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18

Einen Tag später, als er vorausgesagt, traf Maechler in seinem Hause ein und fand Lotte bekümmerter und wortkarger wieder, als er sie verlassen hatte, weil sie das schmerzliche Erlebnis mit ihrem Jochen nicht übers Herz bringen konnte. Ihre Stirn erheiterte sich auch nicht sonderlich, da Nathanael von dem glücklichen Ausfall seiner Reise genauen und lebendigen Bericht erstattete, daß er den Vertrag mit der großen Breslauer Häutehandlung nicht nur erweitert, sondern zu viel günstigeren Lieferungsbedingungen neu abgeschlossen habe, die ihm einen so hohen Gewinn abwerfen müßten, daß am Ende, wenn es sie und ihn gelüstete, die ganze Gerberei so nebenher betrieben werden könne, weil der Handel mit Häuten, richtig aufgezogen, ein reichlicheres, bequemeres Auskommen ermögliche, ja ihnen die Zeit zu dieser und jener Ausspannung und Luftfahrt übrig lasse.

Maechler trug in der Ausmalung einer günstigen Zukunft mit Aussicht etwas stärker auf, nicht im eigenen Drang großspuriger Projektmacherei, sondern im Bestreben, seinem lieben Weibe durch bunte Lebenshoffnungen über die Beladenheit des Gemütes hinwegzuhelfen, unter der sie offenbar schwerer als je zuvor litt. Sie nickte wohl hie und da bei seinem Bericht, machte diesen und jenen klugen Einwurf zum Beweis, daß sie feinen Darlegungen ernst folge, ja wurde sogar von seiner Sorge um ihr Wohl freudig überglänzt. Aber am Ende saß sie still und sah lange sinnend vor sich nieder. Dann hob sie ihr Gesicht voll, bleich, in ernster Entschlossenheit zu ihm auf, legte eine Hand auf die seine und sagte: »Schön, mein lieber Maechler, alles schön. Aber es wird nichts nützen, fürchte ich.« Und nun erzählte sie ihm das Erlebnis mit Jochen in der ersten Nacht während seiner Abwesenheit in allen Einzelheiten Wort für Wort, mit einer Leidenschaft und Ergriffenheit, als könne sie durch die Wiederbelebung jedes Hauchs und jeder Gebärde jenes erschütternden Vorganges vor ihrem Mann die Last ihres Herzens loswerden. Das Vorübergleiten des unheimlichen Schattens, dessen Anblick sie fast aus den Angeln des Lebens gehoben hatte, konnte sie nicht erzählen, weil dieses über alle Worte hinausgehende Grauen sie schon in der halben Bewußtlosigkeit gepackt und dann in die ganze Ohnmacht gestürzt hatte.

Als Lotte mit ihrer Erzählung zu Ende gekommen war, saß Maechler eine weile mit so finsterem Gesicht, mit so starren, unheimlich spürenden Augen, ohne ein Wort zu sprechen, da, wie sie ihn noch nicht gesehen hatte. Aus diesem Stutzen gegen das Tiefste hin riß er den Kopf gewalttätig empor, blinzte einen Augenblick irgendwohin, sprang dann mit einem herausfordernden Pfiff vom Stuhle auf und trat ans Fenster, wo er lange abgewandt in den Hof hinausschaute. Denn in ihm war der Verdacht wieder aufgetaucht, die merkwürdige Veränderung im Wesen Lottes und die unbegreiflichen Verfinsterungen, die von Zeit zu Zelt seinen Jungen heimsuchten, seien doch auf den Einfluß jenes wilden Wesens zurückzuführen, das er schon zu Anfang seines Liebeswerbens um Lotte zu spüren vermeint hatte. Entweder war das ein Wahn, der von der abergläubischen Wundersucht seiner Ahnen noch dumpf in ihm dünstete oder es gab eben die hexenhafte Drudenwirkung eines haßbesessenen bösen Menschen aus der Ferne, und die Paula Großmann, das dämonisch wilde Wesen in der Bradlerbaude, deren gieriger Raserei er in einer Nacht erlegen war, verfolgte ihn in der Wut der verlassenen noch heut mit der Inbrunst teuflischer Rachsucht. In jedem Fall war er entschlossen, sich dagegen zur Wehr zu setzen, sowohl gegen den Gemütsplunder des Aberglaubens, als auch, wenn es so etwas wirklich geben sollte, gegen die albischen Kräfte solcher Fernwirkung. Gut, mochte die Drude immerhin ihre Wut gegen ihn aussenden! Er war auch einer und wollte dieses hexenhafte Andringen schon erdrosseln.

Langsamen, ruhigen Schrittes kehrte Maechler von dem Fenster zu der vollkommen zusammengesunkenen Lotte zurück und legte seine Hand auf ihre niedergebeugte Schulter. Sie richtete sich auf und sah ihn mit einem so gespannten Ausdruck ihres leidenden Gesichtes an, als hänge von ihm die Entscheidung über Leben und Tod ab. Er beugte sich nieder, nahm herzlich ihren Kopf in seine riesigen Hände, hob sie zu sich herauf und sagte in lächelnder Überlegenheit:

»Ach nein, liebste Lotte, du bist doch sonst so tapfer, wie kannst du dich vor Schatten fürchten? Jochen hat diese gelegentlichen Angstzustände weder von seinen Großeltern noch von mir oder dir. Er ist doch ein kräftiger, gesunder Junge. Das sind nur Auswüchse seiner etwas hintergründigen kindlichen Phantasie. Und vielleicht ist deine Erzählung von dem Rübezahl und den tausend Zwergen der Grund gewesen, daß ihn die Gespensterfurcht überfallen hat, die alle Kinder so lieben, und du liebe, gute, seine Seele bist selbst davon angesteckt worden.«

Während er die letzten Worte sprach, wurde die Haustür aufgestoßen und man hörte den fröhlichen Lärm Jochens, der mit hott! und hü! irgendetwas gegen die Wohnstube zu dirigierte, in der die beiden standen. Maechler sprang hinzu und öffnete dem kleinen Tober die Tür, über deren Schwelle er bald mit dem Pferd und Leiterwagen hereinzog, die ihm der Vater von der Reise mitgebracht hatte. Er trabte glücklich an den beiden vorbei und begann, den Tisch zu umkreisen. »Da hast du den Angsthasen und Vererbungskrüppel«, rief Maechler fröhlich lachend seinem Weibe zu, die betroffen und glückhaft erstaunt die Antwort hinnahm, die das Leben ihrem Kummer gab und damit den Trost ihres Mannes bekräftigte.

*

Freilich zeigte es sich, daß in Lotte die Unruhe noch immer fortwirkte. Denn sie weigerte sich, in dem Zimmer zu schlafen, in dem sie den erschütternden Zusammenbruch Jochens erlebt hatte, und räumte noch am selben Tage die Ehebetten in das kleine Giebelstübchen, während sie Jochen in die nebenanliegende Stubenkammer quartierte, wo Maechler früher als Gesell gehaust hatte.

Maechler begriff nicht, welche Umwölkung nach der Erhellung durch seinen Zuspruch und die fröhliche Spielfahrt des Knaben noch in seinem Weibe nistete, setzte sich gegen die Umschichtung ein wenig zur Wehr, ließ aber Lotte dann mit einem Lächeln gewähren, weil er von seinem Handwerk her wußte, daß eben an der besten Haut Wülste vorhanden sind, gegen die man nicht mit dem voreiligen Schermesser losziehen darf, weil es dann statt des Knorpels leicht ein Loch geben kann. Da wird das Stück einige Zeit länger in der Tonne gelassen, bis die Haut so gar geworden ist, daß sich die Wulst leicht und spielend ablosen läßt; und weil Lotte erklärte, in dem alten Schlafzimmer würde sie fort und fort die ängstliche Stimme ihres Jochen hören, die sie in der vorletzten Nacht bis zur Bewußtlosigkeit erschreckt habe, so glaubte Maechler wirklich, es handele sich bei Lotte nur um eine Überempfindlichkeit des mütterlichen Herzens, die nach kurzer Zeit wieder verschwinden würde.

Allein so einfach lagen die Dinge doch nicht. In Lotte war von dem Vorübergang des Schattens während der Übersichtigkeit ihrer halben Ohnmacht ein unvorstellbares Grauen zurückgeblieben, das in den rätselhaften Schichten des Unterbewußtseins kauerte und sie auch wie ein Drohen bedrängte. Deswegen, als das bisherige Schlafzimmer ausgeräumt war, sprengte sie überall Weihwasser und vergaß auch nicht, das Giebelstübchen und die Ruhekammer Jochens mit dem heiligen Naß zu segnen, um sich gegen den Einbruch neuer Berückungen zu schützen. Ja, als nach diesem umstürzlerischen Tanze die beiden endlich in den Betten lagen, sprach Lotte nach langem Schwelgen in die Nacht mit ergriffener, fast beschwörender Stimme das alte Abendgebet der Maechler: »Laß mich, wenn ich hier geschlafen ...« bis zu Ende.

Nathanael folgte in Gedanken jedem Wort und schlief spät mit Bekümmernis ein, weil er merkte, daß die Erschütterung seines lieben Weibes doch tiefer saß, als er angenommen hatte.

Deshalb auch beruhigte er sich nicht in der Folge mit untätigem Zuwarten und gelassener Hoffnung auf die Wehrhaftigkeit von Lottes Wesen und konnte es auch nicht, weil er immer wieder beobachtete, daß sie von inneren Fesseln beengt und von Störungen aus dem täglichen Gleichmaß geworfen wurde. Er ließ darum den alten Werkplatz über der Straße in ein liebliches Gärtchen verwandeln und längs des Weges halbhohe, sehr dicht gestellte Fichten pflanzen, um den Streifen gegen die neugierigen Blicke der Passanten zu schützen, damit Lotte in den Stunden dunkler Bedrängtheit sich dorthin zurückziehen könne. Ja, nachdem die alten Jungfern Niedenführ schnell hintereinander gestorben waren, erwarb er ihr Besitztum, riß den Zaun nieder und vereinigte die beiden Grundstücke zu einem, mit der weit ausgreifenden Idee, das alte Wennrichsche Haus, wenn das Wachstum seines Betriebes sich weiterhin so günstig entwickelte, ganz als Werkgebäude einzurichten und das Häuslein der alten Jungfern als behagliches Wohnhaus auszubauen, um nicht unter dem Trubel des geräuschvollen Gewerbes zu leiden.

Aber Lotte, die mit froher Dankbarkeit den umgewandelten Werkplatz als Ersatz des verlorenen Hintergärtleins angenommen hatte und manche Stunde dort in der Wartung ihrer geliebten Blumen verbrachte, wehrte sich leidenschaftlich gegen den beabsichtigten Umzug in das neuerworbene Niedenführsche Haus, weil sie dadurch nicht bloß von dem Boden ihrer geheiligten Familienverbindung vertrieben wurde, sondern auch der zarten Seelenverwobenheit mit dem verklärten Geiste der lieben, alten Schwestern verlustig ging, deren Klang von der längst gestorbenen Mutter her nur ein schwebendes Gemüts- und Herzensspielen ertrug, das durch diesen gewalttätigen Einbruch der ganzen Familie mit Sack und Pack vollkommen zerstört werden mußte. Maechler drängte trotzdem stärker und stärker, aus geschäftlichen Rücksichten und Betriebskosten, auf den Umzug hin. Doch Lotte gab nicht nach, versteifte sich hartnäckig, ja sogar bitterlich in ihren Widerstand und ging zuletzt mit verengten, dunkel gestanzten Augen, zusammengeschraubtem Mund und bösartig gewulsteter Stirn zu offener Auflehnung über.

»Vermaledeit«, schrie sie in höchstem Zorn mit einer harten, vollkommen fremden Stimme, »ich bin doch auch ein Mensch, nicht bloß ein Kasten, eine Fußbank oder so etwas! Wirble meinetwegen die ganze Welt durcheinander. Hier in diesem Hause habe ich auch ein Recht und lasse mich daraus nicht vertreiben, mag es gehen, wohin es will.«

So unterblieb der Umzug. Aufs tiefste erschrocken und etwas an Lotte irr geworden, unterließ Maechler von nun an jeden Versuch, sie seiner Absicht geneigt zu machen. Lange mußte er mit Aufmerksamkeit, Liebenswürdigkeit und Zärtlichkeit wie ein Liebhaber um sie dienen, ehe die feindselige Kälte ganz aus ihr geschwunden schien. Die letzte Gunst mußte er ihr richtig abkämpfen. Aber die Seligkeit des vereinten, glücklichen Hinströmens blieb auch da aus. In fessellosem, mänadischem Sturm fraß sie sich in seinen Leib und lag dann nicht in lieblicher, friedvoll gelöster Erschöpftheit, sondern in einer unheimlichen Starre, totenstill, mit maskenhaft starrem Gesicht und unbeweglich großen Augen, in denen nichts spielte und flimmerte, sondern nur schreckhaftes, fast entseeltes Erstaunen war.

Indes Maechler so in seinem Hause einen Kampf zu bestehen hatte, in dem er nie Sieger und nie auch ganz Unterlegener war, fügte sich auf seinem Wege in der öffentlichen Geltung Stufe an Stufe. In der Konfliktszeit der sechziger Jahre wußte er, der eine untrügliche Witterung für die unabwendbare Notwendigkeit besaß, seinen weitreichenden Einfluß für den Ausbau der preußischen Wehrmacht einzusetzen, daß er sogar in Gefahr geriet, von dem politischen Wirbel erfaßt zu werden. Aber nie unterlag er den Verlockungen zu einer uferlosen Demagogie, der sich sogar Staatsmänner von Rang zur Durchsetzung ihrer Idee bei der Masse oft bedienen müssen und nicht davor zurückschrecken dürfen, durch die Schein- und Trugmünzen der Phrasen das allgemeine Interesse für sich zu gewinnen. Von seinem festen Prinzip, daß der Staat nur der Diener, nicht der unumschränkte Herr des Bürgers sei, brachte ihn nichts ab, und so kämpfte er nur in Rücksicht auf das Allgemeine für die Bewilligung der Heeresforderungen, nicht der Sklave einer rüstungshungrigen Partei, die sich für die Roonschen Forderungen nur einsetzte, um Schritt für Schritt die Macht zur Erreichung ihrer Sonderinteressen in die Hand zu bekommen und langsam das letzte Fünklein auszutreten, das von dem achtundvierziger Feuerstoß übriggeblieben war. Er setzte sich im Gegensatz zu der liberalen Partei energisch für die dreijährige Dienstzeit des Militärs ein, nahm aber doch 1857 an dem Begräbnis Robert Schlehans in Breslau teil, der von 1850 an sieben Jahre auf der Festung Silberberg für seine Teilnahme an der Revolution mißhandelt worden war. Mit Absicht wohnte Maechler, schon dann als ein weithin bemerkter Mann, der Trauerkundgebung für diesen unerschrockenen Kämpfer durch die mit Menschenmassen dicht besetzten Straßen Breslaus bei, um gegen die ungezügelte Bojarenwirtschaft unter dem Schirm konstitutioneller Formen zu demonstrieren. Er verwickelte sich damit in einige Plackereien mit den reaktionären, behördlichen Heißspornen und sah sich vor die Frage gestellt, dem nützlichen Wirken in seiner nächsten Umgebung zu entsagen und in den Reihen der in der 1863 neugewählten Kammer übermächtigen Opposition mit Haut und Haaren unterzugehen. In seinen häuslichen Verhältnissen lag wohl der Drang, sich den Wolken und Bedrängnissen durch eine weiter gespannte Tätigkeit auf dem politischen Kampffeld zu entziehen, weil in jener Zeit die dunkle Wesensänderung Lottes, seines Weibes, drohendere Formen annahm. Aber Maechler riß sich doch in seine engen, heimatlichen Kreise zurück und beharrte vor dem dänischen, wie vor dem sechsundsechziger Kriege fest und bestimmt, gleichsam als Ausklang seiner politischen Tätigkeit, in dem Kampf gegen die Budgetverweigerer. Nicht, wie seine Gegner verbreiteten, in streberischer Absicht oder in närrisch-blinder Feindseligkeit gegen alles Österreichische, auch nicht aus knechtischer Beglückung über alle Maßnahmen Bismarcks verharrte er tapfer in der Verteidigung der Politik dieses damals so viel verlästerten Mannes, weil seine schmerzvollen Revolutionerfahrungen ihm die Gewißheit eingehämmert hatten, daß nur durch ein kraftvolles Preußen Deutschland aus unwürdigen und jämmerlichen Nöten jeder Art gerettet werden könne. Vor dem sicher heraufziehenden Kriegsgewitter lief durch das besonders bedrohte Schlesien ein Bangen und Zagen, das in den Grenzorten ebenso lächerliche, wie bedrohliche Angstzustände auslöste. Auch in Wilkau und dem ganzen Rehberger Kessel trommelten genug Angsthasen, die schon im Mai ihre Kostbarkeiten mehr ins Innere des Landes retteten, in die Erde gruben, in die Wände mauerten und heimlich sich zur Flucht vor den Österreichern vorbereiteten. Zu denen, die den Kopf verloren, den sie nie besessen hatten, gehörte auch der Wilkauer Gemeindevorsteher, der sich eine Woche ins Bett legte und dann wegen Krankheit sein Amt sofort und gründlich niederlegte. Sein Nachfolger konnte niemand anders als Maechler sein, der nun umsichtig und rastlos und mit durchdringenderem Erfolg als vorher gegen alle unwürdige Angst und übertriebene Furcht zu Felde zog. Die Rede des Abgeordneten Ziegler in Breslau und die Adresse der Bürgerschaft dieser Stadt an den König von Preußen, die dem Monarchen die treuliche Bereitschaft aussprach, zur Macht und Ehre Preußens alle Nöte und Gefahren wie 1813 auf sich zu nehmen, wurde von Maechler verbreitet und in Versammlungen mit kraftvollen, treffenden Worten kommentiert, daß die Spötter behaupteten, Maechler bemühe sich deswegen so leidenschaftlich für den Krieg zwischen Österreich und Preußen, weil er hoffe, daß dabei das Riesengebirge vollkommen kaputtgeschossen werde.

Denn so lange Maechler in Wilkau lebte, war er noch nie auf dem Gebirge gewesen und hatte bisher alle Versuche zur Teilnahme an einer Wanderung dorthin mit der Begründung abgelehnt, daß er das Gebirge einmal in seinem Leben kennengelernt habe und seitdem sich nicht mehr nach einem zweiten Male sehne. Das sagte Maechler lachend und launig allen Hänslern, und keiner von denen, die ihn wegen dieser närrischen Schrulle aufzogen, sah den Ernst auf dem Grunde seiner Augen bei der heiteren Abfertigung solch spaßiger Spötter.

Keinem gelang auch nur ein halber Blick in das Innere Maechlers, wo die Erinnerung an sein Erlebnis auf dem Gebirge als ein Schatten hauste, von dem er geglaubt hatte, daß er sich mit der Zeit verlieren würde, bis die Veränderungen im Wesen seines Weibes ihn eines anderen belehrten. Seitdem, bei aller Nüchternheit und überlegenen Kühle des Geistes, wurden seine Gedanken wieder und wieder in diese Gegend seiner Vergangenheit gezogen. Er wehrte sich dagegen, stieß sie mit seinem mächtigen Willen von sich, erniedrigte sie als Bodenrest abergläubischer Verwirrung seiner Ahnen zum Spuk, der mit der Hand von der Tafel wacher Bewußtheit gewischt werden könne, und mußte ihr klareres Auftauchen gerade in der Zeit erleben, die wegen der Unruhe der sich überstürzenden Ereignisse doch am wenigsten geeignet war für den Hereinschwund von Fratzen aus einer aberwitzigen Flatterwelt.

Es waren die letzten Wochen vor dem Ausbruch des Krieges, daß in dem Zustand Lottes eine weitere Verschlimmerung eintrat, die eher noch geheimnisvoller, unerklärlicher war als die Veränderungen, die ihr Wesen bisher heimgesucht hatten. Sie lag Nächte lang vollkommen bewegungslos mit offenen Augen wach, hörte auf keinen Zuruf, rührte nicht einmal den Blick, wenn Maechler liebevoll auf sie einredete, und schien empfindungslos und geistig aus sich entrückt zu sein wie eine Besprochene oder, wie wir heute sagen würden, Hypnotisierte. Nathanael mochte hinübergreifen so oft er wollte, sie umfassen, sie streicheln, keine Fiber bewegte sich an ihr. Dabei war ihr Atem ruhig, ihr Herzschlag regelmäßig, wenn auch kaum fühlbar. So lag Lotte stumm und beunruhigte ihn mit nichts als mit dieser unheimlichen Totenstille, in der sie verharrte. Am anderen Tage ging sie, als sei nichts vorgefallen, ihrer gewohnten Arbeit nach, nur etwas benommen, etwas dumpf, und als Maechler sie fragte, was ihr denn Schweres diese Nacht geträumt habe, sah sie ihn verständnislos an, wieso man eine solch müßige, unnütze Frage tun könne. Sie habe eben geschlafen wie alle Nächte, gut und traumlos. Aber vielleicht liege das an der Unruhe, die wegen des nahen Krieges alles erfüllte, sie, die dreißigjährige Frau, werde vor dem Einschlafen von närrischen Fratzen gepeinigt, als sei sie noch ein Kind. Damals sei sie fast alle Abende vor dem Einschlafen von einem zwergenhaft, kaum handlangen, grauen Männchen bedrängt worden, das auf Rädern aus der grauen Unendlichkeit in rasender Schnelligkeit auf sie zugeschnurrt sei. Jetzt beuge sich aus derselben unendlichen Grauschicht mit unbeweglich finsteren Augen, fest geschlossenem, strengen Mund und drohendem Ausdruck ein Gesicht immer näher auf sie nieder, ein Gesicht, von dem sich nicht entscheiden ließe, ob es weiblich oder männlich sei, aber jedenfalls ein Gesicht, das sie in ihrem Leben noch niemals gesehen habe. Das sauge an ihr wie das graue Männchen ihrer Kindheit, bis sie in Angst einschlafe.

Eines Morgens, als gerade das allererste Licht das Fenster ihres kleinen Schlafstübchens wie ein graues Tuch aus der Finsternis hob, hielt es Maechler nicht mehr aus, der die ganze Nacht wieder von der unheimlichen Totenstille Lottes gepeinigt worden war. Er überzeugte sich, daß ihr vor Erschöpfung doch die Augen zugefallen seien und sie mit kräftigen Atemzügen schlief, stand lautlos auf, schlich sich aus dem Hause und ging unter dem Zwange eines dumpfen, traumhaften Entschlusses, daß es auf jeden Fall anders werden müsse, ohne auf- und umzublicken, durch Gassen des schlafenden Wilkau hinaus aufs Feld. An einem der vielen Grandorfer Teiche machte es mit ihm halt. Er sah sich in der ihm bekannten und vertrauten Gegend um, die doch vollkommen fremd, noch nie gesehen, ja geradezu unirdisch, wie eine Einbildung wirkte, und als er verwundert in der grauroten Farbe der ersten Frühe seine Augen auf das Riesengebirge heftete, fiel ihm eine einzig dunkle Wolke auf, die regungslos, wie fest genietet, an dem haarscharf abgezeichneten Kamme klebte. Und da er erstaunt denkt, jetzt und jetzt muß sie sich doch bewegen, sieht er, daß es gar keine Wolke, sondern eine Frau ist, die dort kniet und in beschwörendem Drohen die Arme mit heraufgewendeten Handflächen herüberstreckt.

»So, so, bist du es wirklich?« entfuhr es ihm grimmigerschrocken, ohne daß er wußte, was er sprach, und einen Augenblick lang, indes er stockenden Herzens das Gesicht zu Boden senkte, sah er sein Weib Lotte von der Gewalt dieses spukhaften Wesens blaß, totenhaft ausgestreckt vor sich, wie sie mit schreckhaft weiten Augen gebannt einen Fluch in sich aufnahm, gegen den sie vollkommen wehrlos war. Einen Augenblick lang nur tauchte er sehenden Blickes in die Welt des Schicksals hinter den irdischen Dingen, dann raffte er sich männlich aus dieser Traumbetäubung auf und richtete seinen Blick wehrhaft gegen den Luftalb auf dem Kamm des Gebirges. Aber da war nichts mehr zu sehen. Die blaue, riesenhafte Wand wuchs verklärt vor ihm auf und schwang sich in schönen Linien durch den morgenklaren Himmel. Ein kleines Wölkchen, schmal, gewunden wie ein spielend hingeworfenes Band, bebte glänzend über die Stelle, wo das drudische Schattenbild gekauert hatte, rückte immer höher in den blassen Frühlingshimmel hinauf, wurde immer durchsichtiger und war bald vollkommen verschwunden. Da brach Maechler in höhnisches Gelächter aus und versetzte sich mit der flachen Hand einen klatschenden Schlag auf den Schenkel, um sich aus diesem verwichtelten Hexenanwurf zu reißen. Dann sprang er auf und ging mit langen, fressenden Schritten um den Teich herum nach Wilkau zurück.

»Barer, verfluchter Unsinn«, murmelte er immer wieder im Schreiten empört vor sich hin. »Das wäre ja noch schöner, wenn solches Hexentrudeln wahr sein könnte!« Er erregte sich so, daß ihm das Blut im Schädel donnerte. In dieser Verfassung konnte er unmöglich nach Hause gehen und seinem Weibe gegenübertreten, die sowieso nach jeder dieser totenstillen Nächte, die sie zu erleiden hatte, ihn zweifelnden und spürenden Blickes maß, wenn sie sich nicht beobachtet glaubte. Also bog er vor Wilkau auf einem Feldweg, dann auf Rainen nach Süden zu ab und betrat hinter dem Ort die Straße nach Trennsdorf unterm Ägster. Sowie er den festen, breiten Weg unter den Füßen hatte, wurde das laute, leidenschaftliche Toben in ihm ruhiger, und die Welt stand wieder sicher um ihn. Wilkau lag noch schlafend hinter ihm. Nur da und dort sah er einen einzelnen Mann auf dem Felde, der mähend in der wiese weiterrückte. Der Ägster stieg morgendunkel in die klare Luft; Wildenten quarrten von den Teichen her, und um die verfallene Burg schwirrte ein Schwärm Dohlen. Jetzt auch begann das Glöckchen der Wilkauer Kirche den Frühsegen zu singen, und bald danach erhob der Trennsdorfer Turm sein blechern klirrendes Morgengeläut, das als ein hauchschwaches Sirren aus den vielen Waldschluchten widerklang.

»Na also, da ist ja alles in Ordnung«, sagte Maechler lächelnd zu sich und horchte, stehenbleibend, ein Weilchen in das friedliche Getön. Dann wendete er seine Füße und begann, gemächlich auf dem Wege nach Wilkau zurückzuwandern in einer sich immer mehr erheiternden Verwunderung über die Tatsache, daß er, ein wohlgegorener Mann, von der allgemeinen Kriegsbeklemmung so überrumpelt werden konnte. Denn diese Wolkenfratze vorhin auf dem Kamm rührte doch nur von seiner Einbildung her und war nichts als die Folge des tausendfachen Gemummels von Angst und Lebensfurcht, das geheim durch das ganze Volk lief. So setzte er gedankenvoll Fuß vor Fuß und kam, an Baum und Stein vorbei, weiter nach Wilkau hin. Von seiner Aufregung war nichts als das leise Schwirren des Trennsdorfer Morgenglöckchens in seinem Ohr zurückgeblieben. Das klang manchmal stärker auf, brach ab und setzte dann wieder ein. Manchmal klang es auch wie Poltern, aber dann nicht in, sondern hinter ihm. Er sah schon die ersten Dächer Wilkaus aus den Baumkronen auftauchen. Da mußte er stehenbleiben. Denn das leise Schwirren, das er für den traumhaften Nachklang des Trennsdorfer Frühglöckchens gehalten hatte, hörte sich nun wie Radplärren und Wagengerassel an. Menschengeschrei war auch darunter, und nun unterschied er gar das Geklapper jagender Pferdehufe, das auf ihn zupreschte, und wie er sich mit dem ironischen Gedanken umdrehte, ob denn heute alles in der Welt aus den Fugen geraten sei, sah er aus der Trennsdorfer Häuserzeile einen mit Gerümpel hochgeladenen Leiterwagen in rasendem Tempo hervorbrechen. Die Mähnen der springenden Gäule wehten, und der Kutscher schrie und peitschte wie besessen auf sie ein. Hinter ihm erschien ein zweiter und dritter Wagen in derselben wahnsinnigen Eile. Aus den Häusern sah Maechler Menschen auf die Straße stürzen, die Hände in die Höhe werfen, einen Augenblick erstarrt stehenbleiben und dann wie geworfen in den Türen verschwinden. Wie vielmal hatte Maechler auf seinen Revolutionszügen den überstürzten Auszug von angstvollen Bauern aus Dörfern erlebt, gegen die ein feindlicher Heereshaufen heranzog. Das, was sich da schreiend und wild im Staub der Straße heranwälzte, war Flucht. Wie ein Zündfeuer des Schreckens rasselte es heran, und wenn ihm nicht Einhalt geboten wurde, flammte die sinnlose Angst durch alle Ortschaften an der Grenze, und die unheilvollen Folgen waren unübersehbar. Maechler, dies denkend, war mit eins aus seinen eigenen Lebensnöten gerissen, sprang mit ein paar Sätzen dem ersten Fuhrwerk entgegen und stellte sich breitbeinig, die Arme zur Seite geworfen, mitten auf die Straße. Dazu brüllte er, was die Lunge halten wollte, sein: »Halt! Halt!!«

Der Bauer riß vor dieser waghalsigen Entschlossenheit wohl mit voller Gewalt die Pferde zurück, konnte die aufgeregten Tiere aber nicht auf dem Fleck zum Stehen bringen und sah mit Schrecken, daß die Gäule im Begriff waren, den Mann zu überrennen. Maechler aber wich nicht aus, sondern sprang den Pferden in die Zäume, wurde von ihnen wohl in die Höhe gerissen, brachte sie aber nach einem Aufbäumen zum stehen. Dann beruhigte er die zitternden Tiere, die in Schweiß gebadet waren, und trat darauf, weiß im Gesicht, schweratmend, aber ruhig mit der Frage zu dem Bauern, was es gebe. Er fragte kalt und mit einem spöttischen Lächeln den Bauern, der aus den Wirbeln seiner Aufregung gerissen, blöde auf einer Lade saß und ihn sprachlos anstarrte. Er sei der Gemeindevorsteher und Polizeiverwalter von Wilkau und dulde solch wahnsinniges Fahren nicht, redete er auf den abgeschlagenen Mann ein, der den Rock aufknöpfte und in der Seitentasche wühlte, ohne ein Wort hervorzubringen. Endlich hatte er sich gefaßt.

»Gehn Sie weg, Herr Vorsteher«, sagte er mit dumpfer Stimme, »setzen Sie sich mit auf den Wagen. Wir müssen sehen, daß wir fortkommen. Das ist meine Frau mit den Kindern. Die Betten und das Gerümpel, mehr haben wir nicht retten können. Sie kommen, sage ich Ihnen. Sie kommen!!«

Wieder in Angst verfallend, brüllte er die letzten Worte, griff nach den Zügeln und hob die Peitsche.

Da packte ihn der riesige Maechler an der Brust und hob ihn kurzerhand von seinem Sitz. Als der Bauer neben ihm auf der Straße stand, fuhr er ein paarmal in Verlegenheit mit den flachen Händen säubernd über seine Hosenbeine und hustete dazu mit ein paar unentschlossenen Plauzern. Sowie er aber, hochgekommen, durch einige verstohlene Blicke sich von dem sicheren Frieden des Tales rundum überzeugt hatte, lüftete er seine Mütze und strich sich die verklebten Haare aus der Stirn.

»Man sollt's nich glauben!« sagte er kopfschüttelnd und richtete dann seine Augen fragend auf Maechler, der ihm geruhig Zelt gelassen hatte, vollkommen zu sich zu kommen. Nun aber verlangte er von ihm eine Erklärung der Ursache der überstürzten Flucht. Ja, das könne er gut und gerne machen, sagte der Mann. Er sei Laubner aus dem Weißbachtal in Schreiberhau, Christoph Laubner. Sein Nachbar und noch einige andere Männer seien Holzfäller in dem Schlag am Kobelwasserzwiesel. Und wie sie heut vor Tag auf der alten Zollstraße nach ihrer Arbeitsstelle gewandert seien, dünkte es sie schon hinterm Branntweinsteinweg nicht ganz geheuer. Aber als beherzte Männer hatten sie sich von dem Knacken, Knallen und Rumpeln in der Ferne nicht bange machen lassen. Allein unterm Goldgrubenhübel, als sie gerade linker Hand auf ihren Arbeitsplatz haben abbiegen wollen, sei im Lämmergrund drunten ein Brausen und Getöse losgegangen, daß die Männer nicht mehr im Zweifel sein konnten, was die Glocke geschlagen habe. Hott und hü, Kommando, Gewehrknallen, Trompeten, Pferdegewieher, alles durcheinander habe sich heraufgewälzt. Hundert und aber Hunderte hätten sich durch den Wald gearbeitet. Da seien dann die Männer beim Blitzen der ersten Gewehrläufe in der Überzeugung, daß sie mit ihren Beilen gegen so viele nichts ausrichten konnten, umgekehrt und davongerannt. Die Österreicher hätten wohl hinter ihnen hergeschossen, aber zum Glück niemand getroffen. Eine Stunde später seien sie mit dem Ruf »Rette sich, wer kann, die Österreicher kommen!« ins Dorf zurückgestürzt.

Ob das alles sei, fragte Maechler lächelnd den Mann, der über den vollkommenen Mißerfolg seiner Schilderung erst verdutzt war, sich aber gleich darauf in Grobheit rettete, indem er höhnisch fragte, ob denn nun hätte gewartet werden sollen, bis sie von den Österreichern krumm und lahm geschlagen worden wären, daß keiner in einen Sarg gepaßt hätte.

Maechler ließ ihn heiteren Gesichts seine Hitze ausschütten und fragte, ob es richtig geknallt hätte. Und das ordentlich, war die Antwort. »Ja, schön, alles gut«, lautete Maechlers Bescheid. »Ich aber sage Euch, daß es nirgends als in den Köpfen der Männer geknallt hat. Das will ich Euch selber zeigen.«

Von den nahen Häusern Wilkaus her hatte sich ein kleiner Zulauf gebildet, Maechler winkte einen ihm bekannten Burschen heran, warf einige Worte auf das herausgerissene Blatt seines Notizbuches und schickte das mit schönen Grüßen an seine Frau. Dann kommandierte er in einer Art, die keinen Widerspruch zuließ, daß die Gefährte der Flüchtlinge gewendet werden sollten, griff lachend selber zu, stopfte dann den Bauern auf seine Lade, schwang sich zu ihm, ergriff die Zügel und kutschierte zurück. Das alte Rebellenfeuer loderte in ihm auf, von dem er geglaubt hatte, daß es in dem Fieber zu Asche geworden sei. Die Mütze in den Nacken geschoben, trieb er die Wagen vor sich her und drohte, jeden sofort einzusperren, der sich ihm widersetze.

Das Häuflein Wilkauer sah mit unverhohlenem Stolz dem Davonfahrenden nach. Sie schüttelten verwundert ihre Kopfe über den Mann, der als Muster gemessener, umsichtiger Güte bekannt war und nun wie ein Brand losloderte.


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