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Das Leben stürzt nicht immer in die Tiefe, aus Helle in Finsternis, aus Frieden in wilde Wirbel, o nein, man kann auch umgekehrt stürzen, jawohl, und in jenen Tagen, nach der Schmerzensnacht mit meiner Schwester Amalie, stürzte ich zurück in die Höhe, aus der ich gefallen war.

Allerdings, wenn man die Geschehnisse bloß von außen betrachtet, sieht es eher wie das Gegenteil aus.

Ja, mein Gott ... und lange gedauert hat dieser Sonnen- und Höhensturz ja auch nicht.

Wie ich auf dem Grenzwege weiter nach Hemsterhus zu komme und die Schule mit ihrem hohen, altersroten Ziegeldach über die Baumkronen nach mir hersieht, erschrak ich, denn was sollte geschehen, wenn mich beim Eintritt ins Klassenzimmer Mathinka Meixner mit ihren strahlend-schwarzen Äugen ansah? Ich mußte auf der Straße stehenbleiben und vertiefte mich über die wellige Ebene hin in den Anblick seiner Hügel. Aber ob ich in meine Augen noch so sehr die schuldlose Neugier rein kindlichen Schauens legte – Sie kennen diese Knabenangst, die man zu Unrecht Verlogenheit nennt –, ja, wie ich über einen Pflug erstaunte, einen einsamen Baum, einen verlaufenen Hasen, alles, um nur der Entscheidung zu entgehen, die beim Eintritt ins Schulzimmer über mich herfallen mußte, spürte ich die alte Maskenstarre über mein Gesicht kriechen, sah das Mathinklein halb entblößt vor mir im Straßengraben liegen und fühlte die Glut ihres brünstigen Mundes über mein Gesicht streichen. Da fing ich an zu singen, nicht ein Lied, das ich kannte, und nicht mit meiner Stimme, sondern mit der fremden Stimme, unwirklich hoch, mädchenhaft, mit der in der Nacht meine fiebernde Schwester von dem Sintlingerlenlein gesprochen hatte, ich sang schreiend zum Schutze gegen das Andringen der wollüstigen Bilder und lief dabei wie ein Gehetzter. Die Leute, die mir begegneten, lachten über mich. An den ersten Häusern von Hemsterhus verstummte ich, verdoppelte dafür aber mein rasendes Laufen, überquerte so den Schulhof, polterte die Treppe hinauf und stürzte abgewandten Gesichtes durch die Klassenzimmertür auf meinen Platz. Ich weiß, daß zugleich eine wilde, zornige Wut in mir war, und während ich tief gebückt meinen Tornister unter der Bank verstaute, lauerte ich förmlich darauf, einer meiner Mitschüler möge mich hänseln. Denn dann hätte ich mich auf ihn gestürzt und wahnsinnig zugehauen, wahnsinnig! Aber es kam nicht dazu. Der Kantor Pfeiffer trat ein. Die Erregung fiel in mir zusammen. Ich fühlte mich ganz erschöpft und saß teilnahmslos, vor mich hinblickend, da. Dennoch verstand ich den Unterricht, beantwortete alle an mich gerichteten Fragen, versank aber immer mehr in eine Art gramvoller Verschollenheit. Als der Lehrer am Ende der Stunde wie gewohnt die Anwesenheitsliste aus dem Schube nahm und die Namen der Schüler zu verlesen begann, fing mir das Herz stürmisch zu hämmern an. Ich fürchtete mich vor Mathinka Meixners ›Hier‹;, vor dieser hellen, triumphierenden Stimme, weil ich nicht wußte, was mit mir geschehen würde, wenn sie aufklänge. Mit angehaltenem Atem, gesenktem Kopf, an meinen Lippen beißend, saß ich da und wurde von Namen zu Namen geruckt, ich weiß nicht, richtig wie ein Verurteilter.

Nun sprach der Kantor den Namen aus. Ich packte vor Verlegenheit den Schulranzen mit beiden Händen.

Aber das ›Hier‹; blieb aus. Pfeiffer hob prüfend den Kopf, wartete einen Augenblick und sagte dann lächelnd zu sich: ›Ach so, die ist ja nach Wesel ins Pensionat.‹;

Da fiel die Angst von mir. Ein kaum erträgliches Glücksgefühl kam über mich, daß ich am liebsten über die Bank gefallen wäre und mein Gesicht in den Armen verborgen hätte.

In der dritten Stunde stürzten mir plötzlich die Tränen aus den Augen. Ich grub mir die Nägel in meine Hand. Es half nichts. Die Tränen flössen, und ich hatte alle Mühe, das Schluchzen zu unterdrücken.

Dabei sah ich, wie der Kantor mich musterte. Ja, er fing schon an, mich zu fragen: ›Sage mal, Peter, was ist dir denn?‹; Da wurde an die Tür geklopft. Ehe ich zu antworten brauchte, war der Lehrer zur Tür hinausgewirbelt.

Als er bald darauf die Klasse wieder halb betrat, sah er mich über die Brille weg erst eine Weile mit erblaßtem, mitleidsvollem Gesicht an, nickte mir wie bestätigend zu und sagte dann leise über die vollkommen verstummte Klasse hin: ›Ja, ja, Peter, es ist so. Nimm dir die Sachen und geh nach Hause.‹; Dann verschwand er wieder auf den Flur.

Die Stube drehte sich um mich, da ich zu ihm hinaustrat, und während ich taumelnd von meinem Platz der Tür zuschritt, überfiel mich die schreckenvolle Vermutung, irgend jemand könne vom Meixnerhofe herunter den Vorgang beobachtet haben, der sich gestern nachmittag mit dem Mathinklein und mir an der Querhovener Teufe abgespielt hatte, und die Meixnerbäuerin sei gekommen, um von dem Kantor meine Bestrafung zu verlangen. Meine Angst war umsonst. Als ich zaghaft auf den Flur hinaustrat, traf ich niemand als den Kantor Pfeiffer, der eben, über das Geländer gebeugt, jemand nachrief, der sich mit eiligen, schweren Schritten über die Holztreppe entfernte: ›Ich lasse Herrn Brindeisener und seiner Frau mein Beileid ausdrücken. Es wird alles besorgt werden, und heute nachmittag um fünf soll nur der Herr oder die Frau kommen, da können wir alles wegen dem Begräbnis bereden‹;, rief er hinunter. Dann kehrte er sich herum, trat an mich heran, nickte mir blassen, angegriffenen Gesichtes zu und streichelte gütig meine Wange, indem er sagte: ›Ja, ja, armer Peter: rasch tritt der Tod den Menschen an. Ich habe dir's angesehn, den ganzen Vormittag schon. Du hast's wohl in deinem weichen Herzen geahnt. Fass' dich, Peter: deine Schwester ist vor einer Stunde gestorben.‹;

Dann redete er noch allerhand Tröstliches zu mir und sagte das, was er eben von dem Boten über die Umstände erfahren hatte, unter denen Amalie gestorben war. Sie sei hinter dem Tisch mit einem kleinen Schrei umgesunken und tot gewesen, schnell, wie man ein Licht ausbläst.

Beim besten Willen bringe ich das genaue Nacheinander der folgenden Ereignisse nicht mehr zustande. Ich bin diesen Weg der Erinnerung, der Aufrechnung oder des Gerichtes, den ich vor Ihnen hoffentlich das letztemal gehe, unendlich oft gewandert. Aber immer, wenn ich bis zu dem Punkt komme, wo ich als beinahe vierzehnjähriger Junge auf dem oberen Flur der Hemsterhuser Schule dem Kantor Pfeiffer gegenüberstehe, halb im Beben der Furcht vor der Entdeckung meines ersten Fehltrittes, halb von dem unbegreiflichen Grauen des Todes meiner Schwester verdunkelt und doch auch im tiefsten meines Wesens über den Fortgang Mathinka Meixners, gleich einem Entronnenen, einem Befreiten, beglückt, wenn ich bis hierher gelange, geht es mir immer wie einem Wanderer, der, auf dem Wege von den Wirbeln einer Windhose angefallen, in die Höh' gehoben und eine Strecke durch verfinsterte Luft getragen wird. Übrigens ist das nicht die einzige Partie meines Daseins, die, verhüllt, erloschen, wie nie gewesen, gleichsam aus dem Gedächtnis herausgelockt, durch keine Sammlung und Hingabe an die Erinnerung sichtbar gemacht werden kann. Es ist mir so, als habe ich damals nach der Mitteilung des Todes meiner Schwester den Kantor Pfeiffer gefragt, ob Mathinka Meixner einspännig oder mit zwei Pferden zur Bahn gefahren sei, und wie lange sie fortbleiben werde. Ich weiß es aber nicht genau und schließe es bloß aus dem Klang und Rhythmus meiner Stimme, die aus dem Grau jener Tage noch heut lebendig an mein Öhr tönt, ohne ihre Worte verständlich machen zu können. Und zugleich sehe ich als Antwort auf meine Frage die erschreckten, unbeweglichen Karpfenaugen des Kantors aus dem Nebel der Erinnerung auf mich starren. Dann muß ich allein vor der Leiche meiner Schwester gestanden und mitleidig mit dem Zeigefinger ihre schmalen Lippen berührt hüben, die so blau waren, als habe sie jemand mit dem Saft der Heidelbeeren gefärbt. Dann rauschen Wasser durch mein Erinnern, tief, dunkel, unabsehbar, weit, und mir ist, als werfe ich Steine hinein, werfe Steine hinein, als prügelte ich die Wasser in Gram und Trauer und leidenschaftlichem Schmerz, weil sie mir nicht sagen, was das sei, das Sterben und der Tod der Menschen, obwohl sie es mit dem ewigen Auftauchen und Verschwinden der Wellen doch wissen müssen. Das Rauschen wie von allen Wäldern der Erde ist um mich. Wein Vater und meine Mutter gehen mit vergällten, mißmutigen Gesichtern durch das Dunkel, und die enttäuschte Bitterkeit auf dem Antlitz meiner Eltern erhellt und sänftigt sich auch nicht bei dem Gesang und Klang der Glocken, der zuletzt hallend einsetzt.

Aber dann reißen die Schleier wieder, die die Vorgänge dieser wichtigen drei Tage meinen Blicken entziehen, und ich sehe mich als Letzter in jenem kleinen Schwarm der Grabbegleitung auf dem Grenzwege unserem Hof zustreben, der an dem Traueressen bei uns teilnehmen sollte. Der Sintlingerbauer und seine Ehehälfte waren unter ihnen, der kleine, zierliche und doch wie stählerne Mann mit seinem spielenden Gange, und die etwas größere, stille, ich muß schon sagen wohllautende, blonde Frau, die gar nicht miteinander verheiratet aussahen. Und doch merkte ich, daß sie wie durch ein Wunder zusammengehörten, und arbeitete mich durch die Menschen hindurch, um zu sehen, wie sie das machten, so fern und zugleich himmlisch einträglich miteinander hinzugehen. Ehe ich aber zu ihnen gelangen konnte, waren sie gerade an der kleinen Brücke angelangt, die vom Grenzwege über den Graben zu unserem Hofe hinführte. Da mögen sie wohl ein wenig gestutzt haben, ob sie in das Haus ihres Widersachers gehen oder zu ihrem Gehöft hinaufsteigen sollten. Deswegen ballte sich der Schwarm vor dem Brücklein und kam einen Augenblick nicht vorwärts, bis mein Vater, der, allen voran, schon auf dem halben Hügel stand, ihnen mit seiner klobigen Stimme etwas Freundliches zurief. Darauf sah ich das Gesicht des Sintlingers sich erhellen, er ergriff die Hand seines Weibes und zog sie sanft sich nach über die Brücke.

Das war noch niemals geschehen, weder daß ein Sintlingerscher unseren, noch daß ein Brindeisenerscher ihren Hof betreten hätte, und ich war von der Tatsache, der verhaßte Nachbar mit seiner Frau komme unter unser Dach, wie von der Sicherheit betroffen, heute müsse etwas ganz Ungeheures geschehen. Der Schwarm schob sich langsam über den Hügel hinauf und verschwand unter unserem Hoftor. Ich aber setzte mich auf das niedrige Brückenmäuerlein, baumelte mit den Beinen und sah auf den schmalen Wasserfaden, der sich lautlos unter mir durch das bunte Herbstlaub hinwand. Ich wollte herausbekommen, was sich heute ereignen würde. Vielleicht erschlug mein Vater den Sintlinger, oder er warf ihn aus dem Fenster auf den gepflasterten Hof, daß er mit gebrochenen Beinen und blutend liegenblieb. Denn ich kannte die fast tierische Wut meines Vaters. Oder wenigstens fing er Streit an und prügelte ihn den Hügel hinunter, über die Brücke. Und wenn das geschah, war ich auch mit zerschlagen und vertrieben. Alles war aus, und ich mußte fortlaufen zu Mathinka Meixner, muhte sie aus dem Hause in der Fremde holen und mich wieder mit ihr an ein stilles Wasser legen, und das tote Gesicht mit den starren Augen bliebe zeitlebens an mir, weil ich ihr selber dann die Röcke über die Beine streifen mußte. Die Einbildungen packten mich so furchthaft, daß ich von meinem Mäuerlein sprang und in gestrecktem Galopp den Hofhügel hinausjagte, um mich durch den Augenschein zu überzeugen, wie weit in der Trauerstube das Unheil schon gediehen sei. Der Raum für die Schmerzgasterei lag in einem, hinten nach dem Garten zu ausspringenden Anbau und war mehr als eine Stube, schon fast ein kleines, wenn auch niedriges Sälchen. Seine Tür stand auf, und statt des gefürchteten Geschreies und wilden Tumultes hörte ich geruhiges, dielstimmiges Geplauder. Das löste mein krampfhaft schlagendes Herz, und als ich gar, noch ein wenig beklommen, unter die Tür trat, erblickte ich all die schwarzen Gäste in einer fast aufgeräumten Geselligkeit an den beiden langen Tafeln sitzen und tapfer essen, rechts die Frauen, links die Männer. Meinem Vater gegenüber saß der Sintlingerbauer und wippte eben spielend ein Messer mit Zeigefinger und Daumen, während er heiteren Gesichtes mit seiner hohen, entschiedenen Stimme offenbar etwas zu allen sprach, denn er wendete sich dabei bald nach rechts, bald nach links. Und als er geendet hatte, glitt über die Gesichter all der Männer ein beifälliges Schmunzeln. Nein Vater aber zog sich die Weste über den Leib herunter und dröhnte mit essenvollem Munde ein heiter-böses Lächeln heraus, dann hieb er das Messer mit dem Stielende auf den Tisch und schrie: ›Ja, ja, der Sintlinger ist ein geriebener Hund.‹; Die Sintlingerbäuerin hob bei diesem fröhlichen Ausbruch auf der Männerseite ihren leicht gesenkten Kopf und blickte, mit einem gütigen Lächeln auf dem sanften Gesicht, zu ihrem Mann hinüber, der ihr in achtsamer Heiterkeit zunickte. Dann lief die Unterhaltung auf jeder Seite wieder ihren besonderen Weg. Die Sintlingerin neigte den Kopf über den Teller, und das Herbstlicht wob aus ihrem blonden Haar einen goldigen Schimmer um ihren Scheitel.

Als ich dies gesehen hatte, sank das Bangen ganz aus meiner Brust, und in meiner leidenschaftlichen Art schlug alles Finstere in glückhaftes Frohlocken um. Ich hatte des Sintlingers Heiterkeit über die Männer triumphieren sehen, und seine Frau hatte wie ein lichtes, stilles Wunder unter den Weibern gesessen. Das konnte doch kein Unglück geben.

Da mußte doch alles gut werden in unserem Hofe, und der Tod meiner Schwester erschien mir gar wie ein Segen, und während ich drunten in der Wohnstube an einem Eckchen des großen Tisches meinen Teil an dem Trauermahl nicht aß, sondern verschlang, gaukelten überschwengliche Hoffnungen um mich, und immer wieder stand ich reißend auf, lief ans Fenster und sah über den Hübel hinunter und zu dem Sintlingerhof hinüber. Denn um das Glück vollzumachen, das uns widerfahren war, fehlte noch eins, das Lenlein, der Engel, das blinde Mädchen von drüben.

Nachdem ich dies Aufspringen und Niedersitzen, dies Hinausgieren und Inmichversinken eine Weile getrieben hatte, litt es mich nicht mehr in der Stube. Ich ließ meinen Teller halb geleert stehen, lief hinaus in den Garten, kletterte auf das Brunnendächlein unter einem weitästigen Apfelbaum und begann in die goldblättrige, übersonnte Krone hinauf inbrünstig alle Lieder zu singen, die ich das Sintlingerlenlein je hatte singen hören. Denn nur so glaubte ich, das begehrte Mädchen herüber auf unseren Hof, nein, zu mir locken zu können.

Alle Knabenbrunst war aus mir geschwunden, so als sei nie mein Inneres von ihr befleckt und verdunkelt worden. Wissen Sie, es strahlte geradezu in mir. Ja, wahrhaftig, wie eine Fontäne aus Licht und Feuer fuhr der Gesang aus meinem Munde. Nie, niemals in meinem Leben bin ich in einer solchen überirdisch-seligen Sehnsucht gewesen. Die Angst um die Eltern, um meinen Bruder, um den ganzen Hof trieben mich immer in ein neues Lied. Weiße Wölkchen zogen langsam am hohen, blauen Herbsthimmel, und ich trieb auf meinen Liedern im Rausch fast religiöser Verzückung.

Aber immer noch ließ sich nichts auf dem Sintlingerhübel drüben sehen. Das Tor rührte sich nicht. Der Weg blieb leer. Da überkam es mich wie Angst und Erschöpfung. Ich ließ die Worte fahren und sang nur noch den Namen des ersehnten Mädchens nach der Melodie des Liedes. ›Komm, Sintlingerlenlein‹;, sang ich, ›komm zu uns herüber auf den Hof. Ich geh nicht mehr mit der Mathinka ans Wasser. Ich habe wieder lebendige Augen. Lenlein, komm herüber.‹;

Und da ich meine Augen wieder aus dem Himmel sinken ließ, geschah das Wunder. Das Türlein des Sintlingerhofes ging auf, und das Mädchen kam sacht und vorsichtig den Hübel herunter. Mir stockte das Herz, und nun, nur immer ihren Namen singend, aber nicht mehr nach einem Liede, sondern bloß in furchtsamem Jubel, stieg ich von meinem Brunnendächlein und ging ihr entgegen. Nach meiner Stimme fand die Blinde den Weg. Auf unserem Brücklein wagte ich ihre Hand zu fassen und sie zu führen. So gingen wir schweigend, wie verzaubert an den ersten Bäumen des Gartens vorbei den Hügel hinauf. Ich, meiner Sinne nicht mächtig, in weißem Taumel. Sie war viel kleiner als ich und, obwohl sie vier Jahre jünger war, viel kleiner und Zierlicher auch wie sonst die neunjährigen Mädchen auf dem Lande. Ich sah ihre blonden Haare, ihre rätselhaften blauen Äugen, ihr schwebendes Gehen und wußte nicht mehr, wo ich war, und als sie die Beklemmung überwunden hatte und zu reden anfing, war es vollends um mich geschehen. Ich hörte gar nicht auf das, was sie sprach, sondern nur auf den Klang ihrer Stimme, gegen die die meine mir so grob und plump vorkam, daß ich anfangs gar wenig redete. Außerdem weiß ich kaum ein Wort von dem, was wir gesprochen haben. Denn auch die Ungerechtigkeiten, den Schimpf, den ich ihr, wenn auch wider mein Herz und erpreßt, aber doch immerhin angetan hatte, die unreinen Lüste, die Verirrung mit Mathinka Meixner, alles das, zu einem unübersehbaren Alp zusammengepreßt, bedrückte und verwirrte mich. Plötzlich verlangte sie, mich zu sehen, entzog sich meinen Fingern und streckte die Hände über sich nach mir hin. Da verstand ich erst, was sie meinte, und beugte mich zu ihr nieder. Und nun geschah etwas, das ich nicht anders als ein Wunder bezeichnen muß. Sie tastete mit ihren Fingern, die so zart waren, daß ich das Licht durch sie schimmern sah, über mein Gesicht. Davon ging ein Schauern von Seligkeit durch meinen ganzen Körper. Wie magisches Licht floß es aus ihren Fingerspitzen, ein unnennbarer Schleier. Der letzte Krampf der Starre von dem Erlebnis mit Kathinka Meixner am Wasser verlor sich jetzt vollkommen aus meinen Zügen, und ich sah auf geheimnisvolle, unbeschreibliche Weise mit einem inneren Schauen mein eigenes Gesicht, wie ich es noch nie gesehen hatte, schön und in Verklärung. Da fühlte ich mich wirklich erlöst von allem wilden Spuk der letzten finsteren Wochen und war so glücklich, daß ich am ganzen Leibe bebte. Indessen zwitscherte und plauderte das wunderbare Kind neben mir mit ihrem Vogelstimmchen, und ich führte sie weiter den Garten hinauf, richtig verzaubert, als ginge es nicht gegen den grämlichen Hof meines Vaters hin, sondern geradeswegs in den Himmel hinein.

Warum bin ich nicht damals gestorben? Vom Jubel erwürgt worden, der mir den Hals einschnürte, hingeschlagen, von den Lichträdern zermalmt worden, die vor meinen Blicken tanzten? Ja, müßige Menschenfragen! Die Krüge unseres Schicksals werden wohl schon vor unserer Geburt gefüllt, unsere Hände kommen schon an ihre Henkel angewachsen zur Welt, und was wir auch immer planen, wollen, suchen, alles läuft doch darauf hinaus, das Gift zu trinken, das uns gebraut worden ist.

Ich hatte damals vor, mit dem Lenlein an der Hand, in die Trauerstube zu gehen und vor allen Gästen meinem Vater und meiner Mutter um den Hals zu fallen. Ich, fast vierzehnjähriger Junge, verschlossen und eigenbrötlerisch bis dort hinaus! Daraus können Sie ersehen, wie aufgelöst, erschüttert ich war, wie meine Wellen zum Sprung in ein anderes Lebensbett ausholten.

Es sollte leider anders kommen.

Als ich mit dem Lenlein an der Hand bis zu dem Brunnen gekommen war, von dessen Dach ich eben gesungen halte, blieb ich ein wenig stehen, um zu überlegen, was ich sagen sollte, wenn ich nun mit dem Lenlein unter den vielen Leuten vor meinen Eltern stehen würde. Und während ich leidenschaftlich an den Worten herumraffte, die mein drängendes Herz mir auf die Zunge warf, hörte ich einen Tumult, ein Durcheinander von, wie mir schien, streitenden Männerstimmen durch die geöffneten Fenster der Trauerstube bringen und meinen Vater in Wut alle überschreien. ›Daraus wird nichts. Verflucht, nein! Über Brederode wird die Straße nicht gebaut. Hiergeblieben, Sintlinger‹;, brüllte er. Nun war das Unheimliche da. Ich sah ihn in meiner Einbildung auf den kleinen Bauern stürzen, ihn packen, zum Fenster emporheben, um ihn hinaus auf das Pflaster des Hofes zu schmettern. Alles, was mir meine aufgestörte Phantasie vor ein paar Stunden Furchtbares vorgegaukelt hatte, sah ich erfüllt. Das Lenlein hatte meine Hand fahren lassen und fragte, das Gesicht wendend, was das für ein Geschrei in unserem Hofe sei. Ich aber, um sie von dem Horchen abzubringen, hob sie in die Höh', drehte mich mit schreiend lustigem Singen ein paarmal um mich selbst, als tanze ich, stellte sie wieder hin und sagte ihr, sie solle nur auf mich hören, ich wolle ein wildes Pferd sein. Und in meiner Seelenangst begann ich wie besessen durch den Garten zu jagen. Schlug toll mit den Absätzen auf, wieherte wie ein durchgehendes Roß und ahmte auch das Schreien des erregten Knechtes nach, dem es sich entrissen hatte. Und wirklich, das liebe Kind ließ sich von meiner Täuschung gefangennehmen, lachte überlaut, klatschte beglückt in die Hände und wurde von meiner Tollheit so angesteckt und hingerissen, daß sie ihre Blindheit vergaß. Laut rufend begann sie auf dem abschüssigen Abhang hinter mir herzulaufen. Und obwohl ich in meinem Rasen augenblicklich einhielt und ihr zurief, sofort stillzustehen, konnte ich das Unglück nicht mehr verhüten. Sie war ins Jagen gekommen, strauchelte auf dem unebenen Boden und fiel so schlimm, daß sie mit dem Kopf auf einen Stein schlug. Als ich hinzusprang, lag sie blaß und still, und das Blut floß ihr aus der Stirn. In meiner Angst drückte ich den Mund auf die Wunde, weil mir einfiel, man müsse eine Wunde aussaugen, um das Blut zu stillen und sie zu heilen. Ich sog und sog, hatte den Mund voll Blut, schlang es hinunter, besudelte mir das Gesicht und die Kleider, rief das Kind mit allen Kosenamen, rüttelte an ihr, hob sie auf und erreichte doch nichts. Sie öffnete die Augen nicht und hing schlaff und leichenblaß in meinen Händen. Da überfiel es mich, sie habe sich erschlagen, und ich sei schuld an ihrem Tode. Entsetzt ließ ich sie aus den Armen ins Gras gleiten, stürzte über den Hof, die Treppe hinauf, trat mit meinem blutigen Gesicht auf die Schwelle der Trauerstube, schrie hinein, daß das Lenlein tot im Garten liege, und lief dann zerstört wieder fort, von dem wahnsinnigen Gedanken beherrscht, ich habe das heilige Kind getötet, sei ein Mörder und müsse auch sterben.

Wie ich aus dem Wohnhaus gekommen bin, weiß ich nicht. Das Bewußtsein kehrte mir erst zurück, als ich auf den Bodenraum der Scheuer mich durch das Heu gegen das Dach hinaufarbeitete. Dort wollte ich mich verkriechen und verhungern. Diesen Entschluß riß ich in mich hinein wie ein Erstickender die Luft, dann überfiel mich der Schlaf wie ein Totschläger, drückte mir den Kopf rückwärts ins Heu, als bräche er mir das Genick, warf mein ganzes Innere wie Plunder durcheinander und stieß mich mit dem Fuß in ein finsteres, bodenloses Traumloch. Darin fiel und fiel ich, Stunden um Stunden. Der Abend kam, natürlich der Traumabend, ich fiel, die Nacht trat ein und spritzte Sterne durch die Luft. Ich fiel und fiel. Es war schrecklich. Als es Morgen wurde, fiel ich noch immer. Ich sah ein, daß das die ganze Ewigkeit so gehen würde, und verzweifelte bis zum Herzerfrieren. In diesem angstvollsten Augenblick hörte ich eine Stimme, steinweit entfernt, von der Erde her nach mir rufen. Sie klang ganz leise, durch die Ewigkeit fast lautlos gemacht. Es war die einzige Rettung in diesem rasenden Fallen. Ich riß mich zusammen und rief wieder. Da gab es einen Ruck. Die Fahrt stand. Erstaunt öffnete ich die Augen. Und als ich noch immer tiefe, schwarze Nacht um mich sah, ganz weit nur der lautlose Vorüberflug riesiger schwarzer Kugeln, da dachte ich, daß es vielleicht besser gewesen wäre, weiter zu fallen, als nun zwischen lauter erloschenen Planeten mitten im unendlichen Weltraum zu stehen und nicht zu wissen, wohin sich wenden. Und wie ich in meiner Ratlosigkeit mich umkehre, um auch nach einer anderen Richtung Ausschau zu halten, sehe ich ein Gesicht aus der Unendlichkeit, und zwar mit der Schnelligkeit eines Pfeiles auf mich zufliegen. Erst klein wie ein Punkt, im Nahen sich rasend schnell vergrößernd. Es war schrecklich. Ich schloß ergebungsvoll die Augen. Als ich sie wieder öffnete, stand es vor mir. Wenn ich meinen Arm hob, hätte ich es berühren können. Aber ich war wie gelähmt. Wir standen uns eine Weile gegenüber, und als das Wesen jetzt die Augen aufschlug, wußte ich, es war der Satan, der vor mir stand. Der Weltallssatan. Seine Blicke durchbohrten mich einen Blitz lang. Dann nickte er mir befehlend zu und verschwand. Dem war nicht zu entrinnen. Es rief von der unendlich fernen Erde wieder mit schwacher Stimme nach mir. Da ließ ich mich auf meine Hände nieder und begann auf allen Vieren durch das Heu zurückzukriechen, kam an die Leiter, kletterte hinunter auf die Tenne, ging über den dämmerigen Hof und trat in die Stube meiner Eltern. Mein Vater saß am Ofen, den Kopf gesenkt, die Beine auseinander geworfen, die Hände geballt, wie zwei unförmliche Steine, zwischen den gespreizten Knien hängend. Er saß da in der Gebärde höchster Wut. Ich war noch im Traum und wach, noch im Weltraum und wieder auf der Erde. Als mein Vater jetzt den Kopf hob und mich ansah, trug sein Gesicht die Züge des Satans, der eben aus der Weltunendlichkeit auf mich zugesaust war, so grauenhaft, so entsetzlich sah mein Vater aus, daß ich in Bestürzung wohl das Wort Teufel gestammelt haben muß. Denn nun donnerte er auf mich los:

›Jawohl, Teufel.‹; schrie er, ›hast recht, wenn du dich so nennst. Hund, verfluchter, könnt'st du auch sprechen. Den Sintlingerdarm umschmeißen. Meinetwegen. Ihn blutig schlagen. Warum nich? Die Luder verdienen's. Aber das Blut saufen. Da hört doch alles auf. Da muß sich eens ja schämen im ganzen Kreese und weiter 'naus.‹; Und nun strafte mich der Sinnlose, als wolle er mich wirklich erschlagen. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen und war glücklich, für das Lenlein sterben zu können. Mit ihrem Namen auf den Lippen verlor ich die Besinnung, als mich mein Vater von der Diele aufhob und zwischen Ofen und Schrank wie ein Bündel Lumpen in den Winkel warf.

Für tot, aus vielen Wunden blutend, hat mich meine Mutter den Händen des Wütenden entrissen und in mein Bett auf den Boden getragen.

Das Sintlingermädchen hatte natürlich nicht das von mir befürchtete Schicksal erlitten. Das zarte Kind war durch den Sturz in unserem Garten in eine tiefe Ohnmacht verfallen, unter der Aufregung des ganzen Trauergeleites von ihrer erschreckten Mutter nach Hause getragen worden und hat dann länger im Fieber gelegen, als die ungefährliche Stirnwunde es notwendig machte, wohl weil ihr reizbares Gemüt von allerhand Angstvorstellungen beunruhigt worden ist.

Das erfuhr ich, nachdem ich mich von den vielen körperlichen Schäden durch die Züchtigung meines Vaters wieder erholt hatte. Es blieb mir auch nicht verborgen, daß meinen Vater weniger der Anfall des Lenleins zu diesen wilden Gewalttätigkeiten gegen mich getrieben hatte, sondern die Niederlage in einem Streit um die Führung einer Straße nach dem Rhein. Es handelte sich um eine Niederlage, die ihm der überlegene Sintlingerbauer so vollkommen und doch mit solchen Mitteln gütiger Weisheit beigebracht hatte, daß mein Vater dem allgemeinen Gelächter auch seiner Freunde verfallen wäre, wenn er sich gegen den verhaßten Überwinder zu ungezügelten Ausbrüchen hätte hinreißen lassen. Dies mühsam unterdrückte Schnauben seiner ungebändigten Natur hatte sich gegen mich entladen.

Die Folgen für mein Leben, für mein Wesen waren furchtbar. Noch jetzt, indem ich es, als eigentlich überfälliger Mann, erzähle, stockt mir das Herz. Ein Vulkanausbruch, der Asche, Feuerlohe und Lava über eine blühende Stadt wirft, war das barbarische Strafgericht des Vaters über mich gewesen. Alles, aber auch alles hatte es in mir verschüttet: meine himmlische Liebe zu dem Lenlein, meine Gier nach Mathinka Meixner und die Angst vor ihrer sündigen Schönheit, meine Sorge um mein und der Eltern Glück. Alles war aus mir gebrannt, verschwunden. Ich war eine stumm gewordene Geige. Was ich sonst gefürchtet, ersehnt, wonach ich gebangt, wovon ich geträumt hatte, das lag so weit zurück, daß ich mich seiner kaum mehr erinnerte. Man kann erschlagen werden und dennoch weiterleben. Das habe ich damals das erstemal aufs tiefste erfahren.

Auf einen Vorfall erinnere ich mich ganz genau, der für meinen damaligen Zustand bezeichnend ist. Nachdem ich aus dem Delirium und Fieber erwacht war, lag ich Tage um Tage, fragte nach nichts, sah kaum meine Mutter an, die mich pflegte, dachte nichts, fühlte nichts, sondern starrte nur immer auf die Bretterwand der Kammer, an der das Licht des Fensters nach den Tageszeiten auf und nieder rückte, kam und schwand, zählte die dunklen Astflecken und betrachtete die Maserung des altersgelben Holzes. Nach wieviel Tagen weiß ich nicht, hörte ich am Fenster hinter mir etwas leise rascheln. Als ich den Kopf zurückwandte, sah ich einen Schmetterling, ein spät ausgekrochenes Pfauenauge, leidenschaftlich gegen das Glas fliegen, um in das Herbstlicht zu kommen, das noch einmal warm und verklärt draußen aufgewacht war. Ich stand auf, fing das sehnsüchtige schöne Wesen, zerdrückte ihm den Kopf und warf es hinaus. Dann legte ich mich nieder. Es würgte mich im Halse. Die Augen wurden mir feucht. Aber ich lächelte, kehrte mich gegen die Wand und schloß die Augen.

So zugerichtet, verließ ich endlich das Bett. Als ich die Treppe herabkam, sah ich meinen Vater vom Hofe her in die große Wohnstube gehen, wohin ich auch wollte, und wurde von einem solchen Widerwillen befallen, daß ich kehrtmachte und auf den oberen Flur zurückging. Meine Mutter aber rief dringend und herzlich nach mir. Ich überwand mich und stieg zögernden Schrittes die Treppe wieder hinunter. In der Stube redete die Mutter heftig auf den Vater ein, der mit schweren Stiefeln auf und nieder ging. Als ich die Tür öffnete, brach der Redestrom meiner Mutter ab, der Vater hielt im Gehen inne, drehte sich nach mir um, verfärbte sich bei meinem Anblick und sah dann zum Fenster hinaus. Mir war es, als sei ich in der Stube vollkommen fremder Leute, setzte mich an den Tisch und duldete es mit einem förmlichen Lächeln, daß mich meine Mutter bediente, mir ein Essen auftrug, mich zum Zulangen nötigte, kurz, alles tat, um durch Gesprächigkeit und liebevolles Wesen über dieses erste Zusammentreffen mit meinem Vater hinwegzukommen, der sich in der ganzen Zeit meines Krankseins nicht an meinem Bett hatte sehen lassen. Ich brachte kaum ein Wort hervor und kaum einen Bissen hinunter. Endlich überwand sich mein Vater, gab sich einen Ruck vom Fenster weg, trat mit zwei langen Schritten mitten in die Stube, spuckte laut aus und maß mich dann mit einem zornigen Blick. Aber ich duckte mich nicht, legte Messer und Gabel hin und sah ihm kalt, entschlossen, fast geringschätzig mitten in sein zuckendes, zusammengezogenes Gesicht, lachte sogar auf und langte dann wieder nach Gabel und Messer. Meiner Mutter wurden bei diesem stummen Zweikampf zwischen mir und meinem Vater die Knie schwach, sie mußte sich auf die Ofenbank setzen und wand, mich bittend, die Hände hinter dem Rücken meines Vaters, dessen Jähzorn jeden Augenblick von neuem losbrechen konnte. Mir schlug auch das Herz. Denn ich sah schon die beiden Wülste über der Nasenwurzel im Gesicht meines Vaters anschwellen und rot werden. Aber ich wäre eher gestorben, auf der Stelle, ehe ich nachgegeben hätte. Darum legte ich laut Messer und Gabel wieder hin, schob meine Haare über die Stirn und zeigte lächelnd die tiefe Kopfwunde, die ich mir beim Wurf gegen den Schrank geschlagen hatte, so, als sagte ich: Wenn du mir den Schädel vollends spalten willst, tu es immerhin.

Das traf meinen Vater wie ein unerwarteter Hieb. Seine schon heraufschnarchende Wut blieb ihm im Halse stecken. Er deckte sich die Hand über die Augen, nickte gegen die Erde hin und brachte dann mühsam fast etwas wie eine Entschuldigung heraus: ›Na ja ... hast recht,‹; sagte er dumpf und bedrückt, ›freilich – – aber, na ... gut! ... Alle! ... Vorbei! – Sie is ja nich tot, wie das gratschlige Weib von drüben gegillt hat. Ein tummes Vornehmgetue war's bloß von dem Pack! – Haha! – Na, und dir schmeckt's ja auch schon wieder, Junge. Das is recht. Los, iß, iß! Und wegen dem anderen, da geht der Wind wieder!‹;

Nachdem er sich so unrecht gegeben hatte, trat er erleichtert auf mich zu und legte mir herzlich lachend die Hand auf den Kopf, eine Liebkosung, die ich noch nie in meinem Leben erfahren hatte. Aber alle Feuer vom Herzen her waren in mir erloschen. Die Berührung meines Vaters wirkte unangenehm. Ich griff hinauf und zog seine Hand weg. Ich tat, wozu mich eine Art eisige Abneigung drängte, ohne zu bedenken, daß mich dieser wilde Mann dafür wahrscheinlich mit einem Hieb neben die Bank schmettern würde, auf der ich saß.

Und es funkte auch richtig ein mordstolles Aufblitzen durch sein eisernes Gesicht. Allein er bezwang sich und fragte mit einem Beben in der dumpfen Stimme:

›So?‹;

Ich neigte den Kopf und sagte ein entschlossenes, kaltes ›Ja‹;.

Da kroch ein graues, stumpfes Häutchen über seine Augen. Es kam ihm wohl dumpf zum Bewußtsein, daß er nach Amalie ein zweites Kind verloren hatte, fuhr sich mit der Rechten an den Mund, murmelte etwas Unverständliches zwischen den Fingern heraus und ging dann langsam, überlegend der Tür zu. Vor dem Hinausgehen lachte er zwar in einem höhnischen Stoß auf, konnte aber damit nichts an der Tatsache ändern, daß er mir unterlegen war. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, stand selbst die Luft wie abgeschlagen, gleichsam vor Entsetzen erstarrt, in der Stube. Meine Mutter saß regungslos auf der Ofenbank. Mir war zumute wie nach einem halsbrecherischen Sprung, voll eines verzweifelten Siegergefühls und finsterlich betäubt in einem, und ich wagte eine Weile nicht, den Blick vom Boden loszureißen, wo er wie angenagelt hing. Das schluchzende Atmen einer alten Brust hob mir endlich den Kopf. Da sah ich meine Mutter, nicht eigentlich lebendig, sondern eher eine Steinfigur, gereckt und leblos, auf dem Bänklein am Ofen sitzen, die Hände im Schoß verkrampft gefaltet und ihr zu Tode erblaßtes Gesicht regungslos

auf mich gerichtet, in einem solchen fassungslosen Grauen, als sei sie eben Zeugin des Furchtbarsten gewesen, was sich denken läßt, und das alte Haus knirschte schon in allen Fugen, deswegen einzustürzen und uns unter seinen Trümmern zu begraben. Denn die feindselige Auflehnung eines Kindes gegen seinen Vater ist ja auch eine widernatürliche Umkehrung der ganzen Welt. Freilich. Aber dieser Mann, der, ohne einen anderen Grund als den seines Jähzorns, mich in die Krankenkissen hineingeprügelt hatte, war wie eine endlose Folter auch über ihr gewesen, bis ihr Leben, aus allen Gelenken des Frohsinns gerissen, um alle gnadenvollen Träume der Güte gebracht, ausgedorrt, hoffnungslos, eine grämliche Arbeitsmaschine wie er geworden war. Wie ein giftiger Meltau auch hatte das Wesen dieses unseligen Mannes ihre Jahre verkümmert und zerfressen. Das alles lasen meine Blicke aus der Haltung ihres gereckten, abgearbeiteten Körpers, ihres fahlen, verblichenen Gesichtes und den weit geöffneten unbeweglichen Augen, aus denen fortwährend ein Strom stummer, zäher Tränen quoll, durch die Furchen ihrer Wangen rann und in dem rauhen Wollzeug der Jacke sich verlief.

Und dennoch brach aus dieser mißhandelten Frau auf eine unaussprechliche Weise zugleich der Stolz der Mutter, daß einer es gewagt hatte, dem Peiniger aller das Knie auf die Brust zu drücken, und daß es gerade ich, ihr Jüngster, gewesen war, der sich aus der letzten erlöschenden Inbrunst ihres Herzens losgerungen hatte. Auf diese Weise hatte die Unterjochte doch noch gesiegt. Darum auch klang der Vorwurf, zu dem sie sich endlich aus dem Erstarren des Schreckens aufraffte, in seinem Beben fast wie furchtsamer Jubel:

›Peter, aber was hast du denn gemacht!?‹;

In diesem Augenblick sprang alles fix und fertig in mein Hirn, was sich in den Tagen meiner Krankheit zusammengebraut hatte, während ich gedanken- und gefühlslos im Bett lag und auf das Holz meiner Kammerwand starrte.

›Jawohl,‹; sprach ich, plötzlich im Grellen und Klaren, ›ich muß fort, ich darf nicht mehr hier auf dem Hofe bleiben, sonst gehe ich zugrunde.‹; Und so schnellte ich in der Erschütterung von meinem Sitze auf.

Meine Mutter war im Schreck auch aufgesprungen, kehrte aber mit abgeschlagenen Schritten wieder auf die Ofenbank zurück, ließ sich auf den Sitz fallen und brach in den ratlosen Ausruf aus:

›Aber, Junge, wie willst du denn das machen, das »Fort vom Hofe«? Das geht doch nicht.‹;

Da setzte ich ihr kühl auseinander, daß ich beim Hemsterhuser Pfarrer und, wenn es nötig sein sollte, auch beim Kantor Pfeiffer den Winter über Stunden nehmen wolle, um zu Ostern in eine höhere Klasse des Gymnasiums zu kommen. Ich würde das schon machen, da könnten sie sich auf mich verlassen. Aber zu Ostern spätestens müsse ich aus dem Hause. Ich

wolle studieren, ein Doktor werden, ein Gelehrter, irgend so was, was, wisse ich noch nicht. Das sei auch jetzt noch nicht nötig zu wissen. Denn bis dahin dauerte es doch noch Jahre. Diesen Entschluß solle sie dem Vater sagen und für seine Einwilligung sorgen. Wenn er sich weigere, dann liefe ich einfach bei Nacht und Nebel fort. Wohin, sei ganz egal. Ich müsse fort von hier, oder ich stürbe lieber auf dem Fleck, wo ich sitze. And wenn mich der Vater totschlagen wolle, gut, so solle er es machen. Aber zu ändern sei bei mir nichts mehr.

Das alles hatte ich kurz, klar, lieblos, mit der ganzen Brindeisenerschen verwogenen Entschlossenheit gesprochen, und als ich jetzt, vor Erregung bebend, meinen Blick nach dem Ofen lenkte, um mich von dem Erfolg meiner Worte zu überzeugen, saß meine Mutter betäubt, eingesunken dort, als ob ich sie mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen habe. Ihr Gesicht war verschrumpft wie das einer Siebzigjährigen. So sah sie unbeweglich mit weiten Augen nur immer auf einen Fleck der Diele.

Zuletzt dauerte mir das zu lange. Ich räusperte mich und stand auf.

Da kehrte ihr zersprengtes Bewußtsein zurück.

›Ja, ja‹;, sagte sie tonlos nach dem gleichen Fleck der Diele hin.

Dann wandte sie mir ihr Gesicht zu und betrachtete mich verwundert, als sähe sie mich das erstemal im Leben.

›So, so‹;, sagte sie darauf. ›Na ja. Das is halt so mit den Menschen. Auch mit den Kindern. Wenn's fertig is, fällt's ein. Eins stirbt, eins will fort. Da is wohl nichts mehr zu machen. Du solltest eigentlich 's Gut kriegen. Nu rutscht's anders. Na, lieber Junge, eh du stirbst, gehst du eben. Und wehrt sich der Vater, gehn wir zusammen. Daß du's weißt, Peter ... du ...‹;

Da versagte ihr die Stimme, sie schluchzte auf und breitete verlangend die Arme nach mir aus.

Überwältigt, als wäre mein Herz jäh in die Sonnenglut hinaufgeworfen, sprang ich von der Bank in die Höh', um mich an ihre Brust zu stürzen.

Allein es sollte zu dieser innigsten Vereinigung zwischen mir und meiner Mutter nicht kommen, die alle Schatten um sie weggeschmolzen hätte. Denn kaum, daß ich im Flug meiner Erschütterung mit ein paar springenden Schlitten in der Mitte der Stube angekommen war und die Mutter mir schon glücklich entgegensank, polterten des Vaters schwere Schritte vom Hofe herein in den Flur und waren so eilig an der Tür, daß ich nur die Spitzen ihrer Finger fassen konnte und dann so schnell dem Ausgange zuschreiten mußte, daß ich meinem Vater fast auf den Leib prellte, als er die Tür aufriß und mit mißtrauischen Augen die Stube überflog, als wittere er nach der Luft eines Komplotts. Aber meine Mutter war in die Nebenstube verschwunden und wirtschaftete dort auffallend laut mit hölzernem Gerät. Ich schlüpfte eilig an ihm vorüber in den Flur hinaus, und als ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, stand ich mit hochatmender Brust und überlegte, ob ich nicht versuche, durch die Geschirrkammer in die Nebenstube zu meiner Mutter zu kommen, oder ob ich warte, bis es ihr gelinge, sich zu mir herauszuschleichen.

Ich trat auf die Haustürschwelle und schaute mit zerflossenen Blicken über den Hof, ohne etwas zu sehen, noch ganz benommen von dem seligen Wirbel, in den mich der ungewöhnliche Liebesausbruch meiner Mutter hinaufgeschleudert hatte. Da unterlag ich einer geheimnisvollen Berückung. Es war mir auf einmal gewiß, daß sich jemand von draußen her unserem Hoftor nähere. Obwohl keine Schritte zu vernehmen waren, wendete ich doch meine Augen dorthin. Der Querbalken rührte sich nicht, das Tor blieb geschlossen, und dennoch auf eine unaussprechliche Weise tat es sich weit auf, und ein Unsichtbarer betrat unseren Hof, nicht wahrnehmbar, aber finster, Luft und doch unwiderstehlich, so geschah das Unbegreifliche, daß ich, wie benommen von einem schweren Traum, zusammenschauerte und in das Haus zurücktreten wollte, weil ich glaubte, mich dadurch vor dem Unheimlichen zu retten. Aber meine Füße waren schwer, wie an die Schwelle genagelt, ehe ich sie wenden konnte, streifte es kühl an mir vorüber, ein Schatten und doch kein Schatten, ein Wesen, wahrhaft ein Wesen und doch nicht wahrzunehmen, streifte an mir vorüber und verließ den Hof nach der entgegengesetzten Seite hin durch das Hintere Pförtchen, ohne es zu bewegen.

Ich aber unterlag der Nötigung des traumhaften Zustandes, in den ich versetzt worden war, so vollkommen, daß ich ohne Widerstand, ohne zu denken oder etwas zu erwarten dem Rätselhaften folgte und durch eben das Beipförtchen aus dem Hofe trat, durch das es hinausgeschwunden war. Eine Magd und mein älterer Bruder waren damit beschäftigt, auf dem ersten Acker hinter dem Hofe Rüben einzumieten. Eben als ich geräuschlos das Türchen hinter mir hatte zusinken lassen, bückte sich die Magd, um das Grabscheit in den losen Boden zu stoßen, dabei schoben sich die heraufgewulsteten Röcke des Mädchens weit über die Kniekehlen hinauf. In diesem Augenblick warf mein Bruder seine Schaufel weg und geriet von hinten in geiler Weise über das nichtsahnende Mädchen. Er lachte brünstig auf, es entstand ein Wirbel, die Magd schlug und wehrte sich.

In mir aber fiel der selige Schimmer von dem Liebesausbruch meiner Mutter jäh zusammen, wie wenn man mit Prügeln ein Feuer einhaut, und ich war wieder der zerstörte Knabe, der von seinem Vater aus seiner Jugend hinausgeprügelt worden war, kühl, voll Lebensgrauen, innerlich alles niedergetreten, mit Ausnahme der eisigen Raserei meiner Sehnsucht nach Flucht aus dem Elternhause.

Durch den nahen Wald lief leise, wie äffend, das Echo des geilen Gelächters meines Bruders, gespenstisch forthuschend, als rühre es nicht von seiner, sondern von der Stimme des unsichtbar Finsteren, der mich aus meinem schönen Aufblühen hierhergelockt hatte, um es auszublasen.

Ich fühlte plötzlich, daß es sehr kalt sei. Ich fror nicht nur bis ins Herz, nein, bis in die Knochen hinein und schlich auf den Zehen mit zitternden Knien die Treppen hinauf in meine Bodenkammer. Als ich ihre Tür aufgemacht hatte und in dem dämmerigen Licht des todeinsamen Raumes mit zwei Schritten bis an mein Lager getreten war, überkam mich eine solche Geborgenheit in meiner Lebensverzweiflung, daß ich die Kraft verlor, aufrecht stehenzubleiben, und auf mein Lager sank. Dort streckte ich mich steif, wie zum Sterben, aus, zog die Decke bis zum Halse herauf und hatte bald die grauenvolle, aber unendlich beglückende Empfindung, daß sich mein Körper in seiner Gestalt auflöse, bis auf ein einziges Bestreben, sich in die Länge auszudehnen. Er wuchs nach unten und oben. Mein Kopf rückte durch das Dach in die Luft hinaus, meine Beine streckten sich langsam bis zur Tür und dann weiter, unaufhaltsam in den finsteren Bodengang hinaus. Und während dieser Spuk an mir geschah, erhob sich lautlos aus dem leeren Bett meiner gestorbenen Schwester der Tod, trat an mein Bett und sah mit zufriedenem Grinsen diesem unhemmbaren Wachstum meiner Auflösung zu. Dabei strömte aus seinem Munde ein Sausen wie das Geräusch einer wolkenfernen Luftmaschine.

Eh mein Bewußtsein völlig unterging, nahm ich meine ganze Kraft zusammen und schrie, so laut ich konnte: ›Ich bin Peter Brindeisener.‹; Dann fiel ich im Leeren vollkommen auseinander.«

*


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