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Dumm! Dumm! Dumm!

Das ging drei Jahre so, immer anders, immer derselbe. Erst war ich ein Spieler, der des Geldes halber spielt. Zuletzt spielte ich nur des Spieles wegen.

Lieber Jungmann, wir wollen von da weggehen und zum Teich zurückkehren. Es spricht sich dort besser.

Und außerdem bin ich müde und möchte ein wenig auf der Bank liegen und ausruhen.

Es geht dem Ende entgegen.

Kommen Sie, wir wollen an den Waldrand gehen, um zu sehen, wie weit es noch bis zum Morgen ist.«

Wir erhoben uns und drangen durch den Wald, von dem Feuer der Kokerei geführt, dessen Schein heller und heller zwischen den Stämmen zu sehen war. Als wir ungefähr an derselben Stelle des Waldrandes anlangten, an der wir vorher gestanden hatten, lag die Wiese noch in unberührter Nacht, und der Baum mit der Schirmkrone auf dem Bodenstoß war schwarz und schlafversunken wie vorher. Niemand an seinem Stamm war zu sehen.

Mich fröstelte ein wenig. Ich war müde und überreizt zugleich.

Wenn ich zu lange auf die nachtschwarzen Berge sah, fingen ihre spitzen Kegel leise zu wanken an, und die Sterne schwirrten durcheinander.

Wanda Methner kauerte auch nicht mehr am Stamme des schwarzen Baumes. Aber das verschlafene Getöse der vielen Schächte kreiste wie eine leise Windsbraut um diesen schwarzen Baum über der finsteren Wiese. Es kreiste so leise in der Luft, daß ich bald nicht mehr unterscheiden konnte, sei es Traum oder Wirklichkeit.

Plötzlich fühlte ich mich an der Schulter gepackt und heraufgezogen.

»Nein, mein lieber Jungmann, mit dem Schlafen müssen wir warten, bis wir auf der Bank am Teich sind«, rief der Buchhalter.

Ich war im Stehen eingeschlafen und unversehens in mich zusammengerutscht. Nun schüttelte ich die Müdigkeit gewaltsam von mir, und während ich Brindeisener folgte, der schweigend vor mir her dem Teich zu ging, fühlte ich mich auf einmal heiß und übergrell wach werden. Mir fingen die Hände an zu brennen, daß ich im Vorbeigehen mit Behagen nach jedem kühlen Baumast griff.

Wenn es aber doch Wanda Methner gewesen ist, die da draußen unter dem Baume auf mich gewartet hat, zuckte es mir immerfort wie fiebernd durch den Kopf, und ich ließ mich von diesem Gedanken, der töricht und mir doch unendlich kostbar war, wie von einem lautlosen Karussell drehen, daß ich mich vergaß, die Nacht, den Wald, den Buchhalter und überhaupt alles.

Und hinter dem zuckenden Gedanken floß wie ein buntes Kaleidoskop von Gestalten ruckartig im Rhythmus dieses verliebten Fieberns die Geschichte vorüber, die mir Brindeisener erzählt hatte.

Ja noch mehr. Als das letzte Bild vorbei war, das mir seine Erzählung eingeprägt hatte, seine singende Einfahrt in dem Marburger Bahnhofe, schufen sich in mir eine Reihe von Bildern, die vieldeutig wie Träume und doch scharf wie Wirklichkeit in mir auftauchten und auf eine so geheimnisvolle Weise die Lebensbeichte des alten Buchhalters fortsetzten, daß ich heut noch nicht weiß, ob mir Brindeisener auf dem Wege zum Teich damals wirklich weitererzählt hat, oder ob diese Bilder, die sich meinem Gedächtnis unverlierbar eingeprägt haben, nur die Ausgeburt meiner überreizten Phantasie waren. Allein das kann doch wohl nicht gut sein. Denn wäre dies Traumspiel nur aus meinem Herzen gestiegen, das begonnen hatte, noch inniger als die Zeit vorher sein Liebesschicksal durch das Lebensschicksal Brindeiseners zu erleiden, so könnte doch nicht alles um die Gestalt Brindeiseners sich gruppieren, und mein Wesen und meine Art müßten doch in diesem und jenem Zug deutlich hervortreten. Allein nichts von alledem war der Fall, und es kann nur so gewesen sein, daß der vor mir hingehende Buchhalter in der Erzählung fortgefahren ist, deren Worte wegen meines Zustandes mir nicht zum Bewußtsein kamen, sondern von meinen fiebernden Sinnen sofort in farbige Bilder umgesetzt wurden.

Also ich sah Brindeisener in einer einfachen Mansardenwohnung vor einer Kinderwiege sitzen, die er unermüdlich singend schaukelte. Das kümmerliche Licht einer Petroleumhängelampe rötete sein trunkerhitztes Gesicht noch mehr. Er taumelte auf dem Stuhle und mußte sich immer wieder die rote Studentenkappe aus der Stirn schieben. Da ging die Tür auf, und eine bildschöne Frau schleifte fast ihren total betrunkenen Mann in die Stube. Im Erstaunen, einen ihr vollkommen Unbekannten vor der Wiege ihres Kindes zu finden, ließ sie den Mann auf sein Bett gleiten, wo er sofort einschlief, und dann begann ein allerliebstes Spiel zwischen dem Studenten und der Frau, das wohl mit ihrer Entrüstung, ja Empörung begann, sich aber bald in Heiterkeit verwandelte und von Brindeisener so geschickt nach der heißen Herzensseite dirigiert wurde, daß nicht lange danach die Feindlichen sich in die Arme sanken und neben dem schlafenden Wanne die reifsten Früchte der Liebe pflückten.

Das Bild zerfloß in einem heißen, grauen Zittern, wie es im Hochsommer zur Gewitterzeit über dem Lande liegt. Es verblaßte so, als stiege es in seinen eigenen Hintergrund, immer weiter eilte es in sich hinaus, bis nichts mehr von ihm vorhanden war als ein bebendes Grau, in dem durch einen kleinen Unterschied der Helligkeit bald ein Unten und Oben sich geltend machte. Die Durchsichtigkeit der oberen Schicht nahm dergestalt zu, daß ich erkannte, dies sei ein frühester Morgenhimmel, und die finsterlich graue, unruhig wogende Fläche darunter mußte das Meer sein. Kaum hatte ich, der ich noch nie das Meer gesehen habe, mich so zurechtgefunden, als im Hintergrund eine Stadt auftauchte mit Türmen und altersschwarzen Ziegeldächern. Sie trieb langsam, wie tiefverschlafen, in das Meer hinein und schob einen Strand vor sich her. Der verbreiterte sich schnell so, daß die Stadt bald nur noch als undeutliches Schattenbild im Hintergrunde zu sehen war. In diesem Augenblicke rasten auf der Straße, die im Schutze kümmerlicher Bäume hart am Meer hinlief, drei offene Wagen heran, die zum Brechen mit wild gestikulierenden Studenten vollgestopft waren. Auf dem vordersten Wagen stand in fast berserkerhafter Tollheit Brindeisener aufrecht. Im Anblick des Meeres geriet er in bacchantische Verzückung, warf den Kutscher vom Bock, ergriff die Zügel und jagte mit dem Gefährt lachend ins Meer hinein, bis alles im Wagen zu schwimmen begann, und lenkte dann wieder dem Strande zu.

Und nun folgten sich die Bilder im Fluge, fiebergrell. Brindeisener wandelte mit einer überreifen, eleganten Frau am Arme durch das einsame Feld, das, von Gruben unterbrochen, mit kümmerlichem Gesträuch durchsetzt, aussah, als liege es am Auslauf des Vorortes einer Großstadt. Im Schutze einer kleinen Buschgruppe sprang ihm die Frau an den Hals und riß ihn zu sich herab. Das Bild löste sich in ein Lodern auf, und dann sah ich ihn mit halbnackten Weibern durch lange, hell erleuchtete Säle tanzen, über dunkle Stiegen tappen, mit den Stiefeln zwischen den Zähnen aus Fenstern steigen. Dazwischen tauchte er immer und immer wieder bald mit dem Schläger, bald mit dem Säbel in der Hand auf, stürzte kämpfend auf seinen Gegner und schlug ihn blutend nieder. Seine Augen loderten, seine Zähne leuchteten weiß wie die eines fröhlichen Raubtieres. Endlich erwachte ich aus diesem Taumel der Bilder und fand mich auf dem äußersten Ende der Lattenbank oberhalb des Tolketeiches sitzen, den ich durch die Stämme hindurch weiß übernebelt unter mir liegen sah. Ich war aus diesem Fieberflug der Bilder aufgeschreckt. Denn nach dem letzten Bilde war nicht ein neues aus dem wilden Lotterleben Brindeiseners aufgetaucht. Nein, aus der Nacht sprang das Gesicht Wanda Methners so deutlich vor mir auf, als stehe sie in leibhaftiger Gestalt einen Schritt vor mir. Ihre grauen Augen waren groß, überwach und voll einer ängstlichen Trauer fragend auf mich gerichtet. Um ihren zusammengepreßten Mund zuckte es, und die aschblonden Locken hingen ihr wirr in die Stirn.

Ich seufzte tief auf und rang mich vollkommen aus der Umnebelung meiner Phantasie los. Auf meinen Oberschenkeln ruhte der Kopf des Buchhalters, der mit eingezogenen Beinen auf der Bank lag und mit leiser Stimme zu mir heraufsprach.

»Sehen Sie, durch solch ein Leben bin ich drei Jahre getobt«, sagte er im Fortlauf der Erzählung, die er wahrscheinlich nie unterbrochen hatte und nichts davon wußte, daß ich mit worttotem Ohr allem gelauscht und nichts als Bilder behalten hatte, die zudem auf geheimnisvolle Weise von dem merkwürdigen Liebeszustande meines Herzens zitterten, so daß ich sie wie Träume meines eigenen Innern erlebte.

»Ich habe Ihnen und mir nichts erspart, denn das Leben erspart uns Menschen nichts. Warum sollte ich die Nacht lila und das Blut rosenrot färben? Die Hämmer, die ich auf mich niederfahren machte, waren ja auch nicht wattiert. Ich bin durch Schluchten gepilgert, habe im Fieber meine Ruhe, in Ausschreitungen mein Maß, in der Fessellosigkeit meine Gestalt und in der Grundsatzlosigkeit mein Ziel gesucht. Mit den Jahren rückte ich immer weiter vom Westen nach dem Osten Deutschlands, um aus den Banden meiner Jugenderinnerungen in immer neue Umgebung zu kommen, die mich zu nichts verpflichtete, als mich zu behaupten. Das fiel mir nirgends schwer, denn ich war als verbummeltes Genie überall bekannt, wo ich hinkam, und meine Aufgabe bestand eigentlich nur darin, meinen Ruf als wilder Jäger durch eine neue verblüffende Ausschreitung zu demonstrieren. Ich war ausgezogen, meine Schwächen und Leidenschaften aufzufressen, allein sie wuchsen, wie ich sie entfesselte, so daß ich ein Prinz Heinz war, dessen Königtum ins Wesenlose hinausrückte. Ich wollte mich eine Nacht austoben, und die Nacht dauerte schon drei Jahre. Zuletzt gab es schon Zeiten, in denen ich an keinen Morgen mehr glaubte und die Tragödie meines Lebens manchem meiner Kumpane renommistisch zum besten gab, natürlich umgelogen aus einem Rest von Scham und Stolz; je nach den Veranlagungen, die mich redselig machten, anders frisiert. So erinnere ich mich noch heut einer Kneipnacht in einem Nachtcafé in Breslau, wo ich einem jungen Studenten, der mich als ausgemachtes Grabbesches Genie anhimmelte, von meinem Abenteuer mit Mathinka Meixner erzählte, als sei ich ins Lebensschlingern geraten, nicht weil ich sie genossen, sondern in Jungenblödheit verschmäht hatte. Kurzum Zusammenbruch auf der ganzen Linie. Leiden verwandelte mein Zynismus in Marotten, moralische Bedenklichkeiten in Idiotien. Aber immer wieder tauchte die Erinnerung an das wilde Mathinklein wie eine flammende Rakete auf. Ich fieberte in der Seligkeit meiner ersten Wollustnacht oft tagelang, daß ich dann das schöne schwarzhaarige Mädchen auf der Straße, im Theater, in Tingeltangels und in den Orgien der Lebewelt zu sehen glaubte, völlig Fremde ansprach, mich für sie einsetzte oder auch wohl ihnen meine letzte Barschaft opferte.

Allein, wie wir uns auch zerstören mögen, die frühen Fernen in uns können nicht sterben. Es gibt Hellen, an denen die Explosionen geballter Nächte zuschanden werden, leise Töne, die durch den Lebenslärm, der sie vernichten soll, immer eindringlicher zum Klingen gebracht werden. So erging es auch mir. Je tiefer ich sank, desto unzerreißbarer fühlte ich Sonnenfesseln, an die ich doch nicht mehr zu glauben wagte. Meine Hoffnung auf das Sintlinger-Lenlein hatte sich so tief in mir verkrochen, daß sie nur noch mit den gläsernen Augen letzter Trunkenheit und von Träumen der Nacht erspäht werden konnte, die so leise und furchtsam waren, daß sie nie klar ins Wachsein hinüberreichten, sondern nur durch rätselhafte Ergriffenheiten mich anrührten, so, daß mich mitten in der Wildheit etwa der Anblick einer Blume zu Tränen rührte oder der Klang einer weiblichen Stimme in der Nacht mir das Herz zu Eis erstarren ließ.

Einst aber griff ein solch traumhafter Ausbruch meines tiefsten Wesens mit deutlichen Erinnerungsbildern in meine Wachheit hinein, daß ich mich mit einem Ruck aus den Strudeln riß. Ich stand nach Mitternacht mit einer Dirne, die ich wieder mal für Mathinka Meixner gehalten hatte, auf der Universitätsbrücke zu Breslau und stierte mißmutig hinunter auf die Oder, die im Scheine des hellen, roten Mondes schwarz und unhörbar vorüberzog.

Ein großes Holzfloß lag eine Strecke flußaufwärts unter den Ufersträuchern verankert, und in der Wohnhütte der Flößer zitterte ein kleines Pünktchen Licht. Beim Anblick dieses machtlosen Zitterflämmchens über dem leisen, unerbittlichen Wasser, in der unendlichen Nacht, mitten in der schlafenden großen Stadt, überkam mich das Gefühl grenzenloser Welteinsamkeit. Zum Grausen aber steigerte sich diese Empfindung, als aus der Flößerhütte die schwache, seelenvolle Stimme einer Frau ertönte, die wohl ihren Säugling einsang. Da packte mich die erschütternde Erkenntnis, daß ich wie ein Verbrecher durch die wilde Liebesnacht mit dem Mathinklein an dem einzigen Licht meines Lebens, an dem Heiligen-Lenlein, gesündigt hatte und im Begriff stehe, denselben Frevel mit der neben mir am Geländer lehnenden Dirne zu wiederholen. Diese Überzeugung packte mich so unwiderstehlich, daß vor meinen starrenden Augen das Gesicht des Sintlinger-Lenleins aus dem lautlosen, schwarzen Wasser auftauchte: blaß, himmlisch verklärt, aber aus einer Stirnwunde blutend, so wie ich sie an dem furchtbarsten Tage meines Lebens gesehen hatte, an dem Tage der Beerdigung meiner Schwester Amalie, als sie durch meine Schuld auf den Stein im Grase gefallen war und ich glaubte, an ihrem Tode schuld zu sein. Wie ein Abgrund fiel mich das Bild an, und in meiner Verzweiflung ging ich so weit, die nachfolgende furchtbare Mißhandlung meines Vaters als ein gerechtes, vorgreifendes Strafgericht meines Schicksals zu betrachten, das mich von der geheimen unterirdischen Gier nach dem Mathinklein hatte zurückschrecken wollen. Entlastet erhob ich mich aus der gebückten Haltung von dem Geländer der Brücke, brachte das Mädchen nach Hause und entlohnte die Enttäuschte an der Tür unten so reichlich, als hätte sie mir die Freuden einer üppigen Nacht beschert. Von dieser entscheidenden Nacht an berührte ich jahrelang kein Weib mehr, weil es mir war, ich schlüge damit das heilige Mädchen abermals ins Gesicht, daß ihre Stirnwunde aufs neue zu bluten anfange.

Am Ende des Semesters fuhr ich nach Münster zurück und begann mich auf das ernsteste auf das Referendarexamen vorzubereiten.

Den Volksschullehrer, bei dem ich jahrelang als Pennäler und dann, allerdings nur einige Monate, als Student gewohnt hatte, fand ich nicht mehr in dem alten Hause, sondern draußen am Rande der Stadt in einem modernen vornehmtuerischen Gebäude, das so kalt und baukastenförmlich dastand, wie sich der Mann benahm. So sehr hatten die drei Monate meiner ersten Studententeufeleien mein Ansehen bei ihm ruiniert, daß er mich als Wohnungssucher mit einer düsteren Miene schon abwies, noch ehe ich ihn um Unterkunft gebeten hatte. Mich zog es nur in jene alte, winkelige Gegend um den Romberger Hof, weil ich an meine Gymnasiastenzeit anknüpfen wollte, indem ich mein Wesen formelhafter Reinheit jener Zeit nun blutvoll und ernst zu leben gedachte. Denn die häufigsten Anleihen machen wir bei uns selbst und wissen nicht, daß wir auch sie einst bezahlen müssen. Das ahnte ich aber nicht, sondern addierte ebenso logisch, wie wohl die meisten Menschen in derlei Lagen tun. Nicht weit von dem Hofe, aus dem mir das Flötenspiel des trunkenen Sattlers einst geschenkt worden war, erhielt ich eine reizende Hinterstube bei einer Weißnäherin, die zum Verwechseln der alten Dame, der Frau Hermine Wengen, glich, bei der ich hier in Wirbnitz jahrelang gewohnt habe. Und als ich mit dem Auspacken und Ordnen meiner Sachen fertig war und der Abend mit seinem dunkeln Gesicht auf das Dächergewirr der alten Häuser sah, kramte ich die Flöte meines Großvaters aus dem Koffer herauf, um zu erforschen, was für ein Ton nun aus ihr wohl klingen werde, nachdem diese Finsterzeit meines Lebens vorüber war, an deren Anfang sie vor drei Jahren einen so schrillen Schrei ausgestoßen hatte, daß ich sie seitdem nicht wieder berühren mochte. Mit einem ironischen Lächeln über meinen romantischen Knabeneinfall und doch auch mit einem heimlich bebenden Herzen setzte ich die Flöte an meine Lippen und war erfreut über die klaren Töne sanfter Seligkeit, mit denen sie aus ihrem jahrelangen Schlaf erwachte. Freilich kickste sie bald, so wie einem Menschen, der fröhlich sein will, vor unterdrücktem Schluchzen die Stimme überschlägt. Ich nahm dennoch das Gesetzlein, das mir die Flöte vorgesungen hatte, als ein Orakel meiner Mutter und meines Großvaters gläubig hin, und mit einem spöttischen Lachen, das doch meinen ernsten Aberglauben nicht zuschanden machen konnte, legte ich das gelbe Holzröhrchen, in das uralte Seidentuch gewickelt, wieder an seinen verborgenen Kofferplatz zurück. Freilich sagte ich mir, die Flöte hat schon recht, so rein und ernst auch mein Vorsatz zu einem neuen Leben ist, so treu ich auch an ihm festhalten mag, schwere, schmerzliche Zeiten werden nicht ausbleiben. Aber in Schluchzen sollte das Lied doch nicht enden, das zu singen ich mich entschlossen hatte, dafür wollte ich meinen harten Brindeisenerkopf und mein begeistertes Peterherz einsetzen.

So kindlich, fast kindisch diese Handlungsweise und Gemütsverfassung eines Menschen auch scheinen mag, der, durch unzählbare Schlammexplosionen in immer neue übelriechende Finsternisse hinaufgeschleudert, sich plötzlich wie ein Knabe benimmt, der einen Marienkäfer von dem Finger fliegen läßt, ich war doch in keinem sentimentalen Selbstbetrug befangen, als ich so den Sonnenwind einer frühen Zeit traumhaften, erdentrückten Liebes- und Lebensglaubens in mein Dasein rief. Ich war nicht betäubt durch den Lärm meiner Wüstheiten und den Ekel über meine Ausschreitungen, noch war ich etwa am Ende meiner physischen Kraft: o nein, trotzdem mir der Fraß aus den vollen Schüsseln meiner Sünden bis zum Halse heraufstand, ich lag nicht auf ausgeleierten Knien und jappte heuchlerisch mein Schicksal um sanftes Licht an, das ich nicht verdient hatte. Ich hatte meinen vollen Sack Nacht ausgefressen und atmete auf, daß nun alles glücklich vorüber sei.

In dieser Verfassung reiste ich zu Ostern wieder einmal auf den Hof meines Vaters. So verstiegen war ich aber keineswegs, meine Heimat jetzt als ein bukolisches Paradies zu erwarten, mit eben begrünten, sonnenhellen Hügeln, die Menschen mit Blumen im Haar und auf Schalmeien blasend. Ich hatte mich schon auf einen derben Stoß eingerichtet. Nun, den erhielt ich auch prompt.

Es ist unnötig für Sie und für mich, die Situation bis ins kleine auszumalen, die ich im Hause meines Vaters vorfand. Die Menschen waren dieselben geblieben. Wie hätten die Dinge und Verhältnisse anders, gnädiger, lichter sein sollen, da sie doch nur die Schatten jener sind? Ich mußte zu Fuß nach Hause laufen, denn der versprochene Wagen war nicht auf dem Bocholter Bahnhof, und ich kam, schon in der Nacht, auf dem Hügel an, der sich zwischen unsern Hof und die Gemeinde Querhoven schiebt. Ein vollkommen ausgestirnter Frühlingshimmel wölbte sich über mir, und doch lag das Gehöft meines Vaters nicht von diesem leisen Lichtschleier überhaucht da, sondern als ein unförmlicher Schattenhaufen, der fortwährend die Finsternis selbst auszuströmen schien, die ihn vom Lichte schied. Ein kümmerliches Fünkchen Licht, in der Gegend, wo die Kammer neben der großen, gemeinsamen Wohnstube lag, war das einzige Zeichen, daß in diesen Gebäuden noch Leben herrschte, die mir wie schon in Trümmern liegend vorkamen.

Das soll zur Zeichnung der Situation genügen. Denn wenn ich den Grund auseinandersetzen wollte, weswegen mein Bruder am Nachmittag den eingespannten Wagen, der mich von der Bahn holen sollte, mitten auf dem Hofe hatte stehenlassen: so müßte ich eben in das Teufelswerk des ewigen Zankes steigen, das zwischen diesen beiden Männern eine Art herzlicher Lebensbeziehung herstellte, und das an diesem Tage in einen so wilden Schwung seiner Räder geraten war, daß mein Bruder von ihm erst auf den Heuboden und dann nach Stunden über den Hügel hinunter in eine der Schenken geschleudert worden war, die er nach solchen Zerwürfnissen im Hause aufzusuchen pflegte. Mein Vater saß versunken und finster in seiner Kammer allein und starrte unverwandt in das Fünkchen Licht, das vor ihm auf dem Tisch mehr rauchte als brannte. Er war so einsilbig, so teilnahmslos, so ganz den Gespenstern seiner Daseinsbitterkeit verfallen, daß ich nur von ungefähr den Grund ihres heutigen Haders erfahren konnte, der sich von dem Drängen meines Bruders nach Übernahme des Hofes an der Seite unserer Großmagd als Bäuerin herschrieb.

Dann brach mein Vater in die alten Verwünschungen über mich und mein aussichtsloses Studium aus und endete spät in der Nacht das Gespräch, wie es nicht anders sein konnte, mit einer Wut- und Haßlitanei gegen den Sintlingerbauern, den er mit einem neugeprägten Ausdruck einen vermaledeiten Heiligenbrüter nannte. Das merkwürdige aber war, daß er durch dies stundenlange Wühlen in den Finsternissen seines Innern immer mehr und mehr in eine fast aufgeräumte Stimmung geriet. Denn er hatte eine Waldparzelle an der neuerbauten Chaussee nach dem Rheine so günstig verkauft, daß er sich materiell dem reichen Sintlingerbauer ebenbürtig, wo nicht gar überlegen fühlte. Dieses günstige Geschäft, das doch mehr die Folge der neu angelegten Straße war, buchte er sich auf das Konto seiner geistigen Überlegenheit gegen den verhaßten Hügelnachbarn und schwelgte fast in der Sicherheit, in ein paar Wochen, bei der feierlichen Einweihung der neuen Chaussee durch den Landrat, über seinen Erbfeind einen geradezu vernichtenden Triumph feiern zu können. Gegen Mitternacht nötigte er mich noch, mit ihm hinauszugehen und von dem Obstgarten aus die neue Chaussee zu betrachten, die wir in dem ungewissen Sternenlichte an Stelle des alten Grenzweges drunten in dem Tälchen breit und gewichtig ziehen und gegen den Wald in einer großen Kurve verschwinden sahen. Mir, in meiner neuen Lebenslage, war es qualvoll, die Prahlereien meines verfinsterten Vaters ohne Widerspruch anhören zu müssen. Denn bei dem geringsten Zweifel an seinen überheblichen Hoffnungen oder einer Andeutung über meine Sehnsucht nach Helene Sintlinger hätte sich seine bittere Wut gegen mich gekehrt und ausgetobt. Schon meine Fragen nach dem Alter des verehrten Mädchens, ihrem Aussehen und ihrem Verhältnis zu der Umgebung, so beiläufig ich sie auch in seinen eintönigen Deklamationen angebracht hatte, dampften seinen Zorn in einen solchen Gischt, daß er behauptete, Helene sei gar kein Mensch, sondern nur ›ein blindes Gerecke‹;.

Als diese stundenlange Folter endlich zu Ende war und ich in meinem Bett lag, wurden mir wohl die Augen heiß, und es legte sich wie eiserne Reifen um meine Brust, aber die helle Hoffnung wich doch nicht von mir, meine Finsternisse, das Erbteil des väterlichen Blutes überwunden zu haben und sicher an der Wegwende in ein lichtes, gesegnetes Leben zu stehen, das ich mir ohne das heilige Lenlein von drüben nicht denken konnte.«

Bis hierher hatte der Erzähler, so gut es ging auf der Bank ausgestreckt, mit dem Kopf auf meinen Oberschenkeln liegend, gesprochen.

Nun schleuderte er sich in einem jähen Impuls so leidenschaftlich auf, daß ich in meiner Überreiztheit erschrak und fürchtete, über den armen Mann könne wieder einer seiner wilden Ausbrüche kommen, und ich traute mir nicht mehr die Kraft zu, ihm beizustehen.

Aber er traf gar keine Anstalten, wie vorhin vor einem eingebildeten Schatten auf und davon zu laufen, sondern, nachdem er sich so reißend erhoben hatte, setzte er sich, gesammelt, zurecht, visierte scharf vor sich in die Nacht und wiederholte halblaut seine zuletzt gesprochenen Worte, als habe er den Faden seiner Erzählung verloren. Dann brach er in ein Gelächter bitteren Hohnes aus. »Ja, hahaha, Sie, hahaha! ... Wahrhaftig, es war wirklich so, trotz allem, was sich später ereignet hat, es war so und nicht anders. Ich konnte mir das neue, lichte und gesegnete Leben, das ich mir vorgenommen hatte, ohne Helene Sintlinger nicht mehr denken.

Aber, wie es mit ihr sein könnte, das wußte ich ebensowenig.

Gott, das ist ja eigentlich im Leben immer so. Gedanken über den Sinn unserer Handlungen haben durchaus nur symptomatischen Wert und rufen nicht eine bestimmte Richtung in unserm Dasein hervor, sondern sind gleichsam bloß Begleiter, die sich prompt einstellen, wenn die Lebenskutsche zu fahren beginnt. Na, und die Hengste trabten, sag' ich Ihnen, Jungmann!

Ich hatte doch, kaum daß ich auf dem väterlichen Hofe erschienen war, einen Stoß verabreicht erhalten, der mich hoffnungslos machen und in die alte jämmerliche Gierhopserei zurückwerfen mußte, wenn sich eben nicht meine sämtlichen Lebenskräfte auf die Sonnenseite meines Wesens geworfen hätten. Mein Vater hatte nach einem Peter Brindeisener geschlagen, der nicht mehr da war. Alle Schatten, die mit Verlockungen zu dem alten Bummelleben bei mir anklopften, weil doch alles nutzlos sei, mein Vater nie die Einwilligung zu einer Verbindung mit der Tochter seines Todfeindes geben würde, daß es wahnsinnig war, wenn ich einundzwanzigjähriger Student mich mit einem Gemütsaufwand zum Liebesdienst um ein kaum den Kinderschuhen entwachsenes, blind geborenes Mädchen rüstete, einer Scheu, einer fast atemversetzenden Spannung, als gelte es, mich auf den Empfang eines heiligen Sakraments vorzubereiten, alle diese Schatten der Verlockungen fanden verschlossene Türen. Ich war wie ein Haus, das nur von seinem inneren Feuer lebt, und meine ganze Wachsamkeit richtete sich nicht eigentlich darauf, eine Begegnung mit dem Lenlein zu ermöglichen, sondern meine Leidenschaft unter einem gleichgültigen Wesen zu verbergen, um mich vor den Menschen nicht lächerlich zu machen.

Zudem scheute ich mich, eines der tausend Mittel anzuwenden, die einem Mann zu Gebote stehen, der sich einem geliebten Wesen nähern will, und durch meine unzähligen Liebesaffären hatte ich es darin zur anerkannten Meisterschaft gebracht. Aber wie gesagt, ich scheute mich, diese Geschicklichkeit meiner genußjägerischen Zeit bei Helene Sintlinger in Bewegung zu setzen, weil ich sie dann auf eine Stufe mit jenen weiblichen Wesen setzte, deren Körper ich nur begehrt hatte.

Nein, wenn ich vor dieser, aus Brunnen der Kindheit strömenden reinen Inbrunst wirklich Gnade gefunden hatte, so konnte, nein, mußte ich mich all dieser Liebesmittel entschlagen. Dann wuchs mir das Lenlein wie eine Blume in die Hand.

Wissen Sie, Jungmann, die Guten gesellen sich aus Wahlverwandtschaft zu den Guten. Das Gute in der Welt ist das allein Wirkliche. Das Schlechte, das Böse existiert nur als Negation. Es ist eigentlich nur ein Kranksein, Sterben, der Tod des Guten, an sich aber nichts. Nur der gute Wille ist real, absolut. So viel guten Willen ein Mensch hat, so viel Leben besitzt er.

In jenen Tagen bin ich mündig geworden.

Sehen Sie, Jungmann, dieses Wesen erwachte in mir nach meiner Rückkehr auf den väterlichen Hof, und wie in meinem ganzen zurückliegenden Leben alles Reine, Hohe, Tiefe und Schöne in dem Lenlein des Sintlingerhofes seine Verkörperung gefunden hatte, so trat diese Wiedergeburt abermals in ihrer Gestalt vor meine Seele.

Ich bitte, das alles festzuhalten, denn nun beginnt das Rasen meines Schicksals.

Es waren wohl drei Wochen seit meiner Ankunft in Hemsterhus vergangen, und der Tag der Einweihung der neuen Straße zum Rhein stand vor der Tür.

Mein Vater ging öfter zu abendlichen Sitzungen der Gemeindevertretung ins Dorf und kam mit gewichtigen Schritten, breit und bedeutsam schnaubend, wieder den Hügel herauf, lachte dann und wann donnernd zum Sintlingerhof hinüber und betrat dann mit einem Gesicht die Stube, als habe er nun alles in der Welt geordnet. Nie aber ließ er ein Wörtlein fallen von dem, was im Dorfe beschlossen wurde.

Ich wußte natürlich, daß sein ganzes Gehaben nur die Verstellung eines vollkommen Hoffnungslosen sei, der aus Scham vor den anderen den Erwartungsvollen spielt. Und was ich befürchtet hatte, trat etwa acht Tage vor der Einweihung ein. Der Landrat hatte dem Schulzen in einem Schreiben die Richtlinien für die Feier vorgeschlagen, deren Mittelpunkt eigentlich der Sintlingerbauer und sein Hof war, denn dort wollte der Landrat absteigen, von dort sollte der Festzug beginnen. Meines Vaters war nicht mit einem Hauch gedacht.

Er schlich an diesem Abend spät, vollkommen lautlos auf den Hof. Am anderen Morgen aber, in großer Frühe, wachte ich von einem wüsten Getöse auf, und als ich ans Fenster fuhr, sah ich ihn im Garten stehen und unter wilden Gebärden gegen den Sintlinger, der vor seinem Hoftor stand, hinüberschimpfen. Seine Stimme hatte wirklich mehr den Klang vom Gebrüll eines Tieres. Der kleine, zierliche Sintlingerbauer hörte eine Weile die Unflätigkeiten an, machte, weil er nicht zu Worte kommen konnte, gütige, besänftigende Gebärden und zog sich endlich unter bedauerndem Achselzucken in seinen Hof zurück, meinen Vater seinem Toben überlassend. Der stürzte, sobald er sich vollkommen ausgeleert hatte, in den Hof und ließ die zwei Fuder Tannenreisig, die zur Ausschmückung des Ortes und für die Errichtung einer Ehrenpforte angefahren worden waren, von den Knechten kurz und klein hacken und an der hinteren Scheunenwand aufstapeln. Die Dorfleute aber, die nach Reisig auf unsern Hof kamen, wurden unter Schimpf und Schande fast über den Hügel hinuntergetrieben.

Der Sintlingerhof aber klang von Freude und Gesang und stand eines Tages bekränzt, mit Papierblumen und Fähnchen besteckt, wie ein geschmückter Freudentempel in der Sonne.

Obwohl mich diese Vorgänge nicht ins Innere treffen konnten, so lasteten sie doch gleich einer Wolke auf meinem Gemüt, und es kostete mich den Aufwand meiner ganzen Lebenszuversicht, trotzdem an der Hoffnung auf Verwirklichung meiner Liebe zu Helene nicht irre zu werden, ja, sogar an der waghalsigen Sicherheit geheim festzuhalten, daß dieses bevorstehende Fest, so oder so, für mich eine günstige Entscheidung herbeiführen mußte. Daß alles dagegen sprach, empfand ich merkwürdigerweise in manchen Augenblicken als günstige Vorbedeutung. Denn der Katechismus des Schicksals und der Liebe ist nun schon auf Dogmen aufgebaut, die dem Verstand nicht zugänglich sind. Und ich fuhr fort, diesem Wahlspruch gemäß zu glauben, auch das Mädchen von drüben, das von meiner Seele seit immer begehrt wurde, auch sie werde von dem geheimen Feuer erfüllt und strebe mit ihrem Herzen auf mich zu. Ich konnte einfach nicht anders, als an dieses Wunder zu glauben.

Am Nachmittag vor dem Fest war ich dieser glückhaften Ahnung so voll, daß ich in den Wald entwich und an einer verborgenen Stelle in einer Art bewußtloser Entrückung bis in den tiefen Abend hinein verharrte, denn ich ertrug weder das Leben unseres noch den Anblick des Sintlingerhofes.

Mich störte die Welt, mein eigenes Denken und das Gesicht irgendeines Menschen. So, innen ausgelöscht, aufgelöst, bis auf die bild- und gestaltlose Seligkeit eines Zustandes, der unbeschreiblich ist, sah ich bis in den sinkenden Abend an der verschollensten Stelle des Waldes und wartete in meinem Liebesfatalismus auf etwas, was verzückte Fromme den Ruf nennen.

Allein die erwartete gnadenvolle Fügung blieb an diesem Tage aus. Ich traf Helene, nur über den niedrigen Zaun des Blumengartens lehnend, als ich schon beim Anheben der Nacht an dem Sintlingerhof vorüberging. Ihr blondes Haar schimmerte in dem letzten grünen Tageslicht, und sie stand in so unbeweglichem Horchen nach dem Walde hin, daß sie meinen scheuen Gruß in ihrer Versunkenheit wohl nicht hörte.

Obgleich ich am anderen Tage, dem Tage der Straßeneinweihung, schon vom frühen Morgen an ungesehen von meinem Zimmer aus nach allem ausspähte, was um den Hof drüben vorging, die Ausbeute für mein erwartungsvolles Herz war recht gering. Ich sah sie in einem rosa Tüllkleide durch das frühlingsjunge Laub der alten Lindenkronen eine Weile unbeweglich am Fenster, und dann ging sie in Begleitung einer jungen Magd in den Blumengarten, wo sie einen Strauß auswählte, nicht wie eine Blinde, sondern wie eine mit höchster, ich möchte sagen intuitiver Sehkraft Ausgerüstete.

Dann gegen neun begannen die Glocken von Hemsterhus zu läuten. Der Festzug mit Musik, Fahnen und weißen Ehrenjungfrauen kam vom Dorfe her, na, eben die gewohnte Feierlichkeit. Der landrätliche Landauer sauste vom Walde auf der neuen Chaussee herunter, fuhr langsam durch das Spalier der Wartenden und hielt am Zufahrtsweg zu dem Sintlingerhof, wo der kleine Heiligenbauer den Landrat unter der Ehrenpforte begrüßte.

Ich muß Ihnen diesen kurzen Abriß des Festbeginns geben, um eines Vorgangs willen, der mich mit Recht aufs höchste beunruhigte. Nämlich der Landrat stieg mit dem Heiligenbauern langsam den Hügel hinan und wurde da oben unter den Torlinden von Helene begrüßt, die ihm den Strauß überreichte, den sie eben im Garten gepflückt hatte. Ich sah sie in dem merkwürdig unirdischen Gange der Blinden die paar Schritte heranschweben, mit einem zierlichen Knicks, der jeder Prinzessin Ehre gemacht hätte, dem Landrat die Blumen überreichen und würgte gerade an der ehrlichen Zornwallung, daß ich mit meinem übersüchtigen Herzen verborgen hinter dem Fenster stehen müsse, während dieser vertrocknete Regierungsschimmel von meiner Angebeteten mit Blumen geehrt wurde ... ich überließ mich einen Augenblick diesem leidenschaftlichen Ansturm des Neides und hatte nicht auf alle Vorgänge drüben genau acht. Ich weiß wirklich nicht, was dieser Kerl, dieser Landrat, der übrigens nicht lange nachher wegen sehr anrüchiger Dinge verduften mußte, was dieser Bursche eigentlich gemacht hat. Ich sah ihn die Hand nach der Brust Helenes ausstrecken. Da ertönte in die Kirchenstille der hundert wartenden Menschen drunten ein leiser, hoher Schrei. Das liebe Mädchen taumelte, wie von einer Viper gestochen, zurück und wäre zu Fall gekommen, wenn sie nicht von der hinter ihr stehenden Magd in den Armen aufgefangen worden wäre. Auch ihr Vater, der Heiligenbauer, sprang hinzu und half sie aufrichten. Sowie aber der Landrat hinzutrat, riß sich das Mädchen los und verschwand mit ein paar leidenschaftlichen Sätzen so sicher, als sei sie eine Sehende, im Hofe.

Ich zermarterte mir den Kopf, was eigentlich geschehen sei. Der ganze übrige Festrummel ging wie ein leerer Karussellärm vorüber und verlor sich im Walde. Am Nachmittag so gegen vier hinterbrachte mir unsere Kleinmagd die Nachricht, Helene habe plötzlich einen Anfall bekommen. Sie liege krank in ihrem Zimmer, habe die Tür von innen zugeriegelt und lasse niemand zu sich herein, selber die eigene Mutter nicht.

Sie können sich denken, wie das auf mich wirkte. Ich gab der Magd ein gutes Trinkgeld und schickte sie abermals auf Erkundigungen aus. Obwohl ich merkte, daß sie darauf brannte, so schnell wie möglich hinunter nach Hemsterhus zum Festtanz zu kommen, ließ ich nicht nach, mit guten Worten und noch mehr Geld auf sie einzudringen, und sah sie bald nachher auf einem Umwege sich dem Sintlingerhof nähern und bei den Scheunen verschwinden. Aber dann blieb sie auch verschwunden. Sie mußte den Verlockungen der Musik erlegen sein, die dann und wann in der sonnigen Maistille vom Dorfe her schwach aufklang. Während ich erst am Fenster, dann neben dem Hofe und dann vom Walde her nach ihr Ausschau hielt, tanzte sie schon fest drunten in der Hemsterschenke. Die Fenster in Helenes Zimmer blieben geschlossen, und alle die Stunden, während deren ich sie im Auge behielt, zeigte sich niemand an ihnen. Der Sintlingerhof lag verlassen in der Sonne, und ich rückte im Grase von Platz zu Platz, hielt meine Augen wie zwei Fernbohrer unausgesetzt hinüber auf den Hof gerichtet und plagte mich dazwischen mit Grübeleien, von was für einem Anfall das geliebte Mädchen könne heimgesucht worden sein. Denn sie war wohl zart wie ein Hauch, aber niemals krank gewesen. Es ereignete sich nichts, und mein Grübeln blieb ein Greifen in die leere Luft.

Auf diese Weise verging der ganze Nachmittag, und über dem Querhofener Walde fingen die weißen, tagmüden Wolken schon an, im ersten schwachen Abendfeuer zu glühen. Da sah ich den Sintlingerbauern drüben auf der anderen Seite der Gegend aus dem Walde treten, als stoße ihn jemand aufs Feld, und dann begann er, den hohen Hut in der Hand, so verzweifelt schnell, fast springend, über die lange Lehne hinunter auf seinen Hof zuzulaufen, als gelte es, einen Sterbenden noch am Leben zu treffen.

Sobald er im Hofe verschwunden war, verließ ich schnell meinen Beobachtungsposten am Walde und eilte hinauf in mein Zimmer, um näher zu sein. Da drüben mußte sich was Schlimmes ereignet haben. Aber auf welche Weise konnte der Bauer, der mit dem Festzuge in das eine Stunde entfernte Gasthaus am Buchteich zu dem Festessen gewandert war, davon Kunde erhalten haben? Das Gesinde des Hofes war auch drunten im Dorfe zum Tanz und die Bäuerin mit Helene allein im Hause.

Während ich so am Fenster stand und mich mühte, hinter das Geheimnis zu kommen, war es tiefer Abend geworden, und die Kronen der Linden glühten in einem wahren Feuer von Rot.

Da trat der Sintlinger, noch im langen schwarzen Rock so wie er vor einer Viertelstunde herangeprescht war, durch das kleine Beipförtchen vor den Hof, warf einen Blick auf die geschlossenen Fenster Helenes, stöberte dann aufmerksam mit den Augen die Gegend ab, musterte vor allem scharf unsern Hof und verschwand dann auf der anderen Seite hinter dem Wohnhause, von wo er nach einer kurzen Weile mit einer langen Leiter auf den Achseln erschien, sie unter einem der Fenster anlehnte, eilig hinaufstieg und in dem Zimmer verschwand. Wahrscheinlich hatte auch er umsonst versucht, durch die Tür ins Zimmer seiner Tochter zu kommen, und mußte nun auf diese gewaltsame Weise sich den Weg zu ihr bahnen.

Sobald er in dem Zimmer verschwunden war, dessen Fenster er hinter sich offen gelassen hatte, lehnte ich mich weit aus dem Fenster und strengte mein Gehör auf das äußerste an, um womöglich einen Laut zu vernehmen, der mich auf eine Spur zum Verständnis der Ereignisse brachte, die über das Leben drüben hereingebrochen waren. Allein nicht ein Hauch drang zu mir. Der Sintlinger ließ sich nicht wieder blicken. Das Fenster blieb offen. Die Leiter lehnte noch, als alles von der Nacht weggewischt wurde.

Die ganze Nacht brachte ich in dieser Unruhe zu, die ich doch nicht als Hoffnungslosigkeit empfand. Im Gegenteil erschienen mir all diese beklemmenden Vorgänge wie Gewalten, die auf geheimnisvolle Weise mit meiner Sehnsucht im Bunde waren, Mauern niederzureißen, die mich von Helene trennten. Allein wie das möglich sei, und auf welche Weise es enden könne, das entzog sich meinem Spüren. Am Morgen war ich nicht weiter als in der Mitternacht, und am Abend des folgenden Tages stand ich genau auf demselben Fleck wie am Morgen. Ich wußte nur das eine, daß meine Lebensuhr zum entscheidenden Schlage ausgeholt hatte. Daran hielt ich fest, obwohl das Leben auf dem Sintlingerhof drüben in seinen alten friedsamen Geleisen ging und nicht das mindeste von Schicksalswirren zu entdecken war. Am Morgen hatte ich den Bauern mit drei hohen Kastenwagen voll Getreide auf der neuen Chaussee nach dem Walde zu, also wohl in die Kreisstadt, fahren sehen. Den Tag über werkelte der Hof vollkommen ruhig und heiter in der Sonne, wie es seine Art war. Keine Verstörung wie nach einem Unglück, keine ängstliche Behutsamkeit, als sei eine Kranke im Hause. Die Mägde schafften lachend ums Gehöft, die Bäuerin rief sie mit einem lustigen Scherzwort zum Essen. Nicht ein Schatten stand über den Dächern. Die Leiter zu Helenes Zimmer war verschwunden. Die unverhangenen Fenster glänzten im Licht des hellsten Maitages.

Tief am Abend kehrten die drei Wagen auf den Hof zurück, auf jedem ein Knecht, auf dem vordersten außerdem der alte Zenker, der Wirtschafter. Der Sintlinger fehlte. Obwohl das doch nichts Merkwürdiges war, griff ich, der hartnäckig auf Verwickelungen bestand, das als eine Bestätigung der Befürchtungen auf, die sich mein Herz nicht rauben ließ. Ich schlich mich auf den Sintlingerhügel hinüber, horchte am Tor, an den Scheunen, belauschte das Gespräch der Knechte in der Siedekammer und klomm gar zu den Fenstern der Wohnstube empor, um einen Blick ins Innere des Hauses zu erhaschen. Alles ging geruhig, gemächlich, heiter seinen Gang. And doch, je öfter ich den Hof umkreiste, desto beklemmender schlug mein Herz in dem Lodern einer schicksalhaften Unruhe, von der das ganze Gehöft erfüllt schien. Umsonst wehrte ich mich gegen diese Empfindung als einen Wahn meiner Überreizung, als einen Grundfehler meines unterirdischen Temperamentes, das so schwer von Exaltationen loskam, in die es sich verrannte. Es nützte mir nichts, ja wurde immer schlimmer. Als ich zum vielleicht zehntenmal den Steig an dem Blumengarten hinging, wo ich am Abend vor der Einweihung Helene im grünen Licht der anbrechenden Nacht über den Zaun lehnend getroffen und gegrüßt hatte, wurde dieses Begegnis so spukhaft wirklich vor mir, daß ich ihre Haare im Dunkel schimmern sah und meine Stimme durch die Nacht klingen hörte, ja, mir war es, als breite das geliebte Mädchen die Arme nach mir davongehenden aus, als flehe und ringe sie nach meiner Hilfe in tiefer, einsamer Not.

›Wahrhaftig! Wahrhaftig!‹; murmelte ich erschüttert vor mich hin, drehte mich an der Ecke des Gartens um und sah lange den Zaun entlang, als könne es doch möglich sein, daß Helene dort stehe und mir nachsehe. Es dauerte lange, ehe ich aus diesem Wahnsinn der Liebe erwachte und alles um mich sah und hörte, wie es war, den ungewissen Schein der gekiesten Chaussee drunten, den nachtverwischten Hof meines Vaters drüben, das Rauschen der Sintlingerschen Torlinden seithin, die einsamen Sterne über mir, den ersten Hahnruf vom Dorfe her.

Eben wollte ich mich auf den Heimweg machen, da hörte ich auf dem Sintlingerschen Wirtschaftsweg so eiliges Laufen, daß die Steine hinter den springenden Schritten kollerten. Ich merkte, daß der Unbekannte auf mich zu jagte, trat etwas zurück und war neugierig, wer das sein könnte. Da tauchte er auch schon auf. Ein Gehetzter, keuchend, das Gesicht fast am Boden, so schoß er an mir vorüber und verschwand stoßend und polternd im Hofe ... Der Sintlinger, der heilige Vater meines heiligen Lenleins.

Ich erschrak wahrhaftig bis ins Mark, als habe ich ein Gespenst, einen Höllenspuk, nicht Wirklichkeit gesehen, und stieg wie betäubt zu unserm Hof hinüber. Diese Betäubung war noch ungebrochen über mir, als ich am anderen Morgen erwachte. Nachdem ich noch eine Weile das Lauern nach dem Sintlingerhofe, wie die Tage und Nächte vorher, betrieben und nichts mehr wahrgenommen hatte als das Fortgehen des Bauern nach der anderen Seite hin, auf den Buchengrund nach Brederode zu, entschloß ich mich, durch eine lange Streife in den Wald dieses heiße Sieden in mir zu beruhigen, das mich um jede klare, ruhige Überlegung brachte. Ich stieg also hinter unserm Hof hügelan in den Wald über dem Hornwassergrund und verlor mich dann, von meinen durcheinanderflutenden Empfindungen, Bildern, Befürchtungen und Erwartungen getrieben, bald in unwegsame Schonungen, einsamste Blößen, verstohlene Winkel, bis ich nicht mehr wußte, wo ich war, beim Emporheben des Kopfes es hell durch den Hochwald schimmern sah und mit dem festen Entschluß, ein Ende zu machen, auf den Sonnenstreifen zuging, der sich durch das Dunkel des hohen Bestandes zog. Bald befand ich mich auf der neu angelegten Chaussee, überrascht, wie das zugegangen sei, und in einer gehobenen Empfindung, daß nun alle dunkle Verwirrung und Heimsuchung hinter mir liege. Das Glück leidenschaftlich Verliebter besteht ja überhaupt aus solchen Ausschreitungen ihres schrankenlos gewordenen Herzens. Meine Füße trugen mich wie im Fluge, die neue Straße erschien mir wie ein goldener Weg, die alten Fichten und Tannen standen wie verklärt, der ganze Wald war ein jubelndes Vogelsingen, und wenn sich ein Baum in dem Sonnenwind rührte, staubte es förmlich von gelben, grünen, blauen und roten Flügeln um ihn. Meine jahrelange Strauchelfahrt durch Dunkelheiten kam mir vor wie ein kurzes, aufgedrungenes Warten, die bedrückenden Vorgänge der letzten Tage und Nächte wie das Knarren sich öffnender Torflügel. So stürmte ich förmlich die Steigung der Straße zur letzten großen Kurve hinauf, mit der sie sich aus dem Walde ins Freie schwang. Wenn ich dort an den beiden großen Fichten angekommen war, die rechts und links von der Straße standen und mit ihren weit ausladenden Ästen sich in der Mitte des Fahrdammes fast berührten, mußte Helene vor mir stehen. Mir donnerte das Herz in dieser waghalsig verrückten Erwartung. Aber ich ließ mir gar keine Zeit zu Zweifeln, ich rannte sie eilenden Ganges über den Haufen. Und als noch gar bei meinem Heranstürmen ein Flug von Blaumeisen aus den Fichten schwirrte und ich einen Augenblick wie in einer Wolke singender, lebendiger Blumen ging, stieg meine Erregung so, daß ich betroffen einen Ruck stehenblieb und überlegte, was ich tue, wenn nun das Unmögliche doch Wirklichkeit würde. ›Kräftig sich zeigen, führet die Arme der Götter herbei‹;, sagte ich enthusiastisch zu mir und ging weiter.

Sie müssen das Seltsame zu verstehen suchen, das, indem es mir nun tatsächlich begegnete, von mir doch nicht erfaßt werden konnte.

Als ich aus dem Schatten der beiden großen Fichten trat, sah ich Helene wahrhaftig, kaum hundert Meter vor mir, ohne jede Begleitung, ganz allein so eilig herankommen, wie ich ihr entgegengetrieben worden war. Sie hatte Augen, die nicht zum Sehen, sondern nur zum Glänzen da waren. Mit dieser anderen jenseitigen Kraft des Blickes, der unmittelbar aus der Seele stammte, schaute sie hoch vor sich hin. In einem Gange bewegte sie sich, der nicht Schreiten, sondern Schweben und Tanz war. Die Zierlichkeit und vollkommene Abgewogenheit ihrer Gestalt, die in ein duftiges blaues Kleid gehüllt war, vermehrte das Unwirkliche ihrer Erscheinung, als sei dieses Wesen, das, von mir ersehnt, nun wie durch ein Wunder auf mich zukam, aus dem Schoß eines Traumes, nicht aus dem einer Mutter geboren. Die blonden Haare, die um ihre zauberhaft reine Stirn wogten, waren nicht Substanz, sondern nur goldiges Licht. Für die höchsten Daseinsverzückungen erweist sich das Bewußtsein des Menschen als zu eng und unzureichend. Man weiß nicht genau, was man tut, noch was geschieht. Daß sie gegen den Willen ihrer Eltern sich aufgemacht und davongegangen war, darüber konnte kein Zweifel sein, denn ihr fehlte jede Begleitung. Das war das einzige, was ich in der Aufregung klar dachte. Außerdem beherrschte mich die Sorge um sie. Denn wie sie näher kam, erkannte ich, daß sie schon übermüdet sei. Da blieb sie auf einen Antrieb, den ich mir nicht erklären konnte, stehen und sah lange aufmerksam und horchend über sich in die Höhe. Ich ging indessen weiter und zwang jedes Wort nieder, um sie nicht zu erschrecken. Als ich ihr so nahe gekommen war, daß ich das blaue Traumfeuer ihrer aufwärts gerichteten Augen deutlich sehen konnte, wurde sie wohl von meinen gedämpften Schritten aus dieser rätselhaften Hingenommenheit nicht geschreckt, sondern gehoben, und als gehöre mein Herannahen in die Welt ihrer Berückung, breitete sie die Arme aus, aber nicht eigentlich nach mir, der ihr auf der Straße nahte, sondern nach einem, der wie aus dem Himmel auf sie zukam. Sie breitete die Arme nach der Höhe aus, tat im Rausch einer ekstatischen Hingabe einige selig unsichere Schritte und ließ sich dann mit einem hohen Schrei der Erlösung in die Luft sinken.

Sie wäre langhin auf die Straße geschlagen, wenn ich nicht hinzugesprungen und die Fallende in meinen Armen aufgefangen hätte. Sie atmete in unruhigen Stößen, wie eine hochgradig Fiebernde. Ihr Gesicht glühte, und bei geschlossenen Augen stammelte sie fortwährend: ›O Gott! – O Gott!‹; und drängte sich, Schutz suchend, inniger in meine Arme. Plötzlich kam ein Ruck des Schreckens in die Aufgelöste. Sie drückte ihre Hände frei und begann mit zitternden Fingern mein über sie geneigtes Gesicht abzutasten. Und als sie fliegend mit diesem Geschäft ihres Sehens fertig war, riß sie in entsetztem Glück ihre schönen Augen weit auf und starrte mich in einer Art glückhafter Todeserschütterung an, dann fühlte ich, wie ihr Körper sich löste und schlaff wurde, als sinke er in die Agonie. Trotz meines gütigen, inbrünstigen Zuspruchs, daß sie sich nicht fürchten solle, denn ich, der sie so unendlich liebe, immer geliebt habe, ich, Peter Brindeisener, sei es. Nichts half, sie begann machtlos, aber heftig zu weinen, verfärbte sich wie eine Sterbende und hing bald vollkommen ausgelöscht in meinen Armen. Auf meinen unsinnigen Schreckensschrei: ›Helene!‹; schlug sie noch einmal matt die Augen auf, sah mich mit einem ungewissen, glanzlosen Blick an, und dann sanken die schönen Sterne wie für immer in die Höhlen.

Da riß ich sie in meine Arme herauf und begann, verzweifelt, fast wie wahnsinnig nach dem Sintlinger-Hofe hinzulaufen. Als ich schweißüberströmt durch das Tor stürzte, trat gerade die Sintlingerbäuerin unter die Haustür und setzte, als sie mich sah, was sie unter dem Arme trug, ich glaube, es war eine hölzerne Backschwinge, zu Boden, bekam einen Ausdruck verfinsterten, feindseligen Schreckens ins Gesicht, und als sie meinen abgerissenen Bericht mit Abneigung angehört hatte, nickte sie kurz dankend und nahm mir dann ihre wie leblos hängende Tochter aus den Armen, und während ich ihr behilflich war, Helene zurechtzurücken, fuhr die Bäuerin fort, so ergeben zu nicken, als sei eingetreten, was sie lange befürchtet hatte. Dabei murmelte sie ein paarmal bitter: ›Also doch. Also doch!‹;

Dann drehte sie sich mit einem förmlichen Gruß um, ließ mich stehen und verschwand im Hause.

Einige Stunden später fuhr der Arzt aus der Kreisstadt mit schweißbedeckten Pferden auf den Hof. Als er sich nach kurzer Zeit, nach einer halben Stunde, wieder entfernte, trat die Bäuerin, neben dem Gefährt hergehend, mit aus dem Hofe und plauderte mit einer so hellen, glücklichen Stimme zu dem launig herausgeneigten Arzt, als sei dies Unglück, das ich auf den Hof getragen, wirklich das, als was es mein Herz trotz allem empfand, das höchste Glück, nicht nur für mich, auch für sie und Helene. Allerdings erlitt diese Hoffnung einige Stunden später einen argen Stoß, denn plötzlich begann die Glocke auf dem Sintlingerschen Haustürmchen stotternd, nein wie schreiend, zu läuten. Seit Jahrzehnten, solange ich lebte, hatte das Glöckchen wie tot in dem kleinen Holztürmchen über dem First gehangen. Unter den Leuten ging die Sage, der Vater des Sintlingerbauern habe den Strick abgerissen, weil ihr Geläut über den Hof Unglück bringe. Jetzt, da die Glocke ertönte, verbreitete sich die Nachricht, Helene sei gestorben, und den Heiligenbauern, der in das Türmchen geklettert sei, um sie zur Ruhe zu bringen, habe der Wahnsinn gepackt.

Nein Vater glänzte förmlich vor Freude über dies Unglück des feindlichen Hofes und machte Anstalten, mich im Überschwang befriedigter Rachgier zu umarmen, weil er in mir den Urheber dieses gerechten Strafgerichtes sah.

Ich befand mich in einer furchtbaren Lage, die drei Tage währte. Wohl trat schon am zweiten Tage eine Erleichterung ein, da es hieß, Helene lebe nicht nur, sondern es gehe ihr besser. Am vierten Tage ließ mich die Bäuerin bitten, auf einen Augenblick hinüberzukommen, denn Helene verlange nach mir.

Mit Tränen in den Augen empfing mich die Bäuerin, zog mich in die kleine Nebenstube und bat mir die Unfreundlichkeit ab, mit der sie mich, den Retter ihres lieben Lenleins, den offenbar der Himmel geschickt, empfangen und abgelohnt habe. Denn Gott habe ihr durch meine Hilfe das Augenlicht wiedergeschenkt. Der Sintlinger sei von diesem Wunder aus allen Angeln gehoben, und ich solle es nicht übelnehmen, daß er sich nicht sehen lasse. Die gute, liebe Frau war ganz aufgelöst vor Glück, entschuldigte sich ein übers andere Mal, daß sie dem schlechten Gerede der Leute über mein wildes Leben geglaubt, und fand es ganz in der Ordnung, daß ich in meiner grenzenlosen Erschütterung über diese wunderbare Fügung sie umarmte und küßte.

Dann führte sie mich hinauf in das verhangene Zimmer Helenes. Die Kranke lag weiß und still im Bett und rührte sich weder bei unserem leisen Eintritt, noch als wir auf den Zehen an ihr Lager getreten waren. Ihr Gesicht glänzte nur in überirdisch glücklichem Lächeln. Bei geschlossenen Augen reichte sie mir ihre Hand heraus und bewegte dabei, ohne sprechen zu können, die Lippen.

Auch ich fand vor Ergriffenheit keine Worte.

Die Mutter aber überwältigte unser Verstummen so, daß sie, von Schluchzen geschüttelt, das Zimmer verlassen mußte. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, richtete sich Helene empor, öffnete die Augen und betrachtete mich lange in grenzenlosem Erstaunen. Dann breitete sie die Arme nach mir aus. ›Ich habe mich so nach dir gesehnt, Peter. Ich weiß es jetzt, jahrelang, und nun hab' ich dich – – nun hab' ich dich ... Peter ... oh, mein Himmel ...‹;, so hauchte sie stotternd vor Glück. Ich schloß sie in meine Arme und versengte fast ihr Gesicht mit meinen Küssen. Wir lachten, weinten und redeten sinnlose Worte, bis die Mutter am Bett stand und sagte: ›Nun ist's aber gut, Kinder.‹;

Dann taumelte ich trunken hinaus.

Selten gingen die Erwartungen eines Liebenden in einer solchen Brandfackel von Glück in Erfüllung, wie sie endlich mein Schicksal mir schenkte, dessen Güte ich jetzt so wenig begriff, wie ich früher die Notwendigkeit seiner Verfolgungen eingesehen hatte. Das Sintlingerlenlein, das für mich immer wie jenseits der Erde geschwebt hatte, war mir ans Herz gesunken. Ich hatte sie auf diese Welt herübergerissen, zu mir, und dabei waren wie von selbst die Todesschatten der Blindheit von ihr abgefallen, und ich besaß sie nun noch inniger, wie ich sie seit je begehrt hatte. Die Verfehlungen meiner wilden Jahre wogen nicht mehr schwer, weil sie der offenbar notwendige Zugang zu diesem Glück gewesen waren. Mathinka Meixner war aus meinem Leben verschollen. Wie einem Hexenspuk entrückt, kam ich mir vor. Ich lächelte über den düstern Wahn von einst, mein Leben sei der Macht höllischer Geister verfallen, und ich wußte nicht, wie es zugegangen war, daß ich diese Einbildungen zuzeiten hatte in Gestalt wahrnehmen können.

Helene hatte durch mich ein neues Leben erhalten, und ich war durch sie neu geboren worden.

Nur das eine bedrückte mich, daß mein Vater in meinem Glück nur die gut gespielte Heuchelei eines Infamen sah, dem sein raffiniert eingefädelter Anschlag vortrefflich gelungen ist. Er tröstete mich ziemlich unverstellt über die Wiedergenesung Helenes und redete mir zu, mich zu beruhigen, da dem Heiligenbauern von meinem Höllenschreck offenbar das Kreuz zu Brei geschossen worden sei. Das war die einzige Nachgeburt meiner Verirrungen, die ich nicht loswerden konnte, trotzdem ich meinem Vater den Unsinn seines Glaubens energisch ausredete und mich offen für meine ehrliche Liebe zu Helene einsetzte. Er lächelte nur hämisch, nickte mir zwinkernd zu und sagte: Ja, ja. Ich solle doch nicht soviel Worte machen. Er sei doch auch ein Brindeisener, und wenn ein Brindeisener jemand von drüben liebe, so bedeute das immer, daß er ihm den Daumen ins Auge drücke, bis das Hirn aus dem Ohr tropfe.

Dann schüttelte er sich in einer tollen Lache, gab mir einen herzlichen Schlag auf die Schulter und schob mich in den Wagen, denn ich hatte mir diese reinigende Aussprache bis auf die Augenblicke vor meiner Rückreise nach Münster aufgespart, teils um sie eindringlicher für meinen Vater zu machen, teils um auch nicht den Hauch eines unreinen Schattens in meiner Liebe zu dulden.

Über das merkwürdige Betragen des Sintlingerbauern machte ich mir keine dunklen Gedanken. Wenn es wahrhaftig zutraf, was ich unter der Hand erfahren hatte, daß er das Sehendwerden seines einzigen Kindes als ein großes Unglück ansah, von dem gleicherweise Helene wie er und der ganze Hof betroffen worden sei, so konnte ich das nur als den Ausfluß einer vorübergehenden Verwirrung ansehen.

Unter diesen und ähnlichen Gedanken verging die Rückreise nach Münster.

Hätte ich nur einen Tropfen Ironie und Skepsis in den brausenden Wein meiner Liebe fallen lassen, oder hätte ich in die Gründlichkeit meiner Wesenswandlung von Anfang an einige Zweifel gesetzt, es wäre besser für Helene, mich und alle ausgegangen. Allein, ich war felsenfest überzeugt, in den drei tollen Jahren alle Schlacken meines Wesens über Bord geworfen zu haben, daß ich mit keinem andern Blick in mein vergangenes Leben zurücktauchte als jenem dankbaren Staunens über die Gnade und Kraft des hohen Sternes, der mich offenbar in all diesen Bulgen einer unteren Welt keinen Augenblick verlassen hatte. Mit solcher Umdeutung meiner oft anrüchigen Abenteuer und lästerlichen Ausschweifungen in sinnvolle Vorbereitungen auf die höchste Mannesreinheit brachte ich die Stunden der Muße zu, welche ich zwischen die Stunden und an das Tagesende meines ernstesten Fleißes legte.

Münster hatte nur eine Gegend, die, in der Hemsterhus mit dem Heiligenhof lag. Der klarste und tiefste Himmel blieb hinter dem Blau der Augen meines Lenleins weit zurück, kein Stern entzückte mich so, als ihr Blick mich ergriffen hatte, und wenn ich im Traume ihre Stimme gehört hatte, war ich den ganzen Tag von zartem Gesang umgeben.

Nein, das Glück, in dem ich lebte, ist unbeschreiblich. Ich brauchte meine Liebe nicht zu übertreiben, meine Liebe übertrieb mich.

Am Tage vor Semesterschluß rief mich mein Professor zu sich und eröffnete mir, daß ich soweit sei, am Ende des nächsten Semesters den Referendar zu machen. ›Und nun gehen Sie nach Hause, und ruhen Sie sich aus, lieber Brindeisener. Verdient haben Sie sich's redlich‹;, sagte der alte Gelehrte und drückte mir herzlich die Hand.

Ich flog ja nun mit den weißen Flügeln meiner engelhaften Geliebten über die Erde, und alles, was mir das Streben hatte oft so lächerlich erscheinen lassen, der Prototollschemel des Referendars, das Türsteheramt des Assessors, der schwarze Papphelm des Amtsrichters und der juristische Drogenladen des Rechtsanwalts, das alles sah ich nicht mehr, oder vielmehr ich sah es wie eine Allee geschmückter Maibäume. Das Glück des Lebens blüht ja immer, wie außerhalb des Lebens, in unserer Illusion.

Ich konnte es auf meiner Heimfahrt kaum erwarten, Helene wiederzusehen, und war begierig, wie dies aus dem Himmel gefallene Wesen sich auf der Eide ausnehmen würde. Denn Sie müssen wissen, daß die Bewohnerschaft der Umgegend in ihr nicht bloß figürlich eine Heilige sah. Man schrieb ihr überirdische Kräfte zu. Sie hatte eine Trunksüchtige zu einem verwunschen seligen Leben errettet, eine Querhovener Mutter, die aus Schmerz über den plötzlichen Tod ihres Kindes sich schon im Wahnsinn umzutreiben begann, dem tätigen klaren Dasein wiedergeschenkt, Zerrütteten den Seelenfrieden gegeben und noch vieles andere, und alles das nicht anders, als daß sie mit ihnen redete, sie mit ihren blinden, hintersichtigen Augen ansah oder ihnen nur die Hand reichte, nicht anders, wie etwa eine Blume am Ufer einen Selbstmörder von seinem Vorhaben abbringt, daß er hinterher nicht weiß, wie das geschehen ist, und die Blume weiß noch weniger von ihrer Kraft. Das größte Wunder aber hatte ihre Geburt an dem eigenen Vater gewirkt, der durch ihr Erscheinen in der Welt zwischen Tag und Nacht aus einem wilden Schenken- und Weibertoller ein gesammelter, besonnter Mann geworden war, das Gewissen der Gegend, ein Vorbild an Klugheit und Lebensweisheit. Wer irgend etwas auf sich hielt, flickte, wo es sich tun ließ, in seine Rede einen Ausspruch aus seinem Munde. Aber so merkwürdig war sein Wesen, daß sich Fromme ebenso häufig wie Freigeister und Ordnungssüchtige ebenso leidenschaftlich wie Lebensunruhige auf ihn beriefen. Auf mich wirkte mancher seiner Aussprüche mehr wie tiefsinnig drapierte Querköpfigkeit. Aber das kann ebenso an mir, an meiner Unfähigkeit zu Lebens- und Religionsspekulationen liegen. Jedenfalls, von meiner Kindheit an stand mir der Sintlingerbauer als das makellose Bild eines Ehrenmannes der Menschengüte und höchsten Vaterliebe mit seiner Tochter gleichsam in einem Schrein über der Erde, obwohl doch in meinem Vaterhause und in der Umgegend an Verunglimpfungen genug geleistet wurde. Ja, manche behaupteten, er sei mit dem Teufel im Bunde, der ihm bald in Gestalt eines schwarzen Huhnes, bald als verzerrter Schatten folge. Ohne diese Dinge wortwörtlich zu glauben, muß ich doch davon sprechen, weil das Betragen des Sintlingerbauern im Verlauf meiner Liebe zu Helene Formen annahm, als gebe es wirklich übersinnliche, albische Fesseln, gegen die Menschen vergeblich ringen, und es scheint, daß diese aus einer anderen Dimension herübergreifenden Wesen an die einen mehr Fug haben als an die anderen.

Aber ich will bei der Stange bleiben. Sie werden ja an meinem Ende sehen, ob ich nur ein Narr oder ein Schicksalverhafteter in meinem Leben war. Ich will nichts hinzutun zu den Schatten und nichts verdunkeln von dem Licht, in dem ich gewandert bin.

Als ich im halben Nachmittag auf der neuen Straße in das enge Tälchen zwischen unsern Hofhübeln einbog, stand Helene vor den Torlinden und winkte mir zu. Ich ergriff den Hut und schwenkte ihn glücklich hinauf. Da riß sie das bunte Tuch ab, das sie nach Art der Landmädchen um den Kopf geschlungen trug, ließ es wie eine Freudenfahne in der Luft schwirren und wirbelte dann so stürmisch den Abhang herunter, daß ich ihr beängstigt zurief. Sie hörte nicht, wie in einem Sturz flog sie auf mich zu. Aber da sie hochaufatmend vor mir stand und die stumpfen Augen meines Bruders auf sich gerichtet sah, der sich auf dem Bock nach ihr umgewendet hatte, tauchte sie in die ferne Scheu aus der blinden Zeit zurück und reichte mir zierlich ihre beiden Hände zum Willkommen, so überwältigt, daß sie nur mit dem Leuchten ihrer Augen zu sprechen vermochte. Zu meinen Vorwürfen über ihre Waghalsigkeit beim Lauf schüttelte sie nur lächelnd den Kopf, und da ich darauf beharrte, daß sie vorsichtig sein solle, rief sie in wiederkehrendem Übermut: Das sei nicht mehr nötig, da sie doch nun auf der Welt sei. Leise überbräunt stand sie vor mir, nicht mehr in einem duftigen Ziergewande wie sonst, sondern in eng anliegendem Mieder, kurzem Röckchen mit vorgebundener Schürze, das Haar in Flechten um den Kopf geschlungen, noch zerbrechlich, aber schon fester in den Formen. In den Augen war das traumhafte Schweben vor der Schärfe des sicheren Blickes im Zurücktreten, und nur bei genauem Hinhören vernahm man noch als Unterton den entrückten Klang ihrer Stimme, von dem so viele Menschen wie von dem Tiefsinn eines außerweltlichen Sinnes bezaubert worden waren. Ihre Worte zückten keck und schnell wie ein Wirbel aus einer kleinen silbernen Trommel.

Dieses Heraustreten ihres Wesens aus einem rätselhaften Jenseits in diese Welt erlebte ich nun in langen glücksunruhigen Wochen.

Mein Vater hatte verborgen meinem Empfang durch Helene zugeschaut und war in hämischem, drohendem Erstaunen erfreut, daß ich sie, wie er sich ausdrückte, schon so kirre gemacht habe. Den Sintlinger hatte ich bei unserer Begrüßung vor das Tor treten und erschreckt zurückfahren sehen, als er uns erblickte.

Aber weder der heimliche Rachedurst des einen noch die unbegreifliche Abwendigkeit des anderen vermochte etwas über das Licht meines beseligten Zustandes.

Nein, das ist zuviel gesagt. Sie vermochten schon dies und das.

Am ersten Abend, den ich auf dem Sintlingerhofe zubrachte, saß ich mit der Bäuerin und Helene allein in der großen Wohnstube und mußte es mir gefallen lassen, mit einem fast festlichen Abendbrot bewirtet zu werden. Der Sintlinger war in Geschäften abwesend, und sein Fehlen wurde, wie es den Anschein hatte, von Mutter und Tochter mit einer Art Erleichterung aufgenommen. Wir waren aufgeräumt und redeten von alltäglichen Dingen wie Menschen, denen die Freude an des andern Gegenwart alles ausmacht.

Schon als die Stubenmagd den Tisch abgeräumt hatte, trat unvermutet der Sintlinger ein, blieb unter der Tür einen Augenblick stehen, musterte uns mit einem scharfen, nicht unfreundlichen Blick und kam dann mit seinem raschen, entschiedenen Schritt aus mich, der ich mich erhoben hatte, zu und reichte mir die Hand: ›Ah, 'n Abend, Herr Studiosus – Brindeisener. Ja, ja, hm, hm. Und das andere natürlich in allen Ehren. Gewiß. Sie studieren die Rechte?‹; – ›Ja, das Recht. Herr Nachbar!‹; – ›Und erst das Rechte? Bitte, behalten Sie Platz.‹;

So redete er mich an, scheinbar wirr, aber von Bedeutsamkeiten unterhöhlt.

Er wandte sich darauf, ohne auf meine Worte mit etwas anderem als einem Kopfnicken und freundlichen Lächeln Zu reagieren, zu seiner Frau, küßte sie langsam auf die Stirn und tauchte erst aus seiner gedankenvollen Benommenheit, als er sich zu Helene kehrte. Ein richtiges Zünden ging jetzt durch den kleinen Wann. Fast wie ein glückhafter Schrei klangen die Worte, mit denen er sie anredete. ›Und du, mein Lenlein!‹; rief er und umarmte sie so stürmisch, als habe er sie jahrelang nicht gesehn. Aber mitten in der Zärtlichkeit erschrak er, ließ sie los und sah sie lange und betroffen an, als habe er in der Aufregung eine Fremde umarmt und merke erst jetzt den Irrtum. Er schüttelte stumm den Kopf, setzte sich uns gegenüber und begann, uns forschend anzusehen. Mutter und Tochter wechselten einen verständigen Blick, und ich wußte mit Geschick über die bedenkliche Situation hinwegzuhelfen, so daß die Unterhaltung bald wieder in den alten herzlich bewegten Fluß kam.

Der Sintlinger beteiligte sich nur mit seinen stillen, aufmerksamen Augen daran. Um ihn zu schonen, versuchte niemand, ihn seiner Abseitigkeit zu entreißen. So saß er stumm, aber offenbar innerlich auf das leidenschaftlichste bewegt. Denn immer, wenn ich das Wort nahm, heftete er seine Augen so auf mich, als sollten mir seine Blicke durch und durch gehen. Zuerst verwirrte mich auch ein paarmal diese lautlose Unheimlichkeit. Dann aber weckte er mit dem merkwürdig drohenden Minieren seiner Augen in mir eine heitere Laune, und ich betrachtete es als närrische Marotte eines sonst klugen Mannes.

Plötzlich hob er den Arm und zeigte mit ausgestrecktem Finger hinter mich auf die Wand, und ehe wir begriffen hatten, was er mit seinem seltsamen Gebaren meinte, rief er entsetzt: ›Sein Kopf ist eine schwarze Flamme!‹; Das Lenlein merkte zuerst, daß der Sintlinger von dem Schatten meines Kopfes an der Wand spreche, und erschrak zum Weißwerden, raffte sich aber bald zusammen und brach in lustiges Gelächter aus, wie über einen unvermuteten Spaß. Wir beiden anderen stimmten ein, und auch der Sintlinger war zuletzt gezwungen, über die Seltsamkeit seiner eigenen Einbildung zu lachen.

In diesem kleinen Tumult brach ich auf. Offenbar nur um Helene abzuhalten, mit mir wenige Schritte bis vors Tor zu gehen, begleitete mich der Bauer, schritt aber, ohne ein Wort zu sprechen, neben mir langsam und säumig, und doch war in seinem Schweigen unvermindert dasselbe Drohen wie vorher in seinen forschenden Augen. Das verdroß mich innerlich doch, und ich begann mit merkbarem ironischen Unterton von den sektiererischen Anrüchigkeiten der Querhovener zu sprechen. Ich tat das mit Absicht, denn allgemein bezeichnete man den Sintlinger als ihren geistigen Vater.

So waren wir vor die Torlinden an den Hügelrand gekommen. Ich glaubte, der Sintlinger wolle mich bis hinunter an die Straße bringen, und hatte schon einige Schritte auf dem steil abfallenden Weg getan. Allein der Bauer blieb oben stehen, und als ich mich umdrehte, stand mir sein Gesicht gerade gegenüber. Ich weiß heute noch nicht, ob es so war, oder ob ich einer Einbildung unterlegen bin. Das sonst so ruhige, gesammelte Gesicht des Sintlingers schien sich in Wut zu verzerren, wurde nicht nur weiß, nein phosphoreszierend, und seine Augen leuchteten grün. Und in mir sprang ein sinnloser Haß auf, und ich nannte die Querhovener, von denen ich fortwährend sprach, geradezu ›wirre Trottel‹;. Ja, ich schrie es förmlich in die Nacht.

Da atmete der Sintlinger schwer und keuchend, hob langsam die Arme nach mir und legte seine Hände um meinen Hals.

Mein Herz stand still.

Drückt er zu, so schlag' ich ihn nieder, sagte ich zu mir und rührte mich nicht unter seinen Händen.

Aber da war auch schon alles vorüber.

Der Sintlinger brach in heiteres Lachen aus, klopfte mich mit beiden Händen herzlich auf die Schultern und sagte launig: ›Ja, ja, Peter Brindeisener, und nun gehn Sie weiter hinunter. Wo wollen Sie auch anders hin? Gute Nacht.‹;

Ich weiß heute noch nicht, ob es so gewesen ist. Aber diese Worte hat der Sintlinger damals gesprochen. Ich höre heute noch den Klang seiner Stimme und sehe ihn energisch sich abwenden und nach dem Tor zu verschwinden.

Niemand hat von diesem Zusammenstoß mit dem Sintlingerbauern etwas erfahren, weil ich seiner nicht sicher war. Auch gegen ihn selbst ließ ich mir nichts anmerken. Meine abendlichen Besuche auf dem Hofe drüben erlitten keine Unterbrechung, und ich saß mit wenigen Ausnahmen Tag um Tag neben der Frau und Helene unter der Lampe und lebte mich immer tiefer in das Dasein dieser reinen, lieben Menschen ein. Sogar der Sintlinger blieb oft an dem Tisch sitzen, wenn ich allerhand lustige und komische Sachen aus meiner tollen Studentenzeit erzählte. Ich habe doch allerhand drollige, zierliche Geschichten erlebt, denn ich bin ja nicht alle Zeit der wilde Grabbesche Donnerbesen gewesen, der immer nur schmutzige Kübel ausgekehrt hat, und geriet ich je einmal in den Kreis einer bedenklichen Begebenheit, so nahm sie in der Gegenwart dieser einfachen, guten Seelen von selbst harmlose Formen an, daß ich oft erstaunte, wie verklärt und heiter im Grunde doch vieles in der Erinnerung erschien, was einst wie ein dämonischer Ausbruch gewirkt hatte. Helenes Augen leuchteten dann. Ihr Lachen war ein Jubel der Verwunderung und des Stolzes. Die Mutter versank ganz in ein gütevolles Glänzen ihres Herzens.

Der Sintlingerbauer aber spürte wohl die Finsternisse, über die ich mit leichtem, witzigem Geplauder hinwegspielte. Denn während die beiden anderen sich der heitersten Laune überließen, wurde sein Gesicht ernst, ja schwermütig, und ein paarmal merkte ich, wie er Miene machte, mit einer verfänglichen Frage dazwischenzufahren. Dann hielt ich inne und musterte ihn mit durchdringendem Blick.

Nach solchen Momenten, die ich im fröhlichen Fluß meiner Erzählung schnell zu ertränken wußte, saß er verloren, mit entgleisten Augen da, ohne weiter auf mich zu hören, und verschwand dann aus dem Zimmer, ohne daß es jemand merkte. Zuletzt blieb er ganz aus. Auch sonst vermied er es, mit mir zusammenzutreffen. Dennoch war er, bald näher, bald ferner, immer um mich. Besonders, wenn ich und Helene einsame Orte aufsuchten, um ungestört in den Verzückungen unseres verliebten Wesens zu schwelgen, tauchte er auf rätselhafte Weise in der Nähe auf, ohne uns zu stören, ohne Mißbilligung, sondern schweigsam, kummervoll, ratlos. Einmal saßen wir in der Laube des Blumengartens und redeten von dem merkwürdigen Schicksalswege unserer Liebe, die schon mit unserer Geburt auf die Welt gekommen schien und gerade durch das Unglück, das sich ihr entgegenstellte, die Feindschaft der Väter, die Blindheit Helenes und manches andere zur Erfüllung gelangt war, und während ich im geheimen auch noch meiner Leidenschaft zu Mathinka Meixner gedachte, ließ sich in der Ecke schweres, kummervolles Atmen vernehmen, eine kalte Hand legte sich mit erschrecktem Griff auf die meine, und ehe ich mich in meiner Betroffenheit ganz gesammelt hatte, huschte der Sintlinger mit leisen, flüchtenden Schritten an uns vorüber und verschwand durch die Tür in der Nacht, ohne Gruß, ohne ein Wort, wie ein Gespenst. Oder wir saßen in der Sonne am Waldrand und sahen in das bunte Hügelwogen unserer Heimat, handverschlungen, schweigend, ganz aufgelöst in den Zauber unserer Liebe. Aber wenn wir aus dieser Trunkenheit erwachten und uns betroffen umsahen, erblickten wir den Sintlinger auf einer entfernten Kuppe sitzen und regungslos nach uns Ausschau halten. Oder er kreuzte unsern Weg wie ein landfremder, verirrter Wanderer, so, als kenne er uns nicht. Höchstens nickte er uns zu, und über sein ernstes Gesicht huschte ein verlegenes Lächeln.

Bei diesem Auftauchen ihres verwandelten Vaters packte Helene wohl erschreckt meinen Arm und sah mich ratlos und fragend an, oder sie ließ meine Hand fahren, kehrte sich schnell ab und weinte lautlos vor sich hin.

Aber durch dieses unbegreifliche Verhalten des Sintlingers wurde unsere Liebe doch nie in ihrer Tiefe dunkel berührt. Im Gegenteil, ihre Leidenschaft wuchs, ihre Zuversicht ließ die Scheu hinter sich. Die kurzen Beklommenheiten trieben uns sogar oft in Gelächter und Übermut. Trotzdem schien es mir manchmal, der unheimliche Geist einer außerirdischen Welt, der mein Leben sooft ins Finstere verwirrt hatte, sei in den Sintlinger gefahren, und mir stehe durch die Erfüllung meiner höchsten Lebens- und Liebeshoffnung die tiefste Zerstörung bevor. Diese geheime Furcht weckte mich einigemal mitten in der Nacht aus dem Schlafe, so, als habe mir jemand aus Sternenweite gerufen, und ich stand auf, horchte lange aus dem offenen Fenster, als müsse von irgendwoher das Flötenspiel des Sattlergesellen ertönen, ein Schatten sich vor mir durch die Nacht kugeln, oder ich blieb nach dem Verklingen dieses Rufes regungslos, überwach im Bett liegen und heftete meine weit offenen Augen starr auf die Gegend, wo die Tür zu meinem Zimmer lag, weil ich glaubte, der rätselhafte Unheimliche werde zu mir herein ans Bett treten.

Nichts hörte, nichts sah ich und lächelte endlich darüber, als einer Jugendtorheit, die an so vielen Entgleisungen meines Lebens schuld war.

Zu dieser Unterhöhlung floß außerdem eine stärkere Verdunkelung des Lebens auf unserm Hofe. Wegen zu ärgerlichen Intimitäten zwischen meinem Bruder und der Großmagd war diese Knall und Fall entlassen worden. Jakob nahm das als Beleidigung und einen Eingriff in seine Rechte auf, saß erst dumpf und drohend umher und begann dann fast Nacht um Nacht ein Liebespilgern zu der Entfernten, die drei Stunden weit in der kleinen Kate ihrer Eltern Unterschlupf gefunden hatte. Dort wartete sie auf eine glückhafte Wendung der Umstände, als Bäuerin auf den Hof zurückzukehren, von dem man sie als Dirne gejagt hatte. Daß bei diesen nächtlichen Liebesfahrten meines Bruders Eier, Butter, Mehl, Getreide und noch vieles andere mit auswanderten, merkte mein Vater bald, und weil von der Arbeitskraft und dem Arbeitswillen des Brunstumnebelten nach solchen Liebesanstrengungen wenig übrigblieb, tobte der Zank stärker als je in unserm Hofe, und es kostete mich alle Umsicht, einen brutalen Skandal zu vermeiden. Ich griff erst ordnend und schlichtend und dann tätig in die Wirtschaft ein und hatte mich zu Beginn der Ernte so eingearbeitet, daß der Betrieb fast reibungslos lief und mein Bruder eigentlich nur noch als ein überflüssiges, verdrossenes Anhängsel herumtrödelte.

Dieses rücksichtslose Einsetzen meiner Kraft zum Wohl und zur Ehre unseres Hofes befreite meinen Vater mehr und mehr von der Geringschätzung und heimlichen Widersacherschaft gegen mich. Er ging schmunzelnd umher, und als es meiner Energie an einem drohenden Tage gelungen war, ein ganzes Gewanne klingdürren Weizens vor dem Gewitter in die Scheune zu retten, war er so begeistert, daß er in der Nebenstube für uns beide ein kleines Festessen herrichten ließ, den Tisch reichlich mit Schnaps und Bier beschickte und mir im aufsteigenden Rausch gestand, ich sei doch eigentlich zum Bauern geboren, und wenn ich wollte, so könne ich mich eher heute als morgen aus der Stadt und von den Büchern davonmachen und hier auf den Hof kommen. Denn der Bauer sei nun schon der wahre König, alle andern nur jämmerliche Beutelschneider, und mit dem Jakob wirtschafte es mehr und mehr auf den Moderhaufen zu.

Aber ich opferte meine Kraft und Hingabe weder meines Vaters oder Bruders noch unseres Hofes halber auf, sosehr es auch diesen Anschein ihnen gegenüber und überhaupt nach außen hin hatte. Ich sah ein, wenn jetzt unser Wohlstand und Ansehen durch die Lasterliebe meines Bruders einer schnellen Vernichtung anheimfiel, dann wurde auch die Liebe Helenes von diesem häßlichen Strudel verschlungen. Deswegen sprang ich vor Tag aus dem Bett, arbeitete, solange die Sonne am Himmel stand, schonungslos und gönnte mir erst im tiefen Abend ein Ausspannen drüben unter der Lampe im Sintlingerhofe oder auf dem Torbänklein unter den Linden oder auf einem kurzen Sternengang in den Feldern. Wie es sich eben schickte, vielmehr wie es die Sintlingerbäuerin einzurichten wußte, die mich seit meinem tätigen Eingreifen in unsere verfallende Wirtschaft wie einen leiblichen Sohn zu lieben begann. Wo es sich nur tun ließ, leistete sie uns Vorschub zu einem Stelldichein und verließ oft auf wenige Augenblicke die Stube, wenn sie in unseren Blicken die Sehnsucht nach Liebkosungen zu brennend schimmern sah. Um Helene Sintlinger war, obwohl sie nun schon ein halbes Jahr in der sichtbaren Welt lebte, immer noch eine Atmosphäre ihrer Blindenzeit, wie ein Schimmer von jenseits der Erde und allen Menschen. Diese Scheu, dieses Blickloswerden des Auges, dies Auflösen der Züge ihres Gesichts ergriff sie besonders stark, wenn wir allein waren. Denn wenn ich sie in den Arm nahm, entschwand sie mir förmlich, schloß die Augen, und mir war es oft, als berührte sie mit Ausschaltung des Körpers, wie von hinterwärts, meine Seele mit der ihren.

Schickte ich mich aber an, mit feurigen Liebkosungen sie diesem Seelenversinken zu entreißen, so öffnete sie die Augen und sah mich mit einem fragenden Schrecken an. Ein Beben lief durch ihren Leib, und sie wand sich schonend aus meinem Umfangen. Allein ich ließ nicht nach in meiner sehnsüchtigen Liebesleidenschaft. Ich unterrichtete sie förmlich in der Zärtlichkeit, nach der ich dürstete, und leitete sie an, aus ihrer Scheu herauszutreten.

Alles natürlich, ich schwöre es, ohne jeden sinnlichen Hintergedanken. Ich war wie einer, der auf Mondstrahlen in den Himmel kletterte, um mir jene, die ich zur Erde erlöst hatte, nun auch auf die Erde heranzuholen und die Liebe, die ich durch wildeste Tierbrunst sooft entweiht hatte, für immer zu segnen. Gott, vielleicht lag schon darin ein Verfehlen, daß ich mein Wesen durch das ihre zu entsühnen trachtete. Allein wie hätte ich in meiner damaligen inbrünstigen Befangenheit so etwas denken können. Ich freute mich nur, wenn ich wahrnahm, daß Helene, sobald sie aus meiner Nähe entrückt, ihrem eigenen Herzen sich überließ, ihre Scheu ablegte und in jenes Schweigen und bunte Schäumen geriet, das mich beglückte.

Sie half, wie ich auf dem Hofe meines Vaters, fleißig in der Ernte des Sintlingerhofes, und nach Abenden, wenn sie durch Kühle und Ferne mein Herz besonders beschwert und traurig gemacht hatte, bemühte sie sich, mich aus der Ferne durch Zeichen ihrer Liebe zu trösten: sang, auf dem hohen Erntefuder stehend, glückhaft zu mir herüber, schmückte die Köpfe der Pferde mit roten Tüchern und veranlaßte die Knechte und Mägde zu lauten Beifallsrufen, wenn ich den kipphoch geladenen Wagen geschickt und umsichtig den holprigen Weg dem Hofe zu lenkte. So ging die Ernte dem Ende entgegen. Die Luft wurde heiß von ihrer zurückgehaltenen Liebe, sie selbst aber umgab sich noch immer mit dieser kindhaften Furchtsamkeit.

Und wenn ich sie fragte, warum ihre Küsse so zaghaft und ihre Umarmung so gezwungen seien, lehnte sie sich vollends zurück, seufzte schwer und sagte, daß sie das nicht wisse, bat mich aber immer dringender, nicht mehr danach zu fragen. Dabei bebte ihr ganzer Körper wie in Schauer, daß in mir der Verdacht rege wurde, ihre Scham könne einst von einem wüsten Manne verletzt worden sein. Sie aber direkt zu fragen, warum sie bei der Straßeneinweihung unter der Berührung des Landrats umgesunken sei, diesen Mut fand ich nicht, versteifte mich aber heimlich auf diese Auslegung ihrer furchtsamen Zurückhaltung. Indessen strafte das Betragen Helenes diese Zweifel an ihrer Herzensunschuld Lügen. Ja, eines Abends sprang sie vom hohen Fuder herab mir geradezu in die Arme. Das kurze Röckchen flatterte bei diesem Schwung aus der Höhe so weit zurück, daß die Sintlingerbäuerin, die hinter mir stand, schreckhaft aufschrie und ich im Anblick der enthüllten Schöne betroffen mein Herz stillstehen fühlte. Helene aber lachte, unten angekommen, frei und heiter, verstand die Bedenklichkeit ihrer Mutter ganz und gar nicht, sondern versicherte, wenn ich unten stände, spränge sie, wenn es sein müßte, gar von einem Kirchturm, so wenig Furcht habe sie.

An jenem Abend, zwischen dem Anprall, mit dem Helene aus der Höhe mir in die Arme flog, und dem Schwung, mit dem ich sie wieder auf die Füße neben mich stellte, riß, wenn ich so sagen soll, ein Traumhäutchen über meinen Augen. Ich erstaunte über die Fülle, zu der ihr Busen herangereift war, über die Nackenlinie, die sich üppig im Mieder verlor, über die Rundung ihrer Schultern und Hüften, über die Keckheit, mit der sie vor mir her über die paar Stufen ins Haus hineinsprang und vor dem Verschwinden um die Ecke noch einmal den Kopf wandte und mich mit einem wagehalsigen, lockenden Lächeln ansah.

In mir stieg eine betörende Woge auf, und weil ich in Anwesenheit des Gesindes nicht, wie es mich drängte, ihr nachstürzen und sie umarmen durfte, warf ich ihr leidenschaftliche Kußhände nach, was die Knechte und Mägde mit höhnischem Grinsen aufnahmen. Der Sintlingerbauer, der in diesem Augenblick mit einer Getreidegabel aus der Geschirrkammer trat und wohl auch von dorther unbeachteter Zuschauer bei dem Sprung Helenes in meine Arme gewesen war, erblaßte bei meiner stürmischen Liebkosung durch die Luft, warf die Gabel, daß es klirrte, auf die Erde und rief dem Ochsenjungen gereizt zu, sie aufzuheben und in die Scheune zu tragen. Er selbst verschwand durch das Hinterpförtchen vom Hofe.

Seit diesem Abend begann Helene, sich immer stürmischer in die Genußfreuden des Lebens zu drängen. Mit der Ernte ging es auf die letzten Garben zu, und in den Dörfern wurden die Mädchen und Burschen schon von den Gedanken auf das Erntefest beunruhigt. Obwohl dies doch eigentlich mehr eine Freudenveranstaltung für die Dienstleute, für Knechte und Mägde war, blühte Helene sich in leidenschaftliche Erwartungen hinein. Für sie, die dergleichen weder gesehen noch erlebt hatte, schmückte sich dies ländliche Fest mit allen bunten Schönheiten ihrer unverbrauchten, reichen Phantasie und Leidenschaftlichkeit. Das Lächeln ihrer Mutter war vergeblich, die Bedenklichkeiten machten sie nicht stutzig, und selbst aus meinem kühlen und ironischen Mäkeln an derlei derben Lustbarkeiten erhitzte sie sich nur mehr und mehr in ihrem Verlangen danach. Wo es immer war, auf der Tenne, in der Küche, auf dem breiten Flur des Hauses griff sie eine vorübergehende Magd um die Taille und begann sich mit ihr auf ein paar Schwünge im Tanz zu drehen. Und da die Sintlingerin schließlich meinte, daß Zucker das beste Mittel gegen Zucker sei, ließ sie Helene gewähren und hatte sogar nichts dawider, daß nach getanem Tagewerk der breite Hausflur in eine Tanzdiele umgewandelt wurde. Aber nun begnügten sich die Tanzenden nicht mit den Melodien, die sie selbst sangen, sondern es gab richtige Musik. Der Neffe des alten Sintlingerschen Wirtschafters, fast etwas wie ein dörfliches Musikgenie, saß mit seiner Harmonika auf der Treppe und werkte voller Hingabe aus seinem Kästchen, was von ihm verlangt wurde, und wie die erhitzten Tänzerinnen kannte er kein Ermüden. Ich sah ein, da gab es kein Entrinnen. Helene war Rhythmus, Flug und Schönheit in jeder Bewegung, und ich merkte, wie sie sich mühte, ihre schwerfälligere Partnerin mit in den Wohllaut ihres Schwebens zu reißen. Allein wie oft erlahmte sie an der bloß mechanischen Drehsucht der jungen Magd. Dann ließ auch sie sich genug sein an der Sättigung ihres Körperrausches und verfiel in die ortsübliche Unmanier der Bewegung und Haltung.

Deswegen ließ ich nur kurze Zeit dieser Art primitiven Tanzkursus seinen Lauf. Spürte ich doch auch, wie leidenschaftlich Helene nach mir verlangte. Eines Tages hatte ich sie im Arm und fegte mit ihr den Flur hin. Sie war Feuerflamme und Sylphe in einem, Glut und Undine. Immer wenn wir gegen das unerleuchtete Ende des Flures schwebten, schien es mir, ich flöge mit Helene aus der Welt, und kehrten wir in den Lichtkreis der Deckenlampe zurück, empfand ich das Ineinanderspielen unserer Körper als ein Glühen um mich. Helene tanzte mit vollendeter, natürlicher Grazie. Die Augen geschlossen, das blonde Köpfchen zurückgesunken, flog sie selbstvergessen wie ein Vogel in der Luft.

Die Knechte und Mägde drückten sich bewundernd an die Wand. Der Harmonikaspieler entzündete sich an unserm Tanz zur wildesten Leidenschaftlichkeit. Die Sintlingerin schrie erschreckt über unseren berauschten Wirbel auf, weil sie ein Unglück fürchtete. Plötzlich aber sah ich sie erbleichen und uns und dem Musikanten beschwörend winken, aufzuhören. Aber es gelang mir nicht gleich, das Jagen abzubrechen. Wir drehten uns noch langsamer bis gegen das dunkle Flurende hin, und der Knecht spielte zögernder und leiser. In dieses Verebben aber tönte von dem oberen Flur ein schweres Stöhnen.

Als ich mit der Bäuerin den Flur hingeeilt und über die Treppe hinaufgedrungen war, sahen wir den Sintlinger verstörten, blassen Gesichts an dem Treppengeländer lehnen und mit weit geöffneten Äugen ins Leere starren. Auf die Frage seiner Frau, was ihm zugestoßen sei, lächelte er nur gütig und glücklos, schüttelte den Kopf und drückte der Sintlingerin herzlich die Hand. ›Es ist nichts, nein, nein!‹; sagte er dann leise. ›Seid nur lustig und tanzt weiter. Ich bin nur ein seltsamer Mensch. Nicht wahr. Herr Brindeisener? Nein, nein, tanzt und seid lustig.‹; Damit wandte er sich ab, ging den Flur hin und verschwand in seinem Zimmer.

Helene war nicht mit heraufgekommen. Ich traf sie unten im Flur an der Wand lehnen, rot wie eine Flamme glühend. Mit schwimmend ekstatischen Augen und verklärtem Gesicht hörte sie meinen Bericht und fuhr fort, selig zu lächeln, als verstehe sie kein Wort von dem, was ich ihr von ihrem Vater erzählte.

Am Vormittag des nächsten Tages sah ich Helene und den Sintlinger in heiterem Einvernehmen den Wirtschaftsweg nach dem Walde hingehen. Ihr helles Lachen tönte dann und wann in der sonnendurstigen Luft auf, und der Sintlinger strich ihr immer wieder liebkosend über den blonden, gewellten Scheitel. Da verflüchtigten sich meine Befürchtungen über das Vorkommnis des vergangenen Abends, und die Tanzübungen im Flur nahmen ihren Fortgang. Sie wurden durch nichts mehr gestört. Ja, die Sintlingerin selber wurde am Ende von der allgemeinen Lustigkeit angesteckt und willigte dann und wann ohne allzu großes Widerstreben in einen Tanz mit mir. Sogar der Sintlinger wohnte hin und wieder, wenn auch nur auf kurze Augenblicke, so im Vorübergehen, als Zuschauer der Freude bei, konnte aber eines zehrenden Ernstes in seinem Gesicht nie ganz Herr werden und entfernte sich immer nach kargem Säumen mit einem hastigen Aufreißen, als ertappe er sich über einer Ungehörigkeit.

Die letzten Abende fanden auf der sorgfältig gelehrten Tenne einer Scheuer statt und hatten etwas den Zuschnitt eines dörflichen Balles. Der Knecht mit seiner Harmonika war ausgeschaltet. An seiner Statt stand in der hinteren Ecke ein Leiermann von weither, der auf die Kunde vom Sehendwerden Helenes herbeigeeilt war, weil sie einst in ihrer heiligen Kinderzeit ihn aus großem Eheunglück errettet hatte. So spielte er strahlenden Gesichts und kam aus dem Verwundern über die glückhafte Verwandlung seiner Lebensretterin von einem blassen Wolkenwesen in ein freudenfestes, ja übermütiges Dirnlein nicht heraus. Die drei Wagenlaternen, an einem Seil in der Höhe aufgehangen, dunsteten einen schwefelgelben Schein auf die Tänzer. Zwei Tischlampen streiften mit weißem Licht seitlich über die erhitzten Gesichter. Die erntevolle Scheuer kochte aus sonnenwarmem Getreide unbewegliche Glut über uns. Draußen stand die Sommernacht wie ein schwarze, himmelhohe Wand. Und wir tummelten uns in diesem schwelenden Dämmerschacht, rundum von Finsternis eingemauert. Es war unwirklich, traumhaft, ja geradezu manchmal gespenstisch. Und wenn ich dann und wann Helene dem Harmonikaspieler, dem Neffen des Sintlingerschen Wirtschafters, überließ, der mit begeisterten Augen an meiner bunt geschmückten Geliebten hing, so packte mich ein richtig unterirdisches Erschüttern. Helene kreiste nicht wie ein Menschenwesen, sondern wie ein bunter Falter in der schwefelgelben Dämmerung, blitzte im Schein des weißen Lampenlichts auf und erlosch im Schatten der Ecken, als sei sie von der Nacht aufgesogen. Dann sprang ich, von einer rätselhaften Angst ergriffen, durch die wirbelnden Paare und nahm sie mitten im Schwung dem Knechte aus dem Arme, der dann mit strahlend überglasten Blicken aus seiner Verzückung aufwachte und zur Seite taumelte. So löste sich der Tanz mehr und mehr aus der sinnlich beherrschten Freude in ein rauschartiges Schwelgen. Der Leiermann stellte fast nur noch den Dessauer Marsch ein und raste ihn herunter, daß die Paare wie von einer Windsbraut gepackt im Galopp über die Tenne flogen. Da schrillte vom Wohnhaus drüben ein schneidender langer Pfiff auf, und die Sintlingerin stand in der Toröffnung mit einem hellblauen Überwurf auf dem Arme. Helene sank der Mutter mit dem seligen Lachen erschöpften Glückes an den Hals. Die Sintlingerin strich ihr die Haare aus dem glühenden Gesicht und hüllte sie sorgsam in den warmen Mantel. Helene schien plötzlich abgeblüht, in die Verwunschenheit zurückgesunken, sah mich mit undinenhaften fernen Augen an und erwiderte meinen Gutenachtkuß mit kühler Scheu. Sie nickte meinen Beteuerungen des Glückes über den Abend mit zerstreutem wehen Lächeln zu, und ihr ›Ja, Ja‹; klang, als kämpfe es gegen aufsteigende Tränen. Dann rief sie dem Leiermann ›Gute Nacht und schönen Dank zu und ließ sich von der Mutter über den finstern Hof ins Haus führen. Ich stand und sah ihr nach. Sie bewegte sich mit dem hohen, schwebenden Gang, als sei sie wieder blind.

Seit diesem Abend ist sie nur noch einmal in ihrem Leben in diese außerirdische Verklärung zurückgesunken, allerdings dann so vollkommen, daß eine Rückkehr unmöglich war.

Daß ich daran schuld sein mußte, und daß diese Tat mir von der Liebe zu ihr unweigerlich auferlegt wurde, gehört zu den unentwirrbaren Daseinsverwickelungen, die über Menschen verhängt werden, gegen die er sich wehren mag, und denen doch nicht zu entrinnen ist.

Aber ich will mich nicht mehr unterbrechen!

Dort über dem Hochwald fängt es an, schwach rot zu rauchen. Die Nacht erblaßt; die Sterne werden bleicher; der Morgen kommt. Wenn es Tag ist, muß ich fertig, muß ich bereit sein.

Jawohl, bereit! Denn, bin ich nicht damals bereit gewesen, als der Lebenstaumel über Helene unaufhaltsam hereinbrach?

Oh, wohl, wohl, Peter Brindeisener, das warst du!

Weil mein Bruder eingesehen hatte, daß mit seiner hartnäckigen Arbeitsausschaltung gar nichts erreicht würde, als sich selbst, vollkommen überflüssig, ja schädlich, vom väterlichen Hofe zu vertreiben, begann er wieder, wie sonst, fest zuzupacken, stellte seine nächtlichen Liebesgänge ganz ein und verwandelte sich mir gegenüber in einen liebenswürdigen Menschen, soweit das bei der plumpen Dumpfheit seines Wesens eben möglich war.

Auf diese Weise war es möglich, daß ich ungestört und ungeteilt das ganze bunte Schwelgen und Schäumen mitzumachen imstande war, in das Helene von ihrem Lebenshunger gerissen wurde. Oh, es waren herrliche Wochen mit einem unvergeßlichen Himmel und Stimmen von überallher, die auf den Zauber dieses unschuldigen Mädchenherzens für mich laut wurden.

Gleich unsere erste Fahrt an den Rhein war voll dieses Schimmers. Der hier schon fast unübersehbar breite Strom lag in silberigem Spätsommerlichte, daß er noch breiter erschien und die Gesträuche des anderen Ufers mehr wie undeutliches grünes Gewölk aussahen. Helene stand das erstemal vor einem großen Fluß, und er kam ihr nicht erdhaft, sondern wie eine aus der Höh' gefallene silberblitzende Straße vor. Sie ließ nicht nach, bis wir uns auf einem Schiff befanden und eine kleine Strecke stromabwärts auf diesem irdischen Wolkenwege fuhren, wie sie den Strom in ihrer Begeisterung auch nannte. Wie gebannt starrte sie auf unsere beiden Spiegelbilder in dem ruhigen Strom und war auf eine rätselhafte Weise ergriffen, uns beide da unten zu erblicken und zugleich oben zu wissen und ›Wenn wir hinunterstiegen, vielleicht, wer kann es wissen, dann sind wir solche Spiegelbilder oben am Himmel‹;, sagte sie und neigte sich so sehnsüchtig über den Rand des Schiffes, daß ich sie endlich davon abhalten mußte, um zu verhindern, daß sie bei einem Ruck des Schiffes ins Wasser falle.

Dieser, bis in die Nähe der Selbstvernichtung getriebenen Hingabe an die Leidenschaftlichkeit jeder Empfindung verfiel sie immer. Fuhren wir schnell, so wollte sie rasen. Eine Rose weckte die Sehnsucht nach einem Strauß, und hätte ich ihr einen Arm voll gebracht, so würde sie von dem Glück geschwärmt haben, einmal ganz in Rosen eingehüllt zu liegen. Auf der Fahrt nach Münster mußten wir durch den Bocholter Wald. An dessen Ende war sie sehr enttäuscht. Denn, was nutzte ein Wald, der aufhöre, gerade wenn er anfange, am schönsten zu sein, meinte sie. Auf dieser Reise, die wir in Begleitung ihrer Mutter machten, lebte sie überhaupt nur in solchen überhöhten Schwärmereien. In einem Rausch der Verwunderung ging sie durch die belebten Straßen der großen Stadt, die ihr wie eine Versammlung aller Menschen der Welt erschien. Am liebsten wäre sie in jedes Geschäft gegangen, um sich alle schönen Waren zu kaufen, die sie sah, hätte gern hinter jeder der Spiegelscheiben der großen Cafés gesessen, wie die eleganten Leute, die von dorther müßig und geschmückt auf die Straße herausschauten. Die Sucht, alles Leben in sich aufzusaugen, das ihr begegnete, war unbezwinglich. Sie verlangte in das kleine Stübchen geführt zu werden, von wo ich das Flötenspiel des trunkenen Sattlergesellen aus dem Nebenhof gehört hatte, und versteifte sich eine Weile, ich solle ihr den kleinen Hochzeitszug zeigen, dem ich einst in dem Vorort Münsters begegnet war. Die liebe Frau Sintlinger und ich befanden uns die ganze Zeit mit ihr auf einer förmlichen Jagd nach Neuem, nie Gesehenem, und immer war sie unersättlich. Gegen den Abend des zweiten Tages bestiegen wir den Laurentiusturm, um von da aus den Überblick über die Stadt zu genießen. Es war schon so spät, daß wir als die einzigen Besucher von Turmluke zu Turmluke gingen und auf das Gewirr der Dächer sahen, die in dem Dämmern drunten lagen, da und dort von einem frühen Licht durchblitzt. Der Himmel über uns rüstete sich in erbleichender Durchsichtigkeit zur Nacht. Helene war geradezu erschüttert, ob sie in das Dunkel drunten oder in den Himmel über uns sah. Ihre Äugen waren visionär weit geöffnet und glänzten übernatürlich. Sie atmete hastig, als kämpfe sie gegen die Beklemmung des Erstickens, und ihr Körper bebte, daß ich sie umfangen und wegführen wollte. Aber da erhaschte sie meine Hand und verlangte von mir stotternd, in die Luke hinausgehoben zu werden, damit sie ohne die störende Mauer in den Abgrund unter und den Abgrund über sich sehen könne. Wir verstanden beide nicht den Grund ihres waghalsigen Verlangens und suchten sie davon abzubringen, ich in lächelnder Eindringlichkeit, die Sintlingerin in Angst und endlich in Entrüstung. Sie schüttelte zu allem den Kopf, strebte immer nach der Luke hinauf und warf sich endlich abwechselnd der Mutter und mir in die Arme, drückte uns stürmisch an sich und gestand weinend und lachend zugleich, daß sie nicht wisse, was sie regiere.

So begannen Helene und ich durch alle Erntefeste der Umgegend zu wirbeln. Jedes dieser ländlichen Vergnügungen wurde zu einer Huldigungsfeier für uns. Alles drängte sich herbei, Helene zu sehen, die durch ihre Blindheit und die vielen legendarischen Erzählungen ihrer überirdischen Kräfte in den Ruf einer Wundertäterin gekommen, zu einem Mirakel der ganzen Gegend geworden war. Die Errettung aus ihrer Augennacht durch mich, die Versöhnung unserer seit Generationen verfeindeten Familien durch unsere Liebe hob unser Verhältnis in die Region einer himmlischen Sendung, und die Leute schmückten ihr alltägliches, graues Dasein durch unsere märchenhafte Liebe mit einem tiefen abenteuerlichen Sinn. Als wir in Dingden in den geschmückten Saal traten, die Sintlingerin, Helene und ich, bliesen die Musikanten einen Tusch. Alle Gäste erhoben sich, brachen in Hochrufe aus, und bald war der Ehrentisch, den man für uns schnell hergestellt hatte, so mit Blumensträußen überladen, daß wir einander kaum sahen. Helene schwebte richtig wie im Himmel. Sie tanzte hinreißend wie eine Flamme im Loderbrande, und ich merkte, wie sie sich mit aller Gewalt halten mußte, im Rausch des Glückes aufzuschreien. Die Sintlingerin, von soviel Ehre verwirrt und betreten, war durch keine Bitten Helenes zu bewegen, den Kehraus abzuwarten. Im Wagen erklärte sie feierlich, eine solche Ehrenqual ein zweites Mal nicht wieder mitzumachen, und wenn wir die anderen Feste nicht auslassen könnten, so müßten wir eben allein hingehen. Helene, die, an mich geschmiegt, neben mir saß, drückte bei diesen Worten begeistert meine Hand, dann ließ sie das Fenster herunter und sang in die Nacht hinaus. Wenn ich ihre Hand ergriff, so fühlte ich ihr Blut brausen, sie saß wie in einer zitternden, magnetischen Atmosphäre, und ein paarmal stieß es mein Herz heiß und brünstig an, daß auch ich in einer glühenden Wolke saß, erfüllt von einem Fluid, daß mich das Flüstern Helenes benebelte.

Als ich den Hügel hinan auf unsern Hof zu stieg, packte mich der Zorn über mich, und ich begann einen Pfingstrosenstrauch neben dem Steige wütend mit dem Stock zu bearbeiten, bis von Stock und Strauch nur kümmerliche Reste übrigblieben. Mein Bruder Jakob erwartete mich mit einem Schinken, mit Butter und Brot.

Als ich in die Stube trat und sehr erstaunt über diese Zurichtung war, lächelte er vieldeutig, rückte mir den Stuhl zurecht und meinte, er wisse, daß man nach einem solchen Vergnügen immer Hunger habe.

›Da räum' nur alles wieder weg,‹; erwiderte ich mit beleidigendem Spott, ›bei mir ist das anders wie bei dir.‹; Und als er unter höhnischem Auflachen sich anschickte, das Aufgetischte wegzutragen, packte ich drohend seine Schulter und verbat mir eine Wiederholung dieser Dummheit. Da wäre ihm der Teller mit dem Schinken fast aus der Hand gefallen, so ehrlich bestürzt war er wegen meiner Aufgebrachtheit über diesen seinen harmlosen Spaß. Ich hielt mich während der Woche etwas von Helene zurück und stürzte mich wie ein Berserker über die Feldarbeit, versuchte auch, sie von dem Besuch des nächsten Festes abzubringen.

Natürlich umsonst. In Brederode wiederholte sich der Triumph unserer Liebe, besonders Helenes halber, die durch ihre Mutter aus diesem Dorfe stammte. In Querhoven gaben die sektiererischen Speilhobler, denen es die Weisheitssprüche des Sintlingerbauers besonders angetan hatten, der Erntefeier einen fast religiösen Anstrich. Aber Helene konnte weder von den Veranstaltungen der Verwandtschaftseitelkeit an dem einen noch von dem Gepränge schnurriger Frömmelei an dem anderen Orte gefangengenommen werden, sondern überließ sich überall so leidenschaftlich dem Vergnügungsrausch, daß ihr früheres himmlisch entrücktes Wesen ganz aus ihr verschwunden schien. Sie hing mit so inbrünstigen Augen an mir, schmiegte sich so eng in meine Arme, stammelte während des Tanzes so verliebte Beteuerungen, daß ich fühlte, wie in mir der sinnliche Drang immer mehr erwachte. In Querhoven war es, daß wir in einer Tanzpause auf dem Wege hin und her gingen und sahen, wie andere Paare, die gleich uns sich in der Nachtkühle erfrischten, bald eng aneinandergeschmiegt auf den Rainen sich in die Nacht verloren, bis wir zuletzt allein zwischen den Häusern standen. Da drängte Helene, die nicht wußte, was das zu bedeuten hatte, von ihrer erwachten Natur getrieben, in die Finsternis. So erregte sie ihr unbekanntes Verlangen, daß ich alle Geistesgegenwart zusammenreißen mußte, sie davon abzubringen, obwohl mir das Herz stockte, der Schlund brannte und meine Hände zitterten und kalt wurden. Da habe ich erkannt, daß die reinsten Mädchen die gefährlichsten Verführerinnen sein können und in der Unschuld eine fast unwiderstehliche Verlockung liegen kann. An den letzten Häusern von Querhoven nahm ich endlich meine Zuflucht zu einer List, schlüpfte im neckischen Spiel von ihrer Seite, sprang katzenleise über den Graben und begann, um meine Leidenschaft zu ermatten, wild den Rain hinauszujagen. Helene, die nicht wußte, weswegen ich sie verlassen hatte, rief nach einigem Warten leise hinter mir her. Ich antwortete mit verstellter Stimme bald von da, bald von daher, und als ich, erschöpft und wieder ganz meiner Herr, zurückkehrte, fand ich sie weinend fast auf derselben Stelle stehen. Auf ihre Frage, warum ich das getan habe, konnte ich nur ehrlich antworten, weil ich sie liebe. So fachte sie die Glut in mir an, die ich floh, und die sie nicht kannte, und drängte unwissend nach einem Verlangen, vor dem ich gerade in ihren Armen Schutz gesucht hatte. Aber indem ich mit der ganzen Willensstärke, die mir zu Gebote stand, gegen mich rang, konnte ich es doch nicht verhindern, daß die erwachten sinnlichen Strudel sich tiefer und tiefer gruben und immer wilder zu kreisen begannen. Da nahm ich törichterweise die Zuflucht zu der Erinnerung an meine Zeit der Ausschweifungen. Ich stellte mir die wildesten erotischen Exzesse mit Dirnen vor, um den alten Ekel in mir zu erwecken. Aber statt des Widerwillens entzündete sich das klare Verlangen nach ihrem Genuß, und ich ertappte mich schon oft, wie ich mit gierigem Tasten an ihren vollen Armen hinfuhr, wie ich meine Küsse wie glühende Saugnäpfe immer tiefer in den Nacken und Rücken hinuntersetzte, und fühlte, wie jenes schrankenlose Auflösen und Versinken immer bestrickender sich aus Helene in mich ergoß, das die Männer um die letzte Besinnung bringt.

Wie auf einem schwanken Seil gingen wir über den Feuern eines Abgrundes, und bei dem letzten Vergnügen, das wir vor meiner Rückkehr nach Münster mitmachten, hätte ich doch fast das Gleichgewicht verloren. In dem großen Wald nach dem Rheine zu, an der Grenze unseres und des Sintlingerschen Bestandes, lag der Buchteich, ein ziemlich umfängliches stehendes Wasser, schwarz, mürrisch, unheimlich, nach der Meinung der Leute in seiner Mitte bodenlos tief, das von einem ziemlich kräftigen Bach gespeist wurde, ohne daß es ihn wieder hergab. In früheren Zeiten hatte eine Mühle an dem Bach gestanden. Seit langem war sie verfallen oder vielmehr in ein großes Vergnügungslokal verwandelt worden mit Garten, offenen und überdachten Veranden und dem größten Saal der ganzen Gegend, der beliebteste Ausflugsort für die Bewohner der Kreisstadt. An jenem Tage war ein Konzert der Militärkapelle mit nachfolgendem Balle. Helene drängte, die erlangte Tanzfertigkeit, ihre Manieren und ihr neues Kleid einem größeren kritischen Kreis von Menschen vorzuführen, und ich willigte mit Freuden ein, weil durch die größere Förmlichkeit, die wir uns auferlegen mußten, leichter alle Gefahren zu vermeiden waren. Auf alle Fälle hatte ich mir vorgenommen, Helene und mich direkt schachmatt, totzutanzen, um dann sicher, übermüdet und stumpf im Wagen nach Hause zu kommen. Denn der feste Wille, mich keinen Augenblick aus der Kandare zu lassen, stand wohl unverrückbar fest, wog aber nicht schwerer als die heimliche Furcht, daß ich doch erliegen würde. Diese Entschlossenheit und unterdrückte Gier bewegten sich in mir durcheinander. Helene hatte ein Kleid aus rosa Foulardseide, das ziemlich tief ausgeschnitten war und bis zum Halse herauf in gefälteltem, spinnwebdünnem Tüll sich fortsetzte, der auf der Achsel geschlossen war.

Sie hatte es durchgesetzt, die reichen, goldblonden Haare offen zu tragen, und fiel deswegen schon allgemein auf. Als es sich aber herumgesprochen hatte, daß sie die Tochter des weit und breit bekannten Sintlingerbauern, die blinde, nun sehend gewordene Heilige sei, waren wir zwei der Gegenstand fortgesetzter Aufmerksamkeit und, wenn auch nicht so zudringlich, wiederholte sich der Triumph, den wir auf den verschiedenen Erntefesten genossen hatten. Helene war schon in der Mitte des Konzerts aus einer gewissen Befangenheit wieder in den alten glückhaften Daseinsjubel hinaufgehoben und begann sich auf dem Sitz zu wiegen. Im Tanz schwebte sie leicht wie eine Feder in meinen Armen. Die besten und vornehmsten Tänzer kämpften förmlich um ihre Gunst. Das erhitzte meine Leidenschaftlichkeit, daß ich mich oft ertappte, wie ich auf das Wogen ihres vollen Busens durch den Tüll starrte, wie es mich trieb, sie in ein leeres Zimmer oder auf eine im Gebüsch versteckte Bank des Gartens zu führen. Aber immer bezwang ich mich, sei es durch gewaltsame Kühle gegen sie oder dadurch, daß ich sie verließ und drunten in der Gaststube schnell einige Glas Bier hinunterstürzte, um mich abzustumpfen. Immer, wenn ich wiederkam, musterte sie mich mit fragenden, ratlosen Augen und hing dann beim Tanz schwerer in meinen Armen. Das wiederholte sich drei-, viermal. So ging es bis gegen Mitternacht, und der Mondschein lag auf der Mühle und über dem Walde rundum. Als ich wieder von einem Löschtrunk in den Saal zurückkehrte, war Helene nirgends zu entdecken. Ich suchte sie in der Garderobe, in einigen anstoßenden Zimmern und endlich im Garten, ohne sie zu finden. Zuletzt lief ich auf gut Glück an dem Ufer des Teiches hin und begann, als ich aus dem Lichtkreis der Gartenlampen heraus war, gedämpft nach ihr zu rufen. Mein Herz fing an, in Besorgnis und Angst vor den Folgen heftig und heftiger zu schlagen, wenn ich sie hier in der Nacht fände. Der Pfad hörte im Walde auf. Helene war nicht da. Als ich denselben Weg zurückging und auf den mondbeglänzten Teich hinausspähte, sah ich sie regungslos unter einer Erle kauern, den Kopf auf die Brust gesenkt, als schlafe sie. Auch auf meinen Ruf rührte sie sich nicht. So sprang ich hinzu und berührte hastig ihre Schulter. Da wandte sie den Kopf herum, sah mich forschend an wie einer, der aus einem Starrkrampf erwacht und nicht weiß, wer vor ihm steht, noch wo er sich befindet. Aber wie ich auch auf sie eindrang, sie gab auf nichts Antwort, richtete sich nur langsam empor, schüttelte den Kopf und sagte dann mit einer vollkommen fremden Stimme: ›Mich friert. Komm von da weg. Wir müssen heimfahren.‹; Dann ging sie schweigend neben mir zurück und stieg sofort in den geschlossenen Wagen. Als ich alles besorgt hatte, traf ich sie im umgeworfenen Mantel regungslos wie tief schlafend in der Ecke. Kaum aber waren die Pferde zweihundert Meter weit getrabt, als sie jäh auffuhr, den Mantel abstreifte und leidenschaftlich die Haare aus dem Gesicht schüttelte. Dann verfiel sie in einen wahren Feuertaumel von Liebkosungen. Ich hielt mit aller Macht an mir und fragte, warum sie am Teich eine andere Stimme gehabt und offenbar mit Entsetzen gesagt habe: ›Komm da weg.‹; Sie gab auf alles Drängen keine Erklärung ihres seltsamen Zustandes, sondern umarmte mich zum Ersticken und bat, sie feuriger und feuriger zu küssen. Ich hatte alles Wundervolle in den Händen. Mir begannen die Sinne zu schwinden, und ich war eben daran, sie und mich in das letzte Lodern zu reißen, als der Wagen aus dem Walde in den vollen Mondschein hinausfuhr. Da löste Helene ihre Arme von meinem Halse, glitt von meinen Knien, setzte sich in die Ecke, prüfte ihr Kleid, ordnete mit ein paar Griffen ihr Haar und rief dann dem Kutscher, zu halten.

Zu mir sagte sie mit fliegender Stimme: ›Wir wollen die paar Schritte zu Fuß gehen‹; und stieg, ohne meine Zustimmung abzuwarten, aus.

Unter uns lag der weiße Sintlingerhof im weißen Mondlicht.

Sie war noch immer in dem Liebestaumel, und als der Wagen einen Steinwurf weit sich entfernt hatte, ließ sie sich an dem Grabenrand nieder und begann hoch und glücklich, nein wie singend, zu lachen. Dann bat sie mich, ihr das Kleid zu schließen, das auf der Achsel aufgegangen war. Ich sah, daß es für uns kein Entrinnen gab, und mit geworfenen Händen machte ich mich an das Geschäft. Sie legte sich zur Seite, auf den Ellenbogen gestützt, und ich nestelte mit zitternden Fingern. Allein statt die Knöpfe zu schließen, gingen die anderen vollends auf. Schon lag der halbe Busen entblößt. Da schrillte des Sintlingers Pfiff vom Hofe herauf, und er schrie den Namen seiner Tochter in die Nacht, als rufe er in Todesangst um Hilfe.

Auf diesen Laut fuhr das Lenlein auf, hatte mit ein paar Griffen das Kleid geschlossen, knöpfte den Mantel zu und stieg heiter und unschuldig plaudernd hinunter, dem Vater entgegen.

Der wahren Unschuld ist die Nacktheit des eigenen Körpers verborgen. Und wenn sie liebt, kennt sie auch die Scham vor der Entblößung nicht, mit der die Keuschheit sich schützt, die nur eine Tugend ist, also etwas Minderes. Wir können uns von Unschuld keine Vorstellung machen, denn sie ist ein göttlicher Zustand. Die unschuldig Liebende ist nur Hingabe und empfängt die Freude an der Schönheit ihres Leibes doppelt durch das Glück zurück, das dem Geliebten ihre Entblößung bereitet.

Aber was ich hier sage, das sind die mühselig zurechtgekochten Klugheiten eines alten Mannes, verjährt, abgestanden, tausendmal beschnüffelt, immer verworfen, immer wieder hervorgesucht.

Dazumal aber, als ich von dieser Nacht nach Münster zurückgekehrt war, stand es anders um mich. Im Fieber war ich abgereist, im Fieber kam ich an, in Unruhe und Zerrissenheit lebte ich hin. Bald überfielen mich die Erinnerungen an unzählige Liebesgenüsse so verlockend, daß ich die Blicke der Geschminkten auffing, die Frauen mit den Augen entkleidete, ja sogar mich durch verrufene Lokale stahl; bald wieder war ich das Opfer bitterster Selbstanklagen, daß ich mit meiner unbezähmten Gier das reinste Leben vergiftet habe, daß ich ein seelischer Mörder sei, den nur die rätselhafte Wachsamkeit des Vaters vor dem vollendeten Verbrechen bewahrt habe, und dann, Gott sei's geklagt, erschien mir Helene manchmal von der Reihe ihrer wilden Väter erblich belastet, unschuldig, aber schamlos von Geburt, heilig, aber verworfen. Und während ich Gedanken sann, vor denen ich mich entsetzte, die die Würde meiner letzten Selbstachtung erniedrigten, lief ich wie ein Wahnsinniger aus der Stadt nach jener Gegend ins Feld hinaus, in der Hemsterhus und der Heiligenhof lag, und starrte lange ins Abendrot, bis es beim Aufgehen der Sterne stiller in mir wurde und meine zermürbte, inbrünstige Sehnsucht ihre reine Stimme traumhaft in mir aufklingen ließ. Nach solchen Streifen wagte ich, in meine Stube zurückgekehrt, nicht Licht zu machen, und saß in dem finstern Zimmer, an dessen Decke der schwache Widerschein von der erleuchteten Straße hin und her schwankte. Ich saß und rang so lange hartnäckig um meinen reinen Glauben an Helene, bis ich sie in einem blauen Kleide, wie leibhaftig, aus der Wand treten sah, die Arme nach mir erhoben, die blinden, himmelssichtigen Augen weit geöffnet, mit einem kindhaft knospenden Busen.

Daß diese Umhergeworfenheit des Herzens und die fortwuchernde Auflösung meines sittlichen und Willenswesens auch auf mein Studium übergriff, konnte nicht ausbleiben. Nicht etwa verfiel ich in den alten Schlendrian leichtfertiger Faulheit, nein, aber das tiefe, gesammelte Interesse mußte ich bald durch Streberei um Anerkennung bei den Professoren und prahlerisches Brillieren mit meinem Scharfsinn bei meinen Kommilitonen ersetzen. Mit Hilfe dieser vergifteten Pumpwerke erhielt sich mein Fleiß künstlich am Leben. Die Professoren steigerten sogar ihre Auszeichnung oft zur Bewunderung, die Studenten begannen, mich aus ihrem unverfälschten Instinkt heraus zu mißachten und zu fürchten. Ich kämpfte wie ein Ertrinkender und lag ganze Nächte überreizt, schlaflos und leer an einem Abgrund. Wenn nicht dann und wann mich das Bild des Heiligen-Lenleins verklärt in meinen Nächten heimgesucht und meine Hoffnung am Leben erhalten hätte, so wäre ich schon damals in Münster zusammengebrochen. Aber das Schicksal hatte mich zu einem Leidens- und Läuterungsweg ausersehen, der vieles überstieg, was sich das Grauen von der Daseinsqual eines Menschen ausmalen kann. Ich biß die Zähne zusammen und kämpfte um meinen Beruf als Jurist, um, wenn ich schon mit meinen heiligsten Süchten Schiffbruch erleiden sollte, wenigstens als nützlicher, ob auch ausgebrannter Standesmensch, meine äußere Ehre zu retten. Hin und wieder kamen Briefe von Helene in unbeholfener Schrift und einer fürchterlichen Orthographie, aber voll der alten Glut. Sie reizten und quälten mich zugleich, beruhigten und machten mich unglücklich. Ich verbarg sie aufs ängstlichste vor allen, und als einst ein Freund doch einen aufgestöbert hatte und mit der merkwürdigen Liebesepistel unter höhnischem Gelächter um den Tisch meiner Bude hopste, packte mich eine solche Wut, daß es zwischen ihm und mir in der Folge zu einer Schlägerei kam, die auf Tage die ganze Universität in Aufregung versetzte. Durch das Wohlwollen der Lehrer endete dieser Zusammenstoß ohne nachteilige Folgen für mich, obwohl ich meinen Gegner so übel zugerichtet hatte, daß ihn die Pflasterkasten nur mühselig zusammenflicken konnten. Trotz dringenden Abratens meines hervorragendsten Gönners, des Professors, der über das Bürgerliche Gesetzbuch las, begann ich die Vorbereitungen auf mein Referendariatsexamen mit der schriftlichen Arbeit über das Anerbenrecht. Die ganze Materie war mir bis auf den letzten Faden klar und geläufig. Sowie ich aber begann, sie zu Papier zu bringen, stiegen die Dünste meines friedlosen Herzens in die sauberen Gedankenreihen, und die Verwicklungen meines Lebens störten und verwirrten die haarscharfen Konklusionen meiner Beweisführung. Partien, die ich als zu dürr und schülerhaft ausmerzte und durch gedrungen beseelte Ausführungen ersetzte, erwiesen sich im Fortschreiten ungleich bedeutsamer als ihre Verbesserungen, die nur wie schönrednerische Phrasen erschienen, in denen dunkel der Zustand meines verworrenen Wesens aufklang. Mitten in diesem Ringen erhielt ich einen Brief meines Vaters, unbeholfen, voll Kummer, Groll und Menschenfeindseligkeit, aus dem zu ersehen war, daß nicht nur die Feindschaft zwischen ihm und meinem Bruder wieder einmal ins Unerträgliche wie sooft vorher gewachsen war, sondern die Vermögenslage unserer Wirtschaft das Schlimmste befürchten ließ. Jedenfalls verlangte mein Vater zum Schluß, daß ich bis Ostern mein Studium beendet haben müsse, da er sonst genötigt sei, den Bankerott anzumelden. Auf die Rückseite des Briefumschlages aber hatte mein Bruder mit seinen plumpen Kinderbuchstaben ohne Namensunterschrift geschrieben: ›der alte Hund‹;. Dieser kurze Ausbruch seiner Wut war unzähligemal unterstrichen. Obwohl ich den Zank der beiden schon oft, bis zum Todeshaß gesteigert, erlebt hatte, drängte sich mir aus den häuslichen Verhältnissen, wie ich sie im Herbst verlassen, vor allem aber aus instinktiver Witterung die gewisse Furcht auf, die Lage auf dem väterlichen Hof sei nun wirklich so weit gediehen, daß der Zusammenbruch aller als einziger Ausweg übrigbleibe. Acht Tage später erhielt ich statt des ganzen Wechsels nur den halben Betrag. Nun biß ich die Zähne erst recht zusammen, setzte mich nach Tilgung meiner drückendsten Schulden auf halbe Ration, vernichtete meine verfehlte Arbeit und machte mich daran, dem Problem nach einer neuen Disposition zu Leibe zu gehen. Fleisch konnte ich mir nur des Sonntags leisten. Meine Mahlzeiten bestanden aus Tee und trockenem Brot. Jeden Genuß, jede Zerstreuung strich ich aus meinem Leben. Ich vermauerte mich vor allen Sorgen in einen Fleiß, der schon mehr Besessenheit war, und schrieb und verwarf, verwarf und schrieb Nacht um Nacht bis zum Morgengrauen. Gegen Ende des Semesters war ich fertig und gab die Arbeit ab. Vierzehn Tage später reichte sie mir der Professor zurück, sah mich abgemagerten, überwachten Menschen kopfschüttelnd an und sagte nach einigem schmerzlichen Nachsinnen, daß er mich nicht wiedererkenne. Die Arbeit sei wohl überreich an Wissen und Scharfsinn, aber merkwürdig direktionslos, und er rate mir, nach Monaten sommerlicher Ruhe von neuem, gesammelter und mit mehr Aussicht auf Erfolg das Rennen wieder aufzunehmen.

Als sei ich im Dunkeln mit dem Kopf an einen eisernen Pfahl gerannt, so war mir. Ich lief vor die Stadt und sah nach Hemsterhus hinüber. Nichts blühte aus dem Himmel. Ich wartete stundenlang im finsteren Zimmer auf Helenes Erscheinung. Die Mauer öffnete sich dem Bilde nicht, nach dem ich mich wie einer sehnte, der von langer Entbehrung schon so matt ist, daß ihn gar nicht mehr so sehr hungert.

Mein Leben war nicht in Nacht, aber es war eingenebelt, daß ich nicht wußte, was mit mir los sei, so, als wenn man im Traum in den fürchterlichen Zustand gerät, seine Gestalt zu verlieren. Absichtlich hatte ich zur Rückkehr nach Hemsterhus den Zug gewählt, der mich erst am Abend nach Bocholt brachte. Meine Befürchtung hatte mich recht beraten. Ich fand einen vollkommen vertrottelten Wagen, zwei verwahrloste Pferde, mehr schon Mähren, in einem da und dort mit Bindfaden und Stricken geflickten Geschirr vor, mit denen ich mich bei Tage unter keinen Umständen hätte sehen lassen mögen. Mein Bruder empfing mich zur Belustigung der wenigen Leute mit dem glücklichen Gröhlen fast völliger Trunkenheit und verfiel, als ich ihn zurechtwies, erst in bockiges, verstocktes Schweigen und dann in ein so verworrenes Durcheinandergedalber von Erzählungen über seinen Streit mit dem Vater, über sich und die Welt, daß ich bald nicht mehr nach ihm hinhörte, sondern mich nur tiefer in die leere, nebelhafte Lebensbetäubung sinken ließ, an der ich die ganzen Tage vorher gelitten hatte. So fuhren wir durch den Bocholter Wald, an der Zwieselkiefer vorüber.

Sie stand in der Dunkelheit, daß ihre Umrisse mehr in meinem Innern als eine Gewißheit hervortraten, mit der Lyraform ihres geteilten Stammes und den mannsdicken Wurzeln. Und in dem Augenblick, da das in mir geschah, sah ich eine Gestalt unter ihr sitzen, den verhüllten Kopf in die Hände gewühlt und die gespreizten Beine herangezogen. Und kaum, daß vor meinen Augen sich malte, was innerlich erschien, fiel ich meinem halb eingedösten Bruder in die Zügel, brachte das Gefährt zum Stehen, stieg fliegend aus und setzte mich neben die geheimnisvolle Gestalt. Da ich aber neben mich sehe, die genau zu erblicken, durch die mir diese geheimnisvolle Wandlung geschehen war, konnte ich niemand wahrnehmen, weder rechts noch links von mir, weder hinter noch vor mir, ging zu meinem Bruder zurück, der um Pferd und Wagen herumbruttelte, und brachte ihn schweigend und seltsam benommen wieder auf den Wagen hinauf. Ohne daß er es merkte, spedierte ich ihn auf den Rücksitz, und ich nahm auf dem Kutschbock Platz. Ich wußte, wen ich gesehen hatte, wies aber den Namen mit aller brünstigen Kraft innerlich ab. Doch das Schicksal fährt ja auf Wegen und bindet mit Seilen, über die nur ganz reine, heilige Menschen Gewalt haben. Ich aber war weder heilig noch rein, trotz all meiner äußerlichen Willenshantierungen, und kaum, daß ich auf der weichen Seite der Chaussee vier, fünf Bäume leise und säumig hingefahren war, fing mein Bruder an, von der zu erzählen, die ich eben gesehen hatte und mir durchaus verhehlen wollte, von Mathinka Meixner. Mit vorgeneigtem Kopf und zurückgewendetem Gehör, widerwillig und gierig zugleich, hörte ich, was er im Dusel fast mehr sich selber als mir erzählte, daß nach dem Tode der Hemsterhuser Schenkwirtin Mathinka Meixner wieder hier aufgetaucht sei und dem Witwer die Wirtschaft führe, so zwar, daß die Stuben zu enge würden und die Nächte nicht mehr lang genug seien wegen der vielen Gäste, die von weit und breit her nach Hemsterhus strömten, nur um die Mathinka zu sehen, zu begreifen, zu ... nun erbrach er sich in Unflätigkeiten, begann auf die Weiber zu lästern, fing an einzuschlafen und fuhr nur noch einigemal mit bewundernden Ausrufen über Mathinka Meixners Schönheit und das tolle, vornehme Leben in der Hemsterhuser Schenke auf. Zuletzt band er mir's auf die Seele, an der Schenke zu halten, um mit ihm ein richtiges Wiedersehen zu feiern und Mathinkas Busen zu bewundern, der wie ein Polsterstuhl sei. Dann schlief er endgültig ein. Nicht lange danach kamen wir aus dem Walde, und die Hemsterhuser Schenke tauchte hell erleuchtet, als sei sie illuminiert, aus der Nacht auf. Ich vergewisserte mich, daß mein Bruder fest schlafe, faßte die Zügel straff, ließ die Peitsche tanzen und fuhr in gestrecktem Galopp vorüber. Als ich, noch immer jagend, den Hübel zu unserem Hofe emporpreschte, wachte mein Bruder mit einer Verwünschung auf, sprang aus dem Wagen und lief nach Hemsterhus zurück.

Ich verbrachte mit meinem Vater eine lange, entscheidende Nacht. Er erwartete mich seltsam ruhig, ja sogar, etwas noch nie Wahrgenommenes an meinem Vater, in einer Art milder Sammlung. Ein Stoß Papiere lag vor ihm auf dem Tisch. Mit einem schmerzlich-freundlichen Lächeln erwiderte er meinen Gruß, streckte mir die große Hand über den Tisch und drückte mich auf einen Stuhl an seiner Seite. Ohne Umschweife begann er mit der Darlegung unserer fast verzweifelten Vermögensverhältnisse. Mit Ausnahme der Erntevorräte, des Viehes, der Maschinen und des Waldes war die ganze Wirtschaft verschuldet. Die letzten Barmittel waren ihm durch meinen Bruder geraubt worden, der es bei seiner Großmagd, wenn auch nicht ohne andere Hilfe, zum Vater gebracht hatte. Nun war zwar das Schlimmste, eine Heirat, abgewendet und mit Hilfe eines Rechtsanwaltes die Bereitwilligkeit der Frauensperson erreicht worden, sich mit einer reichlichen Abfindungssumme zu begnügen. Aber wie sollte diese beschafft werden? Der Verkauf von zehn Hektar schlagreifen Waldes war wohl mit einem Händler eingeleitet. Doch wenn der unsere verzweifelte Lage erfuhr, bestand die Gefahr, daß er den Preis drückte oder von dem Verkauf zurücktrat, um durch einen Strohmann unter den schlimmsten Bedingungen die Verhandlungen wieder zu beginnen.

Die Hähne fingen schon an zu krähen, als mein Bruder polternd, fallend und fluchend heimkehrte, eine Weile im Hofe umhertorkelte und dann durch die quietschende Tür im Pferdestall verschwand. Wir hatten unsere Besprechung unterbrochen. Mein Vater verfolgte, erbleichten Gesichtes und mit zusammengezogenen Brauen, den Lärm. Als alles wieder ruhig geworden war, erhob er sich lächelnd, und mein Erstaunen über seine Beherrschtheit bemerkend, sagte er: ›Du wunderst dich wohl, daß ich über so was nicht einmal ausspucke. Ja, wenn ich mein ganzes vergiftetes Eingeweide mit ausspeien könnte! Aber so hat das ja keinen Zweck.‹; Merkwürdig, und nachdem er diese Worte gelassener Verachtung gesprochen, glomm aus seinem Gesicht deutlicher ein verheimlichter Triumph, durch den seine Brutalität zu dieser ungewöhnlichen Ruhe abgedämpft worden war. Morgen zu gelegener Zeit wollte er weiter mit mir sprechen. Denn alles hänge nun allein von mir ab.

Zwei Tage später eröffnete er mir seinen Plan. Ich sollte mein Studium aufgeben, den Hof übernehmen, Helene Sintlinger heiraten, die beiden Wirtschaften vereinigen und so mit eins allen Nöten ein Ende bereiten. Damit würde den Sintlingern für immer der Garaus gemacht. Jakob samt dem Heiligenbauern, der neuerdings wieder ein Schnapsriecher geworden sei, sollten, wenn es nicht anders ginge, nach Amerika abgeschoben werden. Nach der Meinung meines Vaters war der Sintlinger halb verrückt, halb kindisch und ganz wahnsinnig. Jetzt oder nie sei die Zeit günstig zum vollen Triumph der Brindeisener über die Sintlinger.

Das also war der Schimmer, der meinen Vater in seiner Not zu dieser Gelassenheit und Verklärung gebracht hatte. Meine Liebe zu Helene sollte zum Instrument der Rachsucht unserer Familie gemacht werden, unsere Not zu einer Gemeinheit durch mich benutzt werden. In mir sprang der alte Haß gegen meinen Vater auf. Ich bezwang mich aber, meinte, daß seine Idee verflucht gescheit, aber mehr verflucht als gescheit sei und daher sorgfältig überlegt werden müsse, lachte laut und höhnisch heraus und ließ ihn stehen.

Mein Vater war von seiner infamen Idee so geblendet, daß er mein Gelächter als Einverständnis mit diesen Machinationen ansah und gleich nachher auf einige Tage in die Kreisstadt verreiste, wo er das Geschäft mit dem Agenten des Holzhändlers so weit förderte, daß er erleichtert, hellen Gesichtes und mit einer erheblichen Anzahlung zurückkehrte. Jakobs Magd wurde nun abgefunden, und mir schob er vielsagend lächelnd einige Tausender in die Seitentasche, damit meine Angelegenheit, mit Hochdruck betrieben, noch vor dem Winter ins Gleis käme, denn zum Heiraten gehöre Geld. Mit diesen Worten schloß er sein Vermögen in das kleine Stehpult, ließ den Schlüssel in seine Hosentasche gleiten und kümmerte sich weiter nicht mehr um mich. Gleichgültig warf er mir den Strick um den Hals, zog die Schlinge immer fester und begann, mich hinter sich herzuschleifen.

In der Nacht hatte ich folgenden Traum: Ich sah Helene, wieder blind, wieder als Heilige, wieder ganz himmlisch verklärt, im weißen Brautkleid, den Myrtenkranz in den langen Schleier gedrückt, mit einem Koppelseil über der Achsel an einen schmutzigen Karren gespannt, in dem mein Bruder und mein Vater saßen. Der erste, vor Betrunkenheit taumelnd, übergab sich fortwährend in die Pfützen des kotigen Weges, den sie hinfuhren, der andere lachte mit gelben Zähnen übermütig und hielt eine Peitsche in den Händen. Sobald Helene, von der Last bis zum Umsinken erschöpft, Miene machte, sich ein wenig auszuruhen, ließ mein Vater die Peitsche auf ihren Rücken sausen und schrie mit seiner ungeschlachten Stimme: ›Hü, hü, du Molkendieb! Wir müssen 'raus aus der Jauche.‹; Und während dieser Peinigung und Erniedrigung weinte Helene nicht, sondern sang fortwährend mit leiser, himmlisch süßer Stimme ein Lied, das ich kannte und nicht wußte, verstand und nicht begriff.

Der Zwiespalt zwischen den tierischen Lauten des brutalen Greises und der Engelsstimme des gefolterten Mädchens war so furchtbar, daß ich erwachte und noch lange das schauerliche Duett durch das geöffnete Fenster in aller Welt klingen hörte.

Als es endlich erloschen war, setzte ich mich jäh im Bett auf. Denn, was als stumme Sicherheit die Tage über sich in mir gebildet hatte, stand nun schonungslos und grell als unausweichliche Notwendigkeit vor mir. Nicht nur durfte aus meiner Heirat mit Helene nichts werden, sondern auch dem Liebesverhältnis zwischen uns mußte ein Ende gemacht werden, sofern noch ein einziger Ehrenfaden in mir und meinem zerfallenen und zerstörten Leben gesund war. Dies sollte das letzte Gute, Große und Reine sein, an das ich meine sittliche Kraft setzen wollte, gut, groß und rein zu scheiden, was der Himmel gesonnen und die Erde vernichtet hatte.

Nachdem ich mich in diesem Vorsatz genügend gefestigt hatte, ging ich auf den Sintlingerhof, um die Tür zu meinem Daseinshimmel, die sich von selber in mir geschlossen hatte, nun auch äußerlich so zuzumachen, daß sie für Helene und mich nie, nie mehr aufging. Ich hatte mich nicht vorher angemeldet, um die Feierlichkeit unmöglich zu machen, die von den Frauen aufgewendet worden wäre und meinen Besuch als Fortsetzung des alten, ungetrübt innigen Verhältnisses gestempelt hätte. Wenn ich auch nicht gedachte, mit einem Schlage unsere Herzen auseinanderzuhauen, so war ich doch entschlossen, ohne Zögern, mit aller Deutlichkeit den Bruch schon heute mindestens vorzubereiten. Diesem Gedanken hing ich noch nach, schon als ich den, merkwürdig, fast atemstillen Sintlingerhof überschritt, und ließ ihn auch nicht fahren beim Eintritt ins Wohnhaus. Auch das Gebäude lag lautlos, als hielte alles bei meinem Nahen vor Spannung den Atem an. Mich bespöttelnd, schloß ich ein Weilchen die Augen, um zu erfahren, wieweit es meine Einbildung treiben würde. So kam ich die paar Schritte, an der Treppe in den oberen Flur vorüber, um die Ecke und merkte bald an dem Hall der Schritte, daß ich den hohen Flur betreten hatte. Als ich jetzt die Augen wieder aufhob, erblickte ich ein mageres, abgezehrtes Männchen mit eiligen Schritten den Flur hinlaufen. Zu meinem Erstaunen erkannte ich in ihm den Sintlingerbauern. Sowie er meiner ansichtig wurde, verfärbte sich sein eingefallenes Gesicht und nahm den Zug ratloser Angst an. Zugleich lächelte er schmerzlich und wehrlos, und ich merkte, wie er schwankte, auf welche Weise er entfliehen könnte. Mein Vater hatte ihn als halb kindisch, halb verrückt und ganz wahnsinnig bezeichnet. Ich ließ ihn von meiner Betroffenheit nichts merken, sondern zog den Hut und grüßte ihn in der alten Weise. Aber da rief er laut den Namen seiner Tochter: ›Helene!‹; und rannte springend so an mir vorbei, daß der Kalk von der Mauer rauchte. Im Nu hatte er die Treppe erreicht. Dort beugte er sich über das Geländer und entschuldigte höflich und verlegen seine unziemliche Eile, da er notwendig oben zu tun habe, und als er dann leise und abgetrieben die Stiege weiter emporschritt, hörte ich ihn hastig mit sich selber sprechen: ›Ach Gott, ach Gott, nun ist keine Rettung mehr.‹; Dies stammelte er, je weiter er sich von mir entfernte, um so lauter vor sich hin.

Ich sah ihm verblüfft nach und war im Begriff, das Haus wieder zu verlassen. Doch da fühlte ich, wie jemandes Augen auf mir ruhten. Als ich mich umdrehte, stand die Sintlingerbäuerin, erblaßten, verlegenen Gesichtes, neben der Tür und bat mit umflorten Augen um Entschuldigung. Dann schritt sie auf mich zu, streckte mir herzlich beide Hände entgegen und zog mich, erschüttert und wortlos, ins Zimmer. Offenbar war sie von der Zerstörung ihres Mannes und von den Ereignissen, die unsern Hof halb aufgefressen hatten, gleicherweise bedrückt. Beim Eintritt in das Zimmer erhob sich Helene von ihrem Platz am Fenster und kam mir ebenso verlegen, mit demselben Ausdruck herzlichen Mitleids, bis in die Mitte der Stube entgegen, daß ich jäh einschnappte und ihre Hand förmlich küßte. Sie erbleichte, ließ ihre Hand welk aus der meinen sinken und begab sich leicht schwankend wieder an ihren Platz zurück.

Und nun begann eine gequälte Unterhaltung über den Verlauf meiner Reise von Münster, über das schöne Wetter und andere nebensächliche Dinge in herzlichen Worten ohne Freiheit, nach Heiterkeit angelnd und bedrückt. Wie Menschen im Oberstock eines Hauses sich bemühen, lustig zu plaudern, während sie unter sich schon das Feuer knistern hören, so redeten wir miteinander und spähten indessen verstohlen bei dem andern nach Zeichen der Beklommenheit, die jeder tapfer bei sich bekämpfte. Am wenigsten vermochte sich Helene zu beherrschen. Sie war so erschüttert, daß ihre Augen fortwährend von zurückgehaltenen Tränen blank waren und ihre Stimme oft brüchig wurde und leise zitterte. Sie war schlanker geworden. Ihre Fülle hatte sich fast verloren. Ebenso war aus ihren Bewegungen die heiße Berauschtheit geschwunden. Sozusagen lautlos, wie von dem unirdischen Traum ihrer Blindenzeit wieder berührt, saß sie, erhob sich und ging ab und zu. Nur in ihren vertieften, reinen Augen zuckte es flammend auf, wenn mich ihr Blick unbemerkt inbrünstig hingebend umfing. Ich mußte mein Herz in die eiserne Hand nehmen, damit es nicht ausbrach, ihr entgegen.

Als es abendgrau wurde, erhob ich mich, und Helene ging mit mir bis vors Tor unter die Linden. Dort standen wir nebeneinander und sahen schweigend in das verdunkelnde Tälchen hinunter. Da stahl sich leise ihre zitternde, kalte Hand in die meine, und im nächsten Augenblick hing sie an meinem Halse, bedeckte mein herabgeneigtes Gesicht mit Küssen und stammelte beschwörend meinen Namen, so, als hätte ich sie schon von mir gestoßen. Ihr Körper flog in Schluchzen und Leidenschaft, in Beben und Ringen um mich. Da tröstete ich sie, strich ihr liebreich die Haare aus der schönen Stirn und sprach in schonenden Worten von meinem Entschluß, so lange von Hemsterhus fortzugehen, bis alle Schwierigkeiten überwunden seien.

›Und ich?‹; fragte sie tonlos.

›Du bleibst mein heiliges Lenlein, wie immer‹;, antwortete ich und stieg den Hügel hinunter. Als ich mich, unter unserm Hoftor angekommen, umdrehte, sah ich sie noch immer unbeweglich, grau im Grauen, unter den Linden stehen.

Der Bann meiner magischen, heiligen Lebensverflechtung mit dem Wesen, mit dem Herzen Helenes war gebrochen, mußte gebrochen sein, und dieser eiserne Zwang aus den Verhältnissen enthob mich der Ehrenverpflichtung gegen mich selbst und riß mehr und mehr die Hemmungen meines guten Willens gegen die immer heftiger kreisenden Strudel meines sinnlichen Naturells nieder. Je öfter ich mein Herz stürmisch und verlangend gehen fühlte, wenn ich an Helene dachte, je verlockender mir die Szene erschien, da ich ihr in der Mondnacht den Busen entblößt hatte, desto entschiedener richtete ich in mir den Vorsatz auf, mit Helene nicht mehr allein zusammen zu sein. Denn immer deutlicher, immer unausweichlicher fühlte ich, daß ich dann, von meiner aufspringenden Gier betäubt, sie im Genuß entweiht hätte. Es gibt Mädchen, die ihre Liebe durch das Leben, und solche, die ihr Leben durch Liebe bezahlen, himmlische und irdische Frauen oder, wie die Kirche sagt, göttliche und teuflische. Helene gehörte zu der ersten Art, und wenn ich das von ihrer Unschuld unbewachte Paradies ihrer himmlischen Liebe vernichtete, daß ich sie in die Höllen meiner Gier hineinriß, dann zerstörte ich unweigerlich ihr Leben. Dazu aber sollte mich keine Macht der Erde bringen. Mochte ich schon ein vom Schicksal verfolgter Mensch sein, zum Mörder an ihr durfte ich nicht werden. Deshalb hielt ich mich ängstlich von ihr fern, und je mehr ich so vor meiner Sinnlichkeit um ihretwillen floh, um so heftiger entbrannte in mir zwar nicht das Verlangen nach ihr, aber der Drang nach dem lange unterdrückten Genuß. So steigerte er sich, daß ich, wie in meinen Pubertätsjahren, wieder Halluzinationen verfiel, und einst beim Eintritt in mein nächtliches Zimmer ein nacktes Mädchen auf meinem Bettrand sitzen sah, das ihr langes schwarzes Haar kämmte.

In diesem erbitterten Kampf um Helenes Unversehrtheit kam mir scheinbar ein neues Unglück zu Hilfe, das unseren Hof traf. Jakob vergewaltigte im Walde unsere jüngste Kleinmagd, ein noch nicht sechzehn Jahre altes Mädchen, die Tochter eines allgemein geachteten Kätners aus Querhoven, der dem dortigen bibelfrommen Kreise der heimlichen Wiedertäufer angehörte. Mit eins stand die ganze Gegend im Feuer der Empörung. Der unglückliche Vater setzte sofort den Staatsanwalt und die Polizei in Bewegung, und mein Bruder entfloh.

Durch diesen Schlag, der unsern Ruf und zugleich meine Aussicht auf ein juristisches Amt vollkommen vernichtete, durch diesen Schlag mußte auch Helene endgültig von mir gerissen sein. Mein Landrichter lag abgeschossen auf der Straße. Trotz aller Verdüsterung atmete ich aber erleichtert auf, daß mir das Schicksal in diesem Kampf um das Leben und die Ehre Lenleins zu Hilfe gekommen war. Ich selbst war mir vollkommen gleichgültig.

Aber es sollte sich anders wenden. Am Tage nach Jakobs Flucht erhielt ich durch das Stubenmädchen des Sintlingerhofes einen Brief Helenes, in dem sie mich mit so stürmischen Worten um eine abendliche Zusammenkunft am Waldrand der Langen Lehne ersuchte, nein, richtig anflehte, daß sie, die verzweifelt um ihre Liebe zu mir kämpfte, meine Weigerung in den sicheren Tod getrieben hätte. Darum sagte ich zu, mit dem festen Entschluß, sie von der Unmöglichkeit einer Verbindung zwischen uns zu überzeugen.

Schon im Eindunkeln sah ich Helene in Begleitung des Stubenmädchens, das sie wohl ins Vertrauen gezogen hatte, den Hof nach Brederode zu verlassen. Ich stieg hinter unserm Hof den Abhang hinauf in den Wald und näherte mich im entgegengesetzten Bogen dem Ort unserer Verabredung. Als ich die neue Chaussee vom Rheine her heranschritt, sah ich sie in einem rosa Kleide mit ihrer Begleiterin am Waldrande an einer eingemuldeten, abgelegenen Stelle hin und her gehen. Auf meinen verabredeten Pfiff wandte sie den Kopf nach mir und entließ das Mädchen, das eilig, ohne Umsehen über die Felder ging und in dem Buchengrund unter den Bäumen verschwand. Als ich an den Ort kam, saß sie am Rain und zerzupfte gedankenversunken einen Grashalm. Auf meinen Gruß hob sie den Kopf, nickte mir mit einem gramvoll-glücklichen Lächeln zu und rückte etwas auf dem Rain hin, damit ich mich neben ihr niederlasse.

Der Fichtenwald hinter uns mummelte im Einschlafen. Auf dem jungen Laub der alten Buchen im Grunde zitterte das letzte vielfarbige Licht, als nestle sich im Auffliegen ein glitzernder Schleier los. Die Amseln sangen von überallher schon abgebrochen und leise. Über dem erbleichten Himmel lagen lange, graublau verquollene Wolkenstreifen.

Helene zupfte an ihrem Halm weiter. Ihre Hände zitterten dabei. Aber sie atmete kaum. Sie wußte wohl nicht, wie das Unsagbare gesagt werden solle, und auch ich rang um behutsame Worte für den Bruch, für die Trennung, die sein mußte.

Endlich war Helene mit ihrem ratlosen Geschäft fertig, ließ die letzten grünen Halmkrümelchen aus den Fingern fallen, breitete die leeren Handflächen herauf und sah mich dann mit großen, tränenüberströmten Augen gramvoll-fragend an. Das sollte wohl heißen, muß es so mit uns sein, mit unserer Liebe, zerzupft wie dieser junge grüne Halm, und sollen wir denn mit leeren Händen dasitzen ein ganzes langes Leben?

›Ja,‹; antwortete ich auf diese stumme Frage, ›Lenlein, nicht wir haben unsern Frühling zerrissen, wie du den Halm zerzupft hast. Aber wenn auch der Frühling vernichtet, vorüber ist, die Erde steht noch.‹;

Aber ich weiß nicht mehr die bunten, vieldeutigen Worte, mit denen ich auf das Grause zustrebte, das ich zu sprechen mir vorgenommen hatte, und die schwärmerischen Beteuerungen ihrer Liebe, die Beschwörungen ihres verängsteten Herzens, die Trauer und Sorge um mich weiß ich auch nicht mehr. Die Nacht war schon hereingebrochen, und wir waren eher auf dem Punkte, unsere verzweifelten Herzen noch fester, unentwirrbarer in schmerzhafter Liebe ineinander zu verstricken. Sie hatte meine Rechte mit beiden Händen umklammert und hielt sie auf ihrem Schoße, als sei sie entschlossen, sich nie, nie von mir zu trennen, was auch eintreten möge.

Da aber gab ich mir einen harten Ruck und begann, sie schonungslos in die tragische Finsternis einzuweihen, von der unser Hof bis unter die letzte Scheunenschindel erfüllt war, und daß mich die verbrecherische Handlung meines Bruders mit einem Makel beschmutzt habe, der mich für immer von dem Amt eines Richters ausschloß, das ich anstrebte, und weil sie, in die Enge getrieben, sogar auf den Gedanken meines Vaters verfiel, daß ich die Juristerei an den Nagel hängen und als Landwirt die beiden Höfe in ein großes Gut vereinigen solle, erinnerte ich sie auch an das Schicksal ihres Vaters, der schon durch unser Liebesverhältnis bis zur Unkenntlichkeit seiner selbst zerstört sei, weil ihn der Wahn gepackt, diese Liebe führe sie und alle sicher in den Abgrund.

Und dann fragte ich sie, ob sie die Verantwortung übernehmen wolle, ihres und meines Glückes halber ihren Vater vollkommen in Wahnsinn zu zerstören oder ihn vielleicht gar in Tod und Grab zu treiben. ›Nein, Lenlein, dazu ist dein Herz zu weich und deine Liebe zu deinem Vater zu heilig und zu tief. Ich aber darf nicht und will nicht über das zertrümmerte Leben eines so allgemein verehrten Mannes, wie dein Vater ist, zu meinem Glück gelangen.‹;

So etwa redete ich als mein eigener Gegner zu dem Lenlein, die immer seltener einen Einwurf wagte, immer mehr erschüttert wurde und zuletzt meine eindringlichen Worte schweigend, den Kopf auf die unruhige Brust gesenkt, hörte, dabei aber immer inbrünstiger mit beiden Händen meine Rechte auf ihrem Schoß umklammerte.

Und ich, ich?! Was tat ich?

Gott verfluche mich! Wahrend ich mich in forensische Rhetoreneitelkeit steigerte und sie immer unentrinnbarer in diesen furchtbaren Konflikt verstrickte, glitt ich mehr und mehr aus dem Wesen meiner Worte und entzündete mich durch den Anblick ihrer ergreifenden Schmerzauflösung so in begehrliche Sinnenglut, daß ich von den Zuckungen und Schauern ihres angeschmiegten Leibes in giervolle Betäubung geriet, wie ein sadistischer Lüstling seine Wollust durch Geißelhiebe zur Siedehitze peitscht.

Ich hatte aufgehört zu sprechen und wartete gespannt auf den Erfolg.

Da löste Helene ihre Hände von meiner Rechten im Schoß, richtete sich auf und strich die herabgesunkenen Haare aus ihrer Stirn. Auf einen Augenblick war das genau die Geste des nackten Mädchens, die ich halluzinatorisch in der Nacht auf dem Rand meines Bettes erblickt hatte. Und hingerissen, atemlos, meiner selbst kaum mehr mächtig, mit zitternden Kiefern, sagte ich noch leise:

›Lenlein, wohl, ich mag schlecht sein. Aber so schlecht, so verworfen darf ich um deinetwillen nicht sein, die mir das Höchste auf Erden ist.‹;

Jetzt brach das Übermaß ihres Seelenschmerzes los. Sie lehnte sich nochmals zurück und rief als Antwort auf all meine Gründe für die Notwendigkeit unserer Trennung: ›Schrecklich, schrecklich! Sprich nicht weiter. Nein. Peter, ich will es nicht, nein, nicht doch!‹;

Dabei schloß sie die Augen, wie in beginnender Ohnmacht, sank aufgelöst vollends zur Erde, wahrhaftig, daß sie aussah wie eine, die sich hingibt, und suchte mit der Hand liebkosend nach meinem Gesicht. Als sie es nicht fand, streichelte sie meine Hand liebevoll und so inbrünstig, daß meine Rechte gegen den tiefsten Feuerpunkt des Weibes gedrückt wurde.

Da traf mich der höchste Leidenschaftsblitz des Mannes. Aber mit übermenschlicher Willenskraft riß ich mich zurück, schrie entsetzt ihren Namen, sprang auf und lief davon. Als ich mich nach einigen Sprüngen umdrehte, lag sie noch immer wie bewußtlos. Ich aber wagte nicht, zurückzukehren, sondern setzte meine Flucht fort, durch Saaten, über Gräben und Sturzacker gerade auf unsern Hof zu. Wie ein brennender Mensch stürmte ich davon, eine Feuergarbe. Mir war, als loderten selbst die Kleider auf meinem Leibe.

So jagte ich auch den Hügel zu unserm Hofe empor. Als ich das kleine Beipförtchen aufmachte, tauchten die schwarzen Umrisse eines Mannes aus dem dunkeln Hofe auf. Lautlos, geneigten Gesichtes kam er auf mich zu, schweigend, unentrinnbar. Es war der unheimliche Schatten, der Geist, der Teufel, was weiß ich, der sich jahrelang nicht hatte sehen lassen. Entsetzt prallte ich zurück und trat zur Seite. Er ging an mir vorbei. Und weil ich erschüttert stand und ihm nachsah, wandte er sich nach einigen Schritten nach mir um. Da folgte ich ihm. Und wie ich hinter ihm den Hügel hinunterging, öffnete mein Vater das Fenster und rief meinen Namen. Und jedesmal, wenn die Stimme meines Vaters ertönte, verschwand der Schatten vor mir und erschien wieder, sobald sie verklungen war.

Als ich auf dem Wege um den Sintlingerhügel bog, war er weggewischt, und die Hemsterhuser Schenke leuchtete wie illuminiert durch die Nacht zu mir herüber.

Dorthin ging ich und wurde den Brand meines Leibes in den Armen des Mathinkleins los.

Ich war der vollkommenen moralischen Auflösung verfallen. Daß ich das Lenlein nicht in meinen Untergang mit hineingerissen und ihre Ohnmacht mißbraucht hatte, schimmerte als letzter Rest von Stolz und Selbstachtung in mir.

Als ich am anderen Abend erwachte, nachdem ich von den Ausschweifungen der wilden Nacht den ganzen Tag über in Schlaf geworfen worden war, war es das erste, was ich tat, daß ich mir meine Rechte aufmerksam betrachtete, die von Helene gestreichelt und gegen ihren Schoß gedrückt worden war. Ich tat es deswegen, weil ich deutlich auf ihrem Rücken noch den Druck von Fingern spürte, und mir war, ich sei in Träumen, die ich vergessen hatte, von jemand, den ich nicht kannte, an der Hand herumgeführt worden. Alles war in mir erloschen, nur diesen Druck lebendiger Finger fühlte ich, als habe sich die Hand, von der er herrührte, soeben erst zurückgezogen, und ich war so idiotisch, zur Seite zu sehen, ob derjenige, dem sie gehörte, vielleicht noch neben mir stehe. Natürlich war da niemand vorhanden, und ich lachte mich zynisch wegen dieses Fimmels der Überreizung aus. Dann erhob ich mich und ging, ohne mich um meinen Vater zu kümmern, pfeifend vom Hofe in die Hemsterhuser Schenke zu Mathinka Meixner, um mit ihr den Plan weiter zu besprechen, wie unser gemeinsames Leben einzurichten sei. Denn daß wir füreinander geschaffen waren, das schien uns nach der gestrigen Wiedersehensnacht unumstößlich festzustehen. So saßen wir auch diesen Abend und spannen eifrig Zukunftspläne. Ich hatte alle Schiffe hinter mir verbrannt und war von einer geradezu verzehrenden Leidenschaft für das Mädchen erfüllt, die sich, es ist nicht zuviel gesagt, zu einer sinnlichen Schönheit hohen Ranges entwickelt hatte. Was sie während der Jahre getrieben, wo sie gewesen, darüber erzählte sie ein langes und breites, in dem es von Kommerzienräten, Adligen und so weiter schillerte. Ich glaubte ihr natürlich nichts, bewunderte die Gabe ihrer Erzählung und befand mich in ihrer Nähe in einem fortwährenden Taumel der Verliebtheit. Aber auch sie stand durch meine Hingerissenheit in einer dauernden Entzündung. Trotzdem ertappte ich mich dabei, daß ich es vermied, meine Rechte von ihrer Hand berühren zu lassen. Wenn sie aber doch herüberlangte, um zärtlich meine Rechte zu streicheln, so zuckte ich wie unter einem Schmerz zusammen. Ich sagte, daß die Reizbarkeit meines Handrückens von einem Duell herrühre, und beruhigte sie und merkwürdigerweise auch mich dabei. Von meinem Bruch mit Helene sagte ich ihr nur das Nötigste und begründete dessen Notwendigkeit durch das Vorkommnis mit Jakob und der philiströsen Sittenüberheblichkeit der Familie Sintlinger, und als ich merkte, wie Mathinka unter diesem meinem lügenhaften Schmälen glückhaft blühte, verschonte ich auch das Lenlein nicht mit allerhand herabsetzenden Bemerkungen, wenn ich meine Niedertracht auch nicht bis zu Verunglimpfungen und Schmähungen trieb. So schmolzen wir in zwei Tagen zu einem Leib und einer Seele zusammen. Unser Plan gedieh auch zu einer gewissen Klarheit. Ich wollte mir von meinem Vater Geld besorgen. Mathinka sprach von einem größeren Bankguthaben in Münster und von einer Summe, die ihr der Schwager, der Hemsterhuser Wirt, schulde. Damit wollten wir in einer Großstadt eine Bar für die Lebewelt eröffnen und hofften so in kurzer Zeit zu einer glänzenden Existenz zu gelangen. Erst mußte das Terrain ausgekundschaftet werden, und wir entschlossen uns, in den nächsten Tagen unauffällig aus Hemsterhus zu einer Reise, zunächst den Rhein aufwärts, zu verschwinden.

Wir haben diesen besprochenen Plan auch auszuführen begonnen, wenn auch von der überlegenen Freiheit, von der waghalsigen, lumpenhaften Souveränität, mit der wir alles zu schmeißen gedachten, nichts, aber auch rein nichts übrigblieb.

Am anderen Tag, also dem dritten nach meinem Bruch, überbrachte mir das bekannte Stubenmädchen abermals einen Brief von Helene. Mit einem finstern Gesicht trat das hübsche, frische Wesen in meine Stube. Ohne mich anzusehen, möglichst unfreundlich, schnurrte sie die Bestellung herunter, und als ich zögerte, ihr den dargebotenen Brief abzunehmen, stürzten ihr die Tränen in die Augen, und sie verfärbte sich vor Haß. So warf sie den Brief auf den Tisch und verließ ohne Gruß das Zimmer.

Helene mußte sich also in einem schlimmen Zustand befinden, wenn dies vertraute Mädchen mich mit einer solchen Verachtung behandelte. Ich war schon entschlossen, den Brief uneröffnet wieder zurückzuschicken; denn was für einen Sinn sollte es haben, nochmals mit Helene zusammenzukommen, ihr nach dem Vorgang am Waldrand in einer peinlichen, beschämenden Verfassung gegenüberzustehen und mich Verlorenen schließlich aus Mitleid wieder äußerlich an sie zu ketten? Aber als ich zur Tür schritt, mich nach einem geeigneten Boten auf den Sintlingerhof umzusehen, fühlte ich auf dem Rücken meiner Rechten den von der letzten Berührung Helenes zurückgebliebenen Druck so stark, daß er mich fast schmerzte. Ich empfand den Schmerz nicht auf der Hand, sondern in meinem Innern, im Hirn und Herzen zugleich, einen Schmerz, der uns anfällt, wenn wir sehen, daß sich ein anderer verwundet. Deswegen ging ich zurück, riß den Umschlag herunter und las. Der Brief enthielt ohne Überschrift nur einen Satz: ›Ich fahre heut abend um sechs an der Zwieselkiefer vorüber‹;, und ihren Namen als Unterschrift. Sonst nichts. Ich hatte die Empfindung, als stürze ich in einen Abgrund, und zugleich hörte ich mit meinem Knabenherzen und dem Ohr eines Zehnjährigen ihre heilige, weltenferne silberne Kinderstimme wieder singen. Wie betäubt mußte ich mich auf einen Stuhl niederlassen und verfiel in eine dunkle Benommenheit. Ich dachte nichts, ich fühlte nichts, ich war innerlich ausgelöscht, sah von Zeit zu Zeit auf, starrte die Gegenstände meiner Stube an, den Schrank, das Bett, den Tisch, und verstand nicht, was das sei. Nur meine Rechte hielt ich mit der linken Hand sorgsam und schützend, wie eine Kostbarkeit umschlossen. So ging der Mittag vorüber. Die Sonne stahl sich von meinem Fenster fort. Ich saß ausgelöscht und wartete. Da fühlte ich ein leises Streicheln über meine Rechte gleiten. Ich erhob mich, zog meine Uhr, sah, daß sie gegen die fünfte Stunde zuging, und sagte mir, daß ich mich beeilen müsse, wenn ich zur angegebenen Zeit an der Zwieselkiefer sein wolle.

Mit großen Schritten trabte ich über Querhoven durch den Schlund auf die Stelle zu. Und während ich in dem Walde hinlief, erinnerte ich mich, auf der ersten Fahrt nach Münster von der Zwieselkiefer aus über die Waldwipfel des Schlundes hin meine Mutter das letztemal, umschimmert vom Morgenlicht, gesehen zu haben, und die wilde Nacht mit der Mathinka auf der Schonung hinter der Zwieselkiefer tauchte auch in meinem Gedächtnis aus. Ja, ja. Mein Knabentrotz hatte die Mutter ins Grab gestoßen. Schon als ich Helene nur begehrte, hatte ich sie verraten. In der Maske begeisterter Jugend war ich ein Verbrecher gewesen, und nun mich eine unbegreifliche Gnade zum Erlöser des heiligen Lenleins gemacht hatte, war sie durch mich bis nahe an den Abgrund der Zerstörung gelockt worden, der ich selbst unrettbar verfallen war.

Diese rücksichtslose Gewissensdurchforschung raste in mir, als ich, hinter dem Stamm der Zwieselkiefer verborgen, auf Helene wartete. Nun gab es für mich nur noch eines zu tun. Ich war verpflichtet, mich ihr in meiner ganzen erbärmlichen Verlogenheit, Schwäche und Wertlosigkeit zu zeigen, um sie von dem letzten Rest einer unglücklichen Liebe zu heilen, wenn ja so etwas für mich noch in ihr vorhanden war.

Da hörte ich von Bocholt her einen Wagen nahen und sprang in ein paar Sätzen in die Fichtenschonung zurück. Dort, vom Grün gedeckt, wartete ich, bis das Gefährt auf das freie Plänlein einbog. Dann trat ich, anscheinend in größter Eile, als komme ich eben an, aus dem jungen Bestand heraus auf den Wagen zu, in dem Helene allein sah. Der Kutscher auf dem Bocke blickte, auf Helenes Bitte zu halten, verdrossen zu mir her und gab sich den Anschein, als gelänge es ihm nicht, das Pferd zum Stehen zu bringen. So glückte es mir, geschickt an ihrer Hand vorbeizugreifen und trotz ihrer Aufforderung neben dem Wagen einherzugehen, anstatt zu ihr hineinzusteigen. Obwohl ich mit allerhand witzigen Gesprächen diese Weigerung begründete, daß der Knecht auf dem Bock in lautes Gelächter ausbrach, krümmte kaum ein erzwungenes Lächeln ihren Mund. Das leichte Rot, das bei meinem Auftauchen über ihr Gesicht geflogen war, verging in Blässe, und mit schreckhaft großen Augen verfolgte sie die burschikosen Zügellosigkeiten, denen ich mich bald überließ. Ich sang Gassenhauer und tolle Studentenlieder durcheinander, als sei ich trunken, überstürzte mich in lachenden Zynismen über Gott, Welt und Menschen, kurz, spielte den Gestrandeten, den Gemeinen, der sich in seiner hereingebrochenen Verlumpung wohlfühlt, so überzeugend, so drastisch, daß Helene sich im Wagen zurücklehnte, die Hände auf den Knien zusammenkrampfte und blassen Gesichtes ratlos und unglücklich in den Himmel blickte, über den schon das Grau der tiefen Dämmerung zog.

Mir zitterte das Herz bei den Roheiten, die ich mir abrang, im Anblick von Helenes Schmerz und verzweifelter Ratlosigkeit. Aber ich riß mich in immer neues geschmackloses Toben hinein, um Helene endlich dazu zu bringen, mich entrüstet davonzujagen. Ich geriet in solch unbeherrschtes Wogen der Gemütsverstörtheit, daß ich jede Gewalt über mich verlor und aus dem finstern Unglück heraus ein schwermütiges Lied zu singen begann.

Da schrie das Lenlein qualvoll auf: ›Um Gottes willen, Peter, hör' auf! Ich muß sonst sterben.‹;

Auf diesen Auf zerriß der wüste Taumel, durch den ich mich gefühllos machen wollte, und ich trat an den Wagen heran, fuhr ihr liebkosend über die blasse Wange und sagte: ›Armes, liebstes Lenlein. Ich kann nicht dafür.‹;

Dann ging ich schweigend, in leeres Grübeln versunken, wieder neben dem Wagen, bis wir aus dem Walde herauskamen und die ersten Dächer von Hemsterhus zu sehen waren. Als ich aufblickte und von dem Fenster der Schenke Mathinka Meixner zurücktreten sah, schoß es mir durch den Kopf: ›Nun, also, Schluß!‹; und ich wollte mich hart von ihr reißen, da sie es nicht tat. Aber als ich das Lenlein bleich, wie geistesabwesend, im Wagen sitzen sah, wie sie, von meinem brüsken Herantreten aufgescheucht, mich kümmerlich anlächelte, brachte ich es nicht über mich, ihr noch diesen Stoß zu versetzen, und ich bat um Entschuldigung: ›Sei mir nicht böse,‹; sagte ich, ›aber das Leben wirtschaftet mit mir nicht gut.‹;

Nun, und dann nötigte ich sie eben noch in die Schenke, zu dem Mädchen, das sie als Rivalin haßte, zu Mathinka Meixner hinein, mit der ich sie betrogen, der ich mich verschworen hatte. Das war mehr als gemein, das war schlecht. Ich sah wohl die Geringschätzung, mit der Mathinka das betreten und schüchtern gewordene heilige Mädchen musterte, mich machte die aufreizende Keckheit wohl schamrot, die Mathinka als meine Erwählte vor Helene zur Schau trug: aber ich konnte mich aus meiner lumpenhaften Indolenz nicht aufraffen, schüttete ein Glas Bier ums andere in mich hinein, lachte bald leise, bald grell auf wie ein ertappter, halb vertrottelter Zuhälter und begann dann, das arme Lenlein mit brutalen Worten zu bearbeiten. Ich weiß, ich nannte alles puren Unsinn und gab ihr den Rat, so wie ich dem gemeinen Leben mit festem Auge in die Visage zu blicken. Ich weiß ganz genau, das Wort Visage gesprochen zu haben, so laut, daß Mathinka Meißner im Schenkhaus triumphierend auflachte.

Daraufhin sah ich das Lenlein geradezu einsinken, ratlos, käsig-blaß werden, und über die Augen kroch eine stumpfe Schicht, als erblinde sie wieder.

Als Mathinka ihr den bestellten Kaffee brachte, schloß sie bei ihrem Herannahen die Augen und öffnete sie erst wieder, als ihre Feindin sich entfernt hatte.

Ich erkannte, daß Helene von der Schande getroffen worden war, in die Mathinka und ich sie gebracht hatten. Aber sie bezwang sich mit übermenschlicher Anstrengung. Wohl zitterte der Löffel, mit dem sie den Kaffee umrührte, wohl vergaß sie Zucker und Sahne hineinzutun, doch trank sie das bittere und schwarze Getränk langsam und lehnte sich dann schweigend, entspannt und überwunden, zurück.

Nach dieser stillen Einkehr, nach einigen Augenblicken nur, war sie vollkommen verwandelt. Aus ihren Augen war jede Angst und Unruhe geschwunden. Sie waren klar, heiter, unbewegt wie Wasserspiegel, ohne Blick, nur sanfter Schimmer. Das Gesicht war in einem Zustand entrückter unirdischer Kindlichkeit, und als sie darauf mich lange ansah, lächelte sie gütig und liebevoll. Ehe ich es verhindern konnte, legte sie ihre Hand still auf die meine und sagte: ›Du, lieber Peter, gelt, das ist das Mathinklein aus Querhoven. Mir tut das Mädchen leid. Die Leute reden viel Schlimmes über sie. Aber es wird wohl nicht wahr sein. Sei nicht hart zu ihr, lieber Peter, versprich mir's. Und nun darf ich auf nichts mehr warten, ich muß gehn.‹;

Sie nahm ihr Täschchen an sich und ging leise und kühl davon.

Ich blieb und begann zu trinken, als gelte es, eine brennende Stadt zu löschen.

Nun war das Tor endgültig zugeschlagen, und ich stand mit Mathinka allein in der dunklen Welt. Jetzt galt es, zu wandern.

Vor meinem Weggange sagte ich ihr, daß wir unter allen Umständen morgen früh wegreisen müßten. Sie solle sich noch vor Tag fertigmachen. So schritt ich hinaus.

Der Sintlingerhof lag friedevoll im hellen Mondschein auf dem Hügel.

Im Dorf schlug es elf.

Das letzte mal wollte ich so tun, als sei ich noch in dem verzauberten Leben meiner Kindheit, ging den Hügel hinauf und setzte mich auf das Torbänklein unter Helenes Fenster.

Nicht lange, und es wurde leise geöffnet. Ich hob den Kopf und sah das Lenlein sich weit herausbeugen. Sie war angezogen und trug ein rotes Seidentuch um ihren Kopf geschlungen. Regungslos verharrte sie wohl eine halbe Stunde. Nur einigemal hörte ich sie ringend und beklommen atmen.

Dann begann sie leise, wie im Traume, mit ihrer Blindenstimme zu singen:

›Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten,
schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.
Drum sag' ich's noch einmal:
Schön sind die Jugendjahr',
schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.‹;

So sang sie das ganze Lied, klar, beseligt, ohne Schmerz, ohne Schatten.

Dann zog sie sich zurück und schloß ruhig das Fenster.

Ich aber floh wie ein Verurteilter auf unseren Hof hinüber.

Dort begann ich, auf den Zehen gehend, die notwendigsten Sachen zu meiner morgigen Abreise zusammenzutragen, und vergaß auch nicht die Flöte auf den Boden des kleinen Koffers zu legen. Denn von diesem Talisman trennte ich mich nicht mehr. Von dem genossenen Alkohol und der Gemütsaufregung hämmerten mir die Schläfen. Die Luft im Zimmer wirkte schwül und dick wie in den Hundstagen. Deswegen ging ich, öffnete vorsichtig das Fenster und lehnte mich hinaus in die Nachtkühle.

Der Sintlingerhof lag zum Greifen nahe in dem vollen Mondlicht der klaren Mainacht. Da hörte ich irgendwo in dem Gehöft drüben die Haspe einer Tür klirren. Ich suchte mit den Augen die Umgebung ab, um zu sehen, wer in dieser späten Nachtstunde noch wach sein könne, und erwartete, den Sintlinger heraustreten zu sehen, den seine Unruhe oftmals mitten in der Nacht auf das Feld zu treiben pflegte. Das Pförtchen vorn heraus, nach den Linden zu, blieb geschlossen. Da konnte nur das andere kleine Türchen nach dem Blumengarten, auf die Lange Lehne zu, bewegt worden sein. Wenn jemand dort herausgetreten war, so mußte er sich bald auf den ansteigenden Feldern der Langen Lehne zeigen. Ich patrouillierte mit meinen Blicken immer den Wirtschaftsweg entlang. Nichts ließ sich sehen. Da bestrich ich mit meinen Augen die Felder nach Brederode zu und bemerkte richtig jemand in rasendem Lauf querfeldein, gerade nach dem Walde zu eilen. Die Gestalt war nicht groß und rannte offenbar gebückt, und nun sah ich es gar im grellen Mondlicht ein paarmal rot aufleuchten. Dies bemerken und wissen, wer es sei, und was das zu bedeuten habe, war eins. Ohne zu überlegen, sprang ich aus dem Fenster, kam glücklich unten an und nahm sofort die Verfolgung Helenes auf. Als ich in die Mitte der Langen Lehne gekommen war, sah ich sie die Böschung der neuen Chaussee erklimmen und im Walde verschwinden. Ich atmete auf. Denn wenn sie auf der neuen Chaussee blieb, mußte ich sie einholen, ehe das Schlimmste geschehen war. Blitzartig erinnerte ich mich des Augenblickes, als ich sie während des Vergnügens in der Waldmühle zusammengekauert, wie hypnotisiert, unter der Erle am Buchteich getroffen hatte. Wahrscheinlich hatte sie damals das grause Dunkel berührt, in dessen Fänge sie jetzt geraten war. Als ich endlich die Böschung der Chaussee erklettert hatte und verschnaufend oben stand, hörte ich schon weit entfernt und schwach ihre Schritte auf dem harten Weg klappen. Auf der Chaussee war sie nicht mehr einzuholen. Also rannte ich geradezu durch den Wald, der mir von meinen Knabenstreifereien genau bekannt war. Die Zweige peitschten mir ins Gesicht, ich achtete es nicht, sprang über Gräben, strauchelte, fiel, raffte mich auf und sah endlich das Dach der Waldmühle durch die Zweige. »Helene!« rief ich atemlos. Als ich aus dem Walde heraussprang, stand sie richtig kerzengerade, wie leblos unter der alten Erle. Auf meinen nochmaligen Ruf verschwand sie mit einem leisen hohen Schrei. Das Wasser rauschte auf. Als ich hinkam, schwankte der Spiegel nur noch leise, und ihr rotes Tuch lag darauf und fing an, sich in der Nässe auszubreiten. Ich sank betäubt unter dem Baum zusammen. Als ich zu mir kam, war es zur Rettung zu spät. Rief ich Leute zusammen, so wäre ich bei der Feindseligkeit unserer Familien und nach dem Bruch unseres Liebesverhältnisses sicher in einen Prozeß verwickelt und womöglich des Mordes angeklagt worden. Genug, daß ich es vor meinem Gewissen war.

Jetzt galt es nur, so schnell wie möglich, noch ehe jemand wach wurde, nach Hause eilen und mit Mathinka spurlos zu verschwinden. Wie geworfen eilte ich auf den Hof zurück, erbrach des Vaters Schreibpult, nahm sein ganzes Vermögen an mich, klopfte Mathinka heraus, und ehe die Sonne aufging, schritten wir schon aus dem Bocholter Walde heraus, dem Bahnhof zu. Mit dem ersten Zuge dampften wir davon.«

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