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Leise und immer leiser hatte der alte Buchhalter Peter Brindeisener die letzten Worte gesprochen, wie etwa einer sich in der Nacht vom Schlaf aufrichtet und halb furchtsam, halb im Glück die Worte eines grausen Traumes wiederholt, aus dem ihn das Erwachen errettet hat. Dann sah er an sich hinunter, wie um zu erkunden, ob er noch dieselbe Person oder nicht mehr zum Wiedererkennen verwandelt sei. Danach hob er seine rechte Hand nahe vor sein Gesicht und betrachtete genau ihren Rücken. Er betrachtete ihn mißtrauisch und lange, spreizte die Hand und schloß sie zur Faust. Zuletzt betastete er sie umständlich mit den Fingern der Linken.

Als offenbar keine Täuschung mehr möglich war, kehrte er mir, dem einzigen Zeugen und jungen Genossen seiner nächtlichen Bußfahrt, mir, Albert Jungmann, sein bis in die letzte Falte glückhaft strahlendes Gesicht zu und sagte herzergriffen: »Ich danke Ihnen, lieber, junger Freund. Sie haben doch gehalten, was ich von Ihnen immer geglaubt habe. Nun ist's vorbei!« Damit riß er den Hut vom Kopfe, sprang von der Lattenbank auf, dehnte seinen Körper in die Höh' und rief triumphierend:

»Befreit! Erlöst! Gesühnt!«

Dann breitete er im Überschwang der Freude die Arme gegen den sich sieghaft rötenden Himmel, als wolle er die ganze glänzende Höhe an sich reißen. Mich packte die Rührung dergestalt, daß ich ein Schlucken nicht unterdrücken konnte. Da ließ er die Arme sinken und sah lange, wie ertappt, zur Erde.

»Nein, nein, es ist wahr,« murmelte er darauf, sich wieder dem Strome seines Glückes überlassend, »es ist alles wahr. Das Lenlein ist wieder rein in mir und vor mir, und ich sehe alles, und ich sehe mit ihren schleierlosen Augen mein Leben und das Leben aller Menschen, und was ich von Teufeln, Dämonen und Schatten gesonnen und gelebt habe, das waren nur graue, trostlose, verwirrende Spinnweben vor meinen Blicken. Wir Menschen, die Tausende und Millionen, arbeiten in den Werkstätten Gottes. Die einen schmieden in einer hohen, lichten Halle, die anderen in finsteren Höhlen, je nachdem sie sind, die einen in der Not des Guten, die anderen in der Not des Bösen. Am Ende aber, im Tode, wenn das Dasein abgelaufen ist, sinken alle die Belichteten wie die Finsteren in die eigene Tiefe hinauf, in diesen unaussprechlichen Abgrund unseres Wesens, den die Menschen draußen Gott, in sich Seele nennen. Das ist das Geheimnis, mein lieber Jungmann, das ist es. Kein anderes.

Aber wenn die Menschen recht von Grund aus wollen, vermag das Leben nichts über sie. Ich war ein Schwacher, ein unbeständiger und bin immer vom Hellen ins Finstere, vom Licht in den Schatten gesprungen.

Nun ist's vorbei. Nun überwand ich alles, indem ich mich überwand.

Kommen Sie. Jungmann, wir wollen ins Leben gehen!«

Er ergriff den Hut und begann, gedankenvoll und langsam, sich nach dem Tolketeich hinunter zu bewegen.

Der war von einer mannshohen Nebelschicht bedeckt, die sich in stillen, durchsichtigen Schleiern in die Höh' langsam verflüchtigte. Aber den Wipfeln des Waldes aber trieb jetzt die steigende Sonne eine solche sieghafte Goldglut über die Welt der Wipfel in den Grund herein, daß es aussah, als fange der Nebel des Tolketeiches an zu brennen.

Schwalben schnellten darüber hin, wie Leuchtkugeln in der Nöte funkelnd, tauchten in die Nebel, die über dem stillen Wasser lagen, und erlöschten darin, auch wie lebendige, rote Blumen sahen sie aus, die aus dem Morgenhimmel hineinfielen.

Es war ein solch wundervoller, märchenhafter Anblick, daß ich, ergriffen und von den Ereignissen der Nacht bis in die Seele hinein betäubt, mich nicht von der Bank zu erheben vermochte.

Ich sah den alten Buchhalter aufrecht und wie einen sieghaften Helden den Abhang zwischen den Stämmen hinabschreiten und war voller Bewunderung für ihn.

Auf einmal rief Brindeisener:

»Sie, Jungmann, sehen Sie, da ist eben ein Vogel ins Wasser gefallen, rot wie eine seidene Schleierkugel!«, fängt an, springend zu laufen und schreit noch fortwährend: »Wir können ihn doch nicht ertrinken lassen!«

So stürzte er gegen den Teich hin in der Liebe des Geretteten zum Leben, um den Vogel dem Untergange zu entreißen.

Ich sah seinen Hut über den Nebeln, das Wasser plätscherte auf.

»Ah, ah, da ist der Schleier, da ist er. Da! Da!«

So rief der Buchhalter, und seine Rufe klangen wie junger, jubelnder Gesang des Entsühnten, der glücklich ist, sein Leben zur Rettung eines andern einsetzen zu können.

Der Hut verschwand, die Stimme erlosch.

In wenigen Minuten war der Nebel verflogen. Das Wasser lag leise schwankend da und wiegte den alten, abgegriffenen Hut des Buchhalters. Peter Brindeisener war untergetaucht.

Ich saß wie gelähmt, starrte auf den wankenden Teichspiegel und wartete auf sein Wiedererscheinen. Er blieb verschwunden.

Da überkam mich Überreizten eine namenlose Angst. Ich fühlte einen reißenden Schmerz durch mich hinschneiden, meinte, nun habe das tote Lenlein auch mich gepackt, sprang auf und lief nach dem Ausgang des Waldes hin.

Dabei schrie ich bald um Hilfe, bald rief ich den Namen Wanda Methners.

Dann weiß ich nichts mehr.

*

Am frühen Vormittag fanden mich Spaziergänger bewußtlos im Walde. Ich wurde ins Krankenhaus geschafft und lag dort wochenlang zwischen Tod und Leben an einem schweren Nervenfieber darnieder. Als ich das erstemal klar die Augen aufschlug, saß Wanda Methner an meinem Bette und nickte mir lächelnd und glücklich zu. Nur einen Husch lang erkannte ich sie. Dann verwandelte sie sich wieder in Helene Sintlinger, und ich schloß vor Grauen die Augen.

Auch als ich über alle Gefahr hinweg war und aufstehen durfte, lebte ich nicht in meinem eigenen, sondern in dem Leben des ertrunkenen Buchhalters, den ich immerfort in mir erzählen hörte.

Das dauerte bis in meine vollkommene Genesung hinein, bis ich auf den Rat eines klugen Arztes begann, mein ganzes Erlebnis mit Peter Brindeisener aufzuschreiben.

Als ich damit fertig war, hatte sich alles aus mir verflüchtigt.

Nur das zauberhafte Bild Helenes blieb wie eine Himmelserscheinung in mir. Nach und nach nahm es die Züge Wanda Methners an. Dann konnte ich beide Wesen nicht mehr voneinander unterscheiden. Da war ich in tiefer Liebe ganz genesen.


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