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19

Maechler führte die vier Flüchtlingswagen auf einem anderen Wege nach Schreiberhau zurück, einmal aus Schonung der Scham dieser armen Angstüberrumpelten, zum andern, die Bewohner von Keterstein, das die Furchtsamen der ganzen Länge nach durchrast hatten, nicht wieder aufs neue zu erregen. Deswegen bog er in Trennsdorf links ab und erreichte nach einer Stunde über ein kleines Gebirgsdorf den großen Wald. Das Laubner-Bäuerlein neben ihm auf der Lade hatte niedergeschlagenen Kopfes in grämlicher Bitterkeit gesessen wie ein Verhafteter und hatte nur dann und wann gewagt, verächtlich neben sich auf den Weg zu spucken. Als sie aber auf dem Leiterweg immer tiefer in den Wald eindrangen und immer näher an Schreiberhau herankamen, ohne etwas von Kriegsgetümmel und Weltverwirrung zu gewahren, atmete er immer mehr auf, und die letzten Schatten der Besorgnis fielen von ihm ab. An den drei Urlen ließ Maechler halten. Den Pferden wurde das schnell mitgeraffte Futter vorgeworfen, und die ganze Gesellschaft setzte sich an den Straßenrand, um sich von der überstandenen Angst etwas zu erholen, die man mehr und mehr als eine unbegreifliche Verrücktheit ansah. Und da die Flüchtlinge übereinkamen, daß eigentlich an der Verwirrung nicht sie schuld seien, sondern der großmäulige Wendel Donth von den Holzschlägern, der sich rein wie ein Rasender gebärdet hatte, kam von den Weibern her sogar das erste Gelächter auf, und Maechler hatte leichtes Spiel, sie vollkommen zu beruhigen.

Nicht wie furchtsame Flüchtlinge fuhren sie nach einer guten Raststunde weiter, sondern wie Sieger, die von einer glücklich überstandenen Gefahr zurückkehrten. Und hatte Maechler anfangs seine ganze Überlegenheit gegen ihre dumpfe Widerwilligkeit aufwenden müssen, so behandelte man ihn nun fast wie einen Retter. Freilich, als man mit den überfächten Gäulen langsam durch Schreiberhau ins Weißbachtal hinauftrottete, hatten die Selbstverzagten manchen Spott zu schlucken, und das meistens von jenen, die auf diese Art die Furcht loswurden, die im geheimen ihnen selbst schon die Füße zur Flucht gerückt hatte. Aber den verstreuten Höflein und Häusern des Weißbachtales kochte noch immer leiser Schauer und kaum verhehlte Sorge, so daß Maechler, von Behausung zu Behausung gehend, Mühe genug hatte, alle Zweifel zu entkräften und alle Bedenklichkeiten in Sicherheit zu wiegen. Wendel Donth, der Haupträdelsführer der Kopflosen, der Trompeter dieses Angstwahnsinns, war nirgend zu finden. Als er die vier Wagen in die Flucht getrieben hatte, war er laufend in dem Wald des Hochsteins verschwunden, und sein Weib saß zwischen Ballen und Säcken in der verschlossenen Stube und betete, lautlos weinend, den Rosenkranz.

Bei einsinkender Nacht machte sich Maechler auf den Heimweg. Die ersten Lichter pinkten schon aus den Häusern, als er Schreiberhau verließ und von der gewohnten breiten Straße über Keterstein, in einen Waldweg einbiegend, rüstig in das schweigende Dunkel schritt. Er brauchte die Stille, die um ihn bis in ungemessene Höhe wachsende Dunkelheit, das geheimnisvolle Knacken, Knistern und Rascheln, mit dem weite Wälder in der Nacht leben. Er brauchte Wildnis, Unsicherheit, Fessellosigkeit. Die aufregenden Ereignisse des Tages flogen durch ihn hin, als er die Kochel überschritt und über den Buchenhübel stieg. Aber all die Auflösung, gegen die er gerungen, die Verwirrtheit, der er sich entgegengeworfen, der verwegen heiße Impuls, dem er sich überlassen hatte, bedrückte ihn nicht. Nein, er schmeckte es wie eine Kostbarkeit, sich aus der Sicherheit herausgerissen zu fühlen, und das alte Lebensungenügen erwachte in ihm. Ehe er sich's versah, glitt er aus dem Nacherleben der heutigen Ereignisse in die Vergangenheit zurück. Geräuschlos flog die Tür in ihm auf, die er vor den Brandjahren seiner wilden Revolutionszeit sorgfältig auch vor sich selber geschlossen gehalten hatte. Mit eins ging er nicht durch den nächtlichen Wald nach Wilkau, sondern war auf dem Wege von Mannheim nach der Mühlau. Er marschierte in dem Bataillon, das der Oberst von Corvin mitten in der Nacht dorthin abgesandt hatte, weil dort der Zugang zur Stadt geschützt werden sollte. Denn Kleingewehrfeuer war unvermutet von irgendwoher, wahrscheinlich von den Preußen, losgebrochen und hatte eine Bestürzung hervorgerufen, die von einem Boten bis vor das Bett des schlafenden Obersten im Gasthaus Rheinfelden getragen worden war. »Die Preußen kommen!« hatte der Nachrichtenläufer in das dunkle Zimmer geschrien und war, über die Treppe polternd und immerfort das gleiche brüllend, in der Nacht verschwunden, und nun befand sich das Bataillon auf dem nächtlichen Marsch nach der Mühlau. Um Maechler war das Geklapper der taktmäßigen Schritte, das Knacken und Klirren der Gewehre, das erregte Atmen und das Gemummel unterdrückter Unterhaltung. Alles drang auf Maechler aus dem Walde ein, während er hinter dem Fleischerweg erneut über die Lehne des Breiten Berges durch den Hochwald hinaufstieg. Die Erschöpfung und fast wollüstige Überreizung eines langen, aufreibenden Kampftages arbeiteten in ihm, und jetzt marschierte er schon durch die hohe Allee. Das Brausen der mächtigen Kronen war über ihm und begleitete ihn, bis er in Kiesewald aus dem Walde heraustrat und die Lichter des großen Dorfes Keterstein und des weiten Kessels unter sich sah. Aber die Berückung des von der Vergangenheit abgetriebenen Blickes verließ ihn auch da noch nicht. Denn das, was da unten vor ihm lag, war das Gartenhaus der Mühlau, und das leise, dumpfe, geheimnisvoll drohende Brausen waren die Laute des Rheines, mit denen der große Strom durch die Nacht wanderte. Maechler aber schritt nun vorsichtig im Weitergehen als Patrouille am Rhein aufwärts, um zu erspähen, ob nicht von drüben, von Ludwigshafen her, Ruderschläge das Herannahen feindlich bemannter Boote anzeigten. So, herzklopfend und aufs gespannteste innerlich zusammengerissen, verfolgte er spürend den Weg nach Wilkau und schlich sich hellhörig am Rhein hin. Jedes Geräusch, das um ihn aufklang, deutete er als Laut aus jener Nacht, jeder Schatten schreckte ihn gefahrdrohend, und nach Stunden stand er an dem kleinen Quirlfluß so benommen von seinem Gesicht, das ihn aus der weit zurückliegenden Zeit vergewaltigt hatte, daß er das schwache Glänzen des schmalen Wässerchens für die Fluten des Rheines hielt und in der Berückung seines Wesens sich das ereignete, was damals geschehen war. Die Fluten teilten sich, und zu Tode erschöpft zog sich ein vollkommen nackter Mann ans Land, sah ihn entsetzt an und sagte mit erschöpfter Stimme: »Nix deitsch, ich Ungar.«

Da zerriß der Erinnerungsspuk vor Maechlers Augen. Er blickte aufatmend und verwirrt um sich, wo er sei. Es war ihm unmöglich, sich zurechtzufinden. Deshalb überließ er seine Führung dem Instinkt und ging durch das taufeuchte Gras dem Lauf des Wässerchens nach. Indessen spielte er die damaligen Ereignisse, die ihn sinnlich so vollkommen überrumpelt und umgetrieben hatten, ruhig und beherrscht zu Ende. Damals, als Patrouillengänger am Rhein, war wirklich ein nackter Ungar nicht weit von ihm aus dem Fluß aufgetaucht. In der Annahme, es sei ein preußischer Spion, hatte er dem vollkommen Erschöpften wohl ans Land geholfen, ihm aber dann auf das härteste zugesetzt. Nichts als die Beteuerung: »Nix deitsch, ich Ungar«, war aus dem zitternden, verschmachteten Mann herauszubringen, der mit nichts als mit einer Mütze bekleidet gewesen war, die er immer sorgsam und fest auf dem Kopf zurechtstülpte. Dem Oberst von Corvin und seinem ungarisch sprechenden Begleiter war es dann gelungen, die rätselhafte Angelegenheit zu enthüllen. Aus einem Zettel, den der Mann hinter dem Schweißleder der Mütze hervorzog, und seiner Erzählung war hervorgegangen, daß er der Besatzung eines Schiffes angehörte – das von der in Brand geschossenen Schiffsbrücke übriggeblieben, im Rhein verankert lag, tagelang von der Volkswehr und den Preußen bedroht ohne Nahrung und dem Verhungern nahe war. Der brave Mann hatte zu ihrer Rettung sein Leben gewagt und wurde nun bekleidet und aufs reichlichste bewirtet.

Dieses Ereignis spann Maechler in besonnener Erinnerung zu Ende, indes er, am Quirlfluß hingehend, endlich auf die Straße nach Trennsdorf unterm Ägster kam. Aber wie er so eine Weile auf dem sicheren Wege hingegangen war, merkte er an der flutenden, heißen Unruhe, die seinen Körper durchwogte, daß die Aufregung dieses albischen Erinnerungserlebnisses noch nicht vollkommen aus ihm geschwunden war. Denn, wenn er die Hände schloß, fühlte er den nackten Körper des Mannes in seinem Griff, und nachdem er mit den Fingern das kühle, muskulöse Fleisch gekostet hatte, wurde es wärmer und wärmer und fühlte sich weich und verlockend an, daß er die Hände öffnete und in der kühlen Luft schüttelte, um diese letzte Berückung von sich zu schleudern. Aber die schwarzen Augen des Ungarn, die saugend auf ihn gerichtet waren, sah er vor sich in der Nacht, wohin er auch blicken mochte.

Weit nach Mitternacht langte er in seinem Haus auf der Feldgasse an.

Sein Weib lag wieder mit großen Augen in ihrer entrückten Totenstille im Bett, und er konnte sie lange nicht diesem geheimnisvollen Bann entreißenden, der sie gefangen hielt. So kleidete er sich aus. Aber vor dem Lichtauslöschen, schon im Hemd, beugte er sich noch einmal über sie und rief liebkosend und dringend ihren Namen: »Lotte, du, liebste Lotte!« Da auf einmal kehrte Leben in ihre entrückten Augen, glühendes, dunkles, wildes Leben. Mit einem glückhaften Schrei riß sie sich aus der unheimlichen Starre, schnellte wie ein Fisch auf und riß ihn mit inbrünstiger Umarmung zu sich ins Bett.

Als dann das Licht gelöscht war, lag Maechler noch lange wach und wälzte sich in seinem Bett. Ein Geruch von Thymian erfüllte das kleine Zimmer, der auch nicht wich, als er das Fenster einen Spalt öffnete.

Aber der Ausbruch des Krieges zwischen Preußen und Österreich, der von beiden Seiten die Heermassen gegen die schlesische Südwestgrenze heranwälzte, verhinderte Maechler, dem unheimlichen Geflecht nachzuspüren, mit dem das Schicksal ihn aus dem Undurchdringlichen umgarnte. Als die Würfel der Kriegserklärung gefallen waren, verwandelte sich die Furcht und Beklemmung der Bevölkerung in begeisterte Hingabe und Aufopferung. Bis ins einfältigste Herz und dumpfste Hirn schien ein Strahl des grellen Lichtes gefallen zu sein, daß dieses Ringen zwischen den beiden Reichen, wenigstens was Preußen anlangte, ein Existenzkampf war. Man fühlte, es ging um Schlesien. Österreich wollte diese Provinz, die es vor hundert Jahren an Friedrich den Großen verloren hatte, wieder an sich reißen und den verhaßten, viel gedemütigten nördlichen Bruderstaat für immer in die Vasallenstellung zurückdrängen, aus der er sich zäh und zielbewußt unter Bismarcks Führung herausarbeitete. Die Heeressäulen der kronprinzlichen Armee rückten in Gewaltmärschen durch die Grafschaft Glatz und gegen den Landeshuter Paß, und wenn auch der Rehberger Kessel und Wilkau nicht im Anmarschgebiet lagen, so wurden sie doch von einigen durchziehenden Kolonnen, die zur Sicherung der Grenze sich auf dem Kamm des Gebirges verbreiteten, in lebhafteste Unruhe und Spannung versetzt. Wie ein Sommergewitter, jäh, heiß, atembeklemmend, in mörderischer Ungeduld raste der Krieg auf. Der alte Kämpferinstinkt, der ihn wagehalsig gegen die flüchtenden Bauern auf der Trennsdorfer Straße geworfen hatte, wachte in Maechler immer unwiderstehlicher auf. Denn nicht nur für Preußen, auf das er seit langem all seine Hoffnungen gesetzt hatte, war er begeistert, dunkel wogte in ihm der Vernichtungswille gegen die albische Gewalt, die von dem Gebirge her ihn und die Seinigen bedrängte aus einem Dunkel, von dem er schweigen mußte, auf eine Weise, die ebenso unbegreiflich wie beklemmend war. Wenn die losgebrochene Lawine preußischer Kampfkraft sich siegreich-zermalmend über die Grenze wälzte, so vernichtete das ungeheure Geschehen auch den unsinnigen Wahn des Verderbens, der hin und wieder in ihm aufstand. Nie aber duldete der besonnene, willensstarke Mann, daß diese Unruhe und Beklemmung in den Grundwassern seines Lebens als Gischt der Verwirrung Gewalt über ihn bekam. Die sich überstürzenden Ereignisse ließen ihm auch keine Zeit zu solch heimlichem Verkehr mit den Schatten seiner Unterwelt, denn kaum daß das Schwirren der ersten Flintenkugeln hellhörige Fürchtler erschreckt hatte, trommelten leise und traumhaft die Kanonen der Schlacht von Trautenau über den Landshuter Kamm herüber, so leise, daß den Bangen noch unheimlicher wurde, weil die erhitzte Phantasie fessellos mit dem Schrecklichen zu spielen das Recht hatte. Verborgen ging ein Ruck zur Flucht durch Wilkau, weil sich am Abend das Gerücht durch die Häuser stahl, die Preußen seien geschlagen worden und befänden sich auf dem Rückzug, von dem nachdringenden Feinde ruhelos verfolgt. Es kostete Maechler alle Mühe, die Wankenden zur Ruhe, die Kopflosen zur Besinnung zu bringen. Seit er die Ausreißer vom Weißbachtal aufgefangen hatte, war er nämlich von dem Landrat wegen seiner umsichtigen Tatkraft hochlich belobt und mit außerordentlichen Befugnissen ausgestattet worden, daß er fast wie ein Ortskommandant in Wilkau herrschte, weil man den Grafen Schilling einer heimlichen Hinneigung zu Österreich verdächtigte. So hatte Maechler die Gewalt, die Wirbel anspringender Angst zu unterdrücken, wenn er auch nicht verhindern konnte, daß da und dort in den Häusern heimlich zur Flucht gerüstet wurde. Aber schon am anderen Tage verbreitete sich die Nachricht von dem Siege der Preußen nicht nur bei Trautenau, sondern auch bei Nachod. Da ließ er von beiden Türmen die Glocken läuten und hielt auf dem Schloßplatz eine kräftig packende Ansprache. Alle, auch die Hasengemüter, kamen sich nun wie Helden vor, man sang tapfer »Heil dir im Siegerkranz« und dankte Gott in den Kirchen für den Segen, den er den preußischen Waffen verliehen hatte.

In diese Beglückung, die den dumpfen Druck von vielen zaghaften, unsicheren Seelen nahm, fuhren wie ein giftiges Gebläse Gerüchte von Untaten, deren sich die erbitterte Bevölkerung Böhmens gegen die durchziehenden preußischen Soldaten schuldig gemacht hatte. Man habe Brunnen vergiftet und den von den Gewaltmärschen ermatteten Kriegern Speisen gereicht, deren Genuß schwere Krankheit hervorgerufen hätte. In dem Städtchen Tinist liege ein halber Zug preußischer Infanterie an Cholera im Lazarett, weil die Soldaten sich an der Graupenwurst mit Meerrettichtunke gütlich getan hätten, ein Gericht, das unweigerlich diese Todeskrankheit im Gefolge habe. Solche und ähnliche irrsinnige Hiobsposten schwirrten durch die Luft, und als die Nachricht von der wilden Bosheit des Bürgermeisters von Gaabel sich überall verbreitete und geglaubt wurde, wirkte sie wie ein Aufruf zur Rache. Dieser verblendete Unmensch sollte den Befehl gegeben haben, auf die durchmarschierenden Soldaten aus den Fenstern siedendes Öl und kochendes Wasser zu gießen, nicht nur den Befehl, sondern er hatte darauf gedrungen, daß er auch buchstäblich ausgeführt wurde. Besonders megärische Weiber stellten sich an die geöffneten Fenster, winkten in verstellter Freundlichkeit den vorüberziehenden Preußen und schütteten unversehens den brodelnden Inhalt aus den Töpfen und Krügen in die heraufgewandten Gesichter.

Jede Stunde jagte ein neues Gerücht, das die anderen an Wildheit übertraf, durch die aufs höchste empörte Bevölkerung. Aber während die meisten sich über diese Abscheulichkeiten nur entsetzten, reifte über Nacht in einigen verbohrten, haßwilligen Männern der Plan, auf eigene Faust für diese Verbrechen Rache zu nehmen. Denn von einem hoch im Gebirge wohnenden Förster hatte man erfahren, daß dieser wilde Haß unter den Bewohnern der böhmischen Seite des Riesengebirges, also in nächster Nähe, auch um sich greife. Da sei ein Baudenweib, noch in den besten Jahren, das wüte auf eine besonders infernalische, fast unbeschreibliche Weise, daß man es vor reinen Ohren und unbeschädigten Gemütern gar nicht aussprechen könne. Sie sei in früher Jugend von einem durchreisenden Handwerksburschen zur Mutter gemacht worden, und seitdem regiere sie ein geradezu tiermäßiger Haß gegen alles, was preußisch sei. An dieser Wildheit habe ihr Vater den Verstand verloren, sei eines Tages von den Wirbeln der Verrückung in die Wälder getrieben worden und seitdem verschollen. Die Tochter aber habe sich von diesem grausen Schatten nicht aus ihrem geradezu satanischen Taumel in ein geruhiges Leben zurückschrecken lassen und treibe es seitdem eher noch schlimmer als vorher. Verbittert, wortkarg, fast stumm gehe sie der Bestellung ihrer kleinen Baudenwirtschaft nach. Sobald sie aber eines preußischen Mannes ansichtig werde, erwache ein solch wildes Geschlechtsrasen in ihr, daß keiner, der in ihre Nähe komme, dieser Glut widerstehen könne. Nicht eher ruhe sie, als bis er ausgesogen und entwürdigt, wie eine leere Schale von ihr abfalle. Bei Ausbruch des Krieges aber habe sie ihren gefräßigen Schoß in den Dienst des Vaterlandes gestellt, streife an der Grenze umher und locke mit schamlosen Künsten die Wachtsoldaten zu sich herüber, von denen dieser und jener aus purer Lust an Abenteuern und wohl auch aus Brunst ihr ins Garn geraten und seitdem verschwunden sei. Bei diesem unglaublichen Geschäft helfe, von ihr abgerichtet, der Sohn, ein Knabe von zwölf, dreizehn Jahren, das Kind jener Vermischung mit dem Handwerksburschen, dessen Namen noch niemand erfahren habe, entweder weil sie ihn selbst nicht wisse oder nicht nennen wolle.

Das Gerücht, das von jedem verständigen Menschen für die Ausgeburt erregter, verschrobener Einbildung gehalten wurde, tuschelte sich doch allenthalben umher. Man hielt es nicht nur für möglich, sondern für wahr, und jener kleine Kreis von Männern, die entschlossen waren, für die Untaten und Verbrechen an den preußischen Soldaten auf eigene Faust Vergeltung zu üben und Rache zu nehmen, es waren nicht die besten, sondern irgendwie brüchige oder von unsauberen Schwaden umnebelte Menschen, versammelte sich heimlich in dem Gasthaus zum Grünen Baum, dessen Wirt jener Kammel war, bei dem Maechler die erste Nacht in Wilkau zugebracht hatte.

Als der Gerber von dem Plan dieser abschüssigen, fast unsinnigen Männer hörte, ging er, ohne erst lange zu erwägen, geradenwegs in den Grünen Baum, um Kammel wegen der heimlichen Treibereien zur Rede zu stellen, die, wenn auch nicht durch ihn hervorgerufen, aber doch von ihm geduldet würden. Es war am frühen Morgen, als Maechler in die Gaststube eintrat, in der sich seit den zehn Jahren nicht das geringste geändert hatte, seit er das erstemal an dem Abend seines Eintreffens in Wilkau hier geweilt hatte, und wie dazumal saß Kammel allein an dem Tisch neben dem Schenkhause und starrte vor sich hin. So, als habe er die ganzen zehn Jahre sich mit nichts als mit seiner Ratlosigkeit beschäftigt. Aber kaum daß Maechler nach einem geruhigen Gruß bis in die Mitte der Stube getreten war, sprang Kammel mit der mechanischen Gelenkigkeit seines Gewerbes auf und erkundigte sich, womit er dem »Herrn Vorsteher« dienen könne, und sprach, ehe er Maechler zu Wort kommen ließ, eine kleine Suade von der Veränderlichkeit der Zeiten, daß aus dem damaligen Handwerksburschen das Gemeindeoberhaupt von Wilkau geworden sei. Das redete er mit einem süßlichen, aber schiefen Lächeln und konnte nicht verhindern, daß ein hämischer Blitz über sein mageres, zergrübeltes Gesicht ging. Mit breitem Lachen schnitt Maechler den Redefluß Kammels ab, nicht nur, weil ihn der versteckte Hohn der Worte wurmte, sondern weil ihm der Mann zuwider war, der alle bösen und vergifteten Schliche des Schlossers Neefe einst heimlich unterstützt hatte und sogar noch heut, nachdem der in Verblendung erwürgte Mann längst grablos verschwunden war, ihm die dunkle Treue hielt. Ja, diese Hörigkeit ging so weit, daß er das Gerücht aufgebracht hatte, der arme Schlosser sei nicht aus Versehen in das rasende Heidewasser gestürzt, sondern von seinem erbittertsten Feinde absichtlich hineingestoßen worden.

Diese Gedanken schossen Maechler durch den Kopf, während er breit und in gutmütiger Ironie lachte. Dann aber legte er dem kleinen, mageren Mann die Hand auf die Schulter, rüttelte ihn lustig ein wenig und sagte fast übermütig, mit dem merkwürdigen Wandel der Zeit habe Kammel nicht so ganz recht, denn letzten Endes bleibe jeder, was er sei. Denn wenn jemand als Schubiak auf die Welt komme, so werde wohl kaum ein Engel aus ihm. Da helfe kein Regenschirm dagegen. Damit müsse man sich schon abfinden. Aber deswegen sei er auch nicht hergekommen, sondern er wolle wissen, was gestern abend hier im »Grünen Baum« gebraut worden sei. Wie ihm zu Ohren gekommen sei, hätten Männer, deren Namen ihm nicht unbekannt geblieben seien, an dem Plan geheckt, als Freibeuter über die Grenze zu gehen und damit Verwickelungen herbeizuführen, für die nicht nur er als Gemeindevorsteher, sondern auch Kammel verantwortlich gemacht werden würde, weil das in seinem Hause geschehen sei. Kammel wollte von nichts wissen, begann, wie es seine Art war, in der Stube umherzulaufen, wand sich durch allerhand Ausreden, die immer durchsichtiger wurden, rief nach seiner Frau, damit sie bezeuge, daß er die Wahrheit spreche, und erzählte dann die Geschichte von dem wilden Weibe an der Grenze, das in ihrer tollen Brunst schon so manchen braven Soldaten der Grenzwache hinübergelockt und in Gefangenschaft und vielleicht in den Tod gebracht habe, daß man schon verstehen könne, wenn unerschrockene Männer entschlossen seien, diesem verfluchten Wüten ein Ende zu machen. Kammel schüttete alle Einzelheiten des unglaublichen Gerüchtes aus, von dem preußischen Handwerksburschen, der sie in ihrer Jugend überfallen und zur Mutter gemacht, von ihrem Vater, der sich wegen ihrer Schande im Walde erhängt, von dem armen Jungen, den sie zum Helfer bei ihrem zuchtlosen Geschäft abgerichtet habe. Und als er Maechler vor Grauen die Augen schließen und erbleichen sah, verließ ihn jede Beherrschung, und er bekannte sich frei zu der Unterstützung jener beherzten Männer, die dieser himmelschreienden Gemeinheit ein Ende machen wollten.

»Ja, ja, Herr Gemeindevorsteher«, rief er zum Schluß und ließ seinem Groll gegen Maechler die Zügel schießen, »so ist es und nicht anders. Mit Ihrem Gerede von Ruhe und Besonnenheit kommen wir nicht weiter. Hier muß zugegriffen werden, aber nicht zu knapp, sonst rasen eines schönen Tages die Böhmaken über den Kamm und machen uns den Garaus.« Maechler richtete sich, tief Atem holend, daß sich seine Brust zum Zerspringen hob, zu seiner ganzen riesigen Größe auf und maß den kleinen Mann mit großen, verwundert entgleisten Augen eine Weile. Dann aber brach er in dröhnendes Gelächter aus, das die ganze Stube füllte, so lachte er, daß er sich verschluckte und setzen mußte. Sein Körper wurde von einem Krampf durchgeschüttelt, und immer von neuem dröhnte das Lachen aus ihm. Plötzlich aber riß er es mit einem Ruck in sich hinein, schaute den erschrockenen Wirt verächtlich an und fragte erschöpft und tonlos: »Und diesen Blödsinn glaubt Ihr?« – »Diesen ausgemachten Blödsinn?« wiederholte er nach einer Pause und setzte den Finger gegen seine Stirn, war aber nicht imstande, das Zittern der Hand zu unterdrücken. Als Kammel aber nicht antwortete, sondern ratlos auf Maechler starrte, fragte dieser in einer Gleichgültigkeit, die beiläufig und belanglos klingen sollte und doch noch immer erschöpft und tonlos war, ob »diese verrückten Kerle« schon fort seien.

»Ja, ich glaube, diese Nacht sind sie hinaufgegangen«, antwortete Kammel furchtsam, weil er das abgründige Drohen in Maechlers Stimme hörte.

Da erhob sich Maechler, griff nach seiner Mütze, murmelte »Narretei, dumme Narretei« vor sich hin und ging trockenen Grußes zur Tür hinaus, die er fast verfehlt hätte.


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