnen noch einiges zu sagen, was sie besser kann als ich. Ich geh' eine Weile auf die Bank hinaus und laß mir Ihre Worte durch den Kopf laufen. Also gute Nacht, wenn wir uns nicht mehr sehen sollten. Lotte zeigt Ihnen alles.«

Damit war er draußen. Man hörte ihn vorsichtig durch den Flur tappen. Dann ging die Haustür und schnappte ein. Kaum war dies geschehen, so kam Lotte, nun wieder mit ihren ruhigen, langschwebenden Schritten, an den Tisch und räumte das Geschirr ab, ohne zu sprechen oder ihn anzusehen. Dann ließ sie sich auf ihren Stuhl nieder und lud Maechler ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Sie war gefaßt, kühl und fern. Ohne an das eben Geschehene anzuknüpfen, sprach sie sachlich über die Ordnung und Gepflogenheit des Hauses, über die Arbeit der nächsten Tage, erkundigte sich, wie er es mit der Wäsche halten wolle und ob er noch mehr Sachen habe als die in seinem Felleisen. Es war eine so vollkommene Veränderung mit dem Mädchen vorgegangen, daß jenes Wesen, dessen aufreizendes Lachen in der Nacht ihn angezogen hatte und jenes, das vor ein paar Minuten, von leichtem Taumel erfaßt, einige Schritte auf ihn zugegangen war, nicht derselbe Mensch zu sein schien, der vor ihm saß, ein wenig herrisch in die Schulter gereckt und ruhig auf ihre Hände sprach, die, bequem gefaltet, auf dem Tische lagen. Nur wenn sie von Zeit zu Zeit ihn voll ansah, flimmerte ein rätselhafter Schleier über die tiefen Augen, der ihren Blick gütig und grausam, furchtsam und verlockend zugleich machte. Maechler wurde immer unsicherer, gab karge Antworten und fühlte sich an die Wand der Bedienten gedrückt. Wozu dieses Weiberspiel? sann er, während er kurz dies und das bemerkte und sogar einige Male an die Tischkante griff, als wolle er sich erheben.

Als Lotte das bemerkte, flog ein Lächeln über ihr Gesicht, das wie ein Schatten aussah.

»Gewiß, Maechler«, sagte sie nach einem Stocken, »ich gebe Ihnen gleich das Licht; ich weiß auch oder kann mir vielmehr denken, daß Ihnen das Leben in unserem Hause nicht lange gefallen wird.«

Maechler unterbrach sie, deren Stimme einen bittenden Klang angenommen hatte, mit dem Ausruf: »Aber Fräulein Lotte! Hätt' ich dann so sprechen können, wie ich es vorhin getan habe?«

»Ach Gott, ja«, erwiderte sie und strich sich bei geschlossenen Augen die welligen Blondhaare hinter die Ohren. So verharrte sie zögernd eine Weile und schüttelte jäh diesen neuen Überfall der Auflösung ab.

»Nun gut, freilich. Ich will Ihnen glauben. Schön. Aber eben deswegen«, mit diesen hervorgestoßenen Worten rang sie um völlige Gefaßtheit und fuhr dann, wieder auf ihre gefalteten Hände blickend, fort: »Sie haben heut von Vater verschiedenes gehört und eher ja, wie nein, ist Ihnen im Grünen Baum dies und jenes ins Ohr geblasen worden, was meinen Vater betrifft.«

Maechler blickte erstaunt auf.

»Ja, ja«, sagte sie lächelnd, »ich weiß, daß es nicht nur eine verrückte Sauferei gewesen ist, wie Sie es, Gott sei Dank, dem Vater hingestellt haben. Seit heute morgen läuft es durch Wilkau, daß dieser entsetzliche Schlosser Neefe wieder eines seiner wilden Stücke gespielt hat. Der Gemeindevorsteher Schlicker war da, der verrückte Ignaz, aus Schweidnitz einer und der brave Kammel natürlich auch. Aber ich will nicht, daß Sie aus dem Gerede der Leute von dem Geschick erfahren, das meinen armen Vater fast zerstört hat. Ich habe alles miterlebt. Sie sind in unserem Hause und sollen von mir hören, wie es sich ereignet hat. Sie können mir glauben oder nicht. Das steht bei Ihnen, und wenn es notwendig ist, müssen Sie morgen früh eben wieder davongehen.« Jedoch unvermutet riß sie ihre Worte wieder abermals ab, stemmte sich mit steifen Armen vom Tisch, daß ihr Stuhl nur auf den hinteren Beinen stand und sah unverwandt vor sich hin, finster, erbittert, mit dunkeln Augen und zusammengepreßtem Munde, offenbar, weil sie von der Scham wieder stärker gepackt wurde, vor einem Fremden Heimlichstes ihrer Familie preiszugeben. Aber, wie von einer Faust in den Rücken gestoßen, gab sie den Kampf auf, ließ sich mit einem Ruck an den Tisch gleiten und begann die Erzählung.

Ihr Vater war vor dreißig Jahren als Handwerksbursch nach Wilkau gekommen und hatte hier in dem Hause des Großvaters Arbeit genommen. Wegen seiner thüringischen Heiterkeit wurde er bald ein beliebter Genosse der gleichaltrigen Männer des Ortes, und seine fröhliche, nie ermüdende Tüchtigkeit machte ihn nicht nur dem Meister, sondern dem ganzen Hause unentbehrlich. Das Geschäft des etwas schwer und lässig gewordenen Großvaters geriet in Schwung, und zwischen dem heiteren Gesellen und der einzigen Tochter wurde der Weg, auf dem die Herzen wandeln, kürzer und kürzer, so daß es den beiden und der Jugend von Wilkau nicht verborgen bleiben konnte, daß die Heiratsglocken zwar noch leise, ferne und undeutlich, aber doch vernehmbar über dem Hause auf der Feldgasse zu summen begonnen hatten. Manch einer der jungen Burschen, der vergeblich mit verliebten Augenrädern um das schöne, vermögliche Mädchen gestrichen war, kaute nun an verbitterten Worten gegen den Begünstigten und schob ihm, wo es sich immer tun ließ, einen Kloben vor die Füße. Nur einer, der Sohn des Schlossers Neefe, machte eine Ausnahme. Hatte er sich vorher von ihrem Vater, scheeläugig, ja direkt feindselig ferngehalten, so flog er ihm nun förmlich in die Arme. Ja, je inniger das Verhältnis der beiden Liebesleute wurde, desto brüderlicher hing sich der bisherige Hämling von Schlosser an ihren Vater, schmuggelte sich in das Gerberhaus, saß fast jeden Abend hier herum und troff von Liebenswürdigkeit und Hingabe, als werde er von der seligen Verwandlung der beiden immer weiter und tiefer selbst in eine Verklärung seines Wesens gehoben. Ihr Vater wandelte in der Sonne und merkte nicht, daß das treuherzige Mitglück des neugewonnenen Freundes nur die Maske eines heimlichen zu allem entschlossenen Rivalen sei, ja, er verwunderte sich über die zunehmende Kühle seiner Braut gegen den liebedienerischen Schlosser. Eines Abends fiel das Lügengebäude des Schleichers zusammen. Das schöne, stolze Mädchen war mit dem Schlosser zu den Blumenbeeten hinter dem Hause gegangen, weil ihr Vater noch eine Schreibarbeit zu beenden hatte. Großvater und Großmutter saßen mit am Tisch. Plötzlich stürzte das Mädchen bleich und zitternd ins Zimmer und warf voller Empörung die Tür hinter sich zu. Der Schlosser war in der heimlichen Stille des dunkeln Gartens von seiner unterdrückten Liebesraserei gepackt worden, daß er sich zuletzt zu tätlichen Vertraulichkeiten hatte hinreißen lassen. Mit einem Schlag ins Gesicht hatte das Mädchen sich des eklen Brünstlings erwehrt und lag nun, mit großen, entsetzten Augen über sich starrend, auf dem Sofa, wohin sie die Großmutter geleitet hatte. Ihr Vater sprang auf, durchsuchte den Garten, lief die Feldgasse hin, rannte in halb Wilkau herum und kehrte endlich abgetrieben heim, ohne eine Spur des schurkischen Freundes gefunden zu haben. Er blieb auch lange Monate, über ein Jahr, verschwunden. Wie seine Eltern verbreiteten, war er von dem unvermuteten Tode seiner Tante nach Oberschlesien genötigt worden, wo er dann in einer dortigen Grubenschlosserei eine gut bezahlte Stelle erhalten hatte. Um das Mädchen nicht dem Anwurf böswilliger Lästermäuler auszusetzen, drang aus dem Gerberhause nicht eine Silbe über diese treulose Niedertracht in die Öffentlichkeit. Aber dieser Faustschlag ins Gesicht des Erbärmlichen war die Ursache der nie aussetzenden Ränke, mit denen Neefe dem Gerber aus dem Hinterhalt beschwerlich fiel. Diese verborgene Züchtigung hat den Schlosser letzten Endes auch zu der Schurkerei getrieben, die das Glück des Wennrichschen Hauses bis in die Grundfesten erschütterte. – Nicht lange nach dem Verschwinden Neefes heirateten ihre Eltern. Ein Jahr später erschien Neefe mit einem merkwürdigen Weibswesen am Arm, die er sich von dort unten aus dem Kreise Pleß als Frau mitgebracht hatte. Von Anfang an verbarg er sie richtig vor den Leuten, denn sie sollte unförmlich, schiefhüftig und von einer Menschenscheu behaftet sein, die fast an Blödheit grenzt, sagte man. Aber mit dem Reichtum, den sie ihm mitgebracht hatte, hielt er nicht hinter dem Berge. Nicht, daß er sonderlich damit geprahlt hätte. Denn dazumal war er ein zäher, verschlossener Mann. Allein seine Sparsamkeit, die ihm von seinem armen Vater her im Blut steckte, artete bald in Geldgier und Geiz aus. Er begnügte sich nicht damit, sein Haus zu erweitern und sein Geschäft zu vergrößern, sondern begann bald, Geld auf Zinsen auszuleihen, die nahezu an Wucher grenzten. In dem Maße, wie die Zahl derer wuchs, deren Existenz von ihm abhing, nicht nur hier, sondern in der ganzen Umgebung, fing er an, sich in alles hineinzumischen und an allem herumzumäkeln, nicht offen, sondern, seinem Wesen entsprechend, böse und verschlagen, mit der Miene des Biedermannes und dem Herzen eines durchtriebenen Schurken. So zermürbte er seine ganze Umgebung und schuf sich ein Ansehen in Wilkau, über dessen Wert er sich vielleicht allein täuschte. Denn die Liebedienerei der Armen hielt er wohl für Verehrung, die Zurückhaltung der Besonnenen für Hochachtung, die Gegnerschaft der Rechtlichen für Neid und die Furcht der Schwachen für stille Anerkennung. Es konnte nicht fehlen, daß er zum Kirchenältesten der evangelischen Gemeinde und zum Schöffen der Ortsverwaltung berufen wurde. Nur den Grafen Schilling vermochte er nicht zu gewinnen. Sein Schloß blieb ihm verrammelt. Durch keine List und unterwürfige Schleicherei vermochte er sich einen Arbeitsauftrag der großen Verwaltung zu ergattern, nicht weil der Graf katholisch ist, sondern weil ihm der Charakter dieses heuchlerischen, gierigen Menschen verhaßt war. Wennrich kümmerte sich um dies versteckte, rastlose Treiben seiner Bosheit gar nicht. Er lebte in unbestechlicher Rechtlichkeit seinem Handwerk, in Liebe und Eintracht seiner Familie und widmete sich in reinem Ernst dem Dienst mancher Ehrenämter, die man ihm aufgedrungen hatte. Mochte es durch die Klatschgassen laufen, daß seine schöne Frau mit Kokettieren die Kunden ins Haus lockte, der Gerber wußte, aus welchem Stinkmaul dieses Gerücht stammte, und lächelte es überlegen zu Tode. In den Schöffensitzungen behandelte er den Schlosser vorsichtig wie faules Wasser und begegnete den vielen giftigen Pfeilen, die er aus dem Hinterhalt gegen ihn abschoß, und den Schädigungen, die sein Haß geschickt anzettelte, in heiterer, gesunder Geradheit, daß auch seine bezahlten Mitläufer anfingen, sich von ihm abzuwenden. Da ging der verblendete Ränkeschmied zu offener Feindseligkeit über und beantragte in einer Gemeindesitzung wegen gesundheitlicher Schädigung die Verlegung des väterlichen Arbeitsplatzes vom Heidewasser. Es entstand ein aufregender Streit. Ein Teil der Wilkauer war dafür, ein Teil dagegen. Kommissionen erschienen und nahmen den Arbeitsplatz in Augenschein und untersuchten das Wasser. Eine Zeitlang schwebte Wennrich in Sorge und Kummer, bis das energische Eingreifen des Grafen Schilling diesem widerlichen Treiben ein Ende machte. Es war im Herbst des Jahres 1847. Der Schlosser schäumte in Wut, und da bald danach in Preußen die Unruhen begannen, versteckte er seinen Haß gegen den Grafen, der an seiner Niederlage schuld war, unter der emsigen Werbearbeit für die Rechte des Volkes gegen Bedrücker und Tyrannen. Heimlich kroch er in die Hütten der Armen, lief von Dorf zu Dorf und hetzte mit verstellter Menschenfreundlichkeit, während er öffentlich den Grafen als milden, gerechten, nur von Schmarotzern manchmal irregeleiteten Herrn pries. Herzugelaufene und landfremde Zundmäuler bliesen an dem heimlichen Schwelen der Unzufriedenheit und Aufsässigkeit, bis es in dem ganzen Rehberger Kreise wie in einem Hexenkessel dumpf zu brodeln begann. Der Graf erhielt Drohbriefe, Pasquille klebten an Bäumen und Häusern, und es kam zu kleinen Aufläufen und drohenden Ansammlungen auch in Wilkau, daß Graf Schilling sich genötigt sah, sein Schloß von Jägern heimlich bewachen zu lassen. Trotzdem explodierte an einem sonntäglichen Maiabend an der Hinterseite des Schlosses eine Bombe. Ihr Vater befand sich mit seiner Frau auf einem Spaziergange durch den Badepark und sah von der kleinen Brücke über den Wassergraben, der den Privatpark des Grafen von dem Badepark trennt, einen Mann mit einem Kästchen unterm Arm durchs Gebüsch schleichen und dann mit ein paar langen Sätzen bis an die Mauer des Schlosses heranspringen. Es war schon tiefe Dunkelheit, und die Jäger saßen im Dienstzimmer des Schlosses beim Abendbrot. Wennrich hieß seine Frau auf dem Brücklein warten und schlich, weil er nichts Gutes ahnte, durchs Gebüsch auch an das Schloß heran, um zu sehen, was der fremde Mann, der so vorsichtig herangepürscht war, mit dem Kästchen am Schloß vorhabe. Aber alles lag still und ruhig im Dunkel, kein Mann und kein Kästchen zu sehen. Ihr Vater ging, nach allen Seiten spähend, über den Rasenplatz auf das Gebüsch zu, aus dem der Verdächtige aufgetaucht war. Ehe er es indes erreichen konnte, ging am Schloß die Explosion mit ungeheurem Krachen los. Mauerstücke flogen und Glasstücke klirrten. Wennrich stand vor Schreck wie angewurzelt und sah einen Mann durchs Gebüsch kriechen und über den Zaun klettern, in dem er niemand anders als den Schlosser Neefe erkannte. Das lähmte ihn vollends vor Grauen und Entsetzen. Seine Frau schrie, lief auf den Regungslosen zu und rüttelte an ihm, indem sie fassungslos und bis in die Seele bestürzt, auf ihn mit Ausrufen höchsten Entsetzens eindrang, die von den auch herbeigeeilten Jägern nicht anders als Beweis seiner Täterschaft gedeutet werden konnten. »Warum hast du das getan? Was bist du nicht bei mir geblieben? Bist du denn ganz von Sinnen gewesen?« so redete die Bestürzte ganz verwirrt auf ihn ein. Es war vergeblich. Der Gerber erhielt sich, kalkbleich und zusammengebrochen, ganz einem ertappten Verbrecher ähnlich, kaum auf den Beinen und sah mit trauervollen, entgeisterten Augen seine Frau und der Reihe nach die Männer an, die um ihn standen. Man merkte, daß er reden wollte. Es glückte ihm aber nicht. Er bewegte verneinend den Kopf. Ein paar lautlose Tränen rannen ihm über die Wangen. Endlich riß er sich mit übermenschlicher Anstrengung auf, streckte den Jägern seine Hände hin und sagte: »Führen Sie mich ab. Das übrige wird sich finden.« Da setzte die Erzählung Lotte Wennrichs aus. Sie hatte die letzten Sätze mit Überwindung so leise gesprochen, daß sie kaum zu verstehen waren, und saß nun unnatürlich aufgereckt, die steifen Arme an den Tisch gestemmt, dem erschütterten Maechler gegenüber. Mit weiten Augen des Grauens sah sie an ihm vorüber ins Leere.

Die Wanduhr rückte aus und schlug die zwölfte Stunde. Lotte fuhr zusammen und erhob sich.

»Ach Gott«, sagte sie, »ich habe den Vater vergessen. Der sitzt ja noch draußen auf der Bank.«

Sie eilte hinaus und erschien bald darauf wieder in der Stube.

»Ich bitte, helfen Sie mir«, sprach sie gezwungen lächelnd. »Er ist eingeschlafen und nicht wach zu kriegen.«

Maechler trat zu dem Alten, der, halb umgesunken, in tiefem Schlafe lag. Nach vielen Bemühungen war er emporgerichtet, und die beiden gängelten ihn durch die Wohnstube an die Tür des Schlafzimmers. Dort entließ Lotte mit einem Nicken den Gesellen und sagte: »Ich bring' ihn schon allein ins Bett, danke, warten Sie noch einen Augenblick.«

Dann verschwand sie mit ihrem Vater, der jetzt halb wach geworden war und wie träumend vor sich hinsprach: »Gut, gut, du hast ihm alles erzählt, Lotte. Gut, gut.«

Die Tür hatte sich geschlossen. Maechler war in die Mitte des Zimmers zurückgetreten und hörte die beiden leise miteinander reden. Er ging auf den Zehen zum Uhrkasten und hob sein Felleisen und seinen Stock auf, um sich allein in seine Kammer zu tasten. Als er im Begriff war, die Türklinke niederzudrücken, trat Lotte wieder geräuschlos ein und ging vor ihm her über den Flur, die Treppe hinauf. Droben stellte sie den Leuchter in eine Nische.

»Es hat Vater nichts geschadet. Er schläft schon wieder und ein großer Frieden ist in seinem Gesicht, vielleicht wird noch alles gut«, sagte sie wieder gefaßt und mit dem Unterton der Fremdheit. »Ich muß noch zu Ende erzählen. Vater wurde zwar an diesem Sonntagabend nicht verhaftet, aber einige Tage später von den Gendarmen nach Rehberg in das Untersuchungsgefängnis abgeführt. Keine Macht der Erde konnte ihn dazu bringen, den Schlosser Neefe als Täter zu nennen, und als auf rätselhafte Weise seine Beschuldigung unter dem Volke aufkam und durch anonyme Anzeige das Kreisgericht in Kenntnis gesetzt wurde, meldete sich der Gastwirt Kammel freiwillig und sagte unter Eid aus, daß Neefe zur Zeit der Explosion im Hinterzimmer bei ihm gesessen habe. Es waren furchtbare Tage. Aber die Kette des Schrecklichen setzte noch Glied um Glied an. Meine Mutter hatte dieser unvermutete Überfall eines gemeinen Schicksals aus dem Hinterhalt aus allen Lebenslagen gehoben. Sie ging wie irr umher und stürzte eines Tages mit einem vollen Korb Wäsche über die steile Treppe auf den Flur so unglücklich, daß sie einige Stunden darauf starb. Mein Bruder stand bei meinem Vater in der Lehre und liebte Mutter auf eine fast abgöttische Weise. Als sie die Augen geschlossen hatte, war er plötzlich verschwunden. Wie er ging und stand, ohne Mütze, in Hemdsärmeln, die braune Schürze vorgebunden, rannte er nach Rehberg hinein, um den Vater zu Hilfe zu rufen. Im richtigen Rausch der Verzweiflung legte er den Weg nach Rehberg, zu dem man gut dreiviertel Stunden braucht, in einer Viertelstunde zurück, brach auf dem Markt in Rehberg zusammen, wurde bewußtlos ins Spital gebracht und erlag dort in zwei Tagen einem mörderischen Fieber.

Mein Vater wurde wegen Mangels an Beweisen entlassen und kehrte, bis ins Mark erschüttert, in das fast ausgeräumte Haus zurück. In seiner tiefen Gläubigkeit bemüht er sich, alles als Heimsuchung Gottes hinzunehmen, unterliegt aber immer wieder einem solch wilden Haß gegen den Schlosser, daß er an diesem unterirdischen Feuer fast vergeht, während der Schlosser nach dem gelungenen Schurkenstreich gegen meinen Vater, aus der versteckten Hinterhältigkeit gelockt, sich überall großmäulig breit machte und in ein Schlemmen geriet, daß in kurzer Zeit aus dem dürren, hohläugigen Hämling dieser aufgeschwemmte, widerbellige Dickwanst geworden ist, den Sie auf dem Schloßplatz kennengelernt haben. Mir kommt er immer wie ein höllisch aufgeblasener Bovist vor.

So, nun wissen Sie alles, Maechler. Ich habe der Wahrheit nach erzählt. Beschlafen Sie sich's. Dann werden Sie wissen, ob Sie wieder gehen müssen oder bleiben wollen. Gute Nacht!«

Ohne Maechler die Hand zu reichen, stieg sie die Treppe hinunter und sah nicht einmal nach ihm zurück, der hinter ihr herleuchtete, bis sie den Flur erreicht hatte. Maechler verfiel nach dem Entkleiden sofort in tiefen, traumlosen Schlaf. Nur einige Male fuhr er auf und horchte. Es war ihm gewesen, als ob jemand in bloßen Füßen draußen um seine Tür schleiche, sich aber nicht hereintraue. Er stieg jedesmal auf und leuchtete den Flur ab, fand aber nie etwas. Dann störte ihn nichts mehr und er schlief fest in den Morgen hinein.


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