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Er erzählte mir immer dieselbe Geschichte, und wenn ich ihn sah, wußte ich schon, wie er sie diesmal vortragen würde. Manchmal galoppierten seine Worte wie Pferde, die von der Peitsche einen steilen Berg hinaufgeprescht werden. Zuzeiten tropften ihm die Sätze zäh und monoton aus dem Munde. Dann wieder glomm in seiner Stimme ein geheimes Zittern: es war trunkenes Taumeln in seiner Geschichte. Seltsam aber war der Erfolg seiner Erzählung: ich vergaß sie immer sofort. Wenn er schwieg, war sie auch schon weggeblasen. Das Seltsamste aber bestand darin, daß der Erzähler und seine Geschichte in gar keinem Zusammenhange zu stehen schienen. Darauf kam ich erst sehr spät, eigentlich am Ende unserer Bekanntschaft. Er hatte die Sache diesmal in dem Garten eines großen Vergnügungsetablissements vor der Stadt einzufädeln gewußt, und während ich durch die lärmende Gesellschaft an überfüllten Tischen vorüberging, um die Handwerker mit ihren Familien, Bergleute und ihr Anhang, Ladendiener mit und ohne Verhältnis, Schlepper mit Fabrikmädchen zusammengekeilt saßen, fühlte ich mich von irgendwoher unangenehm fixiert und wollte schon die Stufen der riesigen Holzveranda hinuntergehen, um auf der Straße am Bahndamm entlang ein wenig in den Wald zu schlendern. Aber gerade als ich die erste Stufe unter dem Fuße hatte, bog es mir instinktiv den Kopf zurück, und ich sah ihn in der hintersten Ecke an einem ganz leeren Tisch vor seinem kalten Grog sitzen und mich lächelnd ansehen, als ob er sagen wollte: Das ist ja Unsinn, so zu tun, als wolltest du gehen. Komm doch her und setz' dich; dein Sträuben ist durchaus erfolglos. Und wirklich saß ich nach zwei Minuten mit einer Selbstverständlichkeit neben ihm, als sei es von Anfang meine feste Absicht gewesen, mich mit ihm dort zu treffen. Er war auch gar nicht sonderlich erregt, als ich bei ihm Platz genommen hatte, und bedeckte, wie es seine Art war, die rechte Hand mit der anderen, als friere ihn an den Handrücken. Weiße lange Haare standen in der porösen Haut, dicht wie ein Schimmelüberzug. Von seinem Gesicht sah ich nicht mehr wie die übermäßig hohe Stirn. Endlich sagte ich: »Herr Brindeisener, ich wollte eigentlich ein wenig im Tolkebusch schlendern gehen.«

Darauf streifte er mit seinem grauen Auge über mich hin, mit einem beiläufigen, aber so schmerzvollen Blick, antwortete nichts, sondern stellte sein Gesicht wie horchend über die Köpfe der lärmenden Gesellschaft weg, dem Himmel entgegen, und sagte dann trocken und hilflos: »Die Luft ist unbarmherzig klar.«

Und dann ließ er den überlangen Oberkörper wieder zusammensinken, als schiebe er eine Klappkamera ineinander.

Mich ergriff der geheimnisvolle Hilferuf des alten Mannes. Aber ich raffte mich doch nach einigen Augenblicken wieder auf und sagte mir, daß es töricht sei, mich den ganzen schönen Sonntagnachmittag diesem morschen Buchhalter aus der Zündholzfabrik zu überliefern, nur um die Geschichte zu hören, die ich immer wieder vergaß, und eilte mit großen, energischen Schlüngen dem Boden meines Bierglases zu. Ehe ich den Rest hinuntergießen konnte, stieß Brindeisener entschlossen den Stock zwischen die gespreizten Knie und begann ohne jede Einleitung seine Erzählung: »Sie müssen wissen, mein junger Freund, das Leben ist immer ein zu kurzes Pferd. Man mag sich darauf setzen, wie man will. Es nutzt nichts. Entweder fällt man vorn oder hinten herunter und gerät unter die Hufe und Reifen.« Und so weiter.

Von Zeit zu Zeit donnerte ein Bahnzug vorüber. Auf den, feiernden Gruben rundum schnarchten die Auspuffer der Ventilatoren und Pumpwerke leise und verschlafen. Das Gelärm der Ausflügler wuchs.

Der alte Brindeisener achtete auf nichts, sah gerade vor sich auf den Tisch und sprach wie zu sich selber. Nein, er sprach nicht. Er rief die Sätze diesmal wie ein Auktionator, laut und hart. Und ich hörte eigentlich gar nicht auf ihn, sondern wartete auf den Augenblick, wo mit seinem Gesicht die eigentümliche Verwandlung vor sich ging. Da – jetzt begann sein Kinn einzuschrumpfen. Es war, als würde es von dem Atem hinaufgesogen, nicht bloß das Kinn, fast der ganze Unterkiefer, so daß Brindeisener aussah, als habe er nur einen halben Kopf, und sein grauer Knebelbart schien unmittelbar aus den breiten, gelben Zähnen des Oberkiefers hervorzuwachsen.

Nun ging es dem Ende zu. Ich stürzte rasch den Rest Bier hinunter, und unmittelbar nach dem letzten Worte erhob ich mich, dankte mit unsicherer Stimme für die Gesellschaft, schützte eine Verabredung im Tolkebusch vor und wand mich eilig zwischen den Tischen durch, dem Ausgange zu. Dort drehte ich mich noch einmal um und bemerkte, daß der alte Buchhalter mit breiten Ellenbogen, das Gesicht vergraben, auf dem Tisch lag. Seine Schultern ruckten. Wahrhaftig so, als weine er. Aber ich konnte diesmal nicht. Einfach. Ich wäre ihm grob gekommen.

Allein, mein Sonntag hatte doch einen unheilbaren Knacks davongetragen, und während ich unter den Bäumen umherirrte, lag eine unsichtbare raunende Wolke tiefer Trostlosigkeit um mich. Die hinderte mein Gemüt, in die Träume von meinem Vaterhause zu entfliehen und den Rechenstaub der Bankstube abzuschütteln. Ich kriegte die Dieseler Eisenwerke, das Pari, die Lombardaktien, Diskont und Provision, all diesen grauen Lärm, nicht aus der Seele, an den ich mich nur aus Liebe zu meinem Vater verkauft hatte, der durchaus einen Bankdirektor aus mir machen wollte, nachdem die Maturitätsprüfung vorbeigelungen war. Diese Bedrückungen spürte ich nicht wie sonst als eine Last im Hirn, ich empfand sie wie eine aussichtslose Schwermut, die von außen auf mich eindrang. Wie gesagt, gleich einer bebenden Wolke der Trostlosigkeit lag es um mich.

Auf einmal tönte es: der Subskriptionspreis für die Anleihe beträgt 97½ Prozent zuzüglich 4½ Prozent Stückzinsen vom 1. Mai 1911. Merkwürdig, und das sprach es nicht mit Worten. Nein, dieser Satz tauchte in meinem Gedächtnis wie ein grelles Transparent auf, ohne Beziehung auf mich, seelenlos, wie etwa in der Nacht über den Dächern die Aufforderung aufflammt: Raucht Manoli! So und zugleich schwankte der Schmerz, die Hilflosigkeit, der eintönige Gram eines verlorenen Lebens um mich, wie es aus der Geschichte Brindeiseners in immer anderer Gestalt über mich gekommen war. Das schwere, monotone Auf und Ab der Erzählung steckte darin und die Person des Buchhalters auch. Sobald ich aber mein inneres Horchen auf den Rhythmus der Geschichte einstellte, erlosch das Gesicht Brindeiseners, wie ich es heute gesehen hatte, und gelang es meiner Aufmerksamkeit, seine Physiognomie festzuhalten, verflüchtigte sich jede Empfindung für die Erzählung, die ich dazu nicht wußte. Eine Gefühlskomplexion marterte mich, die, halluzinatorisch scharf und verschwommen in einem, nur ein Jüngling von neunzehn Jahren erleiden kann. Aus dieser, doch im Innern getrennten Einheit ... nein, es ist unmöglich, das zu erklären. Kurz, ich kam durch eine abenteuerliche Kombination zu der Ansicht, zwischen Brindeisener und seiner Geschichte bestehe keinerlei innerer Zusammenhang. Es sei zwecklos, mir noch zwanzig- und mehrmal das gleiche anzuhören, und ich trüge von all der lässigen, etwas knabenhaften Neugier nichts davon als den Verlust jugendlicher Fröhlichkeit und Entschlossenheit.

Deswegen mied ich in den nächsten Wochen alle Orte, an denen ich mit Brindeisener sonst zusammengetroffen war, und unterließ jede Bemühung, etwas Näheres über die Vergangenheit des alten Buchhalters und seine Lebensweise zu erfahren.

Der erste Winter, den ich in Wirbnitz verbrachte, verging vergnüglicher, als es den Anschein gehabt hatte. Gegen das Frühjahr hin waren die Bilderrahmen mit Kotillonorden vollgespickt. In meinem Tischschube verwahrte ich manche Locke und Haarschleife. Mein Beruf erschien mir ganz angenehm, und mit Ungeduld sah ich dem Mai entgegen.

Den Buchhalter hatte ich vergessen. Vielleicht war er davongezogen oder gar gestorben. Es war mir auch gleichgültig. Ich nannte ihn einen alten Märbeutel und glaubte, er bedeute mir nicht mehr als ein zerschlissener Schirm, den man leichten Mutes in einem Winkel stehenläßt.

*


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