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Eigentlich könnte ich jetzt aufhören zu erzählen; denn wenn ich es mir recht überlege, war mein Schicksal schon jetzt in seiner Grundtatsache entschieden, und alle folgenden Ereignisse meines Lebens sind nichts Neues, nichts, was von irgendwo hinzufließt, sondern nur in der Form, nicht im Wesen verschiedene Ausstrahlungen meines dauernden inneren Zustandes. Und ein Mensch mit halbwegs spürsinniger Phantasie müßte von nun an den weiteren Ablauf meines Lebens vollkommen treffend zu schildern imstande sein, vor allem, wenn er wie Sie, junger Freund, das Endergebnis kennt ... und vor sich sieht.«

Der alte Buchhalter schwieg. Ich erwachte aus der Gebundenheit meines Aufmerkens und spürte trotz der immer tiefer gewordenen Dunkelheit, in der kaum etwas scharf heraustrat, daß er nicht nur sein Gesicht, sondern seine ganze Gestalt nach mir hingewendet hatte, um meine Antwort entgegenzunehmen.

»Nein,« sagte ich endlich, »das bin ich nicht imstande.«

»Hm ... ja ...«, so hörte ich ihn nach einer Weile seine geheimen Erwägungen in fast unwilliger Art schließen und leise klatschend eine Hand über die andere legen.

Dann begann er ungeduldig, ja gewissermaßen gereizt auf mich einzudringen:

»Wissen Sie, ich hab' Ihnen doch einmal von der ›Schattenmühle‹; erzählt und ein anderes Mal die Geschichte von dem ›Sonnenhofe‹;, nicht? Erinnern Sie sich nicht?«

»Nein, an gar nichts.«

»Na, das ist doch unmöglich! Denken Sie doch nach, von dem Mann, der in einem sonnigen Grunde sich seine Mühle erbaute, die Erfahrung macht, daß die Hitze ihm das Wasser mehr und mehr verzehrt. Und so weiter, um seine Mühle Bäume pflanzt, den ganzen Grund hinauf. Das muß Ihnen doch wenigstens geblieben sein!«

»Nichts. Ich hab' Ihnen ja schon gesagt, daß ich jede Geschichte, die Sie mir jemals erzählten, immer sofort vergessen habe.«

Brindeisener konnte sich nicht mehr halten, er sprang in großer Erregung von seinem Sitz auf und lief so eilig zwischen den Bäumen gegen den Teich hin, als wolle er, wie sonst manchmal nach einem Geschichtsfetzen, entsetzt fliehen. Und wirklich rannte er heftig gestikulierend, ganz aus dem Häuschen, davon.

Er lief den sanften Abhang gegen den Tolketeich hinunter, und ich sah den langen Mann immer undeutlicher werden zwischen den schwarzen Stämmen.

Ehe er meinen Äugen ganz entschwunden war, riß die Dunstdecke des Himmels, und der Widerschein des besternten, heiteren Frühlingsfirmamentes blies sich als ein märchenhafter, traumschwacher Lichtrauch auf den glatten Spiegel des regungslos schlafenden Teiches. Das geschah überraschend, gleichsam aufrüttelnd. Kaum war der Lichtfächer vom Himmel auf den Teich gefahren, so hörte ich Brindeisener in seiner Flucht anhalten, merkte, wie er, auch von dem zauberhaften Vorgang getroffen, lange stehenblieb und dann zögernd, mit langsamen, gedankenvollen Schritten wieder zu mir zurückkehrte. Ohne irgendwelche Erklärung seines merkwürdigen Betragens nahm er im Niedersitzen genau die Stelle ein, die er verlassen hatte, und begann nach kurzem Überlegen mit ungewöhnlich sanfter Stimme:

»Die lautlosen Worte ergreifen am tiefsten, und alles, was ohne Mund zu uns redet, vermag Schreie auszustoßen, die bis ins Mark erschüttern.

Der Teich hat mich zurückgerufen, wissen Sie, der Teich, und doch wieder nicht der Teich da unten ... der Tolketeich ... nein ... aber hören Sie nur weiter ...«

Brindeisener sprach diese Worte schüchtern, suchend, behutsam. So etwa klangen und bewegten sie sich, wie eine Hand vorsichtig im Finstern nach einer kostbaren, leicht verletzlichen Blume tastet. Und während er sprach, schloß sich der Sternenspalt des Himmels droben, und die Schatten rieselten wieder über dem traumhaften Lichterwachen des Teiches zusammen. Die Nacht herrschte abermals ganz allein, eine merkwürdig atemlose Nacht, voll eines kaum spürbaren, geheim vibrierenden Fiebers. Und in dieses wollustvolle Stocken der Frühlingsnacht klang ganz schwach und in unendlicher Höhe das Sausen der Bergwälder. Das Stampfen der Schächte klapperte von überall her, so als liefe was rund um den Wald, in dem ich mit dem Buchhalter saß, wolle herein zu uns und könne den Zugang nicht finden.

»Da läuft doch draußen jemand«, sagte Brindeisener, aus dem Lauschen erwachend, in das sich seine Worte verloren hatten. »Haben Sie jemand auf der Straße gelassen?« Mit einem Huschen der Empfindung dachte ich an Wanda Methner, verwarf den Gedanken aber sofort als eine sinnlose Entgleisung.

»Ach wo! Wen sollte ich denn draußen gelassen haben? Das sind ja auch keine Schritte! Das sind doch die Schächte«, antwortete ich.

»So, so, die Schächte? Ja, die dunkeln Schächte, die Finsternisse!« sagte er darauf gedankenvoll.

»Da drunten dieser Schimmertraum des Teiches vorhin und um und über uns dies Sausen und Stampfen der Finsternis ...!

Genau auf diese doppelte Weise schaffte fortan mein Wesen sich seinen Weg durch mein Dasein. Und da werden Sie nachträglich den Sinn meiner vielen Erzählungen von der ›Schattenmühle‹; und dem ›Sonnenhof‹; verstehen. Nicht anders war es seit dem Tage, an dem mich meine Eltern wider ihren Willen verführten, als töte ich mich fortwährend mit der einen Hand und mache mich dann mit der anderen wieder lebendig, oder als unterwühle ich durch unterirdische Gänge fortwährend den Boden, auf dem ich dann versuche, mir ein Haus zu bauen.

Mein Gott!! Mein Gott!!

Dürfte ich noch einmal als Zwölfjähriger über dem Hofe meines Vaters sitzen und nach dem Sintlingerhofe hinübersehen! Wie anders sollte alles Wurzel schlagen und verwendet werden, was ich damals erlebte. Ich hörte das blinde Mädchen drüben singen, bald im Baumgarten unter dem Wohnhause, bald im Blumengärtlein hinter den Scheunen, oft auch aus dem Hause oder im Felde. Aber nicht das, was sie sang, ergriff mich so, denn es waren die bekannten Lieder unserer Gegend, nein, wie sie sang. Ich habe viele berühmte Sängerinnen im späteren Leben gehört, aber noch von keiner Stimme bin ich so ergriffen worden wie von der kindlichen Stimme dieses blinden Mädchens. Da war auch nicht ein Laut, der nicht so vollkommen aus der Seele quoll, so, daß er gleichsam dadurch selbst zu sein aufhörte, wie Lerchen, die so hoch steigen, daß ihre Lieder zu Gesängen des Himmels werden, in dem sie sich verlieren. So, über alle Begriffe hinausgehend, klang mir damals die Stimme der blinden Helene Sintlinger und entrückte mich ganz den inneren Schatten und Dünsten, die als unverstandene Gier aus meinem noch schlummernden Blute stiegen. Ich wurde durch sie in die wunschlose, verschollene Welt meiner Kindesunschuld zurückgehoben. Sicher ist's ja, ich täusche mich nicht, daß ich diesen klaren Wunsch der Entsühnung damals nicht so deutlich empfunden habe wie heut. Aber verhüllt wirkte er um so stärker, fast inbrünstig, nein, geradezu betörend, daß ich oft nicht bei mir war und nicht wahrnahm, daß mein Vater, mein Bruder, oder sonst wer vom Hofe, ein Knecht oder eine Magd, hinter mich traten und meine Versunkenheit belauerten, bis man es endlich heraus hatte, wem mein leidenschaftlicher Lauscherdienst gelte. Es versteht sich von selbst, daß man mich nun überall aufstöberte und höhnisch davontrieb, wo man mich traf, wie ich ›gleich einem Uhl saß und auf das Gegille und Gepiepe aus dem Luderhofe‹; horchte. Mir klang der kindliche Gesang aus allen meinen versinkenden Himmeln, den anderen aus der Bosheit ihrer Feindseligkeit. Deswegen mußte ich etwas anderes hören als die anderen. Und als ich nicht mehr lauschen durfte, machte ich mich auf und schlich wieder verstohlen um den Sintlingerhof, um mehr zu erhaschen, als mir verwehrt wurde, nicht nur den Klang ihrer Stimme, sondern sie selbst ganz nahe zu sehen, dieses rätselhafte, geheimnisvolle Kind, das unsere Leute für ein halbes Leichlein, eine Hexe hielten, und das doch vielen im Dorfe eine kleine Heilige war. Ich kletterte auf Mauern, stand angehaltenen Atems hinter Bäumen und Schobern und ließ mich einmal von der leidenschaftlichen Neugier so weit hinreißen, daß ich nicht nur in den feindlichen Hof, sondern sogar in das Haus eindrang und erst aus der Trunkenheit meiner Sucht nach dem rätselhaften Mädchen aufwachte, als ich mich auf der Schwelle der großen Sintlingerschen Wohnstube der stillen Bäuerin gegenübersah. Ich weiß nicht, ob die sanfte Frau mich damals angeredet oder ob mich der erschreckte Ausdruck ihrer guten, großen Augen allein so ergriffen hat, daß ich wie gepeitscht aus dem verfemten Hofe und über den Hübel hinunterfloh, mich nicht nach Hause getraute, sondern in den nahen Wald lief, wo ich in einem unbeschreiblichen, geradezu himmlischen Taumel unter den unbeweglichen alten Bäumen saß und richtig im Schauern fortwährend den Namen des Mädchens vor mich hin lispelte: ›Lenlein ... Lenlein ... Lenlein.‹; Ich war wirklich wie von Sinnen. So saß ich, bis der ganze Wald im Abendrot feurig zu brennen anfing. Dann erhob ich mich mühsam und stieg wie gelähmt zu unserem Hof hinauf.

An einem anderen Tage sah ich von unserem Hofe aus ein trunkfälliges Weib neben dem Lenlein auf dem Hübel im besonnten Grase sitzen und hörte, wie sie dem Kinde auf ihrer Gitarre so lange vorklimperte, bis das Mädchen anfing, mit ihrer überirdischen Stimme dazu zu singen. In meinem gewalttätigen Knabenherzen hatte sich der Wahn gebildet, der Gesang des Sintlingermädchens gehöre nur mir, sonst niemand auf der Welt. Deswegen mischte sich gar bald in meine Freude über das Lied des Lenleins der Zorn über das Bettelweib, das sich so nahe an das Kind herangewagt und offenbar wider den Willen der Eltern das Mädchen zum Singen gebracht hatte. Und als bald darauf das Tor des Sintlingerhofes knarrte und die alte Trine, die Wärterin des Lenleins, heraustrat, sah ich das Bettelweib zusammenfahren, ihre Gitarre ergreifen und in großen Sprüngen den Hübel hinunter dem Wege zu eilen, der nach Hemsterhus führte. Da ich die Landstreicherin so rennen sah, glaubte ich nichts anderes, als daß sie dem Mädchen was angetan hatte, raffte Steine auf, schrie in Wut alle Schimpfnamen, die ich wußte, und warf beides, Steine und Unflat, hinter der Straßenläuferin her, bis sie meinen Augen entschwunden war.

Dieser rüpeligen, wiewohl gutgemeinten Heldentat muß mein Vater aus irgendeinem Winkel zugeschaut und sich eine Meinung gebildet haben, die allerdings dem Sinn meines Zornausbruches nicht nahekam, denn beim Abendbrot, bei dem er mir gegenübersaß, war sein finsteres Faltengesicht mit den buschigen, eisgrauen Augenbrauen heller, ja geradezu manchmal sonnig überlichtet, wenn er mich wohlgefällig ansah. Wir hatten Speckkraut mit eingeschnittenen derben Klößen und aßen das Gericht gemeinsam aus einer riesigen irdenen Schüssel, die in der Mitte des großen Eßtisches stand. Ich fahndete mit meiner Gabel rücksichtslos und in durchtriebenem Eifer nach jeder großen Speckgriebe, auch wenn sie nicht in dem engen Jagdgebiete auftauchte, das mir zugehörte. Während die anderen meine Räubereien, die immer ungezwungener wurden und sich bald in alle Gegenden der Schüssel erstreckten, mit immer steigenderem Widerwillen duldeten, bemerkte ich, daß mein Vater mit seiner Gabel die Speckstückchen mir unauffällig zuschnellte, auf die ich zielte, bis mein Bruder eine rote Zorneswulst auf seiner Stirn kriegte und, unter einem drohenden Blick auf mich, mit dem Stielende seiner Gabel empört auf die Tischplatte hieb. Diese Durchbrechung der ererbten Sitte des vollkommenen Schweigens während der Mahlzeit war so ungewöhnlich, daß ich nicht nur allein beklommen zu meinem Vater aufschaute. Der geruhige Eßfleiß aller geriet einen Augenblick ins Stocken, weil jeder eine handfeste Zurechtweisung des Übertreters der Hausordnung erwartete. Aber nicht mal die kleinste Wolke des Unmuts kam in dem Gesicht meines Vaters auf. Im Gegenteil, er lächelte mit verschmitztem Wohlwollen über meine Betretenheit, schüttelte gütig den Kopf und sagte dann mit seiner ungefügen, tiefen Stimme: ›Laßt den Jungen, und wenn er uns allen den Speck wegfrißt, er hat sich's verdient, denn so wie er's heute dem Pack da drüben gegeben hat, so ist das schon lange nicht geschehen.‹; Und nun erzählte er weitläufig meinen Angriff auf die Landstreicherin, aber in einer Weise, als habe ich mit meinen Schimpfworten eigentlich die Sintlingerleute, vor allem das blinde Mädchen, ›den Totengacks‹;, wie er sich ausdrückte, gemeint. Das trunkfällige Bettelweib sei von mir nur geriebenerweise zum Schein als Ziel meiner Wut genommen worden.

Ich erblaßte und war kaum noch imstande, meine Gabel zu halten. Aus Furcht vor der Gewalttätigkeit meines Vaters wagte ich jedoch nicht, den Irrtum richtigzustellen. Ich ließ es niedergeschlagenen Auges über mich ergehen, als ein Lästerer des Mädchens gefeiert zu werden, das ich mit allen tiefsten Fasern meines guten Wesens liebte. Wohl machte ich in meiner Herzensbedrängnis ein paarmal den Versuch, den Sinn des Vorganges richtigzustellen, kam aber über ein Drucksen und ein Stottern unzusammenhängender Worte nicht hinaus, die für alle vollkommen sinnlos waren. Ich fühlte, wie meine Augen überzulaufen drohten, und mußte die Zähne aufeinanderbeißen, um meiner Erregung Herr zu werden. Endlich machte mein Vater dieser quälenden Szene dadurch ein Ende, daß er der Mutter befahl, mir eine fette Schinkenschnitte zum Lohne für meine Heldentat gegen die Sintlinger zu geben. Und als sie mir von der Mutter gereicht wurde, sagte er noch, ich habe mich heute als ein echter Brindeisener gezeigt, und wenn ich so weiter fortfahre, werde alles mit mir noch gut werden. Denn wer die Zähne zeigen wolle, müsse vor allem was Tüchtiges zwischen die Zähne kriegen. Nun ertrug ich den Schimpf nicht länger. Am ganzen Leibe bebend, stand ich auf, faßte die Schnitte und wollte sie auf den Tisch werfen. Aber ein Blick auf meinen Vater und die betroffenen Gesichter der anderen lähmte meine schöne Empörung dergestalt, daß ich aufschluchzte und mit meinem Brot, wie ein Judas wider Willen, aus der Stube stürzte und in das Grau vor meinen Augen ziellos hineinlief. Treppenstufen kamen mir unter die Füße. Ich weinte lauter und ungehemmter und lief und lief, bis ich atemlos auf dem höchsten Boden unter dem Dache stand. Dort setzte ich mich auf einen Haufen alten Gerümpels, die Schnitte vor mir auf der Diele. Man rief nach mir. Ich gab kein Zeichen. Es wurde stiller und dunkelte mehr und mehr. Zuletzt brauste nur die Stille der Nacht um mich, da erhob ich mich und warf das Brot in weitem Schwunge hinaus.

Vielleicht hätte diese heimlich-wilde Abschüttelung mich restlos von den drückenden Folgen der Untat befreit, die ich nicht begangen hatte, und ich wäre nach der schweren, traumverworrenen Nacht jenes Tages wieder ungetrübt in das selige Wolkensegeln meiner Knabenliebe gestiegen, wenn mir nicht auch durch das veränderte Betragen der Leute des Sintlingerhofes die Gewißheit beigebracht worden wäre, daß man meinen Zornesausbruch gegen die Landfahrerin als eine Roheit gegen das liebe blinde Mädchen aufgefaßt hatte. Bisher waren meine Streifereien um den Hof auf keine Abwehr gestoßen. Man hatte meinen Liebesdienst, den niemand ahnen konnte, als eine schnell vergehende Knabenschrulle geduldet. Ich konnte auf den Rainen und Wegen der Sintlingerschen Wirtschaft gehen, hinter Mauern lehnen, um die Zäune schleichen, das Tor umkreisen und wurde von niemand unfreundlich behandelt oder vertrieben. Ja, der Sintlingerbauer hatte mir sogar einmal linde die Hand auf den blonden Haarschopf gelegt und mich liebreich gefragt, ob ich der Peter sei. Nach meinem wilden Angriff auf die trunkfällige Gitarrespielerin bekam ich Helene überhaupt nicht mehr zu sehen. Sobald ich mich von fern dem spielenden Mädchen zu nähern begann, führte man sie aus meinen Augen, als sei ihr meine Bosheit auch aus der Weite schon gefährlich. An dem Betragen des Bauern merkte ich zwar keine Veränderung gegen mich, dagegen hüteten die alte Pflegerin und die Bäuerin das Lenlein vor mir, als einem wüsten Unhold, auf das ängstlichste. Und bei Gelegenheit einer Festlichkeit, ich weiß nicht mehr genau, war es eine Erntefeier oder ein Geburtstagsfest, bekam ich von den Knechten des Hofes einen tüchtigen Denkzettel angehängt. Nein, richtig, man hatte neben den Torlinden ein schönes, steinernes Kreuz aufgestellt und weihte es durch eine Hausfeier ein, die sich bis in den tiefen Abend ausdehnte und schließlich bei dem angetrunkenen Gesinde in Tanzen, Singen und Lärmen endete. Und da ich das Lenlein in einem weißen Kleide, wie ein Engelchen, im Dämmern hin und wieder huschen sah, stieg in mir die verwegene Hoffnung auf, daß es mir gelingen könne, dem überirdischen Wesen so nahe zu kommen, daß mir vielleicht das Glück beschieden sei, ihre Hand oder ihr schönes goldenes Haar zu berühren. Mit klopfender Brust hatte ich mich auch schon, hart auf den Rasen gepreßt, auf allen vieren kriechend, bis in die Nähe der Torlinden gearbeitet. Niemand bemerkte mich, obwohl die Knechte und Mägde ganz nahe über mir hin und her gingen. Wenn das Lenlein in meine Nähe kam, wollte ich aufspringen, ihre Hand erfassen und sagen: ›Lenlein, ich bin Peter; aber ich bin nicht böse und hab' dich auch nicht geschimpft‹;, und das Mädchen, dessen blinde, schöne Augen durch alle Nacht, auch durch die Finsternis der Blindheit sahen, würde mich anblicken und alles erkennen. Ich lag still wie ein Holz und erwartete fiebernd den Augenblick ihres Nahens wie eine himmlische Seligkeit.

Aber da ging ein trunkener Knecht vorüber, stolperte über einen Stein, kam ins Taumeln und torkelte über den Abhang hinunter, gerade auf mich zu. Unfehlbar hätten seine schweren Stiefel meinen Kopf oder meinen Rücken getroffen, wenn ich nicht emporgesprungen und in großen Sätzen den Hofhügel hinuntergelaufen wäre. Doch noch ehe ich auf dem Grenzwege angekommen war, erkannte man mich an meinem weißen Schopf und bombardierte mich unter wildem Gefluch und Geschrei mit großen Steinen. Alle herbeigeeilten Knechte beteiligten sich an der Jagd auf mich. Ich lief wie durch einen Steinregen und war schon heil bis auf den Grenzweg gekommen. Da traf mich ein grober Brocken so hart ans Bein, daß ich schreiend zusammenbrach und von unseren herbeigeeilten Leuten ins Haus getragen werden mußte.

Mein Vater brüllte wie ein Stier durch die Nacht zu dem Sintlingerhofe hinüber. Ich lag blaß im Bett. Meine Schwester Amalie saß im Lichte einer Kerze, weiß, bekümmert und schweigend neben mir und erneuerte von Zeit zu Zeit an meinem geschwollenen Beine die kühlen Umschläge.

Durch all diese Vorgänge kam über meinen guten Geist ein Ermatten, vor allem auch deswegen, weil ich gezwungen war, den wahren Grund meines nächtlichen Heranschleichens an den Sintlingerhof zu verleugnen, das heißt, nicht nur meine Verehrung für das blinde Kind wieder nicht zu gestehen, sondern zuerst zaghaft und dann immer entschiedener mich zu dem leidenschaftlichen Haß zu bekennen, der in unserem ganzen Hofe gegen die Sintlinger kochte. Schließlich behauptete ich, nur wegen eines rüden Schabernacks bis nahe an die Torlinden gekrochen zu sein, um nämlich das Sintlingermädchen beim Vorübergehen am Bein zu packen und über den Abhang hinunterzureißen. Und merkwürdig, je mehr ich so durch Lügen gegen meine Inbrunst wütete, zu desto leidenschaftlicheren Verzerrungen meines Wesens wurde ich fortgerissen, und endlich atmete ich nur noch auf meinem dunklen Lungenflügel. Mein Herz pumpte mir die Schatten wieder tiefer ins Blut, die das erstemal durch das Auge in mein Inneres gestiegen waren, als ich meine Eltern in der Gaststube auf dem Bett belauscht hatte.

Ich schlich nun wieder emsig und verstohlen unseren Mägden nach, lauerte entweder unschuldigen Gesichts in der Nähe oder einsam in einem nahen Versteck, wenn sie sich in ihren kurzen Röcken bückten, daß die nackten, prallen Beine bis übers Knie hinauf enthüllt wurden, oder trieb mich um unsere Pumpe herum und beobachtete gierig und kurzen Atems ihre abendliche Reinigung vom Arbeitsschmutz, wobei sie sich äußerst ungeniert benahmen und allerlei sehen ließen, was für die übertreibende sinnliche Neugier eines im Geist halb deflorierten Knaben wie aufreizendes Gift wirkte. Oder ich kroch heimlich meinem Bruder nach, wenn er sich mit einer Magd auf den Heuboden verlor, und erschauerte, kalt und heiß in einem, bis zum Herzpochen und Zittern meiner Kinnladen, wenn das schrille und doch begierige Kichern des Mädchens begann und dann inbrünstig-jäh in der vollgesackten Nacht des Bodens abbrach. Ich weiß genau, wie es mich einst dermaßen schüttelte, daß ich stöhnend, mit dem Gesicht nach vorn ins Heu fiel und mich wie unsinnig hineinwühlte, als sei es der weiche, willige Leib eines Menschen.

Am Tage nach einem solchen Ereignis auf dem Heuboden lehnte ich während der großen Pause abseitig an der Wand des Schulhauses unter den Fenstern und schaute dem Spiel und Lärm der anderen zu. Vom ersten Schultage an war ich ein Einspänner gewesen. Als Großbauernsohn und vorzüglicher Schüler hatte man mich nie zu den gemeinsamen Spielen gezwungen und es seit jeher geduldet, daß ich selbstverloren meinem eigenen Vergnügen nachging. An diesem Tage aber fand ich mich nicht einmal in mein versonnenes einsames Spielwerk hinein. Meine Phantasie war wie aus den Angeln gehoben. Das heiße Dunkel des Heubodens spukte in meinem Blut. Ich lehnte wie in einer Trunkenheit an der übersonnten Mauer und sah eigentlich nichts von den Spielen und Späßen der Kinder, sondern lauschte nur auf das Gelächter der großen Mädchen. In ihrem übermütigen Aufschrillen klang manchmal etwas von dem brunstvollen Kichern, mit dem die Magd gestern in der Dunkelheit des Heubodens plötzlich so rätselhaft still geworden war, daß es mich betäubt und in das Heu gerissen hatte. Ich schloß die Augen, um diesen Laut besser hören zu können, und hatte bald heraus, daß es immer ein und dieselbe Stimme war, die diesen merkwürdig aufreizenden Klang hatte, daß mir das Herz heiß und wollüstig schwer wurde. Und als ich wieder einmal die Augen zusinken ließ, um durch das Lachen zu dem Genuß des prickelnden Bebens in allen Gliedern zu kommen, schrillte das Lachen dicht vor mir auf, und da ich ertappt die Augen aufmachte, stand Mathinka Meixner aus Querhoven vor mir, vom Laufen überhitzt, mit halb geöffnetem Munde stürmisch atmend. Ihre großen braunen Augen brannten wie tanzend voll Spott und Verlockung auf meinem Gesicht. Dann schleuderte sie mit dem ihr eigenen leidenschaftlichen Schwung des Kopfes die schwarzen Haare aus der Stirn und fragte: ›Peter, du bist ja so blaß! Was hat's mit dir?‹; Und weil ich vor Überraschung nicht antworten konnte, sagte sie wie in wildem Ausbruch: ›Komm und fang mich.‹; Dann lief sie mit aufreizendem Lachen davon. Aber ich blieb an meiner Wand lehnen, schaute ihr eine Weile nach und bemerkte, daß sie schon einen Busen habe.

Ich weiß nicht, vielleicht wäre ich ihr schon gleich nachgegangen. Sie rannte hinter den Holzschuppen, steckte nach einem Weilchen den Kopf wieder vor und winkte. Aber da ich eben mich mit den Händen von der Mauer ab- und mich ihr nachstoßen wollte, klatschte der Kantor Pfeiffer in die Hände, und die Pause war vorüber.

Dieses schwarzhaarige, früh entwickelte Mädchen mit weißer, wie durchsichtiger Haut, das einzige Kind des Querhovener Großbauern, im übrigen ein Kerl, eine Mischung von Gnu und Wolf, toll, trunkfällig und maultrommelig ... dieses Mädchen, das die wilden Hummeln in allen Gliedern juckten, hatte mich nicht nur an diesem gefährlichen Vormittag zur Zielscheibe ihres herausfordernden, nein, aufstachelnden Spottes gemacht. Wann und wo es sich nur einrichten ließ, wußte sie sich mir immer in den Weg zu stellen, meine Verschlossenheit zu verhöhnen und mich, mit wem ihr gerade einfiel, zu necken. Bald fragte sie mich, in welcher Hosentasche ich die Haarschleife der Anna Weisig stecken habe, dann brachte sie ein Liebesgerücht mit einem anderen Mädchen auf, und weil ich in meiner himmlischen Sehnsucht nach dem blinden Mädchen auf dem Sintlingerhofe anderen Knaben gegenüber wohl dies und das Schwärmerische gesprochen haben werde, hatte sie auf das dringendste in der letzten Zeit dieses Spiel der Verlockung und des Hohnes verdoppelt. Freilich war sie dabei ins Holz nach Rosen gegangen, und ich hatte mich immer, wenn auch meistens nicht sehr geschickt, dem Gespinst entzogen, durch das sie mich mit ihr verwickeln wollte. Denn die maßlosen, brennenden Feuer, die diesem Mädchen aus allen Nähten züngelten, vertrugen sich in meiner Seele nicht mit dem himmlischen Schimmer und jenseitigen Zauber, den ich von dem Sintlinger Mädchen in mich sog, wenn auch dies klar geschiedene Herzenswetter mir nicht immer beschieden war. Sowie ich nämlich den Dunkelheiten verfiel, die geheim in unserem Hofe umgingen, in demselben Maße wurde ich lässiger in der Abwehr der liebenswürdigen Zudringlichkeiten des dunkeläugigen Mathinkleins, plauderte mit ihr in den Unterrichtspausen, half ihr da und dort in das Verstehen des Unterrichts hinein, weil ihre Sinne geweckter waren als ihr Geist, und ließ es sogar manchmal geschehen, daß sie mich durch allerlei reizende Listen verführte, mit ihr und den Querhovener Kindern durch die Wiesen nach Hause zu schlendern. Aber das war doch sehr selten vorgekommen, kaum drei- bis viermal. Sonst kehrte ich immer mutterseelenallein aus dem Grenzwege von der Schule zurück.

An diesem Tage, da mir aus ihrem Lachen meine Knabenbrunst stürmischer ins Herz gewühlt hatte, wurde ich meinem einsamen Heimweg, und diesmal aus einer heißen Lähmung, einer Betäubungsseligkeit heraus, wieder untreu. Die Schule war aus. Alles polterte über die Bänke, durch die Gänge, über die Holzstiege hinunter. Ich räumte geistesabwesend an meinem Tornister herum und kam damit doch nicht zu Ende. Drunten lärmten die Kinder und wurden dann plötzlich still. Ich wußte, der Lehrer war zu ihnen getreten, sie in Paaren zu ordnen. Jetzt sagte er mit knarrend unwirscher Stimme sein ›Geht!‹; Mit vielstimmigem ›Gelobt sei Jesus Christus!‹; setzte sich alles schweigend in Bewegung. Dann begann wieder ein undeutliches Durcheinandersprechen, das sich in entgegengesetzten Richtungen vom Schulhaus entfernte und bald ganz in dem Schweigen der stehenden Herbstluft unterging. Mir klopfte das Herz, daß ich glaubte, das ganze ausgestorbene Schulhaus halle wider von seinen furchtsamen Schlägen. Ich blickte erschrocken auf, und mein Auge traf das Bild des alten Kaisers Wilhelm über der Tür. Es sah gleichgültig-gütig auf mich nieder. Da schnallte ich entschlossen den Deckel auf meinem Tornister fest, warf den Bücherranzen auf den Rücken und stand auf. In diesem Moment hörte ich den Kantor Pfeiffer über die Treppe heraufkommen und zögerte, hinauszutreten. Allein, er kam nicht ins Schulzimmer, sondern stand, auf dem oberen Flur angekommen, ein Weilchen still und schlurfte dann in seine Wohnung. Als die Tür hinter ihm eingeschnappt hatte, schlich ich mich auf den Zehen lautlos die Treppe hinunter. Was mein Herz mit seinem stürmischen Rumoren geahnt hatte, traf ein. Sowie ich aus der Schulhaustür trat, sah ich das Mathinklein neben einer Weide auf dem Wiesensteige ganz allein stehen, während die anderen Querhovener Kinder schon weit in das flache Tälchen hineingewandert, von silbrigem Herbstlicht umzittert, weiterzogen. Sie winkte mir nicht, sondern richtete sich nur wie frohlockend auf und begann dann, säumig Fuß vor Fuß, den Steig weiterzugehen. Mit erlahmenden Beinen, mit schluchzend beklemmter Brust, einen Wirbel, wie Trunkenheit, im Kopfe, ging ich ihr nach. Nach einigem Zögern aber fiel ein Sturm über mich, ich schrie inbrünstig ihren Namen ›Mathinka!‹; und begann dann zu jagen, daß mein Atem flog. Sie kam mir rasend Betörtem mit glücklich-flimmerndem Gesicht zwei Schritte entgegen, packte meine Hand mit festem Griff und sagte nichts als: ›Peter, du!‹; Sie sagte es fast stimmlos, aber so leidenschaftlich, so verzehrend, daß ich vollkommen in ihrem Bann war.

Ziemlich in der Mitte von Querhoven liegt die einzige Wassermühle des kleinen Dorfes an dem Hornwasser, das, durch ein Holzwehr teichbreit gestaut, dort fast stillsteht. Der Steig von Hemsterhus her geht nahe an dem strauchlosen Ufer hin. Über dem Wasser drüben lag auf einem Hügelstoß der Meixnerhof, aus dem Mathinka stammte. Ob es heute noch so ist, weiß ich nicht. Die meisten, die damals an der Querhovener Teufe vorübergingen, blieben stehen und beschauten den Hof in der Höhe und sein Spiegelbild in dem ruhigen Wasser.

Wir beiden verstrickten Kinder, das Mathinklein und ich, waren ohne ein Wort zu sprechen, ja ohne uns anzusehen, die Hände ineinandergeflochten, bis hierher gegangen und taten nun dasselbe. Die dortige Uferstrecke ist ganz hauslos. Ein Stück unterhalb liegt die Mühle. Eine ganze Strecke wasserauf führt ein Steg über den Bach, und erst dort war wieder ein Anwesen, ein kleines Haus, das übrigens der verwitweten Schwester von Mathinkas Vater gehörte.

Dort traten wir an das stille Wasser heran, wir jungen Kindermenschen, beide gewitterschwül, und schauten erst auf den unbeweglichen Spiegel und dann nach dem Gesträuch des gegenüberliegenden Ufers. Ich tat es wenigstens, denn ich fürchtete mich vor meinem Gesicht im Wasser und schämte mich vor Mathinka. Des wilden Mädchens Hand aber umklammerte glühheiß die meine und zog mich immer näher ans Wasser. Jetzt wagte ich unter mich zu sehen. Mein Gesicht war weiß und starr, die Augen übergroß und dunkel, wie das Gesicht eines Menschen, der mit offenen Augen gestorben ist. Das Mathinklein blühte mir fieberrot und lachend aus dem Wasser herauf.

›Fürchtest du dich vor dem Wasser, Peter?‹; fragte sie und lachte mit weißen Zähnen aus dem Wasser.

Ich schüttelte nur den Kopf.

›Aber du hast kalte Hände‹;, sagte sie wieder.

›Ja‹;, hauchte ich erst.

›Ja, Mathinklein!‹; brach es jetzt stürmisch aus mir.

›Ja, du!‹;

Darauf schleuderte sie übermütig ihre Haare in den Nacken und lachte so, so daß sich mir vor wollüstigem Schauer der Atem im Halse abwürgte, warf den Tornister vom Rücken, riß sich die Schuhe von den Füßen und streifte die Strümpfe von den weißen, wunderschönen Beinen.

›Mathinklein, was tust du?‹; fragte ich fassungslos, und mein Kopf donnerte.

›Peter, ich fürchte mich nicht ... ich nicht ... ich ... hänge die Füße ins Wasser ... die Beine ... alles ...‹;

So redete das Mädchen fließend, ekstatisch, dämonisch, und riß und zerrte an Schuhen und Strümpfen.

Jetzt war sie damit fertig und ließ sich hart am Ufer nieder.

›Sieh‹;, sagte sie, beugte, auf den linken Arm gestützt, den Oberkörper zurück, schloß die Augen, und langsam mit der rechten Hand das Kleid immer höher über die Beine streifend, lechzte sie lockend immerfort das eine: ›Sieh ... sieh ... sieh ...‹; Dabei schob sie sich immer weiter gegen den Uferrand und hing die Beine tiefer ins Wasser. Als das Kleid von dem schon verdunkelten Schoß weggezogen wurde, schrie ich voll Entsetzen auf: ›Mathinka!‹;, stürzte mich auf sie und riß sie vom Wasser weg. Sie umklammerte meinen Hals, und unsere brennenden Gesichter gruben sich ineinander.

Niemand hat das gesehen. Denn es war hoher Mittag. Es ist auch nichts geschehen. Wir beide sind nur in die Nacht der Wollust gestürzt. Aber getrunken habe ich dazumal noch nicht von den heißen Wassern. Nein, wahrhaftig nicht! Aber besinnungslos war ich und wachte erst auf, als ich auf der Querhovener Lehne angekommen war und durch den Fichtenstreifen schritt, der vom dürren Berge herunterlief.

Die ganze Welt wogte in einem grauen Dampf um mich, hinter dem gleichwohl alle Gegenstände in nie gesehenen, lockenden Farben aufleuchteten. Das Merkwürdigste widerfuhr mir aber in der Tatsache, daß alles dieses, das hinter dem grauen Schleier gespenstisch und geheimnisvoll hervortrat, die Züge meines Gesichtes trug, wie es mich als Spiegelbild aus dem Wasser angeschaut hatte, da ich mit Mathinka an der Hornwasserteufe gestanden hatte. Weiß und starr, die Augen übergroß und dunkel, wie das Gesicht eines Menschen, der mit offenen Augen gestorben ist, so formte sich mein Gesicht aus allem, was ich eine Weile anschaute. Aus dem herbstblassen Baum tauchte es traumhaft und doch scharf auf, auf jeder weißen Hauswand zeichnete es sich ab, selbst, wenn ich mich losriß und in den blaßblau rauchigen Himmel des Herbstes flüchtete, sah ich es nach kurzer Zeit in der Höhe nach den Schlägen meines Herzens aufzucken und weiterrücken, aufgesogen werden und sich wieder bilden. Und doch, während diese blasse Maske von überall her auf mich eindrang, fühlte ich immerfort das heiße Gesicht des Mathinkleins auf dem meinen und spürte ihre weißen Beine mich umschlingen. So kam ich nach Hause, gestorben und fiebernd in einem, starr und zugleich wie von einem glühenden Karussell gedreht. Die Gesichter von Vater und Mutter, von Knechten und Mägden, von Bruder und Schwester kamen mir fremd vor, ich schwätzte törichtes, wirres Zeug und konnte mich nicht bezwingen. Bei Tisch verschlang ich die Speisen, ohne zu wissen, was ich hinunterwürgte, lachte immer wieder laut und schreiend heraus und fühlte bei allen Wirbeln, die in mir rasten, mein Gesicht starr, blaß, eingefallen und meine Augen groß, stier, wie gestorben.

Ich komm in die Hölle, sann es in mir, mein Vater kommt in die Hölle, denn er hat auf der Mutter gelegen, mein Bruder kommt in die Hölle, weil er die Mägde auf dem Heuboden stumm macht. Dann mußte ich wieder hell auflachen. Nur aus dem leidenden, abgezehrten Gesicht meiner Schwester Amalie wehte mich eine reine, heilige Furcht an, daß ich hätte weinen und gepeinigt aufschreien mögen.

Endlich war dem Vater meine ›Verrücktheit‹; zuviel, und um mir ›die Motten auszutreiben‹;, gab er mir auf, mit Amalie den Nachmittag über bis zum Abend die Äpfel von den Bäumen zu pflücken und sie in der Fremdenstube und einer Kammer auf Stroh zu schütten.

Als wir die Leiter in dem Garten hinauftrugen, mußten wir öfter stehenbleiben. Die Arme meiner Schwester zitterten vor Schwäche, sie wurde von der Last ganz krumm gebogen, und ich, der das hintere schwere Ende trug, hörte ihren Atem in kurzen, reißenden Stößen gehen. In knabenhaftem Übermut hätte ich höhnisch auflachen mögen über diese weibliche Zimperlichkeit und Ohnmacht. Denn da Amalie immer krank war, erschien sie mir nicht krank. Aber kurz vor unserem Ziel, einem Apfelbaum, der am Ende des nicht eingezäunten, den Hügel hinaufgelehnten Gartens stand, da sie die Leiterbäume wieder aus den schlotternden Armen sinken lassen mußte, kehrte sie ihr kalkweißes Märtyrerinnengesicht nach mir um, wischte sich die dicken Schweißperlen mit bebender Hand von der Stirn und sagte atemlos mit gütigster Stimme: ›Ja, ja, mein lieber Peter!‹; Dabei sah sie mich aus ihren schuldlos reinen Augen so durch und durch an, daß ich mich beschämt abwenden mußte. Trotzdem, kaum, daß die Leiter in den Baum gelehnt war, fing der Wirbel mit meinem verwandelten Gesicht aus allen Gegenständen, der Spuk von weißen, wundervollen Beinen, die Berückung durch weiches, brennendes Fleisch, das ich zwischen den Fingern fühlte, wenn ich zum Beispiel einen Apfel erfaßte, wieder an, daß ich mich aus dem Bann stahl und über die Wiese und einige Feldbreiten ging, um im Schatten der ersten Waldbäume ungestört dem Tanze der wollüstigen Bilder nachzuhängen. Wohl rief Amalie einigemal und das immer dringender, endlich gar bittend und in furchtsames Weinen umschlagend, nach mir. Anstatt aber der machtlos Gepeinigten zu helfen, aufzuspringen und hinunterzueilen, warf ich mich, mit dem Gesicht nach unten, lang auf den Waldboden, griff in dem weichen Haarmoos herum und bildete mir ein, es sei der Schoß Mathinkleins, der mir wohl während der sinnlosen Verschlingung unserer Leiber in die Hand geraten war.

In der Nacht gestaltete sich der Zustand meiner Schwester sehr schlimm. Sie stöhnte, ächzte und wurde zum Brustzerspringen von trockenem, nicht endenwollendem Husten geschüttelt, so daß sie in Angst einigemal nach mir rief, sie aufrichten oder umdrehen zu helfen. Aber ich, den die Gier im Bett noch betäubender überfallen hatte, ich, der die Arme auf das Deckbett legen mußte, weil ich es nicht wagen durfte, mit den Händen das eigene Fleisch zu berühren, ich wagte nicht, aus dem Bett zu steigen, weil ich mich fürchtete, den entblößten Körper meiner Schwester an irgendeiner Stelle zu berühren. Dabei litt ich, daß mir die Kinnladen bebten.

Und dann war wieder einmal der schreckliche Hustenanfall vorüber, und Amalie lag atemlos, so still im Bett, als sei sie gar nicht mehr da, nicht in der Kammer, nicht in der Nacht, gar nicht mehr auf der Erde. Ich setzte mich erschreckt im Bett auf. Und während ich beklommen lauschte, kam eine Stimme traumhaft in der Finsternis auf, die war so kindhaft-dünn, so hoch, so ganz fremd und entrückt, daß ich mich mühte, mit den Augen die Nacht zu durchdringen, um das Wesen zu sehen, das so geisterhaft redete. Denn die Stimme meiner Schwester klang doch ganz anders. Es hatte ausgesetzt, und ich wollte mich schon wieder umlegen. Da fing es von neuem an, schwebend und leise zu sprechen: › ... ich seh' ein Weißes in mir, ein ganz Helles ... ein Strahlendes ... einen Engel ... oder ein Kind. Ach, ›das hat blonde Haare wie Gold und geht vor mir her in ein hohes Tor von Licht ... Heiligenlenlein! – Heiligenlenlein, du!! – Nimm mich mit zu Gott und vergiß auch meinen armen Peter nicht ... Heiligenlenlein ... du ...‹;

Dann erstarb die Stimme im Schlaf.

Wir war, als hätte jemand einen Pfahl durch meinen Körper getrieben.

So war es doch Amalie, die gesprochen hatte!

Ich sprang aus dem Bett zu ihr hin und rief sie mit allen Kosenamen, indes mir die Tränen über die Wangen liefen, griff mit der einen Hand nach ihrem Gesicht und mit der anderen nach ihrer Hand, die aus dem Bett hing. Ihr Körper war feucht von Schweiß und welk.

›Was soll ich dir tun, Amalie?‹; fragte ich und bettete ihren herabhängenden Arm unter die Decke. Sie schüttelte leise den Kopf, schloß dankend die Finger um meine Hand und sagte glücklich und fast unhörbar, ich solle ruhig wieder ins Bett gehen. Nun sei der Anfall ja vorüber, und sie wolle schlafen.

Vorsichtig, um sie nicht wieder zu wecken, lautlos kroch ich in mein Bett zurück. Ich war erschüttert, daß meine Schwester eben mit einer anderen, mit der Stimme des Sintlingerlenleins gesprochen hatte, und wurde doch bald wieder gedrängt, sie durch irgendeine Frage noch einmal zum Sprechen zu bringen, um zu erkunden, ob das zauberhafte Mädchen des feindlichen Nachbarhofes noch immer in ihr stecke, unterließ es aber dann, weil ich fürchtete, Amalie könne nicht nur wieder zu sich, sondern in eine neue Folter des Hustenkrampfes gerufen werden.

Ich lag ganz, ganz still und lauschte in mir dem Singen der Traumstimme des blinden Mädchens nach, die aus meiner Schwester geklungen hatte. Sie tönte immer leiser, immer ferner, und wie ich mit meinem Lauschen ihrem Davonschweben folgte, verließen mich die wüsten Bilder meiner Knabenbrunst, die mich den Tag über so umdrängt hatten, und ich geriet, wie über mein Leben und die Erde hinaus, ganz nahe an eine glückvolle, lichte Unendlichkeit mit buntem, schimmerndem Gewölk, auf dem ein weißes, unwirkliches Engelswesen saß, das mit lockenden Gebärden mich zu sich heraufwinkte. Doch wie ich im Traume auch rang, zu ihr hin zu gelangen, es glückte mir nicht, weil von meinem Gesicht die Starre und Blässe und aus meinen Augen die Dunkelheit und Kühle des Todes nicht wich, die mich am Nachmittage neben Mathinka Meixner an der Querhovener Teufe überfallen hatte. Die ganze Nacht kämpfte ich so, und als mich im dunkeln Morgen die Stimme meiner Mutter zur Schule rief, fiel dieses Bild mit dem Schlafe nicht ganz von mir ab. Ja, da ich nach beendetem Frühstück mit dem Schultornister auf dem Rücken aus dem Hofe in das Feld hinaustrat, schien die ganze Welt von dem Traum meiner Nacht verwandelt zu sein. Der erste Reif war gefallen, und über dem schneebehauchten Grase wogten weiße, wollige Nebel, auf denen das Licht der aufgehenden Sonne zitterte. Während ich neben unserem Baumgarten den Hügel hinunterging, um auf den Grenzweg zu kommen, schielte ich mit einem halben Blick auf den Sintlingerhof hinüber, dessen weiße Gebäudemassen, von der milchweißen Novembersonne getroffen, meinen traumverwirrten Sinnen wie die höchste überlichtete Wolke vorkam, von der das engelhafte Wesen mir im Schlaf gewinkt hatte.

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