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Der Erzähler versank in Schweigen, das so plötzlich einsetzte, als sei er vor etwas erschrocken. Ich sah nach ihm hin, konnte ihn aber nicht erkennen. Denn es war vollkommen finster geworden, sicher schon tief in der Nacht. Der Orion stand als greller Lichtstrich in dem klaren Nachthimmel. Dann und wann zuckte es durch seine Sterne, und ich erhob mich, um zwischen den Baumstämmen hin das Zittern ihres Lichtes auf dem regungslosen Spiegel des schlafenden Tolketeiches zu erspähen.

»Bleiben Sie sitzen!« rief ängstlich flüsternd der Buchhalter. »Um Gottes willen, rühren Sie sich nicht!«

»Warum denn?« fragte ich leise. »Der Orion funkelt so unheimlich.«

»Setzen Sie sich«, mahnte er leise und so gepreßt, daß ich beim Niedersitzen mich nach ihm hinbeugte und mit ausgestrecktem Arm ihn zu ertasten suchte. Ich traf auch glücklich seine Hände, die wohl wie immer aufeinanderlagen, aber sich kalt und welk anfühlten und so leise bebten, als zittere das Zucken der Sterne in ihnen nach.

»Was ist Ihnen denn, Herr Brindeisener?« fragte ich besorgt.

Statt zu antworten, umschloß er mit seinen riesigen, bebenden Händen die meine und preßte sie leidenschaftlich; dabei hörte ich, wie er mit versagendem Atem nach Worten rang.

Indem begann die Uhr von Wirbnitz durch die sternklare Nacht zu schlagen, nicht wie eine Glocke tönt, sondern wie eine geisterhafte Stimme für sich etwas unnennbar Tiefes aus raumloser Ferne durch die Wipfel hereinsingt. Brindeisener hörte bei diesem Laut sofort auf, meine Hand zu drücken, und begann die singenden Schläge zu zählen, geradeso wie ich, aber geradeso in Gedanken, in sich hinein, und es ist sehr wohl möglich, daß er, ebenso wie ich, mit dem Hinterton seines aufgewühlten Wesens nach dem Rhythmus der Schläge traumhaft zugleich den letzten beschwörenden Ausruf wiederholte: »Ich – bin – Pe–ter Brind–ei–se–ner!«, bis mitten im letzten Wort, mit dem zwölften Schlage, das Getön aufhörte und eine Stille auf uns beide stürzte wie aus einem Riß durch die Welt, aus einer Schlucht heraus.

Brindeisener riß seine Hand schreckhaft an sich, sprang auf und starrte regungslos ins Finstere. Ich erhob mich auch, um gewahr zu werden, was seine Aufmerksamkeit so leidenschaftlich erregt habe. Ehe ich aber fragen konnte, was er sehe, wendete er sich und stürmte fluchtartig an mir vorbei, den Weg hin, auf dem ich gekommen war.

Ohne zu überlegen, folgte ich ihm.

»Kommen Sie schnell!« rief er zurück. »Schnell! Ich ertrage seine Nähe nicht, trotz meiner grauen Haare.«

Mit ein paar Sätzen war ich neben ihm.

»Was ist Ihnen denn, Herr Brindeisener?« fragte ich besorgt wieder.

»Schnell! Schnell!« antwortete er atemlos und drehte sich im Laufen immer wieder um. »Haben Sie ihn gesehn?«

»Nein!«

»Na gut. Da is ja gut. Freilich. Er hat keinen Fug an Sie. Freilich.«

In höchster Aufregung stotterte er das vor sich hin.

Vor ein paar Stunden, zu Anfang seiner Erzählung, hatte er das leise Stampfen ferner Kohlenschächte für die Schritte eines Menschen gehalten, der um den Tolkebusch ging und sich nicht zu uns hereinwagte. Vielleicht war diese halluzinatorische Täuschung wieder über ihn gekommen.

»Wovon reden Sie denn? Was denn? Wer denn?« fragte ich etwas unwillig und hatte Mühe, mit ihm gleichen Schritt zu halten. Statt aller Antwort faßte er meine Hand und zog mich hinter sich her.

Er kam von dem Wege ab und stürmte einen alten, abschüssigen Hohlweg hinunter, in dem überall große Steine lagen, stolperte fortwährend und drohte zu fallen, ließ aber meine Hand nicht fahren, sondern lief wie sinnlos hinunter in die Finsternis, die wie ein schwarzes Loch aussah. Wie leicht konnten wir in grubenunsicheres Terrain geraten und in einen der turmtiefen Spalte stürzen.

Ich packte ihn endlich mit beiden Händen und riß ihn zurück.

»Halt!« schrie ich aus Leibeskräften. »Sind Sie des Teufels. Brindeisener!«

Da kam er zur Besinnung und blieb stehen.

Und während er, den Atem sammelnd, sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte, machte ich ihn auf die Gefahr aufmerksam, der wir uns durch diesen sinn- und ziellosen Lauf ausgesetzt hätten. Er entgegnete kein Wort.

Auch als ich geendet hatte, stand er noch eine Weile mit grübelnd gesenktem Kopf da. Dann sagte er dumpf: »Na ja, ich weiß, wenn das Gestein in Bewegung ist, da nutzt das Einseilen nicht immer. Über Nacht reißt es von inwendig her auf. Und dann ist die Kutsche alle, wenn sie in so ein Loch gerät. Aber was wäre denn da auch weiter?« rief er höhnisch lachend und schlug die Hände zusammen.

»Erlauben Sie mal, Herr Brindeisener!!« begann ich erschrocken.

Doch er ließ mich nicht ausreden.

»Nein, nein, es ist gut so. Sie haben recht«, sprach er gesammelt. »Nach der Suppe ist die Mahlzeit nicht alle. Und das Diner, das ich angefangen habe aufzutischen, muß zu Ende gegessen werden. Kommen Sie, wir steigen wieder hinauf. Ich denke, er wird vorbeigeschwunden sein.«

Langsam und oft anhaltend, tappten wir uns den steilen Hohlweg wieder hinauf. Es war eine Luft um Brindeisener, als kehre er ungern zurück. Dennoch sprach er fortwährend, jetzt stehenbleibend, jetzt widerwillig einen Stein aus dem Wege stoßend und dann wieder vorsichtig, mit witternd erhobenem Gesicht bei langem, zaghaftem Ausschreiten. Er sprach wahllos, zwangsläufig, leise und hastig zu sich, zu mir, in die Nacht, zu niemand: »Ja, ja. – Trennungen muß es geben. Entweder ist die Seele der Schatten des Körpers oder umgekehrt, oder das Bewußtsein ist der Schatten meines Ichs ... oder ich bin der Schatten eines Dämons, der sich meines Leibes bemächtigt hat und mein Leben zu Handlungen mißbraucht, die kein Verstand ermessen kann. Oder, es wimmelt von Schatten um uns ... Ja, vielleicht spielen die Menschen immer auf zwei Bühnen zugleich, indem sie sich einbilden, einfach zu leben. Und auf der zweiten, unsichtbaren Bühne ereignet sich der eigentliche schicksalhafte Sinn ihres irdischen Tuns ... verborgen ... unterirdisch, wie die Menschen sagen ... und manchmal, in seltenen Augenblicken, reißt die unsichtbare Scheidewand zwischen Diesseits und Jenseits ... und der eigentliche Schicksalsakteur steht plötzlich vor uns, taucht auf und verschwindet, sieht uns an oder wandelt als Hauch vorüber, den nur unsere tiefste Seele erschauernd verspürt ... Ja, ja, mein junger Freund! ... so oder so ... Schatten! ... Schatten!! ... Weswegen geben wir uns Namen? Um uns nicht in diesem Wirbel abhanden zu kommen.«

Während er so redete, waren wir wieder auf der Höhe angekommen, von der aus in sanftem Absinken das Gelände sich nach dem Tolketeich hinunterdehnte. Allerdings hatten wir den Rücken der kleinen Bodenwelle an einer anderen Stelle erreicht. Den tiefsinnigen Worten Brindeiseners lauschend, hatte ich es verabsäumt, zur rechten Zeit von dem alten Holzabfuhrwege abzubiegen, und nun standen wir, weit nach rechts abgekommen, so nahe an der Grenze des Tolkebusches, daß der rote Schein der fürstlichen Kokerei unruhig in das Baumdunkel hereindämmerte.

Brindeisener schaute sich um, schüttelte mißbilligend den Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Aber das ist ja egal,« begann er darauf murmelnd, »wo wir sind. Ich will ja überhaupt nicht mehr irgendwohin auf der Erde.«

Dann bewegte er sich gegen den Ausgang des Wäldchens hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm einer alten Fichte. Vor uns dehnte sich die Mulde des nächtlichen Feldes, aus der auf einem Bodenknuppen ein einsamer Baum mit hohem Stamme und einer tellerflachen, breiten Krone stieg. Seine schwarze Silhouette zeichnete sich scharf gegen die eben grell auflohende Glut der Kokerei, und wir sahen deutlich, wie sich von dem Fuße des Baumes eine Gestalt erhob, einige Schritte von dem Stamme wegtat, als wolle sie ins Feld hinausschreiten, nach einigem Stutzen und Umherschauen aber wieder an den Baum zurückkehrte und sich dort niederkauerte, daß sie ganz in der Finsternis des Feldes verschwand.

»War das nicht eine weibliche Person?« fragte ich von dem nahen Baum her, an den ich mich gelehnt hatte.

»Ach, Sie Kind«, gab Brindeisener mit leichtem Auflachen zurück. »Wie sollte denn ein Weib oder ein Mädchen um Mitternacht hierherkommen? Das war er, verlassen Sie sich drauf, er, vor dem ich vorhin von der Bank am Teich geflohen bin. Derselbe Unheimliche, dessen Gesicht mich aus der Nacht des Heubodens in die Fäuste meines Vaters schreckte, der unsichtbar und doch zu fühlen, mir vorüberwehte, als ich unter der Wohnhaustür des väterlichen Hofes stand und mit aufgehendem Herzen nach der Liebe meiner Mutter verlangte. Ich kann das nicht zu Ende denken! Kommen Sie weg von da! Ich weiß, daß ich ihm nicht entrinnen kann. Aber wegwenden, dazu hab' ich die Kraft.«

Brindeisener verließ wirklich wieder seinen Baum und schritt langsam in den Busch zurück. Ich folgte ihm nicht gleich, sondern starrte angespannt nach dem einsamen Baum vor der fernen Glut, denn irgend etwas war in der Haltung des unbekannten Menschen gewesen, als er die wenigen Schritte vom Baum weg und wieder zurücktrat, was mich bestimmte, ihn nicht nur für ein weibliches Wesen, sondern geradezu für Wanda Methner zu halten, zu der ich am Abend auf dem Markte von Wirbnitz aus meiner hintersinnigen Leidenschaft gesprochen hatte.

Aber das war ja purer Wahnsinn, zu denken, das vornehme, spröde Mädchen könne die läppische Aufforderung eines ihr unbekannten Bankeleven, auf ihn zu warten, so ernst genommen haben, daß sie ihm nachgegangen sei und die ganze Nacht dort, nach ihm ausschauend, unter dem Baume lauere. Nach ihm, nach mir!

Mit einem Hohngelächter lief ich dem Buchhalter nach und konnte es doch nicht verhindern, daß mich dieser Gedanke wie ein seliger, ferner Blitz leise umnebelte.

»Lachen Sie nur, junger Freund,« sagte Brindeisener aus seinem Brüten heraus, als ich neben ihm angekommen war, »lachen Sie, wie über den Span eines alten Mannes. Ich weiß, was ich weiß, und vielleicht, wenn Sie meine Geschichte zu Ende gehört haben, vergeht auch Ihnen das Lachen.«

Ich wagte nicht über die Liebestorheit meines jungen Herzens zu sprechen, sondern sagte irgendeine liebenswürdige Lüge, um ihn in seiner Täuschung nicht zu stören, mein Gelächter stehe in Beziehung zu seinem Schicksalswahn.

Brindeisener hörte aber gar nicht auf meine gewundene, gedruckste Unwahrheit, denn er ging nicht darauf ein, sondern, von den Wirbeln seines Lebensschicksals angesogen, tastete er sich in die unterbrochene Erzählung zurück. Wie in einer leisen, trunkenen Benommenheit ging er, ohne auf Richtung und Weg zu merken, immer weiter in den Wald hinein, immer auf das tiefere Dunkel zu. Endlich, als auch der letzte Schimmer von der Glut der Koksöfen in der Finsternis der Hochstämme untergegangen war, griff er über dem Boden umher, bis er einen großen, alten Baumstumpf gefunden hatte, auf den er sich mit einem Seufzer der Erleichterung niederließ. Hatte er bisher vieldeutig und suchend, geradezu zusammenhanglos von Dingen geredet, die ich darum nicht behalten habe, so begann er nun nach einigem Sinnen mit gesenktem Kopf weiterzuerzählen. Freilich taumelte anfangs alles noch durcheinander.

Ich hatte nicht weit von ihm auf einem anderen Baumstumpf Platz genommen.

»Sehen Sie.« begann er mit dunkler, halblauter Stimme, »um das Dasein aller Menschen wölbt sich aus Träumen, Sehnsüchten, Ahnungen, seligen oder Laster-Versunkenheiten, aus lichten oder dunklen Hoffnungen, eine außerirdische Welt, ein Himmel oder eine Hölle, je nachdem, jedenfalls etwas wie eine magische Hohlkugel, die dem Tummelplatz unserer Erdenschicksale den eigentlichen tieferen Sinn gibt. Und alle Menschen brauchen diese außerirdische Unterkunft für ihr Leben. Ihr Wesen braucht ein Laster, eine Leidenschaft, einen Irrtum, eine Verzückung oder heiliges Außersichgeraten. Erst wenn sie irren, wissen sie, woran und wo und wer sie sind.

Sehen Sie, mir ist diese magische Hohlkugel in meinem dreizehnten Jahre zertrümmert worden, als mich mein Vater nach dem Begegnis mit dem Heiligen-Lenlein am Begräbnistage meiner Schwester fast bis in den Tob hinein mißhandelt hat.

Ich habe Ihnen vorhin gesagt, man kann erschlagen werden und dennoch weiterleben. Nur das eine war noch in mir: Fort aus dem Elternhause. Die Mutter hatte es fertiggebracht, meines Vaters Zustimmung zu erreichen. Es muß ihr leichter gelungen sein, als sie wohl selbst geglaubt hat. Vielleicht hat ihre weibliche Findigkeit sich seiner Feindseligkeit gegen die Sintlingerschen bedient, ihm die Aussicht auf einen studierenden Sohn als Gegentrumpf wider die Überheblichkeit der gehaßten Familie schmackhaft zu machen, vielleicht hat ihm auch meine böse, fast verächtliche Hartnäckigkeit eine gewisse, dumpfe Achtung, ja Furcht eingeflößt. Er bestand nur, zur Bemäntelung seiner Nachgiebigkeit, auf einer Prüfung meiner Kenntnisse durch den Kantor Liborius Pfeiffer, die der eitle, bigotte Schulmeister mit großem Pomp in Gegenwart meines Vaters vornahm. Ich kämpfte wie um mein Leben in dieser halben Stunde, weniger des Lehrers halber, der mich als seinen besten Schüler liebte, sondern wegen meines Vaters, der mit auseinander geworfenen Beinen, mit gewulsteter Stirn und einem höhnischen Grinsen in dem bartlosen Gesicht dieser Prüfung beiwohnte. Pfeiffer jagte mich durch alle Gebiete der beschränkten Gelehrsamkeit und stellte mir im Vertrauen auf meine Fähigkeit und nie versagende Gedächtniskraft allerhand verzwickte Fragen und Aufgaben, so daß mein Vater, der wenig von allem verstand, endlich mit der Faust bewundernd auf die Tischplatte hieb, verächtlich lachend aufstand und dem Kantor die Hand schüttelte. Ich stand blaß, bebend und mit zusammengezogenem Gesicht an der Tür und wartete auf die Entscheidung meines Vaters. Er kehrte sich mir zu, maß mich, enttäuscht und stolz zugleich, einige Augenblicke vom Kopf bis zu den Füßen und sagte dann zu Pfeiffer so, als gebe er ein mißratenes Stück Vieh weg: ›Na, Schulmeister, da nehmen Sie den Kerl und tun ihn hin, wo er hingehört.‹; Dann riß er die Fenster auf, als brauche er Luft zu seiner Beklemmung, und Pfeiffer winkte mir hinter seinem Rücken glücklich lächelnd zu, mich zu entfernen. Ich drückte geräuschlos die Tür hinter mir ein und lief an meiner Mutter vorbei, die gehorcht hatte. Hinter dem Hofe erwischte sie mich und streichelte mir mit zitternder Hand die Wange, und mir gedemütigten und entlassenen Knaben quoll auf eine Weile das verkrampfte Herz auf, daß sich meine Augen mit Tränen füllten. Wortlos fiel ich ihr um den Hals, schluchzte in einem Schrei auf und lief dann weiter den Berg hinauf in den Wald.

Als ich am Abend wieder in den Hof zurückkehrte, hatte ich die Erlebnisse des Nachmittags, einschließlich meines Herzaufblühens gegen die Mutter, vergessen. Nein, vergessen ist ein falscher Ausdruck. Ja, wie soll ich Ihnen das eigentlich klarmachen, diesen Zustand? Vielleicht so: Man wirft einen Stein von sich und behält das Gefühl seiner Wirklichkeit noch lange in der Hand. Nein, das geht nicht. Man läuft aus einer finstern Kammer, doch bloß dem Körper nach. Mit seinem Wesen bleibt man in der Kammer, in dem Dunkel und weiß nichts von sich. Man wird gerufen, antwortet, zieht sich aus, legt sich schlafen, steht auf, arbeitet, ja lacht sogar, ist gescheit, fleißig, alles, vielleicht genial ... und weiß doch eigentlich von sich nichts. Nein, es ist nicht zu sagen. Gegen meinen Vater fühlte ich nichts, gegen meine Mutter nichts. Die himmlische Liebe zum Lenlein war aus mir geschwunden. Die Höllenhitze zur Mathinka Meixner hatte sich verloren. Ich war nicht mehr Peter Brindeisener, der kühle Knabe mit dem zuckenden Herzen. Alles in und an mir war verwandelt. Wie ein Mensch die Verschollenheit seiner selbst sein kann.

Ich bereitete mich den Winter über durch Stunden beim Pfarrer und solche beim Kantor Pfeiffer von Hemsterhus auf die Untertertia des Gymnasiums vor und erregte durch meinen unheimlichen Fleiß und meine ungewöhnlichen Fähigkeiten geradezu die Besorgnis des Geistlichen, der hinter dieser vollkommenen Änderung meines Wesens vielleicht eine Krankheit witterte, eine unheilige Dämonie, eine Verirrung oder Besessenheit. Denn schon zu Ende des Februar war ich mit dem Pensum der Quarta fertig. Dabei machte mir nichts Schwierigkeit, aber auch nichts eigentliche Freude, und wenn er mich lobte, mußte ich nur lächeln. Pfeiffer mit seiner überspannten Verzückung kam mir wie ein Narr vor. Nur meinen Eltern, besonders meinem Vater gegenüber, genoß ich die Genugtuung über meine Fortschritte als Befriedigung einer verheimlichten Rachsucht. Je lauter mein Vater über mein ›Bücherfressen‹; mich verhöhnte, desto leidenschaftlicher gab ich mich meinem kalten Wissenshunger hin, und wenn ich überreizt, erschöpft, mit schwimmendem Hirn in meiner Kammer lag und vergeblich auf den Schlaf wartete, kam es wohl vor, daß ich unter der Qual dieses lasterhaften Fleißes aufstöhnte. Aber dann durfte ich nur an das besorgte Gesicht meiner Mutter, das mauloffene Staunen meines Bruders und die zornige Enttäuschung meines Vaters denken, und ich wühlte mich befriedigt in mein Kopfkissen, das freilich oft am Morgen feucht von Tränen war, die ich in trostlosen, vergessenen Träumen vergossen haben muß.

So rückte mit dem steigenden Frühjahr der Zeitpunkt meiner Abreise und die Übersiedelung auf das Gymnasium immer näher. Zwischen dem Kantor Pfeiffer und dem Pfarrer war über die Wahl des Ortes eine Meinungsverschiedenheit entstanden, die bei der heimlichen Gegensätzlichkeit dieser äußerlich so gut zusammenstimmenden Männer sich jeden Tag klärlicher anließ und zugleich jeden Tag unentwirrbarer wurde. Der zelotisch heiße Schulmeister wollte mich durchaus nach Münster haben, der Pfarrer konnte sich keinen geeigneteren Ort für meine Ausbildung als Wesel denken, weil er, dessen Vater noch Protestant gewesen war, in dieser Stadt seine gymnasiale Ausbildung erhalten hatte. Jeder stellte für seinen Plan immer neue Vorzüge heraus, ließ zwar immer dem anderen in christlicher Duldung äußerlich seine Meinung, aber nur, um sie immer aufs neue zu untergraben. Im tiefsten war es nichts als ein Rangstreit der Rechtgläubigkeit, der dieser kleinen Angelegenheit zwischen den beiden Männern eine verborgene Schärfe verlieh. Der hitzige, fast flagellantische Katholizismus des Kantors setzte sich wider die lebensheiligere Güte des Pfarrers, als sei es ein beklagenswerter Rückstand aus dem Ketzerwesen seines lutherischen Vaters, und beiden lag nach ihren Beteuerungen nur mein Lebens- und Seelenwohl am Herzen. Nun, die Niederlage des Pfarrers in diesem Streit blieb nicht aus und war eigentlich der Beginn der Unterjochung des lieben, alten Geistlichen durch das Wundfieber der fanatischen Religiosität des Schulmeisters, das später den jähen Tod des Pfarrers und eine wilde Bewegung in unserer Gegend im Gefolge hatte, die fast einem Aufruhr glich. Doch das vorerst nebenhin gesagt. Die Hauptsache, wegen der ich diese Partie nicht mit einem Wort abtun durfte, besteht in der merkwürdigen Wendung, daß ich die Entscheidung des Streites dieser beiden Männer zugeschoben erhielt und damit gleichsam mitverantwortlich für eine Bewegung wurde, die lange Zeit Hemsterhus und die ganze Gegend umwühlte und mein Leben in die Bahnen zwang, die mich in das Dunkel dieses Tolkebusches vor Sie, mein junger Freund, führten.

Die beiden Männer, da sie sich nicht einigen konnten und fürchten mußten, durch eine weitere Verzögerung der Entscheidung, meinem Vater einen willkommenen Anlaß zu bieten, seine Erlaubnis zu meinem Studium wieder zurückzuziehen, entschlossen sich, die Wahl des Ortes meinem Belieben anheimzustellen und sozusagen durch ein Gottesurteil die Schlichtung dieser Angelegenheit herbeizuführen. Denn sie hielten mich, trotz der Körperlänge und geistigen Entwicklung, für einen reinen, unverdorbenen Knaben. Also legte mir der Pfarrer nach einer geradezu glückhaft beendeten Lateinstunde die Frage vor, in welcher Stadt ich denn am liebsten die Schule besuchen möchte. Ich erinnere mich dieses frühjahrlichen Spätnachmittags so genau, als ob sich alles nicht vor Jahrzehnten, sondern gestern nachmittag ereignet hätte.

Wir saßen am Gartenfenster des geistlichen Studio. Ich hatte eben meine lateinische Übersetzung so fließend und fehlerlos, als lese ich Deutsches, heruntergeschnurrt, und der gute Herr Ardelt, so hieß der Pfarrer, war aus glückhafter Bestürzung über meine Leistung aufgesprungen und lief die Stube hin und her, mich dann und wann mit ungläubigem, fast entsetztem Gesicht anstarrend. Ich aber sah hinaus in den Garten, durch dessen märzgrüne Baumkronen der Spätschnee in dichten, besonnten Flocken fiel, und lächelte nach meiner damaligen Art gleichgültig vor mich hin.

›Ja, Peter, ich versteh' dich nicht‹;, rief er, fassungslos über mein unbewegtes, melancholisches Wesen.

›Weißt du denn nicht, was das bedeutet, das dir eben gelungen ist?‹;

Ich wendete mich herum und sah ihn mit großen, ruhigen Augen an.

Da lief er von meinen Blicken weg, zog nach kurzem Wählen einen Band des Livius heraus, schlug auf und befahl mir, zu übersetzen, was mir noch nie zu Gesicht gekommen war. Es war im dritten Buche die Stelle, die von der Freveltat des Appius Claudius gegen die Tochter des Virginius handelt. Ich las, wohl da und dort stockend und mich manchmal im Ausdruck vergreifend, doch im ganzen so sicher, daß der Pfarrer mir das Buch endlich wegzog, es auf das kleine Rauchtischchen nebenan legte, die Hände richtig erschüttert über seinem ansehnlichen Bäuchlein faltete und mich, wie etwas Unbegreifliches, ansah und wieder ansah und dann wortlos den Kopf wie über ein Wunder schüttelte.

Dann legte er in überquellender Hingerissenheit, mehr ein Vater als ein Lehrer, den Arm um meinen Nacken und bat mich förmlich um Entschuldigung, daß durch das Hin- und Herziehen zwischen ihm und Pfeiffer wegen der Wahl des Schulortes vielleicht eine Verdunkelung in mein Gemüt geworfen worden sei oder eine Störung meiner Geisteskräfte, die ganz so aussehen, daß ich von der Vorsehung zu etwas ganz Großem bestimmt sein könne, wenn ich auf dem Tisch meiner Seele nie ein unsauberes oder schlechtes Lebensgericht aufkommen lasse. Darum wolle er die Wahl der Schule ganz in mein Belieben stellen, und nachdem er sich doch nicht enthalten konnte, für sein geliebtes Wesel manches Glänzende in die Wagschale zu werfen, gab er mir auf, ohne Rücksicht auf seine Meinung, mit meinem Gott und mir in der Stille zu Rate zu gehen und ihm morgen die Entscheidung auf einem Zettel dort in das erste Fach seines Büchergestelles zu legen.

Von der überquellenden Zärtlichkeit und Güte des verehrten alten Herrn war ich karger, liebessehnsüchtiger Knabe so ergriffen, daß mir das Herz fast zersprang vor heißer Betörung. Stammelnd, meiner kaum mächtig, erklärte ich, ihm mich fügen und Wesel wählen zu wollen. Er aber strich mir liebreich über die Haare und schob mich lachend von sich, indem er erklärte, so sei es nicht gemeint. Ich solle mich mit Gott beraten, nicht mit ihm, dem alten Hemsterhuser Manne, der es zwar von Herzen gut mit mir meine, aber darum noch lange nicht berechtigt sei, in das Geschäft des Höchsten zu pfuschen.

So standen wir einander gegenüber, ich in der Nähe des Rauchtischchens, auf dem der aufgeschlagene Livius lag, er nicht weit von dem Bücherbrett, und während ich in meiner Hilflosigkeit nicht wußte, auf welche Art ich hinauskommen könne, hefteten sich meine Augen auf die Stelle des Buches, in deren Übersetzung ich durch das eilige, fast ängstliche Wegreißen unterbrochen worden war. Und was ich vorher im Überfliegen nur ahnungsweise begriffen hatte, das erfaßte ich jetzt mit einem unseligen, schicksalhaften Blick vollkommen, den Satz, den Virginius in seiner kurzen Rede dem Appius zornig entgegenschleuderte: ›Willst du wie das Vieh und das Wild zu Begattungen hinrennen?‹; Allein kaum, daß ich das gelesen, kaum, daß der Pfarrer das gemerkt hatte, so klappte er unauffällig das Büchlein zu und schob mich gegen die Tür hin. Ich aber stand durch den Sinn des Satzes plötzlich in dem dunklen Feuertaumel junger Sinnlichkeit, hörte das röchelnde, geile Lachen der Mägde, die mein Bruder ins Dunkel des Heubodens geworfen hatte, sah ihn von hinten her über sie geraten, und während ich mich wie trunken über die finstere Treppe des Pfarrhauses hinuntertastete, spürte ich wieder die Schoßhaare des Mathinkleins zwischen meinen Fingern und sah ihre weißen, schönen Beine vor meinen geschlossenen Augen gleißen.

Abgeschlagen, mit donnernden Pulsen im ganzen Leibe, mit fast versagenden Knien kam ich aus dem Hause, über den kleinen Vorgarten, und war so ratlos wie ein Halbverurteilter, daß ich immerfort mechanisch vor mich hinfragte: ›Was soll ich tun? Was soll ich tun?‹;

So öffnete ich das Gartentürchen und sah die gelbe, zermahlene Straße vor meinen niedergeschlagenen Augen, wagte mich aber nicht hinaus, auf sie zu treten, denn dann war es entschieden und ich verloren. Wie ich unschlüssig stehe und zage, nähert sich mir von links eine Dunkelheit, wie der vorauseilende Schatten einer sich herannähernden Person, ohne daß Schritte zu vernehmen waren. Und da ich betroffen die Augen hebe, ist die Straße menschenleer, ausgestorben. Nur ein unbegreiflicher Schatten schwebt mir gegenüber in der Luft, ohne Umrisse, mit einem saugenden, verführerischen Locken, blüht in mich hinein, daß alles in mir sich brunstvoll aufbäumt, und weht dann langsam zögernd, mit aller Macht mich hinter sich herziehend, den Weg nach Brederode hin und zergeht mit einem singenden Getön in der Luft. Nach Brederode zu lag Wesel, wo Mathinka Meixner das Lyzeum besuchte. Folgte ich dem Schatten rechts hin, so geriet ich in ihre Gewalt. Links hin, durch den Bocholter Wald, gelangte man nach Münster, und da ich die Augen hob und sie dorthin schweifen ließ, sah ich den Sintlinger Heiligenhof von der Abendsonne verklärt auf dem Hügel glänzen. Da fiel der Spuk in mir zusammen, ich machte kehrt, schlug das Gartenpförtchen hinter mir zu und rannte ins Pfarrhaus zurück, sprang die dunkle Treppe polternd hinauf, riß ohne anzuklopfen die Tür zu des Pfarrers Zimmer auf und rief dem von seinem Brevier betroffen auffahrenden Herrn zu: ›Ich will nicht nach Wesel. Ich muß nach Münster.‹; Und ehe der liebe Ardelt zu etwas anderem kommen konnte, als erschrocken über meinen jähen Gesinnungswechsel und mein zerstörtes Aussehen aufzuspringen und einen Schritt nach mir hinzutun, bat ich inbrünstig, mich nie darum zu fragen und war im nächsten Augenblicke über die Treppe hinunter und zum Pfarrhof hinaus.

Dieses wilde Heraufstoßen meiner Sinnlichkeit hatte, wenigstens vor der Hand, weiter keine anderen Folgen, als mich für Tage in eine regellose Unruhe und lastvolle Bedrängnis zu stoßen. Ich deutete es nach der Auffassung jener durchaus gläubigen Jahre meines Lebens als eine Berückung des Teufels, nahm den rätselhaften Schatten, der mich am Gartenpförtchen des Pfarrhauses so spukhaft angefallen, für eine der tausend Luftgestalten dieses ewigen Erzfeindes aller Menschen und wandte meine ganze Energie nur dazu an, dies aufregende Ereignis aus meinem Bewußtsein zu entfernen und niemand aus meiner Umgebung etwas von dem geheimnisvollen Erlebnis merken zu lassen. Der Trubel der Abreisevorbereitungen unterstützte meine Bemühungen, und so nahm man meine zerstreute, dunkle Unruhe, mein plötzlich jähes Schreien und dann wieder meine scheue Angst mit den immer zum Überlaufen tränenvollen Augen für die beginnenden Abschiedsnöte des Knabenherzens, soweit man sich eben überhaupt um mich kümmerte, und meine Mutter schüttete die Betten, bleichte meine Wäsche auf dem jungen, besonnten Grase, mein Vater maß mich mit höhnischen Blicken von der Seite, und als er einst meinem versunkenen Stehen und Zur-Erde-Blicken in einem Scheunenwinkel lange zugesehen hatte, schrie er laut über den Hof, daß die Tauben erschreckt vom Dach aufflogen:

›Bücheraffe, wach' auf!‹; Niemand merkte etwas von meiner Seelennot, am wenigsten der Kantor Pfeiffer, der vor Glück über seinen glänzenden Sieg sich kaum zu fassen wußte und den sonntäglichen Gottesdienst durch ein Präludium mit allen Registern wie an hohen Feiertagen einleitete, daß die ganze Kirche dröhnte, weil er mich ›ausbündigen Geist‹;, wie er sich ausdrückte, von der Vorsehung zum großen Kämpfer für den heiligen Glauben ausgewählt sah. Nur der Pfarrer war von dem Ausbruch meiner unterirdischen Dämonie, wenn auch nur ahnungsweise, berührt worden, denn er liebte und leitete mich wohl weiter, doch aus einem verkühlten, ferneren Herzen heraus.

Ich aber setzte mit zusammengerissener Stirn die Räder meines Lerneifers wieder in Schwung, und als der Tag meines Abschieds herannahte, lag alles Lenleinglück, die Mathinkabrunst, ja meine ganze vergangene Kinderverwunschenheit vergessen und zerschlagen in mir, und ich war wieder die Hirnmaschine, als die ich aus der Mißhandlung durch meinen Vater hervorgegangen war.

Selbst als meine Mutter mich am Abend vor der Abfahrt in die Fremdenstube an den wohlgefüllten Kleiderkoffer rief und mir mit Stolz die heimlich zusammengebrachte Ausstattung zeigte, änderte sich nichts in mir. Ja, im Anblick des Bettes, auf dem ich einst meinen Vater mit der Mutter getroffen hatte, stieg sogar etwas wie eine bitterliche Abneigung in mir auf, daß die bewegten Worte, die meine Mutter immer dringender, zuletzt zuckenden Mundes zu mir redete, machtlos an mir abprallten. Zuletzt, da ich trotz abgerungener äußerlicher Dankesbezeugungen stets tiefer in meine gleichgültige Melancholie verfiel, geriet sie gar in kummervolle Ratlosigkeit und fragte, ob ich denn meinen Vater und meine Mutter und meine Heimat gar nicht mehr liebe. Ich werde wohl darauf nichts geantwortet, sondern nur leeren Auges, wie es meine Gewohnheit geworden war, weiter zum Fenster hinausgestarrt haben. Denn meine Mutter wischte sich mit dem Schürzenzipfel über die Äugen und meinte nach einem tief-resignierten Atemzug, es sei schon so, ich arte ihrem Vater nach, der seine Jugend hindurch auch von der Schwermut geplagt worden sei, bis ihm sein bester Freund eine Flöte geschenkt und ihn darauf blasen gelehrt habe. Damit bückte sie sich zu dem Kommodenschube, kramte das in ein rotes Seidentüchlein eingewickelte Instrumentlein aus dem hintersten Winkel und grub es unter all meine Sachen auf den Boden des Koffers. ›Ich hoffe ja immer noch, du brauchst es nicht. Aber sollt' es dich doch zum Herzabdrücken einmal überfinstern, da grab sie heraus und mach's wie dein Großvater, der auch damit zu einem fröhlichen Manne geworden ist.‹; Das sprach meine Mutter, während sie aus- und einräumte, gepreßt und mühevoll, ebenso wegen ihrer gebückten Haltung als auch ihres gedrückten Herzens halber. Aber da ich immer noch unbewegt stand und gleichgültig vor mich hinsah, schrie sie plötzlich in Angst auf, rüttelte mich wie einen Sterbenden, streichelte mir liebevoll Haar und Wange und warf sich nach kurzem Kampf gegen ihre Scham an meine Brust, drückte einen Kuß auf meinen Mund und ging, leise schluchzend, aus dem Zimmer. Als ich aus meiner Benommenheit zu mir kam und mich allein im Zimmer fand, ging ich ihr nach und hörte sie hinter der Tür der benachbarten Stube verhalten fortweinen. Ich drückte vorsichtig die Klinke nieder. Aber sie hatte sich eingeschlossen. Nach einigem Warten ging ich hinunter, aus dem Hofe, über den Berg hinauf, setzte mich an den Wald und sah mit leeren Augen zum Sintlingerhofe hinüber, bis es Nacht wurde und das erloschene Traumbild meiner Seele in der Finsternis der Welt erloschen war.

So habe ich mich von dem besten und treuesten Menschen, von meiner Mutter, losgelöst. Mein Bruder fuhr mich andern Tags davon und goß sich gleich in der Hemsterhuser Schenke halb voll Schnaps, daß er unausgesetzt auf der Fahrt durch den langen Wald zu dem flotten Trab unserer guten Pferde mit seiner unförmlichen Stimme sang und auch wohl schrie, je nach der Größe der Blasen, die seine Trunkenheit in ihm auswarf. Auf dem halben Wege nach Bocholt, der Bahnstation, in der Mitte des großen Forstes, stand dazumal eine mächtige Kiefer mit einer riesigen zweigeteilten Schirmkrone, die in der ganzen Gegend unter dem Namen der Zwieselkiefer bekannt war. Von ihrem erhöhten Standort aus vermag man durch den ›Schlund‹;, ein tiefes Tälchen, entlang die höher gelegenen Häuser von Querhoven und die Lehne zu sehen, die Zwischen unserem Hofhügel und diesem Dörfchen liegt. Meine Mutter hatte sich zur Feier meines Abschiedes ein hell geblümtes Kopftuch umgebunden. Als wir nun wegen der Steigung des Weges im langsamsten Schritt an der Zwieselkiefer vorüberfuhren, drehte ich mich um und sah durch den Schlund in die Gegend unseres Hofes zurück. Da stand eine große Frau mit einem leuchtenden Kopftuch in der Frühsonne, unbeweglich wie ein entästeter Baum, und starrte, wie es mir schien, in die Richtung meiner Davonfahrt. Es war wohl meine Mutter. Ich riß meinen Hut vom Kopfe und schwenkte ihn. Davon sprangen die Pferde erschreckt in die Stränge und rissen mich davon.

Das war der letzte Anblick meiner Mutter. Denn ich habe sie im Leben nicht wiedergesehen – ja – und im Tod auch nicht.

In Münster lief alles wie am Schnürchen, ja noch besser. Als ich in der Aufnahmeprüfung meine schriftliche Lateinarbeit abgegeben hatte, entstand unter den Lehrern eine Aufregung. Ich wurde in das Konferenzzimmer gerufen und gefragt, ob ich anstatt in die Unter- nicht lieber in die Obertertia geprüft sein wolle. ›Wenn es ihnen nichts mache, mir mache es nichts‹;, antwortete ich zum Erstaunen der Lehrer kühl, ging in das Zimmer zurück und schrieb die nächste Arbeit, ich glaube, es war Griechisch. Der Lehrer sah mir wie ein Luchs auf die Finger, ob ich vielleicht irgendwelche Unredlichkeiten anwende. Nach zwei Stunden war ich Obertertianer und ging unter Führung meines Pensionswirtes, eines Volksschullehrers und Freundes von Kantor Pfeiffer, in mein Quartier durch die große, düstere Stadt zurück. Aber merkwürdig, so scharf wittert die Seele durch alle Truggestalten des Lebens unser Schicksal: Als ich am Fenster meines Dachzimmerchens saß und über ein kleines Höfchen mit einem kränkelnden Apfelbaum hin auf die durcheinandergeschobenen Dächer der Stadt tiefer und tiefer den Abend eindunkeln sah, erfaßte mich wegen des glücklichen Ausfalles meiner Prüfung eine solche tiefe, undurchdringliche Niedergeschlagenheit, fast so, als sei mir ein Unglück widerfahren, daß ich aufstand und mich halb ausgekleidet ins Bett wühlte. Das Fenster hatte ich angelweit offen gelassen, und der Lärm der Stadt drang als leises Brausen zu mir herein, daß ich in meiner Gemütsbetäubung die Empfindung hatte, von Wogen unaufhaltsam fortgerissen zu werden. Es wurde dunkler, und mein Herz schlug stärker, bis ich in unendlicher Ferne ganz schwache, sanfte Flötentöne vernahm. Da glaubte ich meinen Großvater aus dem Jenseits blasen zu hören und schlief ein.

Diese traumhaft sichere Hoffnung auf einen endlich glücklichen Ausgang meines Lebens, die schlafverhüllt in jener Nacht sich meinem Wesen durch die Töne des geheimnisvollen Flötenspiels eingeprägt hat, ist mir durch mein ganzes wildumgetriebenes, sooft untergepflügtes Leben erhalten geblieben, und sie auch bildet eigentlich den tiefsten Grund für die seltsame Tatsache, daß ich wettergrauer Mann vor einem Jüngling in dieser österlichen Frühlingsnacht rücksichtslos mein Leben beichte. Denn ich weiß es so sicher, wie meine linke über der rechten Hand liegt, daß ich noch heute, in ein paar Stunden schon, den Ausgang aus den Schluchten meines Daseins gefunden haben werde.

Wissen Sie, Jungmann, das ist so und bleibt so bestehen, trotzdem ich schon einige Tage später wieder das sanfte, nächtliche Flötenspiel in meinem Dachzimmer zu Münster zu hören bekam und erfuhr, daß nicht mein Großvater aus dem Jenseits, sondern aus dem Nachbarhofe ein junger Sattlergeselle blies, der auf diese Weise seiner heimlichen Trunkenheit einen melancholischen Ausgang verschaffte. Ich grub dennoch am anderen Morgen die Flöte meines Großvaters vom Boden meines Kleiderkoffers herauf, wickelte sie aus der verblichenen Seidenumhüllung, betrachtete mir das gelbe, abgenutzte Röhrlein ergriffen von allen Seiten und legte es, wieder sorgsam eingehüllt, an seinen verborgenen Ort, als besitze ich nun einen Talisman gegen letzte Daseinsnot.

Dann habe ich die Flöte in der ganzen Münsterschen Zeit nicht mehr angerührt. Denn diese Gemütsbewegung in jenen ersten Tagen meiner Gymnasialzeit war der letzte Hauch aus meiner zerschlagenen Kindheit, der über mich hinstrich.

Die mancherlei Lücken meines immerhin etwas autodidaktisch schnell zusammengerafften Wissens, diese und jene kritische Bemerkung eines Lehrers über den kläglichen Ausgang der sogenannten Wunderkinder, die Scheu, der Neid, ja die Abneigung meiner Mitschüler gegen mich außergewöhnlichen Eindringling vom Dorfe: alles das stachelte durch Stolz und Trotz meinen Fleiß so an, daß jeder bunte Seelenschimmer meiner Kinder- und Knabenzeit sich bald ganz verlor und alle Gegner mir als Verbündete meines Vaters erschienen, die mich mit allen Mitteln wieder in den sonnenlosen, bösen Hof auf den Hügel zu Hemsterhus treiben wollten. Wo ich ging und stand, arbeitete ich, saß bis in die späte Nacht über den Büchern und war oft vor Tag schon wieder an dem Arbeitstisch. Nur manchmal überkam mich wie der Heißhunger eines Abgetriebenen die Sehnsucht nach dem freien Felde, nach Wald, Rainsträuchern, einsamen Bäumen und dem hohen, unbegrenzten Himmel. Dann sprang ich die steilen Holztreppen hinunter zum Hause hinaus und lief wie ein Besessener durch die Straßen. Nicht eher ruhte ich in dem Lauf, der dem eines entsprungenen Häftlings glich, bis ich so weit im Felde war, daß die Stadt nur noch mit dem Laurentiusturme zu mir herlugen konnte. Dann legte ich mich rücklings ins Gras, die Schwingel schlugen über meinem Gesicht zusammen, und durch ihr grünes Geflecht sah ich die weißen Wolken lautlos über den hohen Himmel ziehen. Oder ich saß im Walde und genoß das tiefe Brausen der Kronen, und ein anderes Mal suchte ich mir wieder einen einsamen Wassergraben, warf Steine hinein wie zu Hause nach dem Tode meiner Schwester Amalie und betrachtete wie damals die Wellenkreise, die vom Grunde aufstiegen und im langsamen Forttreiben verschwanden. Da wachte auch einmal das nächtliche Herumschlurfen meiner Eltern und ihr Zank in meiner Erinnerung auf, und ich lag mit meiner Schwester Amalie in der finsteren Kammer und schwor, wenn ich einst groß wäre, wollte ich aus dem Hofe meines Vaters gehen, auf dem Rhein hinunterfahren und nie, nie mehr zurückkehren. Und ich überließ mich in einer Art schmerzlicher Wollust, die dieser Lebenszeit ja eigen ist, dem dunklen Gewölk der Vergangenheit. Als ich aber an dem Aufwogen meines Herzens das Heranziehen anderer heißerer und finsterer Erinnerungsbilder fühlte, sprang ich auf und schüttelte alles von mir. In langen Schritten strebte ich der Stadt zu, denn es begann schon die abendliche Röte um ihre Dächer zu rauchen. Und während ich mich so dem dunklen Häuserungetüm Münster näherte, wurde es lichter in meinem Gemüt, weil ich erkannte, daß ja eigentlich der eine Teil des Wunsches aus meiner Kinderzeit schon in Erfüllung gegangen sei. Denn wenn auch nicht auf dem Rheine, so fuhr ich doch wahrhaftig in alle Welt hinein. Sei aber diese Hoffnung wahr geworden, so müsse ich auch mit dem Schwur jener Zeit Ernst machen und dürfe nie mehr nach Hause zurückkehren, nicht eher wenigstens, bis ich etwas ganz Großes geworden und den Finsternissen unseres Hofes für immer entrückt sei.

Die Gestalten, die uns führen, und die immer in uns sind, bemächtigen sich der Erscheinungen des Lebens und verleihen ihnen den für uns entscheidenden Schicksalssinn. Während ich so eilig der Stadt zustrebte und mit Inbrunst diesen rettenden Entschluß in mir zurechthämmerte, wurde ich von fröhlicher Musik, die durch das Gesträuch der Vorgärten auf mich zu kam, aus meinen angestrengten Gedanken gerissen. An der nächsten Biegung des schmalen Fußweges marschierte ein kleiner Hochzeitszug unter überhängenden Pfeifensträuchern mir entgegen, ein alter Geiger, in jungem, fast tanzendem Gange voran, die Mütze in die Seitentasche seines Jacketts gestopft, das Instrument energisch unters Kinn geklemmt und den Bogen in so leidenschaftlichen Schwüngen über die Saiten streichend, daß davon seine weißen, vollen Lockenhaare ihm rhythmisch um das weingerötete Gesicht tanzten. Dahinter schritt das Brautpaar, ein schlanker, sehniger Arbeitsmann, in kärglichem Festgewand, mit einem langen, ernsten Blondgesicht, aufgereckt, still und würdig, und an seiner Seite handverschlungen mit ihm, wie sich Kinder führen, die Braut, ein schüchtern-seliges, braunes Mädchen, mit halb offenem, glücklichem Munde und lachenden, kecken Augen. Dahinter quirlte die kleine Woge der Hochzeitsgäste, alle schon etwas weinbeschwingt, lachend, singend, schäkernd und dann und wann einen lauten Juchzer ausstoßend. Durch sie hin, bald zurück, bald sich vordrängend, fuhr ein kleiner, verwachsener Kerl, unordentlich, wie von der Straße aufgelesen, frech und wild, und stachelte die offenbar lustungewohnte Gesellschaft mit tollen Späßen und Grimassen in immer neue Ausbrüche der Ausgelassenheit hinein.

Ich war auf die Seite getreten, um dem kleinen Freudenzug mit den etwas unsicheren Männern ungehinderten Vorüberzug zu lassen, und stand in dem seichten Gräblein. Als sie bei mir angekommen waren, raste der Geiger plötzlich wie toll geworden in sein Instrument hinein, daß aus der Musik ein Gekreisch wurde, und die ganze Gesellschaft brach in wildes Lustgeschrei aus, daß ich, aus meinem Luftfahren gerissen, nicht wußte, geschehe das aus Übermut oder Hohn. And da ich ratlosen Gesichtes in den Tumult sehe, der eine Weile schnackisch um mich wirbelt, springt der verwachsene Trottel auf mich zu, grinst mich mit seinem lächelnden Fratzengesicht an, und indem er mir geschickt etwas in die Seitentasche meines Jacketts schiebt, schreit er: ›Da hast du was fürs Warten‹;, und springt in das kleine Gedränge zurück, das mit übermütigstem Gelächter aufwiehert und in gespielter, komischer Flucht davonstiebt. Hinter der nächsten Krümme hörte ich sie noch einmal glücklich auflachen über den gelungenen Spaß, dann ordnete sich das Durcheinandertrappeln ihrer Füße zum rhythmisch gefaßten Gange und verlor sich unter dem wieder wohllautend gewordenen Klange der Geige in dem Grün der Gärten. So lieblich verklang es in der roten Abendluft, daß mir der verzerrte Tumult wie ein eingebildeter Spuk vorkam, und als ich von einer Erhöhung zurückschaute und die Gesellschaft still und bunt in den fernen Wiesen gegen den Nuppenberg zu untertauchen sah, war auch der widrige, verwachsene Kobold aus ihren Reihen verschwunden. Voll Ekel schubste ich das aus der Tasche, was mir der Trottel hineingeschoben hatte, was es war, wollte ich nicht wissen, vielleicht war es überhaupt nichts, und ging, zwiespältig bewegt, abgestoßen und beglückt, weiter in die Stadt.

Aber so sind die verwirrenden, bunten Blasen, die das Leben auf der Oberfläche unseres Schicksalsstromes, vor allem in der Jugend, treibt: Nach einigen Tagen erschien mir dies Begegnis mit dem Hochzeitszug in dem Licht einer bestimmten Bedeutung für meine Zukunft. Wenn ich dem Vorsatz treu blieb, nicht mehr in den Hof meiner Eltern zurückzukehren, so würde mein Leben verlaufen wie der klingende Freudenzug in den roten Abend hinein. Im anderen Falle verfiele ich der Gewalt dieses unschönen, verwachsenen Gnomen, der sich in meiner Einbildung mit dem unbegreiflichen Schatten vermengte, den ich vor der Tür des Pfarrhauses in Hemsterhus und auf dem Hofe meiner Eltern erlebt hatte.

Ja, mein lieber Jungmann, lachen Sie darüber. Wahn über Wahn, Schatten über Schatten! Ich weiß alles. Zu deuten ist das ja nicht. Freilich. Aber was hilft das? Ich handelte eben danach.

Die kurzen Pfingstferien verlebte ich in der Familie meines Pensionswirtes, des Volksschullehrers. In der großen Vakanz ging ich auf den Wunsch meiner Mutter auf den Hof einer ihrer Brüder, einige Meilen nördlich von Münster. Ich war laut meines Zeugnisses zum Primus der Klasse aufgerückt und wurde von meinen Lehrern und fast allen Mitschülern mit einer aus Scheu und Herzlichkeit gemischten Auszeichnung behandelt. Den einen muß ich durch meinen Fleiß, der ebenso gleichgültig wie nie versagend war, den anderen durch eine unbeirrbare Lebenskühle unheimlich und anziehend zugleich erschienen sein, daß ich von den Lehrern fast wie ein Gleichaltriger behandelt, von den Schülern aber als Retter und Wegweiser in allen Lebens- und Schulnöten heimgesucht wurde. So kam es, daß ich auf der Fahrt zu meinem Onkel von einem Obersekundaner, dem Sohn eines Barons von Rätern, meinem Ziel abtrünnig gemacht wurde. Er hatte mir tagelang vor der Abreise mit Bitten in den Ohren gelegen und schwatzte vom Augenblicke des Einsteigens in den Zug so dringend und herzlich von dem Leben auf dem Gutshof seines Vaters, den vielen Zerstreuungen und dem innigen Wunsche seiner Eltern, mich kennenzulernen, daß ich schon etwas schwankend in meinem Entschluß geworden war, noch ehe wir in die kleine Station einfuhren, von wo aus der Weg auf den Hof seines Vaters abzweigte. Dort erwartete ihn seine Mutter, ich sehe es heute noch deutlich, mit einem Falbengespann vor einem grünen Korbwagen. Und als der liebe Horst hinausgestürzt und mit seiner Mutter einige Worte gewechselt hatte, stieg die blonde, walkürenhafte Dame resolut vom Wagen und drang mit solcher geradezu bestrickenden Liebenswürdigkeit auf mich ein, dem sehnlichen Wunsch ihres einzigen Sohnes und damit ihrem eigenen Wunsch zu willfahren, daß ich in einem kleinen Taumel aus Betretenheit und geschmeichelter Eitelkeit willenlos mit mir nach dem Gutdünken dieser lieben Menschen verfahren ließ. Horst besorgte die Absendung des Telegramms an meinen Onkel, daß ich acht Tage später eintreffen würde, und eine Viertelstunde später rollte ich durch besonnte gilbende Felder dem drei Stunden entfernten Schlößlein zu, das schon lange vor unserer Ankunft mit seinem einzigen bauchigen Türmchen über Eichenwipfeln uns im Abendlicht zu sich heranwinkte. Ich verlebte schönste Tage mit Reiten, Fischen und auf Pürschgängen, in einem wohligen und bunten Behagen, und wurde nur fortwährend von geheimer Schwermut beschattet, wenn ich den gesunden, heiteren Frieden dieses Hauses mit dem finsterlichen, zanksüchtigen Gepolter verglich, das auf unserm Hofe tagaus, tagein wirtschaftete. An einem Donnerstag war ich angekommen. Drei Tage später, als wir, Horst und ich, nach dem Abendbrot plaudernd an dem großen Teiche hinter dem Park saßen und in die rote Glut hineinsahen, die die untergehende Sonne auf dem regungslosen Spiegel des Teiches entzündet hatte, überfiel mich diese Wehmut des Herzens so stark, daß ich fühlte, wie mir das Schluchzen würgend in die Kehle stieg. Deswegen sprang ich plötzlich auf und begann wie rasend in das Feld hineinzulaufen. Je mehr ich rannte, desto stärker wurde dies drückende Gefühl und steigerte sich endlich zur richtigen Angst. Atemlos mußte ich schließlich stehenbleiben, und als mich der bestürzte Freund eingeholt hatte, traf er mich bleich, am ganzen Leibe bebend, aber mit einem tapferen Lächeln auf dem Gesicht. Ich gab vor, aus einer verrückten Laune heraus gehandelt zu haben, und kehrte gemächlich in das Schloß zurück. Der Abend war indessen schon nebelblöde geworden. Leises Baumbrausen lag auf den Feldern, und das Amselgeflöt klang durch das beginnende Dunkel. Mir aber war es, als höre ich den Sattlergesellen aus dem Münsterschen Höfchen trunken auf der Flöte blasen.

An demselben Abend, just zur selben Stunde, ist auf dem Hübelhofe zu Hemsterhus meine Mutter gestorben. Als ich vier Tage später auf dem Hofe meines Onkels ankam, war sie schon begraben. Man hatte mir keine Nachricht geben können, weil mein Freund in der Eile vergessen hatte, meinen Aufenthaltsort auf dem Telegramm zu nennen.

Meine Mutter hatte, ohne jedes Krankenlager oder erkennbare Leiden vorher, einen schnellen Tod gefunden. Nach der abendlichen Melkzeit war sie auf dem Wege vom Kuhstall in den Hof, unter der Tür, vom Schlage getroffen, zusammengesunken. Soviel galliges, bitteres Zanken und Schmälen ihr durch eine verfehlte Ehewahl während des ganzen Lebens auch erpreßt worden war, das Todesleiden hatte sie ohne Laut hingenommen. Ja, noch im letzten Augenblick war hausmütterliches Pflichtgefühl stärker als die Sorge um ihr Leben gewesen, denn, schon taumelnd, hatte sie mit übermenschlicher Beherrschung erst die beiden vollen Milchkannen, die sie trug, sorgsam hingestellt und war dann nach einem springenden Schritt lautlos vornüber auf das Pflaster des Hofes geschlagen.

Mein Onkel, ein rundlicher, freundlich bewegter Mann, meine Tante, eine wortkarge, lang aufgeschossene Frau, und deren Bruder, ein alter Junggeselle, den alle nur Christoph hießen, mit stillen, spürenden Augen und einer vorn platt gedrückten, beim Sprechen immer zitternden Nase, behandelten den überraschend schnellen Todesfall ohne Schonung als die notwendige Folge ihres immerwährenden Martyriums durch meinen Vater. Im Verlauf der erregten Aussprache, die zum größten Teil von meinem Onkel mit der leidenschaftlichen Liebe eines ins Herz gekränkten Bruders geführt wurde, erwähnte man auch so, als ob ich alles wüßte, des Briefes, in dem meine Mutter, vielleicht in der Ahnung ihres nahen Endes, meinen Onkel gebeten hatte, sich meiner anzunehmen wie des eigenen Sohnes. Wieviel Reibereien, wieviel finsteren Kampf hatte ihr Herz ertragen müssen, ehe sie zu dieser Trennung von mir reif geworden war, die die einzige Form darstellte, ihre Liebe zu mir zu retten und die meine zu erringen, wenn auch erst hinter ihrem Grabe. Die Frage, ob es notwendig oder geraten sei, nachträglich an ihren frischen Kirchhofshügel nach Hemsterhus zu reisen, wurde nur kurz gestreift und energisch verneint, noch ehe sie eigentlich gestellt worden war. Meine Tante nahm dann mich Betäubten, der während der langen Unterredung nur stumm gesessen und mit aufmerksamen Augen von einem zum andern geblickt hatte, liebreich bei der Hand und führte mich in das kleine Dachzimmer, das sie mir bereitet hatte. ›Da bist du nun zu Hause, Peter. Es wäre schön, wenn es dir bei uns gefallen könnte‹;, sagte sie, strich mir leise über den Scheitel und verließ dann, wie mir schien, auf den Zehen, das kleine Gemach. Um mich arbeiteten unsichtbare Räder in der Luft mit einem Sausen, das die ganze Welt erfüllte, und ich blieb lange in der Mitte des kleinen Zimmers stehen, weil ich nicht wagte, aus mir heraus, in dies Räderbrausen des Lebens zu treten. Bis ein Schmetterling an den kleinen Scheiben zu flattern begann. Das leise, ängstliche Flügelgeräusch weckte mich aus der Starre. Mit verwundert schmerzlichem Lächeln sah ich dem nach Freiheit ringenden Tierchen zu. Aber nun war ich ein anderer geworden als im vorigen Herbst, da ich nach der Züchtigung durch meinen Vater dem Schmetterling an meiner Kammerluke den Kopf zerdrückt hatte. Ich öffnete das Fensterchen und strich das Tierchen behutsam ins Freie. Blitzartig fuhr dabei die Erinnerung an jenes Begegnis in mir auf, und als das bunte, trunkene Geflatter über dem Scheunendach in dem rötlichen Abendlicht unsichtbar geworden war, atmete ich erleichtert auf und ging vom Hofe fort, ins Feld hinaus. Die Tante sah mich die Treppe herabkommen, der Onkel traf mich an der Hintertür. Sie sahen mich groß an und gingen wortlos ihren Weg. In einem kleinen Eichenkamp, wohl an der Grenze der Wirtschaft, setzte ich mich nieder und ließ die aufgestauten Fluten von Schmerz, Kummer und Vorwurf, die ganze unübersehbare Dunkelheit des beladenen Herzens aus mir herausrinnen. Nicht in Tränen, nicht in Worten, weder in Anklagen noch in Selbstpeinigungen schwand ein langer Strom von Schatten lautlos von mir. Und als alle Finsternis aus mir geflossen war, warf ich mich mit der Brust lang hin ins Gras, griff mit beiden Händen inbrünstig in die Erde und schrie, so laut ich konnte: ›Nein! Nein! Nie wieder nach Hause!‹;

Tief im Abend, es war schon fast Nacht, fand mich der alte Junggeselle nach langem Suchen im Kamp. Ich saß unter einer Eiche und pfiff das Lied: ›Schön ist die Jugend‹; für mich hin, ohne zu wissen, daß ich es tat, und ohne zu wissen, daß ich weine, strömten mir ohne Aufhören die Tränen über die Wangen. Als mich der ältliche Mann so erbarmungswürdig traf, wurden seine Augen noch spürender, zitterte seine Nase noch mehr als sonst, wahrhaftig, das bemerkte ich. Er faßte mich unter den Arm und geleitete mich, der eine Weile wie trunken taumelte, in den Hof zurück. Gesprochen haben wir beide kein Wort. Aber von dem Augenblick an waren wir Freunde.

In meinem Leben wiederholten sich oft und öfters scheinbar gleiche Vorgänge. Aber wie grundverschieden ist ihr Sinn in jedem Falle. Der Schmetterling am Kammerfenster des halbtotgeprügelten Jungen in Hemsterhus und der am Fenster des Heimatflüchtlings zu Scheddebrok, das war der Name des Dorfes, in dem ich auf dem Hofe meines Onkels die Nachricht von dem Tode meiner Mutter erhielt, wie verschieden sind sie! Wie Nacht und Tag, wie Tod und Geburt. Mein Gott, ich sage Geburt! Sie müssen mir glauben, Jungmann, heut sag' ich nicht mehr Geburt. Aber dazumal empfand ich den durch den Tod meiner Mutter endgültig besiegelten Entschluß, nicht mehr ins Vaterhaus zurückzukehren, wirklich als einen Aufstieg ins Licht, und jahrelang sah ich mein Leben von diesem Entschluß an im Bilde des Schmetterlings, der über das Scheunendach hin sich wie eine fliegende bunte Blume verlor.

Ja, ja! Es ging mir auch wunderbar, fast ohne Schatten. Mein Vater war's zufrieden, daß mein Onkel die Kosten für mein Studium eigentlich allein deckte. Denn die Summen, die er dann und wann sandte, waren so gering, daß ihrer kaum Erwähnung zu geschehen brauchte, und Sehnsucht nach mir hatten weder Vater noch Bruder. So geschah es, daß monatelang nicht ein Heimathauch mein Inneres berührte und ich, wie von etwas Fremdem ergriffen, zuckte, wenn zufällig der Name Hemsterhus in meiner Gegenwart genannt wurde. Aber damit ist nicht gesagt, daß nun Scheddebrok meine neue Lebensheimat, mein Onkel Heptner, der kleine lustige Mann, mein Vater und die gute, schweigsame Tante meine Mutter geworden wäre. Leider nein, wenn sie auch alles an mir getan haben, was ein Menschenherz nur immer Gutes dem andern erweisen kann. Ihre Liebe war doch wie Licht auf fremden Wiesen. Ganz gewiß, so war es. Sie bemühten sich, an Stelle meiner schmerzhaften Vergangenheit ein lichteres, heiteres Leben zu setzen. Sie unternahmen es, mich innerlich vertauschen zu wollen. Aber ich wollte dies weiche Überfluten, dies wohlige Beiseitestehlen nicht. Ich wollte die Finsternisse meiner Vergangenheit durch Stumm- und Blindwerden in mir gleichsam gewalttätig erwürgen, tottreten. Es sollte überhaupt nichts gewesen sein, gar nichts. Aber immerfort stolpere ich von Begründungen in Begründungen, wie in Löcher. Die eine widerspricht der anderen, und wie ich es heut beim Erzählen treibe, so habe ich es wohl die Jahre vorher und damals getrieben, als mir all das blutwarm geschah, was nun alte, vernarbte, aber doch nicht geheilte Wunde ist. Doch indes wir so die Wirklichkeit des Geschehens an uns mit den Gazeschleiern unseres Denkens maskieren nach dem Triebbedürfnis unserer jeweiligen Lage, glauben wir verrückterweise, über unser Schicksal Gewalt zu gewinnen. Aber der Sinn unseres Fatums streitet mit uns nicht, er bedient sich der Finten unseres Scharfsinns, unserer Siege über ihn, uns zu besiegen. Wir unterliegen im Leben durch Triumphe öfter als durch Niederlagen, und Erfüllung ist nicht selten der vollkommenste Verlust. Sehen Sie, Jungmann, und wenn ich mich in Scheddebrok aus den herzensmummeligen Abenden fortstahl, die mein Onkel Heptner und meine Tante meinetwegen arrangierten, so glaubte ich damals im Sinne meines hohen Zieles zu handeln. Ich baute mir aus den Erkenntnissen des Gelernten und der Lektüre Lebensprinzipien und Welt- und Menscheneinsichten zusammen, nach denen ich mich richtete. Aber ich lernte und begriff nie mit dem Herzen, sondern nur mit dem Intellekt. Deswegen blieb mein tiefstes Wesen von allen meinen Maximen unbeeinflußt, die mein Scharfsinn zusammentrug. Ich wurde als Musterschüler von allen Lehrern verhätschelt, von allen Schülern umdrängt, von deren Eltern umworben und von meiner weiten Verwandtschaft als eine Bestätigung ihrer eigenen Bedeutung geliebt. So fühlte ich die Kluft nicht, in die ich tiefer und tiefer sank. Und wenn nicht der innige Anschluß an den Bruder meiner Tante gewesen wäre, vielleicht hätte ich die glänzende Kulissenstadt, vor der mein Dasein sich erstaunlich bewegte, schon damals in irgendeinem wilden Ausbruch zusammengeschlagen. Ohne mein bewußtes Hinzutun wurden durch diesen alten Christoph mit den stillen, spürenden Augen und der zitternden Plattnase meine verborgenen Dunkelheiten unschädlich am Leben erhalten. Dieser merkwürdige Mann war seit Jahrzehnten auf der leidenschaftlichen Jagd nach den Torheiten, Verkehrtheiten, der Ruchlosigkeit und Gemeinheit seiner Mitmenschen. Er war ein stiller, emsiger Chronist aller öffentlichen oder geheimen Skandale der näheren und weiteren Umgebung, und vielleicht stammte die herzliche Anteilnahme an mir anfangs nur aus dieser Untiefe seines Wesens. Alles Anrüchige, Verwegene, Wilde, Schurkische, aber auch Tölpisches und Trotteliges, kurz, die unendliche Stufenleiter menschlicher Dummheit und Schlechtigkeit trug er in einer zwar ungelenken, aber flüssigen Schrift in blaue Schulhefte ein, die er in seiner Kleiderlade wohl verwahrte. Mir zeigte er sie erst, als er durch Monate vergeblich alle erprobte Schlauheit versucht hatte, ganz genau hinter alle schicksalhafte Verwickelung unserer Familienverhältnisse zu kommen und damit den Schlüssel zum Verständnis meiner von allen Bekannten so abweichenden Wesensart zu finden. Denn mein Freisein von jeder Unart, von jedem dunklen Hang, ohne Spur zelotischer Pfaffenhaftigkeit, mein immer gebändigtes Wesen ohne Dünkel, mein Fleiß ohne Prahlerei und so vieles andere mußten ihm ebenso ein Rätsel sein, wie sie allen unbegreiflich erschienen. Aber er bohrte vergeblich an mir herum. Wie ich mir meine Vergangenheit verschwieg, so fand auch er keinen Weg zu dem Wesen, das unterirdisch in mir ruhte, und sah endlich in mir das, als was ich allen erschien, nämlich einen Ausbund menschlicher Vorzüglichkeit. Das brachte ihn zu dem rückhaltlosen Vertrauen mir gegenüber, daß er mich ganz in den Geheimniskram seiner absonderlichen Liebhaberei einweihte und mich Verirrungen wissen ließ, die für mein Alter gefährlich waren. Allein ich fing an den Ausschreitungen wilder Sinnlichkeit weder verborgen Feuer, noch vermochte er mich in das hämische Schwelgen mit fortzureißen, in dem er blühte, wenn es ihm gelungen war, wieder einer zur Schau getragenen Ehrwürdigkeit hinter die Maske zu lugen. Ich hörte und las alles mit einem Interesse, das er sich wohl nicht erklären konnte, und das ich damals auch nicht ganz verstand. Das eine aber weiß ich heut noch ganz deutlich, daß mir meine Jugenderlebnisse mit meinem Bruder, meinen Eltern und mein gefährliches Auflodern mit Mathinka Meixner an der Querhovener Teufe nicht mehr als ein Höllenriß durchs ganze Weltall erschienen, der noch keinem Menschen außer mir auf der Erde widerfahren war. Meine Erfahrungen und Erlebnisse sah ich nun eingeordnet in das große Gebiet der Anfechtung und Verführung, denen eben alle Menschen ausgesetzt sind. Und war ich früher aus Furcht und Schrecken schweigsam gewesen, so war ich es nunmehr aus Überlegenheit, ja Gleichgültigkeit. Nachdem ich mehrere Ferien lang so mit dem alten Junggesellen auf der Jagd nach den Motten zugebracht hatte, die um die Dunggruben und Abfallhaufen des menschlichen Daseins in Zwielicht und der Nacht schwärmen, wurde ich dieses Geschäftes mehr und mehr überdrüssig; denn ich habe es von Obertertia bis über die ganze Unterprima getrieben. Der Aufenthalt auf dem Hofe meiner Pflegeeltern war mir dadurch verleidet. Als ich zu Ostern mit aller Auszeichnung in die Oberprima versetzt worden war, übergab mir Onkel Heptner die ganze Summe, die mein Vater geschickt hatte, und legte aus freien Stücken noch einen namhaften Betrag dazu, damit ich die schönen Frühlingstage zu einer Rundreise auf die in der ganzen Provinz zerstreuten Höfe unserer weiten Verwandtschaft benutzen konnte. Glücklich packte ich meine Sachen. Denn nun ging's das erstemal in die weite Welt, von der ich seit jeher als einer Errettung für mich geträumt hatte. Der alte Christoph, den ich auch als Onkel bezeichnete, half mir bei den Zurüstungen zur Abfahrt, sprang ab und zu oder saß mir gegenüber und sah meiner emsigen Schafferei mit Augen zu, in denen das Spüren und Bohren vor einer Wolke von Melancholie kaum mehr wahrzunehmen war, sprach nach langem Schweigen Belangloses mit einer solchen Ergriffenheit, daß er abbrechen mußte und das übrige nur durch das heftige Zittern seiner Nase auszudrücken wagte. Beim Abendbrot fehlte er und war weder zu finden noch zu errufen. Und als ich von meiner besorgten Tante dann ausgeschickt wurde, mich nach ihm umzusehen, fand ich ihn nach langem vergeblichen Suchen schon tief im Abend weit vom Hofe mit in den Händen vergrabenem Gesicht unter Bäumen an einem stillen Tümpel sitzen. Er blieb auf meinen Zuruf unbeweglich, antwortete auf keine Frage, auf keinen Zuspruch, rührte sich nicht, als ich besänftigend seinen Rücken entlang strich, und preßte mit aller Gewalt die Hände auf sein Gesicht, daß ich trotz aller Anstrengung sie lange nicht zu lösen vermochte, sondern nur fühlte, wie sie von Tränen naß waren, unvermutet, nach einem Stöhnen, das auch wie ein wilder brünstiger Schrei klang, riß er die Hände vom Gesicht und stürzte sich mit einer Umarmung auf mich, als wolle er mich erwürgen. Unter Röcheln, Flehen, Bitten, Keuchen und Ächzen immer nur das eine ›Lieber, lieber Peter!‹; sprechend, drang er mit seinem ganzen Leibe förmlich in den meinen hinein, daß mir der Atem auszugehen drohte. Da packte mich Furcht und Schrecken vor diesem sinnlos und wahnsinnig Gewordenen, und zuletzt kam ein unbezwinglicher Ekel über mich, daß ich mit übermenschlicher Anstrengung mich losriß und ihm mit einem empörten Fluch einen solchen Stoß vor die Brust versetzte, daß er zu Boden taumelte.

Am anderen Morgen war er bei meinem Abschiede nicht zugegen. Er, der sonst vor allen andern auf den Beinen und in der Arbeit war, lag in seiner verriegelten Stube und wünschte mir mit einer machtlosen, fast ausgeweint klingenden Stimme eine glückliche Reise, daß meiner Tante, die neben mir stand, über diese Liebeserschütterung ihres Bruders die hellen Tränen über die Wangen liefen. Ich ließ die Gute bei ihrer Meinung, weil ich im Anblick dieser reinen weiblichen Rührung wirklich in meinem gestrigen Gefühl wankend wurde und diesen wilden, fast tierischen Lossprung auf mich doch für den Zärtlichkeitsausbruch eines bäuerlich dumpfen Herzens hielt. Aber als ich eine halbe Stunde auf der Droschke durch die frühlingsfrühe Ebene kutschiert war, sank dieses erzwungene Glänzen um das abendliche Begegnis mit Christoph, und die beiden Jahre im Hause meines Onkels erschienen mir überschattet, mißduftig, wie ein Weg an einem trüben Wasser hin. Die Kette klirrte wieder um meine Füße, in die mich das Fatum verstrickt hatte.

Doch ehe ich in Ruttorp bei meinen ersten neuen Gastfreunden ankam, hatte sich der tonlose Laut meiner Schicksalsfessel in mir wieder verloren, und ich trat als der über die Jahre gefestigte, tadellose Jüngling auf, dessen Heiterkeit aus dem Kopf stammte, der sich durch gelernte Prinzipien in der Welt orientierte und aus dem Verkehr mit dem Schurkenriecher Christoph sich eine unheimliche Neigung und Gewandtheit in der Witterung und Erkenntnis der Bruchstellen und Schatten angeeignet hatte, mit denen nun schon alle Menschen behaftet sind.

Es waren vier Töchter von vier bis vierzehn Jahren da, mein neuer Onkel, ein schwerer, eigentlich vollkommen wortloser Mann, und meine Tante, eine jähe, furiose Person, mit Augen wie glänzend schwarze Schleuderkugeln. Keine drei Tage vergingen, und sie funkte mich durch und durch und ließ sich von dem ›Studenten‹; bei diesen und jenen Handreichungen helfen, daß ich meine ganze Beherrschung in der Bekämpfung der heißen und kalten Schauer zusammennehmen mußte, die ihre Nähe über mich jagte. Aber in dieser steten Gefahr lag doch eine solche Verlockung, daß ich dem Drängen nachgab und beschloß, die ganzen Ferien in Ruttorp zu bleiben. Mein Zimmerchen lag neben der Schlafstube der Eheleute. In einer Nacht erwachte ich von heißen Händen, die sanft und bebend über mein Gesicht tasteten. Als ich mich endlich schlaftrunken aufrichtete, sah ich in der Dunkelheit eine weiße Gestalt zurückweichen, auf meinen Ruf, wer da sei, wie leblos verharren und dann lautlos aus der Tür schwinden. Am anderen Tage fragte mich die Tante, wie ich geschlafen habe, und äugte dabei so keck und schelmisch in mich hinein, daß ich es für geraten fand, von dem nächtlichen Besuche eines Geistes in meinem Zimmer nichts zu sagen. Deswegen erblaßte sie, sah mich einen Augenblick fassungslos an und kehrte mir dann mit einem schrillen Auflachen den Rücken. Da wußte ich, was die Uhr geschlagen hatte, und reiste einen Tag früher ab, nicht nach Scheddebrok, sondern direkt nach Münster.

Ich benutzte den leeren Tag nicht zur Vorbereitung auf den Unterrichtsanfang, sondern gab einer bänglichen Beschattung Macht in mir, die über meinem Gemüt ruhte, und lag in dem Fenster meines Zimmerchens in geduldigem, energielosem Warten, meinen Augen, die über das enge Höfchen mit dem kränkelnden Apfelbaum und die übereinandergeschobenen Hinterhausdächer schweiften, müsse etwas Heiteres begegnen, das diese Niedergebundenheit meines Lebens löste. Dazwischen schrieb ich einen Brief an den Onkel Christoph nach Scheddebrok mit der Bitte, die unterlassene Rückkehr auf den Hof bei seiner Schwester und dem lieben Heptner zu entschuldigen, indem ich unaufschiebbare dringende Schulvorbereitungsarbeiten vorschützte. Allein auch dieses leise Abrücken aus jenem Kreise nützte mir nichts. Ich blieb unlustig, bedrückt, dunkel, und wie der Abend sich in dem Höfchen einzunisten begann, wuchs in mir die Sehnsucht nach einem Glück im Weltall. Ich muß diesen verstiegenen Ausdruck schon gebrauchen. Wirklich, ich wartete, ein Himmelsfenster möge sich auftun, und eine Stimme solle mich in sündlose, selige Weiten rufen. Ich wartete vergebens. Die Fenster der gegenüberliegenden Häuser waren schon nur noch verschwommene Schattenflecken in der Dämmerung und die Dächer schmutzige Wolken. Da hoffte ich zuletzt bloß noch auf das Flötenspiel des trunkenen Sattlergesellen. Allein es wurde finster, und im Nebenhöfchen klang nichts auf. Deswegen ging ich zu dem Meister nebenan, bei dem er in Arbeit stand, und wünschte den Musikanten zu sprechen. Er war wegen Liederlichkeit entlassen worden und seit vierzehn Tagen fortgewandert, um, wie die entrüsteten Meistersleute sagten, das zu werden, was er eigentlich immer gewesen war, ein Tagedieb, Bummler und Säufer. Sie verwunderten sich nicht nur, daß irgend jemand an dem Tunichtgut überhaupt ein Interesse nehmen könne, sondern am meisten, daß gerade ich es tue, dem er vor Zeit einen solchen Schabernack als Spaßmacher eines Hochzeitszuges gespielt habe, dessen er sich dann gegen alle, die es hören wollten, noch höhnisch gerühmt habe.

Ich stand eine Weile fassungslos den beiden einfachen Menschen in der verdunkelten Stube gegenüber und ging dann, beladener als ich gekommen war, in meine Dachstube zurück. Lange konnte ich mich zu nichts entschließen, sondern verharrte in der Mitte meines Zimmers und sah die Helle der Fensteröffnung immer mehr verschwinden, bis ich vollkommen in der Nacht stand. Daß ich den fratzenhaften Spaßmacher mit meinem rätselhaften Schicksalsschatten vermischt hatte, war also eine Torheit gewesen. Aber aus welchem Grunde mußte dieser trunkfällige Flötenspieler überhaupt zu einer solchen Bedeutsamkeit in meinem Leben gelangen? An dieser Frage, die ich mir stellte, und auf die es doch keine Antwort geben konnte, mühte ich mich herum, bis ich ganz erschöpft war, mich halb entkleidet ins Bett warf und bald einschlief. Nach wieviel Zeit, weiß ich nicht, wachte ich von einem Schlag gegen mein Fenster auf, der wie mit einem Kissen gegen die Scheibe geführt wurde, so daß sie noch leise schwirrte, als ich schon vollkommen klar war. Ich fuhr in die Höh' und wartete, ob er sich wiederhole. Es blieb still. Ich legte mich wieder um und sagte ergeben: ›Das ist der dunkle, fratzenhafte Flötenspieler, der mich daran erinnern will, daß er noch immer hinter mir her ist.‹; Lächelnd und erschrocken zugleich starrte ich noch eine Weile in diese sinnlose, traumhafte Verbindung meiner Lebensvorgänge, dann erlosch ich aufs neue im Schlaf.

Trotzdem blieb die Verdunkelung aus diesem Abende eine lange Zeit des letzten Jahres in Münster heimlich um mich. Sie auch bildete den Grund, weswegen ich nicht mehr auf den Hof zu Scheddebrok zurückkehrte, weil ich auch den Onkel Christoph mit ihr verflochten sah. Ich trieb mich die Ferien über bei anderen Verwandten umher, war einige Zeit wieder auf dem Schlößlein des Herrn von Rätern und kam gar einmal, ich weiß nicht mehr auf welche Weise, bis hinauf ins Schleswig-Holsteinsche zu einem reichen Windmüller, der auch mit mir verwandt sein wollte, und zwar von väterlicher Seite her. Er trug den gleichen Vor- und Zunamen wie ich und war glücklich über die Fügung des Zufalls, die mich ihm in die Arme lieferte. Alles von diesem Aufenthalt ist aus meiner Erinnerung gewischt, alles, bis auf ein einziges Bild.

Es müssen wohl die Herbstferien gewesen sein, die ich da oben zugebracht habe, denn nur in dieser Zeit herrscht die silbrig vernebelte Helle, in der jenes Erlebnis unverwischbar in meiner Erinnerung steht. Ach Gott, es ist ja gar kein Erlebnis, es ist nur ein Bild, ein Klang, aber doch eines meiner köstlichsten Erlebnisse. Wissen Sie, das meiste, das uns begegnet, wird so leicht schal in der Erinnerung, weil es sich durch den Ablauf fast restlos gibt und damit erledigt. Hier aber strich ein unnennbarer Hauch aus einer Welt meines Wesens an mir vorüber, die fast das gerade Gegenteil von der war, in der ich damals und leider den größten Teil meines ganzen Lebens zubrachte. Es war sicher im sehr frühen Morgen. Ich stand auf der halben Höhe des Mühlhügels und sah über die weite, wenig gewellte Ebene, deren Wiesen, von Herbstskabiosen übersät, wie riesige, taubenblaue Tücher zwischen dem betauten Grün der frischen Saatfelder und den braunen Ackerbreiten lagen. Da und dort lief vergilbendes Gartengebüsch um eine Herde Dorfhäuser mit einem Kirchturm als Weisel in der Ferne hin, die unmerklich abfiel, immer mehr in dem rauchigen Silber der allgemeinen Helle verdämmerte und, ehe sie ganz in einem magischen Schwelen endete, von einem breiten Buchenwald golden eingemauert wurde, daß sie sich selbst nicht enteilen konnte, und daß mein Blick an dieser leuchtenden Barre sich gleichsam selig aufbäumte. Dahinter spielten die Türme einer Stadt nur wie die Lanzenspitzen einer davonreitenden Schwadron in die Luft, und noch weiterhin, gleichsam von der Erde in den Himmel gehoben, mehr eine Luftspiegelung als Wirklichkeit, ein blauer verdämmernder Streifen: die Ostsee. Unmittelbar vor mir der flachsblonde Scheitel eines kleinen Mädchens, wohl der Tochter des Müllers, hinter und über mir das Sausen der Windmühlenflügel, und all dieser Zauber eingesungen in dem Netz dieser silbernen Helle, ich mitten inne, alles gleichsam davongeführt wie durch traumhafte Unendlichkeit.

Lieber Jungmann, die Zeiten der Seele werden nicht von den Tagen der Menschenuhren herausgeführt und gemessen. In diesem Bilde hat mein tiefstes Wesen seine Augen zu mir aufgeschlagen, und ich kehrte in einer Verzückung nach Münster zurück, die, wenn auch mehr und mehr verblaßt, die ganze Zeit der Vorbereitung auf mein Abitur angehalten hat. Vor dem Licht aus diesem Bilde weiß ich nichts mehr von dem Büffeln aufs Examen, das sich zu einem wahren Siegesfest für mich gestaltete. Wie ein Triumphator verließ ich im nächsten Frühjahr Münster und kehrte das erstemal nach Hemsterhus auf den Hof meines Vaters zurück. Ich war zwar noch nichts ganz Großes, wie ich mir geschworen hatte, stand aber nach der Versicherung meiner Lehrer am Anfange einer Laufbahn, die mich in ganz Großes hinaufführen mußte, wenn ich nur meinem Wesen, wie sie es kennengelernt hatten, treu blieb.

Ich weiß nicht, ob es mir durch meine Erzählung gelungen ist, den Zustand meines inneren Wesens ganz deutlich zu machen, in dem ich mich bei der Rückkehr auf den Hof meines Vaters zu Hemsterhus befand. Unterirdisch wogten noch ungebrochen die heißen, dunkeln Kräfte, die mich einst wie aus finsterem Hinterhalt als Knaben an Mathinka Meixner geschleudert hatten, über mir blühten die Himmel einer traumhaften Sehnsuchtsliebe zu Helene Sintlinger. In beiden zugleich war der lebendige Inhalt meines Wesens enthalten. Meine tätige Persönlichkeit aber war ein Homunkulus, den ich mit allen Mitteln meiner reichen Geisteskräfte großgezogen hatte, der Jahre hindurch, zur Bewunderung aller, verblüffende wissenschaftliche und Moralkunststücke aufgeführt hatte. In diesen Münsterschen Gymnasialjahren war ich wie ein Mönch, der durch die Brutalität des Lebens zu Anfang seiner Sündenblüte ins Kloster geschreckt worden ist, seine Leidenschaft in sich nicht ausrottet, sondern nur mundtot macht und indessen durch Befolgung aller Klosterregeln so sehr in den Ruf eines heilig-mäßigen Menschen kommt, daß er schließlich den Glauben der anderen an ihn selber glaubt.

Schließlich muß ich auch dem Bilde recht geben, das ich mir in der Rückschau von der damaligen Beschaffenheit meiner Wesensart gebildet habe. Ich war wie ein Vogel, der mit ausgebreiteten Schwingen von der verdunkelten Erde in die Höhe steigt, den Schattengürtel, der über der Tiefe liegt, überwunden hat und am Rande seiner Flügel bereits das Licht der Sonne glühend spürt. Zu der ihn sein Drang emporträgt. Inwiefern dieses Steigen ins Licht seine Nichtigkeit hat, werden Sie ja bald sehen. Allein es scheint für alle Menschen das schmerzhafte Daseinsgesetz zu gelten, daß sie nur durch Fallen zu steigen vermögen und nur durch das Gift leicht erlangter Erfüllung sich das Auge klar beizen für den Mut zur Erkenntnis ihrer wahren Sehnsucht. Mit dem Schattengürtel, der die Erde verhüllt, hat es aber seine vollkommene Nichtigkeit. Denn in den fünf Jahren, die ich von Hemsterhus abwesend war, ist kaum ein deutlicher Ton der Ereignisse bis zu mir gedrungen, die in der Zeit die wildesten Verhältnisse geschaffen hatten. Die Luft in meinem väterlichen Hofe war dieselbe geblieben, die mich einst davongejagt hatte. Ich merkte nach kaum einer Stunde, die ich unter dem heimischen Dach zugebracht hatte, daß sich Vater und Bruder eher tiefer in der Finsternis verloren hatten. Aber nach dem Tode meiner Mutter vollzog sich dies langsame Versinken reibungsloser. Beide waren wie früher die unzerstörbaren Arbeitstiere, denen Verdrossenheit und Widerwille den Fleiß würzte, so, daß sie alle Tage bis ins schweißrauchende Hemd arbeiteten, nur um am Abend das Recht zu haben, desto wilder und aus Herzensgrunde fluchen zu dürfen. Für meinen Bruder war diese Beschäftigung eigentlich mehr ein Vergnügen, wie für einen besonnten Menschen das abendliche Lied auf der Hausbank. Im übrigen hatte ich bald heraus, daß er geruhig in dem alten Morast geschlechtlicher Zuchtlosigkeit und des Trunkes weiterwatete.

Nein Vater lebte in der gleichen Feindseligkeit und überheblichem Mißtrauen gegen alle Welt, und nachdem er sich in dem Spott und Hohn über meine Gelehrsamkeit und das ›Bücheralben‹;, wie er das Lernen und Studieren nannte, genuggetan hatte, las er mein glänzendes Zeugnis, ging mit seinem schweren, donnernden Schritt und einem glückhaft – schwelenden Lachen in dem Zimmer auf und nieder und fragte dann, wozu das alles, die ganze Tagedieberei, die ich seitdem getrieben, eigentlich gut sei. Auf meinen Entschluß. Jura zu studieren, sah er mich erst mit gewulsteter Stirn drohend an, verfiel aber nach meiner Erklärung, dies bedeute, daß ich Richter werden wolle oder Rechtsanwalt, in Nachdenken, aus dem er endlich mit einem bösen, verstehenden Augenblinzeln auftauchte. So so, meinte er, nun begreife er alles. Das sei gut so, und das solle und werde gemacht werden. Denn da habe ich recht, nur auf diese Weise könne dem in allen Schurkenwassern dreimal gekochten Sintlinger der Garaus gemacht werden. Dann solle diesem Erzlumpen ein Prozeß gemacht werden, an dem er und sein ganzes Gezücht zugrunde gehen müsse. Denn eher gäbe es für ihn und für die ganze Gegend keine Ruhe. Richtig wie ein heimlicher Satan wüte er in allen Dörfern. Die Querhovener habe er von dem alten Glauben abgewendet, durch verrücktes Höllengewäsch, das er ihnen in die Ohren blase, daß das ganze Dorf in der Auflehnung gegen die Kirche und den Pfarrer begriffen sei. Den großen Meixnerbauern habe er so lange gereizt, daß er vom Trunk in ein wahres Teufelssaufen geraten sei und alles in Grund und Boden verludert habe, bis sein Weib in einer Nacht in die Querhofener Teufe gesprungen und dort zu Tode gekommen sei. Alles wühle er auf. Das Gut des Meixner sei versteigert und von der Arenbergschen Herrschaft für ein Lumpengeld erworben worden. Und nun sitze der große Meixnerbauer in einer erbärmlichen Hundehütte von Haus und gehe wie ein abgemagerter Wolf umher, den die stille Tollwut plage. Seine Tochter, das Mathinklein, habe aus Wesel zurückgenommen werden müssen und spiele nun bei den Verwandten in dem Hemsterhuser Gasthaus die Schenkmagd, sie, die Großbauerntochter. Es sei eine Schande, die zum Himmel stinke. Und alles das rühre von niemand als dem dreimal vermaledeiten Sintlinger her, der heuchlerisch wie ein Heiliger umhergehe, seinen Hof zu einer Herberge für Straßenvögel gemacht habe und allen Leuten die Köpfe verdrehe mit seinem Wortkram, er wie seine blinde Milchpuppe, dies verdrehte und verschraubte Gemächte, das die blöden Allfanzer der Gegend das Heiligenlenlein nennen. Es sei zum Kotzen und Kränkelriegen, und seitdem dieser Himmelhund den Bau der neuen Straße durchgesetzt habe, sei es überhaupt nicht mehr auszuhalten mit ihm.

So tobte mein Vater fast die halbe Nacht und leerte den Kübel seiner giftigen Finsternis vor mir aus. Er legte mein gelegentliches Nicken, daß ich verstehe, was er meine, als Zustimmung aus und steigerte sich immer wilder in seinen ererbten Familienhaß hinein, bis er sich ausgepumpt hatte, mit eingesunkenem, verzerrtem Gesicht im Stuhl zurücksank und in der Erschöpfung eine Weile geschlossenen Auges ausruhte. Dann kam ein glückliches, fast triumphierendes Leuchten über sein gefurchtes Gesicht und in seine Augen. Er griff nach meiner Hand herüber und drückte sie inbrünstig zum Zerbrechen. So, das sei richtig von mir, sagte er erschüttert, ich solle alles lernen, alle Finten der Gesetze und alle Rechtsschliche, dann könnten wir dem Gezücht da drüben an die Gurgel. Alles möge dann geschehen und vergessen sein, was ich getan habe, daß die Mutter an mir gestorben sei und ich mich jahrelang nicht um ihn gekümmert habe, ob er sterbe oder lebe. Dann ging er hinaus, und ich hörte ihn von meiner Stube aus noch lange um den Hof wirtschaften und schimpfen.

Obwohl ich wußte, daß in dem haßerfüllten Herzen meines Vaters die Vorgänge verzerrt bis ins Gegenteil sich spiegelten, ja gerade deswegen, brachte ich es nicht über mich, durch Umfragen und Erkundungen mir eine richtige Einsicht in die veränderten Verhältnisse der Gegend zu verschaffen und vor allem zu erforschen, ob tatsächlich, wie es mein Vater dargestellt hatte, der Sintlinger und seine blinde Tochter die einzig Schuldigen an dem Verfall und der Zersetzung der Ordnung seien. Der schwache Schatten des Argwohnes gegen diese beiden Menschen, der in einem solchen Beginnen lag, hinderte mich an jedem Versuch der Aufklärung der verworrenen Finsternis, die über Hemsterhus, Querhoven, Brederode und einigen anderen Dörfern lastete. Ich war aus dem Heiligtum meiner himmlischen Verehrung für den Sintlingerbauern, vor allem aber seiner entrückten Tochter, durch meinen Vater hinausgepeitscht worden. Es war wohl nicht zerstört, aber in mir gleichsam ins unerreichbare gerückt, vermauert worden, und ich wollte mir wenigstens diese selige Verschollenheit meiner Tiefe unversehrt bewahren, weil ja letzten Endes mein Streben darauf gerichtet war, mir ein ähnlich hohes, reines Leben zu erringen, wie es diese beiden Menschen fühlten. Der Haß meines Vaters gegen sie hatte wenigstens das eine Gute für mich, daß er mir den Weg zum Studium der Rechte ebnete, zu dem ich mich, aus einem anderen Grunde allerdings, gedrängt fühlte.

So beschloß ich meiner gewohnten Abseitigkeit von allem, gleichsam als Fremder, bis zu meiner Immatrikulation in Münster auf dem Hofe meines Vaters zu bleiben. Ich machte weder dem Pfarrer noch dem Kantor einen Besuch, brachte es über mich, den Sintlingerhof wie ein unbekanntes, mir völlig gleichgültiges Anwesen zu betrachten, saß die meiste Zeit über den Büchern und gönnte mir die einzige Erholung, täglich stundenlang in den weiten Wäldern umherzustreifen. Nur nach Eintritt der Nacht spazierte ich ab und zu, in meinen Mantel gehüllt, den Hut tief in die Stirn gezogen, durch die stillen Gassen von Querhoven, Hemsterhus und Brederode und wich jedem Gespräch mit den Leuten aus. Trotz dieser ängstlich gewahrten Abgeschiedenheit erfuhr ich doch einiges von der leidenschaftlichen Aufgewühltheit, in der alles fieberte. Der Vater des Mathinkleins war wirklich nach dem gewaltsamen Tode seiner Frau in der Querhovener Teufe durch sein Luderleben von dem Hofe vertrieben worden und lebte als Speilhobler in einem kleinen Hause. Seine Trunksucht hatte er sich mit einem gewalttätigen Griff aus dem Leibe gerissen und war als ein Mensch, der sich nur durch Ausschreitungen am Leben erhalten kann, auf eine Religiosität verfallen, die wie die Ausdünstungen seiner unterdrückten Trunkfälligkeit in ihm tobten. Er saß ganze Nächte über der Bibel und war in jener Zeit drauf und dran, seine Dorfgenossen, die Querhovener, die alle eigentlich geheime Wiedertäufer waren, lammfromme, sanftmütige Wesen, zu seiner neuen Lehre herüberzureißen. Er wollte die gewaltsame Zerstörung der katholischen Kirche oder, genauer gesagt, den offenen Aufruhr gegen den Pfarrer Ardelt und den Kantor Liborius Pfeiffer. Der alte geistliche Herr war nämlich im Laufe der Jahre von dem zelotisch frommen Schulmeister ganz von seinem gütigen, toleranten Christentum in einen fanatischen Glaubenseifer abgedrängt worden und bedrückte die Querhovener durch allerlei Schikanen wegen ihrer geheimen Hinneigung zum Wiedertäufertum, dem sie als Gesinnungserben ihrer Ahnen verborgen anhingen. Der Kantor hudelte ihre Kinder in der Schule auf alle niederträchtige Weise, der Pfarrer donnerte in der Kirche gegen sie, hatte schon einem Gestorbenen aus dieser Gemeinde das kirchliche Begräbnis und die Ruhe in geweihter Erde versagt und war in seiner verblendeten Erbitterung bei der Fürstlich Arenbergschen Güterverwaltung durchgedrungen, daß den armen Querhovenern die kleinen Pachtackerstreifen entzogen worden waren, auf denen sie einen Teil ihres kargen Lebensunterhaltes bauten. Dadurch steckten sie alle in der härtesten wirtschaftlichen Bedrängnis und hatten eigentlich nur die Wahl, ihre Anwesen im Stich zu lassen oder ihr heimliches, ketzerliches Glaubensschwärmen feierlich abzuschwören. Das erfuhr ich ungefähr auf meinen Nachtgängen in den Dörfern, begegnete einmal selbst dem Meixnerbauern, wie er in einem Rudel ängstlicher Männer finster dahinging, dann stehenblieb, wild fuchtelnd sprach und zuletzt mit seiner kleinen Schar auf einem Rain gegen den Wald hin in der Dunkelheit verschwand. Denn dem wilden Mann war es gelungen, einen Teil der unzufriedenen, bedrückten Querhovener zu sich herüberzureißen, und sein Anhang wuchs von Tag zu Tag. Mathinka Meixner erblickte ich einigemal durch das unverhangene Fenster des Gastzimmers, wie sie, modisch aufgesteckten Haars, städtisch herausgeputzt, lachend zwischen den Tischen hin und wieder ging und die Gäste bediente. Hoch gewachsen, voll und schön, ohne eine andere Spur von Bedrücktheit als einer fast frechen, überheblichen Lustigkeit, bewegte sie sich unter den Bauern. Einmal hörte ich sogar ihr Lachen durch die geschlossenen Fenster zu mir herausdringen, da ich einen Augenblick auf der Straße stehengeblieben war. Es hatte noch denselben sinnlich aufreizenden Klang wie früher. Aber es zuckte mir weder ins Blut, noch umnebelte es mir heiß das Herz wie ehedem. Ich ging kühl weiter und schüttelte nur den Kopf in einem, ich möchte sagen intellektuellen Mitleid, das heißt einem, das nur aus dem Hirn zu stammen schien.

In welcher Weise aber der Sintlinger und seine Tochter mit all dem in Verbindung stehen sollte, wie mein Vater behauptete, davon erfuhr ich nichts, und ich vergrub mich noch tiefer in meine selbstgewählte Einsamkeit.

Ein leises Minieren arbeitete freilich in mir, als dränge Verschollenes ins Leben, als ringe Unterdrücktes gegen seine Fesseln, ein Zehren, eine Unruhe bewegte trotz aller sicheren Beherrschtheit mein Herz, und wie nach überstandener Nacht auf fernen, noch traumdunklen Bergen die verborgene Sonne als ersten Morgengruß ein schwaches Glänzen haucht, so schwebte aus der selig-verwunschenen Zeit meiner Kinder- und Knabenjahre eine erlösende Helle heran. Ich habe weder dies Dunkle noch dieses Helle in mir ermessen, denn zu allen Zeiten des Daseins, nicht bloß in der Jugend, sondern auch im Alter stellt das Bewußtsein nur einen kleinen Teil unseres Wesenssinnes ins Licht der Erkenntnis, der wichtigste und tiefste Teil kann nur durch das Erlebnis erfahren werden. So geschah es auch hier.

Die Vorgänge überstürzten sich. Meine Tage bis zur Übersiedlung nach Münster waren nur noch karg bemessen, und meine Aufmerksamkeit hatte sich von diesem unterirdischen Rumoren in der Gegend noch mehr abgekehrt und war fast ganz von den Plänen für meinen Lebenszuschnitt auf der Universität in Anspruch genommen. Deswegen erregte mich die Nachricht von den neuen Verwicklungen in dem Verhältnis der Querhovener zu dem Pfarrer Ardelt nicht mehr als etwa die Feindseligkeit eines Indianerstammes gegen die Weißen im wilden Westen Amerikas. Ein armer Speilhobler aus diesem Dorfe war ohne den Empfang der Sakramente gestorben, und der Pfarrer hatte ihm das kirchliche Begräbnis verweigert. Daraufhin hatten ihm die Aufsässigen dieses Ortes, unter Vorantritt ihres wilden Anführers, des Meixnerbauern, an dem Waldrande der Querhovener Lehne ein Grab bereitet und, wie die Leute sagten, einen häusergroßen Stein darauf gewälzt, um seine polizeiliche Exhumierung zu verhindern. In den Nächten hörte ich den dumpfen Gesang der Männer, die an dem Grabe ihres Genossen Wache hielten, bis zu mir herüberschallen. Das dauerte drei, vier Nächte lang. Gendarmen gingen und ritten hin und wider, tauchten auf und verschwanden, weil sie, wie die meisten, glaubten, diese Auflehnung werde endlich an sich selbst zugrunde gehen. Aber am fünften Tage nach dem Tode des armen Speilhoblers, es war, wie ich mich noch genau erinnere, an einem Donnerstag, am Morgen, um die Zeit des Frühstücks, begannen sämtliche Glocken der Kirche zu Hemsterhus Sturm zu läuten, und das Glöckchen zu Brederode fing auch bald an, in dieses Brausen mit seiner Stimme zu wimmern, als schreie ein erschrecktes Kind um Hilfe.

Wir eilten alle vor den Hof und hielten Ausschau nach dem Tale hin, das Gesinde bestürzt, mein Bruder mit einer stumpfen, geilen Neugier im Gesicht, mein Vater, voll eines glückhaft bösen Triumphes. Denn diese Rebellion, von dem Sintlinger angezettelt, mußte ihn vernichten. Und schon sahen wir eine lange Prozession von Männern, die sich langsam durch das Tälchen aus Querhoven herauswand und auf Hemsterhus zu marschierte. Sie bestand aus zwei deutlich unterscheidbaren Teilen, ein dunkler Klumpen voran, dahinter, zu Paaren geordnet, ein langer, sittsamer Zug. Von dem hin und wieder schwankenden Winde wurden dann und wann die Töne eines sanften Kirchengesanges zu uns hergetragen. Das konnte doch kein Aufruhr sein, obwohl die riesige Gestalt des Meixnerbauern unter der dunklen Masse, die an der Spitze ging, zu erkennen war. Mein Vater verbot den Leuten, denen es in allen Gliedern juckte, einen Fuß vom Fleck zu rühren, und hing mit wahrer Andacht an der Entwicklung des Schauspiels drunten. Ich schlich mich weg und eilte durch den Wald, gestreckten Laufes, hinunter nach Hemsterhus. Atemlos kam ich auf dem Schenkenplan an, wo sich die Chaussee nach Bocholt abzweigte. Die Aufrührer waren schon nach der Kirche zu vorüber und alles wie ausgestorben. Wegen meiner früheren Beziehungen zu Pfarrer und Kantor wollte ich ihnen nicht nachgehen und trat unter die Tür des Gasthauses, das auch totenstill, wie von allen verlassen lag. Nur hin und wieder tönte schwaches Wimmern einer Frauenstimme aus einem verschlossenen Zimmer im oberen Teil des Hauses. Da wurde ich von hinten vorsichtig an der Achsel berührt, und als ich mich umdrehte, schaute ich in das leichenblasse, verängstete Gesicht der Wirtin, der Schwester der ertränkten Meixnerbäuerin, der sogleich die Tränen aus den Augen stürzten. ›Ach Gott,‹; sagte sie schluchzend, ›daß man so etwas erleben muß! Am meisten tut mir das Mathinklein leid. Sie liegt droben in der verschlossenen Stube, weint zum Gotterbarmen und macht auf alles Bitten nicht auf. Wenn sie sich nur nicht was antut.‹; In diesem Augenblicke brach von der Kirche her, die Glocken hatten zu läuten aufgehört, ein ohrenbetäubendes Geschrei von Männerstimmen los. Daraufhin steigerte sich das Wimmern des armen Mathinkleins zu schrillem Gellen, daß die Wirtin sich jäh abwandte und im Fluge die Treppe hinauf zu Hilfe eilte. Mir wandte es auch instinktiv die Füße. Aber ein Blick nach dem Wege von den Friedhöfen her hielt mich zurück. Dort raste ein leichter Halbgedeckter in einem Galopp, der schon mehr Karriere war, auf Hemsterhus zu. An dem Rotfuchs erkannte ich es als das Gefährt des Sintlingerbauern, der dann und wann, wenn das Pferd in langsamere Gangart verfallen wollte, wie toll auf das Tier einhieb. Im Sprung kam es näher. Der Sintlinger saß, die Leine um die Hand geschlungen, mit zusammengezogenem bleichen Gesicht, wie im Stoß vorgebeugt, darin. Und neben ihm lehnte das Lenlein in einem himmelblauen Kleide so ruhig, so selig, als liege es träumend zwischen den besonnten, weißen Wölkchen, zu denen ihre blinden Augen groß und klar emporgerichtet waren, als höre es nicht das Gebrüll wilder Männerstimmen, sondern die Musik von Engeln. Dem Rotfuchs schnob der Schaum aus den aufgerissenen Nüstern, die Glocken begannen aufs neue im Kirchturm zu toben, als wollten sie aus den Schallöchern springen. So wurde das Gefährt an mir vorübergerissen.

Ich bekam von dem Anblick dieses himmlisch entrückten Mädchens einen Stoß, wie von einer gläsernen Lanze, vor die Brust, einen Stoß, der durch und durch ging, so furchtbar und zugleich so über alle Begriffe glückhaft schmerzlich, als habe ich die fünf Jahre nur auf diese selige Verwundung gewartet.

Was kümmerte mich nun der ganze Zimt dieser verrückten, toll gewordenen Querhovener! Ich hörte das Wimmern des entehrten Mädchens im Zimmer droben nicht mehr, sprang über die Straße, drückte mich zwischen den Gehöften aufs Feld hinaus und ging über Brederode, durch den Buchengrund im großen Bogen, an dem Sintlingerhofe vorbei, nach Hause. Ich ging auf der Erde und doch wie in der Luft. Diese Helene Sintlinger war kein Menschenwesen, sondern ein göttliches Geschöpf, wie ich mir als Kind die Engel oder die Mutter Gottes selbst vorgestellt hatte. Wie trunken, geistesabwesend kam ich auf unserm Hofe an, verstand die Fragen meines Vaters, mit denen er auf mich eindrang, nicht und schloß mich in mein Zimmer ein, wo ich mich an das Fenster stellte und unverwandt auf den Sintlingerhof hinüberschaute, versunken und entrückt wie ein Frommer im Anblick des Allerheiligsten. Den ganzen Tag machten die Engel Musik an Himmelstüren, die in mir offen standen. Was von dem Verlauf und Ausgang des Aufruhrs auf unsern Hof getragen wurde, hörte und hörte ich nicht.

Die Aufrührer waren in den Pfarrhof gedrungen und hatten die Beisetzung ihres Genossen in geweihter Erde unter kirchlichen Ehren verlangt, und da der Pfarrer Ardelt sich in sein Haus eingeschlossen hatte und nicht zur Verhandlung mit ihnen erschien, hatten die empörten Männer schon die mitgebrachten Äxte gelockert, um unter Anführung des wilden Meixner die Tür einzuschlagen. In diesem gefährlichen Augenblicke war der Sintlinger erschienen und hatte durch überlegene Besonnenheit und Güte die verführten armen Speilhobler von ihrem tobenden Propheten abgewendet und zum Einlenken gebracht. Sie hatten sich seine Vermittlung gefallen lassen. Die Tür war ihm von der Beschließerin geöffnet worden, leider zu spät. Denn beim Eintritt hatte er den Pfarrer Ardelt als Toten gefunden. Er lag, vom Schlage getroffen, auf der Diele seines Zimmers zwischen Tisch und Tür, noch warm, aber entseelt. Beim Wiedererscheinen des Sintlingers unter den Aufrührern hatte sich der Meixnerbauer von hinten auf ihn stürzen wollen. Allein sein wilder Hieb mit einem Baumast sei neben dem Heiligenbauern ins Leere geschmettert, weil seine blinde Tochter ihn zur Seite gerissen hatte. Alle, bis auf meinen Vater, sahen darin ein Wunder und fanden das Ende, das sich der enttäuschte und von seinen Anhängern verlassene Meixnerbauer selbst bereitet hatte, wohl furchtbar, aber gerecht. Er war nach dem mißglückten Überfall auf den Sintlinger von seinem eigenen Neffen zu Boden gerissen worden, und der riesige, bullenstarke Mann hatte sich von dem kleinen, schwächlichen Burschen ohne Gegenwehr blau und blutig prügeln lassen. Dann war er aufgestanden, hatte alle im Kreise groß und traurig angesehen, zustimmend und unter einem unsäglichen Lächeln genickt und war dann durch die Menge hin zum Dorfe hinausgegangen und im Bocholter Walde verschwunden. Zwei Stunden später fanden ihn die Landjäger in einer Fichtenschonung kniend und erhängt. Für meinen Vater hatte bei dem ganzen Handel der Satan die Hand im Spiele, der alles auf das Geheiß des Sintlingers hin so gelenkt habe. Denn eigentlich gehörte, wie er meinte, der kleine Teufel von drüben in die Hanfschlinge unter den Fichten. Ich verließ vor diesem lästerlichen Gerede den Hof und lief den ganzen Nachmittag auf unsern Feldern umher. All die finstern Ereignisse erhöhten noch den Glanz um das Bild des Sintlingerlenleins, so daß ich nur noch tiefer in die Verehrung aus meiner Knabenzeit für sie geriet. Zu einem ernsten Entschluß kam es nicht. Ich schwärmte nur, blühend, aber energielos.

Gegen Abend war ich wohl so weit, daß ich in mir erwog, ob ich nicht hinüber auf den Sintlingerhof gehe und mich nach dem Befinden Helenens erkundige. Aber ich erinnere mich noch deutlich, wie lahm, wenn auch noch so verlockend, dieser Vorsatz in mir aufkam, denn ich war sicher, daß seine Ausführung meinen Vater in die blindeste Wut versetzen mußte und schließlich mein ganzes Studium gefährden konnte. In seiner Erbitterung war er zu allem fähig, sein Versprechen zurückzunehmen und mich ohne Mittel vom Hofe zu jagen. Die Nacht sank herein, aber mein Wille stand noch immer zögernd vor diesem Weg ins Helle. Ich saß unter einem Baum unseres Obstgartens und starrte durch das zunehmende Dunkel nach dem Sintlingerhofe hinüber, wo in dem Wohnhause das Licht angezündet wurde. Fenster um Fenster flammte rötlich auf. Es wirkte wie eine Aufforderung, meine Bedenken abzuschütteln, wie ein Signal zum Handeln.

Ich erhob mich, ordnete meinen Anzug und räusperte mich laut und anfeuernd. Aber da ich durch das Dunkel nach dem Steige zu dem Grenzwege ausschaute, sah ich jemand dort herangeschlichen kommen. Es war schon so finster, daß ich die Umrisse nicht mehr genau wahrnehmen konnte. Manchmal sah es aus, als ginge da unten ein Mann, dem ein Hund nachfolgte, ein riesiges, schwarzes Tier, und manchmal auch glaubte ich, nur einen Mann zu erblicken, der sich im Fortbewegen bald aufrichtete, um zu horchen, und dann wieder geduckt vorwärts sprang. Die Zauberhelle, das inbrünstige Feuer um das göttliche Bild des Sintlingerlenleins, war in mir ausgeblasen. Ich war ganz Spannung, Horchen und Augenbohren in die Nacht, tat einige behutsame Schritte nach dem Steige, der von unserm Hof nach dem Grenzwege drunten führte, und hielt selbst den Atem an, um besser beobachten zu können. Die rätselhafte Gestalt war jetzt bis zu der Stelle gekommen, wo unser Steig in den Grenzweg mündete, und schien von der Erde verschwunden. Eben wollte ich, aufgebracht über meine törichte Erregung und die Äfferei vor mir, hinunterschreien, wer da unten herumkrieche, da rief es behutsam, dringend, mit atemschwacher, ausgelaufener Stimme meinen Namen. Es rief ihn, wie ein Vertrauter, mir Bekannter, der gekommen war, mich an eine heimliche Verabredung zu erinnern. Sogleich hielt ich in meinem lautlosen Vorwärtsschreiten inne und wartete, ob sich der Ruf wiederholen würde, oder ob es nur eine Einbildung sei. Aber nein, da rief es wieder, eher leiser, noch dringender als vorher, als habe mich der Allbekannte endlich erblickt.

Nun gab es für mich kein Halten mehr. Mit dem Ruf: ›Zum Teufel noch mal, was wollen Sie denn von mir!‹; stürzte ich in langen Sätzen über den Abhang hinunter, dem Grenzwege zu. In demselben Augenblick sprang der Unbekannte hinter der dicken Weide hervor, wo er sich verborgen hatte, und lief lautlos und pfeilschnell wie ein Wiesel auf dem Grenzwege nach Hemsterhus zurück. Ich war dazumal schon so groß wie heut, und Sie können sich denken, wie ich hinter ihm her war. Noch nie in meinem Leben bin ich so gelaufen wie damals. Aber der Unbekannte war wie ein Hexenmeister. Spielend sprang er wie durch die Luft. Wenn ich ihm auf zwanzig Schritt nahe gekommen war, schlug er lachend einen Haken und rief im nächsten Augenblick, weit vor mir auf der Straße, äffend und lockend meinen Namen: ›Peter! Peter!!‹; Doch nun klang seine Stimme blechern, leer, fast so wie die Stimme des trunksüchtigen Sattlergesellen, dessen Flötenspiel aus dem Höfchen zu Münster ich sooft gelauscht hatte, und der mir einst auf meinem abendlichen Rückgang vom Ruppenberg in der weinfröhlichen Hochzeitsgesellschaft den dummen Schabernack gespielt hatte. Aber wie kam der Kerl hierher? und was wollte er von mir? Das fragte ich mich und verdoppelte meine Anstrengung, seiner habhaft zu werden. Es war umsonst. Er flog vor mir her, grotesk wie ein Irrwisch und wie ein geständerter Vogel, jetzt zum Greifen nahe, im nächsten Moment schon wieder weit vor mir, und immer, wenn er mich so genarrt hatte, brach er in sein höhnisches Trottellachen aus und rief meinen Namen. Schon tauchten die Lichter von Hemsterhus auf. Grell stachen vor allem die hell erleuchteten Fenster der Schenke durch die Nacht. Ein halber Schein davon geisterte noch über die Wiesen. Da sprang unvermutet der Verfolgte, dem ich auf ein paar Sätze nahe gekommen war, so daß ich schon deutlich seinen Atem pfeifend gehen hörte, mit einem verzweifelten Schwung über den Graben, die Hände wie lange, gerupfte Flügelstummel ausgebreitet, und war in der tieferen Wiese verschwunden. Ich stutzte einen Augenblick über diesen gnomenhaften Sprung und hörte ihn bald darauf wieder lachen und höhnisch meinen Namen rufen. Nein, das war nicht die Stimme des Sattlergesellen. Die klang anders, frecher, gemeiner, aber zusammengeraffter. Vielleicht war das der Niemandalb, schoß es mir durch den Kopf, während ich die Jagd wieder aufnahm. Das war ein Halbsinniger, der in Hemsterhus sein Wesen trieb und, wenn ein Wirbel seinen verdrehten Kopf packte, den Leuten mit verrückten Einfällen und schnakischen Alfanzereien beschwerlich fiel. Was hatte ich davon, mich mit einem Trottel in der Nacht auf dem Felde herumzujagen? Wenn die Leute davon erführen, würde mich jedermann mit Recht auslachen. Aber ich hatte mich in eine solche Erregung hineingeprescht, daß ich wie ein Jagdhund an allen Gliedern bebte und den Pfiff meiner Vernunft überhörte. Ich schoß hinter dem Verrückten her, denn nun glaubte ich fest, es sei der Niemandalb. Wir waren beide im Ermüden. Die Hatz ging langsamer, aber die Jagd dauerte an.

Da waren wir in Hemsterhus. Er hopste über den Graben auf die Bocholter Chaussee, lief auf die Schenke zu und verschwand im Garten hinter dem Gebäude.

Ohne zu zögern, folgte ich ihm, wie der Jäger etwa einem weidwunden Tier nachspürt, um ihm Zeit zu lassen, sich im Krankenlager niederzutun. Denn daß der Niemandalb nach dieser wilden Jagd, auch abgeschlagen, irgendwo, und zwar nicht weit, sich verschnaufen mußte, war mir sicher. Nun, und war es der trunkene Sattlergeselle aus Münster, so galt für ihn dasselbe! Ich ging also gemächlich um den hellen Schein herum, den die erleuchtete Schenke in die Nacht warf, und zwängte mich durch den lebendigen Fichtenzaun in den Garten. In der Gaststube herrschte ein Lärm, der mich ins Herz hinein betroffen machte. Es tobte drinnen, daß sogar das Licht zu zittern schien, das sich aus den unverhangenen Fenstern ergoß, und dabei fühlte ich, wie durch diesen Lärm gerade eine beklemmende, leichenhafte Stille erzeugt wurde. Wir, der ich vom Garten aus einen Augenblick in diesen Tumult schaute, ging es ja geradeso. Mir brausten die Adern, mir tobte es in den Ohren, meine Gedanken wirbelten, und dennoch, im tiefsten, gleichsam noch unterm Herzen, herrschte die Spannung einer so ungeheuerlichen Stille, daß ich versucht wurde, laut mit den Füßen zu trampeln, zum Halsblähen zu schreien oder schrill zu pfeifen und dabei laut in die Hände zu klatschen. Alles, um mich von diesem unerträglichen lautlosen Lasten in mir zu befreien.

Da raschelte irgendwo ein Fenster, und bald darauf hörte ich einen dumpfen Fall, dem ein schwaches, unterdrücktes Aufseufzen folgte. Törichterweise dachte ich an den Sattlergesellen, der möglicherweise versucht hatte, in ein Fenster einzusteigen, um zu stehlen, und der dabei das Gleichgewicht verloren hatte und abgestürzt war. Ehe ich mich abermals auf die Suche begab, warf ich noch einen dringenden Blick in die Gaststube, und als ich Mathinka Meixner nicht erblickte, wuchs diese Leichenstille unterhalb meines Herzens noch. Nun begann ich den ganzen Garten abzusuchen, wendete jeden Strauch herauf, guckte hinter jeden Baum, drückte mich, als ich nichts und niemand fand, an der anderen Gartenseite durch den Zaun und gelangte auf eine Wiese, die sich bis zur Bocholter Chaussee erstreckte, deren fahles Band ich in der Nacht undeutlich gewahrte. Ich stand und bemühte mich, mit meinen Blicken das tiefe Dunkel zu durchdringen. Lange blieb alles ein schwarzes Wogen, bis es mir endlich war, als schleiche jemand vorsichtig durchs Gras. Ich stellte mein gespanntes Auge in die Richtung, aus der das streichende Schleichen zu hören war, und dachte: Kujon, nun habe ich dich, nun entkommst du mir nicht! Und da gewahrte ich auch wirklich eine Gestalt. Sie ließ eben die Vorsicht außer acht und begann geduckt über die Wiese zu laufen. Vor dem fahlen Band der Bocholter Chaussee stutzte sie und richtete sich erschöpft und ringend auf. Da erkannte ich an den weichen Bewegungen, daß es kein Wann, sondern ein weibliches Wesen sei. Mein Herz wurde von einem geradezu dröhnenden Stoß erschüttert, daß sich alles einen Moment um mich drehte. Als ich wieder zu mir kam, sah ich sie mühsam über den Graben springen und auf der Chaussee dem Walde zueilen, der zwei, drei Felder hin begann. Das war niemand als Mathinka Meixner auf der nächtlichen Flucht vor der Schande. Ich bezwang mich, laut zu rufen. Während ich auf den Fußspitzen ihr rasend schnell nachsetzte, sprach ich fortwährend lautlos ihren Namen in mich hinein und wurde davon voll eines solchen Mitleids mit der Unglücklichen, daß mir die Tränen würgend in der Kehle saßen. Auf diese Weise kam ich ihr immer näher.

Trotz meiner Vorsicht mußte sie meine Schritte gehört haben, denn sie begann plötzlich wie entsetzt zu laufen. Da ließ ich alle Überlegung fahren, rief laut und beschwörend ihren Namen und sprang in langen Sätzen ihr nach. Ehe sie in den finstern Wald untertauchen konnte, hatte ich sie erreicht.

Gerade stahl sich der späte Mond über den dürren Berg hinter Querhoven in den Himmel hinauf, und ich konnte gut die unwillige Verzweiflung von ihrem Gesicht ablesen, das sie mir zuwandte. Ohne einen anderen Laut als den eines unterdrückten Aufschreis entsetzter Qual, riß es ihr Gesicht herum. Sie maß mich einen Augenblick verächtlich und sprang dann unter dem Ausruf: ›Was willst du von mir? Geh deiner Wege!‹; über die Chaussee an den anderen Graben in den Schatten. Sie trug ein großes Umschlagetuch, das ihre ganze Gestalt vom Kopf bis fast zu den Füßen verhüllte. Und als sie so ungeschickt und abgeschlagen wie einer, der den ganzen Tag über die Gewalt gelaufen ist, von mir wegsprang, bemerkte ich, daß sie unter dem Tuch eine große Bürde in der Rechten trug. Diese setzte sie erschöpft zu Boden, als sie drüben angekommen war, und während sie sich die Haare aus dem Gesicht strich und das Tuch eilig zusammenraffte, das sich vom gelöst und halb über die Schultern geglitten war, drohte sie wild, sofort in den Wald hineinzulaufen, wenn ich wage, zu ihr herüberzukommen. Fast wie wahnsinnig sprach die Bejammernswerte, raffte und zog an ihrem Tuch, um sich wieder ganz darin einzuhüllen – und brachte es lange nicht fertig. Ich sah, daß sie nur mit dem Hemd und einem kurzen Unterröckchen bekleidet war, ja sogar weder Schuhe noch Strümpfe anhatte. Deswegen wagte ich mich nicht zu ihr, bis sie, wieder vollkommen vermummt, sich beugte, um die Bürde aufzunehmen und weiterzugehen. Dann lief ich hinüber und griff nach der Bürde. Wie eine Eisenklammer saß ihre Hand um den Knoten des Tuches, in dem allerhand Kleidungsstücke eingeschlagen waren. Sie rang mit Aufbietung aller Kräfte darum, weil sie glaubte, ich wolle die Sachen an mich bringen, um sie wieder nach Hemsterhus zurückzunötigen. Endlich glaubte sie meinen Versicherungen doch, daß ich ihr nicht wehe tun, sondern nur helfen wolle, überließ mir die Bürde, hüllte sich in ihr Tuch und begann, eilig und in sich gekehrt, ihren Weg fortzusetzen, so, als sei sie ganz allein im Walde.

Ich war von dem Brausen vor meinen Ohren, von dem Rasen meines Herzens benebelt und ging eine lange Strecke des Weges stumm neben ihr, sie unbemerkt mit meinen Blicken überfliegend, wenn an einer lichten Stelle ihre Gestalt im Scheine des immer höher steigenden Mondes deutlicher zu sehen war. Das Tuch reichte ihr wenig über die Knie. Aber ohne Rücksicht auf die Nachtkühle und den feuchten Weg schritt sie lang aus. Dann und wann schauerte sie wohl zusammen, zog das Tuch fester um sich, griff aber im Schreiten noch weiter aus, als seien uns die Verfolger auf den Fersen.

Rücksichtslos ging sie durch Pfützen, die ihr in den Weg kamen, daß der Kot ihr an den weißen Beinen emporspritzte und sich in dunkeln Flecken dort festsetzte.

›Sie geht wie durch Blut. Durch ihr eigenes Blut!‹; Dieser Gedanke schoß mir auf einmal aus dem Herzen, und nach einigen dringend-liebevollen Anrufen, mir doch endlich Gehör zu schenken, fing ich am, von den Vorgängen zu sprechen, die mich von unserm Hofe nach Hemsterhus heruntergeführt hatten. Ehe ich mich versah, wurden meine Worte so durch mein Herz verwandelt, daß meine Erzählung von dem Unbekannten, dessen Ruf mich auf dem Abhang getroffen hatte, zur inbrünstigen Liebesklärung eines Menschen wurde, der durch göttliche Fügung zur rechten Zeit an die Seite jener geführt worden sei, die er in all den Jahren leidenschaftlich ersehnt habe.

Matkinka hatte erst schweigend, mit oft abgewendetem Gesicht zugehört. Dann begann sie leise zu weinen. Alls ich meine Erzählung mit der Frage beendet hatte, ob sie nach all dem noch immer glauben könne, daß ich nicht wert sei, ihr beizustehen, verwandelte sich ihr Weinen in lautes Schluchzen.

Ich überließ sie eine Weile dem Ausströmen ihres Schmerzes. Dann fragte ich, ob sie wisse, wer der Mann gewesen sei, der mich zur Schenke, zu ihr geführt habe, ob sie ihn vielleicht gar geschickt habe. Da hörte ihr Weinen mit einem Ruck auf. Ihre Weichheit verwandelte sich jäh in Wildheit, und sie brach in ein bitteres Gelächter aus. Wie könne ich so etwas von ihr glauben? rief sie voll Wut. Obwohl sie das Kind von Selbstmördern sei und in Schande sozusagen als Ausgestoßene im Schmutz der Gasse liege, so viel Stolz besitze sie denn doch noch, sich nicht einem Menschen an den Hals zu werfen, der gewiß schöne Worte auf der Schule gelernt habe, aber in Wahrheit nichts von ihr wissen wolle. Sie habe von ihrer Tante wohl gehört, daß ich am Vormittag bei der Rebellion unten in der Schenke gewesen sei. Ich müsse sie weinen gehört haben. Aber ich sei nicht gekommen, ihr beizustehen, sondern habe unten das Vorbeifahren der Helene Sintlinger gesehen und sei dann weggeschwunden, ohne mich mit einem Wort um sie zu kümmern.

Über diesem Gespräch war mehr als eine Stunde vergangen, und wir betraten die Wegkreuzung, auf der inmitten einer Lichtung die Zwieselkiefer steht, von der ich Ihnen schon gesprochen habe.

Mathinka war nach dem Ausbruch ihrer Leidenschaft wieder verstummt und ging in sich versunken auf den großen Baum zu. Ich, um den sie sich nicht kümmerte, folgte ihr richtig zusammengedonnert, im Gefühl des Verrates und der Schlechtigkeit lautlos mit meiner Bürde. Sie ließ sich am Stamme der Kiefer wie stumpf vor Schmerz nieder, stellte die Beine gleichgültig auseinander und zog auch das Tuch nicht zusammen, das ihr beim Niedersitzen auseinandergeglitten war, daß ein Teil der Schultern und des göttlichsten Busens vor meinen Blicken entblößt war.

Mir begann das Hirn Zu tanzen. Sie achtete nicht darauf, daß ich mich neben sie setzte, rührte sich auch nicht, als ich näher an sie heranrückte, sondern saß, den Kopf in die Hände vergraben, die Arme auf die Knie gestützt, und starrte vor sich zu Boden.

›Jawohl.‹; fing sie nach einer Weile, dumpf, wie zu sich sprechend, an zu reden, ›ich bin aus dem Bett gestiegen. Als es Nacht war, habe ich die Tür meiner Stube von innen verriegelt, daß niemand von draußen herein konnte, habe meine besten Kleider und alles, was ich brauchte, zusammengepackt, die Bürde aus dem Fenster geworfen und bin nachgesprungen. Und nun mag es gehen, wie es wolle. Zurück bringt mich niemand mehr. Eine Weile reicht mein Geld, bis ich eine Stelle gefunden habe. Aus der großen Tür hat mich die Welt hinausgeworfen. Durch eine Hinterpforte muß ich wieder in sie zurückschlüpfen, namenlos, geschändet, erniedrigt, oh, oh ...‹;

Nach diesem Selbstgespräch begann sie aufs neue leise zu weinen.

Mir flog der Körper wie im Fieber. Ich drückte mich an sie, umfaßte ihren Leib und redete lodernde, süße, berauschte Worte, bis ein Schauer durch sie rann, daß sie wie vor Frost zitterte. So zitterte sie, daß mich davon ein Taumel packte. Dann schleuderte sie sich aus der gebückten Haltung auf, sah mich verzehrend und drohend an und brachte endlich nur leise, kochende Worte über ihre Lippen, die ich nicht verstand.

Danach sprang sie auf, verließ den Platz und begann in die Lichtung einzudringen. Immer tiefer hinein. Einmal wandte sie sich um und fragte, ob ich die Bürde mithabe. Auf meine Bejahung ging sie weiter. Wohl eine Viertelstunde gingen wir schweigend, ohne Weg, immer tiefer in die Schonung hinein. Als der Hochwald vor uns auftauchte, inmitten einer freien Rodung, blieb sie stehen, sah wie suchend umher, legte dann die Hände hinter dem Kopf zusammen und sah lange zum Himmel auf, wo der Mond gerade über uns stand. Das Tuch glitt an ihr nieder. Sie atmete flutend zum Brustsprengen. Mir sank die Bürde aus der Hand. Alles flimmerte um mich. Noch einmal hauchte sie fast lautlos meinen Namen. Dann umschlangen wir uns, sogen uns mit glühenden Küssen aneinander und fielen in der Raserei von einer Umarmung in die andere.

Ich wußte, daß ich mein Leben um ihretwillen zertrat und ihr doch nicht gehörte. Sie fühlte ihre Verlorenheit und meine Lebensferne, und dennoch schmolzen wir immer wieder flammend ineinander. Mit jedem Opfer, durch das unsere unerschöpfliche Leidenschaftlichkeit um Liebe warb, wurden wir glückloser und wilder. Wie zwei, die sich zerstörten, um zu leben, waren wir, bis keine Ader mehr bebte, tobte es in uns. Mitten im Rausch, als wir Amokläufer der Brunst erschöpft nach einem neuen Liebestod rangen, erloschen wir zusammengeknäult wie Ertrinkende im Schlaf. Ich sah den Mond fahl aus dem Himmel fallen, wollte erschreckt aufschreien, brachte aber nichts als ein machtloses Stöhnen auf. ›Der Mond ... Der Mond ...‹; lallte ich und spürte, wie Mathinka sich mühte, es hauchend nachzusprechen und doch nicht fertigbrachte. Dann war alles vorbei.

Die Nachtkühle weckte uns, nach wieviel Zeit, weiß ich nicht. Mir waren die Kleider abhanden gekommen, und auch Mathinka war vollkommen nackt.

Wir wickelten uns in das große Umschlagetuch und schliefen, bis der Morgen aufging.

Dann war ich ihr beim Ankleiden behilflich, überließ ihr meine Barschaft, nannte ihr den Namen einer Frau in Münster, wo sie leicht ein Zimmerchen bekommen würde, versprach, in einigen Tagen sie dort aufzusuchen und brachte sie dann auf die Straße zurück. Sonst vermochten wir kein Wort zu sprechen.

Am Ausgange des Waldes sagte sie welk und sachlich: ›So, nun geh zurück.‹; Wir drückten uns die Hände und trennten uns.

Ungesehen kam ich noch vor dem Aufstehen der anderen in mein Zimmer, durchs Fenster sah ich den Sintlingerhof im Morgenlicht.

Da stürzten mir die Tränen aus den Augen.

Ich wandte mich ab, schloß meinen Koffer auf und suchte nach der Flöte meines Großvaters. Denn als mein Ahn sich auch keinen Rat mehr wußte, hatte ihn der Ton der Flöte gerettet.

Mit kalten Händen grub ich nach ihr.

›Es wird noch alles gut werden, Mutter‹;, murmelte ich hilflos und schwach zum Umsinken.

Aber als ich in das alte, abgegriffene Röhrchen hineinblies, gab die Flöte einen schrillen, angstvollen Ton von sich.

›Nun, so ist alles vorbei‹;, sagte ich finster, legte die Flöte vorsichtig auf den Tisch und kroch auf mein Lager. In den Stunden dieses Schlafs, bei den ganzen Tag und die ganze Nacht dauerte, vollzog sich die folgenschwerste Wendung meines Lebens.

Als ich am nächsten Abend erwachte und an das Fenster meines Zimmers trat, sah ich den Sintlinger-Hof in einem Abendlicht liegen, das hell, klar und unvernutzt war wie die Morgenhelle, nicht wie der Abend, der klar ist von den tausend Enttäuschungen des Tages, wie der Morgen, dessen Verklärtheit seiner Welt von den ausgeruhten, verzückten Träumen der Nacht herrührt, an deren Erfüllbarkeit er noch glaubt.

In mir herrschte das erstemal jene unbarmherzige Kühle nach einem Genuß, der bis auf den Grund geschöpft hat, die mir neu war und wegen der Fähigkeit zu scharfer Lebenseinstellung ungeheuer kostbar vorkam.

Ich genoß den Anblick des abendlich-morgenhell schimmelnden Sintlingergehöfts mit wahrhaft ergriffener Freude wie das schöne, fleckenlose Bild einer seligen Inselburg, und wäre in dem Augenblicke dieser aufgeschlossenen Versunkenheit auch noch das Lenlein vors Tor unter die Linden getreten, ich wäre nicht zurückgeschreckt wie ein ertappter, schuldbewußter Sünder, sondern mein Glück, meine Ergriffenheit wären nur inbrünstiger geworden. Ich hatte diesem heiligen Mädchen ja nichts versprochen, also konnte ich ihr auch nicht untreu geworden sein. And wenn ich jetzt von hier fortging, so wußte ich, daß ich wiederkommen würde, nein, wiederkommen mußte. Wann, war ungewiß, mir auch egal. Wie? Das konnte nur auf eine Weise sein, wenn die Wirbel siegreich überwunden waren, die mich schicksalhaft von meinem Blut her abermals gepackt hatten. Zwischen mir und der seligen Insel da drüben rauschte der breite, tiefe Strom meiner Lebens- und Sinnenlust. Zu umgehen war der unmöglich, wie mich das vergebliche Ringen meiner fünf aszetischen Jahre gelehrt hatte.

Nun, so mußte er eben durchschwommen werden. Reiner, klarer, gefestigt sprang ich einst an das helle Ufer drüben und nahm in Besitz, was mir im tiefsten gehörte.

Die Melanesen haben ein Märchen von einer alten Frau gedichtet, die gestorben ist und sich selbst das Grab gräbt. Nach einiger Zeit, als sie sich in die Erde zur Ruhe gelegt hat, erwacht sie von der Grabeskälte und bittet ein vorübergehendes Kind, ihr Feuer zu holen, damit sie sich erwärme und ins Leben zurückkehren könne. Aber vor Schrecken lief jenes Kind fort und lehrte nicht mehr zurück. Seitdem, sagen die Melanesen, müssen die Menschen sterben.

Ich, der ich an jenem Abend im Anblick des Sintlingerhofes in Meditationen verfiel, erinnerte mich dieses Märchens, das ich irgendwo gelesen hatte, und im Strömen meiner neuen Daseinsrichtung nahm es nicht eine schmerzliche, sondern eine glückhafte Bedeutung für mich an.

Irgendeinmal, wenn ich mich, tief zum Sterben, in diese Erde gewühlt hatte, würbe das heilige Kind von drüben an mir vorübergehen und mir von seinem heiligen Feuer schenken, daß ich zu seinem hohen und schönen Leben aus der Grube heraussteige. Herr Gott, und hatte ich nicht die Flöte meines Großvaters! Einmal freilich hatte sie nicht geholfen, aber damit war nicht gesagt, daß sie immer versagen mußte.

Ich weiß auch ganz genau, wie sehr mich Luthers Ausspruch über den Nutzen der großen, kräftigen Sünde in meiner rabulistischen Befestigung bestärkte. Kurz, alles häufte ich in mir auf, was der phantastische Besen meiner achtzehn Jahre an Gründen zusammenkehren konnte, um meiner jungen, ausgeruhten, wiedererwachten Wildheit den Weg frei zu machen.

Haha, ich Betrüger meiner selbst, und wenn der Verstand, dieser käufliche Zuhälter jeder Menschengier, mir an jenem Abend auch nicht so bereitwillig beigestanden hätte, ich glaube, es wäre auf eins hinausgekommen.

Die Wildheit war schon auf mein Lebenspferd gesprungen, hatte die Zügel in der Faust zusammengerafft und dem Gaul die Sporen eingesetzt.

Nein lieber Jungmann, das ist ein Ritt geworden, zu dem ich mich an jenem Abende entschloß!

Noch in derselben Nacht zechte ich mit meinem älteren Bruder bis zum morgendlichen Hähnekrähen. Als wir armverschlungen unsern Hofhügel hinauftaumelten, ging das Morgenrot über der Welt auf, und die Fenster des Sintlingerhofes glühten davon wie Feuer.

Da riß ich mich von dem Dumpfen los, daß er lallend zu Boden sank, und begann leidenschaftlich das Lied zu singen, das mit den Worten beginnt: ›Wie gerne dir zu Füßen säng' ich mein tiefstes Lied, indes das heil'ge Abendrot durchs Bogenfenster sieht.‹; In der Trunkenheit kam ich über diese Zeilen nicht hinweg, steigerte mich aber in eine solche Leidenschaft hinein, daß ich, durcheinander lachend und weinend, endlich aufhören mußte.

Mein Vater, der von diesem Lärm aufgewacht war und den Ausbruch meines zerstörten Gemütes mit angehört hatte, glaubte, dies sei der Beginn meiner gelehrten Rache an dem verhaßten Nachbarn, und war höchlichst erfreut über meinen Einfall.

Reichlich mit Geld versehen, kam ich einige Tage später in Münster an und wohnte bei demselben Volksschullehrer, in demselben Dachstübchen als Student, in dem ich fünf Jahre als Pennäler gehaust hatte. Die Laufereien, die mit meiner Immatrikulation verbunden waren, die Vorstellungen bei den Professoren meiner Fakultät, ich war stud. jur., die ersten Kneip- und Lusttänze bis in den Morgen, der Genuß ungehemmter Freiheit, der Zauber des mir neuen studentischen Bummels, alles das nahm mich so in Anspruch, daß ich nicht bald dazu kam, mich nach Mathinka umzusehen. Als ich nach reichlich acht Tagen bei der Frau erschien, zu der ich sie gewiesen hatte, war sie schon wieder fort, und zwar, ohne ihre neue Adresse zu hinterlassen. Zögernd, von vieldeutigem Gelächter oft unterbrochen, gab die Frau Auskunft, als handle es sich um die delikate Angelegenheit einer unsicheren Kantonistin. Mathinka war überhaupt nur einige Tage hier gewesen. Während der Zeit habe sie eine Stelle als Kindergärtnerin in reichem Hause gesucht. Vor fünf Tagen sei sie abends weggegangen, und seitdem habe sie nichts mehr von sich hören und sehen lassen. Andern Tages sei ein Dienstmann gekommen, habe in ihrem Namen alles bezahlt und sei mit den wenigen Sachen davongegangen. Ob sie bei dem Zigarettenfabrikanten Feinsilber als Kinderfräulein untergekommen sei, von dem sie vor ihrem Weggange gesprochen habe, wisse sie nicht. Jedenfalls scheine es ihr, Fräulein Meixner sei mehr ein Fräulein für etwas anderes als für Kinder gewesen. Kaum hatte die Frau das gesagt, so hieb ich ihr ohne umstände eine schallende Ohrfeige und tröstete sie dann mit zehn Mark, und als sie dennoch weiterschrie, mit noch zwanzig Mark. In bester Freundschaft schieden wir darauf. Sie rief mir die herzlichsten Glückwünsche über die Treppe nach, die ich, aus vollem Halse lachend, hinunterstieg. Zigarettenhändler Moritz Feinsilber war seit fünf Tagen nach Süddeutschland gereist. Von einem Kinderfräulein Mathinka Meixner wußte die zarte Frau des Zigarettenfabrikanten nichts, die mir, immer mehr erbleichend und erschreckt, aber doch tapfer lächelnd, Auskunft gab.

Ich feierte diese erste Enttäuschung mit einer Kneiperei, die volle acht Tage anhielt und die ganze Studentenschaft in Aufregung versetzte. Im Morgengrauen kehrte ich, mein Ständchen von Strachwitz singend, in meine Bude zurück. Das ging so acht, auch zehn, auch vierzehn Tage, bis mich Professor – ich weiß nicht mehr den Namen – Nieber oder Weber zu sich kommen ließ, sich in seiner sarkastisch-liebenswürdigen Weise erst nach meinem Befinden erkundigte und, weil ich rauh antwortete, sich steigerte und mich auf die sittliche Pflicht meinen großen Gaben gegenüber aufmerksam machte. Aber weder gute Gründe noch Lob erreichten mich, der in den ersten grünen Schossen der Verwilderung stand. Am Ende seiner langen, eindringlichen Rede saß ich eine ganze Weile in parodistischer Geknicktheit, fuhr mir mit dem Taschentuch über die Augen, als weine ich Tränen der Zerknirschung, und sprang dann unter tollem Gelächter und einem schnoddrigen Ausruf vom Stuhl auf, daß der gute Nieber oder Weber erst nicht wußte, was er mit soviel ungenierter Zügellosigkeit anfangen sollte. Dann aber raffte er sich zu einem Verweis zusammen, der, ich glaube, das Wort grüner Junge enthielt. And nun passierte das unerhörte, daß ich ihn auf Säbel forderte, ich, der eben erst in die Universität gerochen und noch nie einen Schläger in der Hand gehabt hatte. Die Folge davon war, daß er mich lachend aus dem Zimmer wies, daß ich vom Dekan eine handfeste Rüge erhielt und noch vor Ablauf des ersten Semesters Münster verließ und nach Göttingen zog. Meinem Vater machte ich weis, daß in Münster nichts mehr zu lernen sei. Er gab seine Einwilligung und schickte Geld.

Die Kunde von meinem Handel mit dem Professor war mir vorausgeeilt und hatte sich unterwegs von Übertreibungen so vollgefressen, daß ich von einem Teil der Studentenschaft wie ein Heros empfangen wurde und trotz meiner guten Vorsätze in nicht zu langer Zeit wieder in ein wildes Leben geriet. Trotzdem ging mein Göttinger Studium gnädiger aus, da ich einen Teil der Professoren mir geneigt machte. Ich hatte mich bei dem Nationalökonomen einschreiben lassen und arbeitete mich binnen kurzem so in dieses abstrakte und abstruse Wissenschaftsgebiet ein, daß mir mein Lehrer riet, den Gedanken an das juristische Studium ganz aufzugeben, weil ich der geborene Nationalökonom sei. Daraufhin hörte ich mit dem Besuch seiner Vorlesungen auf, trat in eine paukende Verbindung ein, trieb mich auf den Fechtböden und in den Kneipen umher, löste fleißig die Schürzenbänder und ging geräuschlos von dannen, als ich auf einer Ausfahrt von einem Kaufmann bei schäferlichem Vergnügen mit seiner Frau überrascht worden war. Sein Mut reichte gerade hin, sich vor mir und seiner Ehehälfte lächerlich zu machen, und seine Feigheit, seine Angst vor einem öffentlichen Skandal sicherten mir einen friedlichen Abgang. Von der Frau mit aller Gunst überhäuft, fuhr ich nach Marburg. Wir war gottsjämmerlich zumute, als mich der Zug in die neue Musenstadt rüttelte. Draußen zuckten die schneebehangenen Berge vorüber. Ich saß in meiner Ecke, biß an den Lippen und fühlte die Lider meiner Augen brennend heiß werden. Aber ich ermannte mich und begann zum Gaudium meiner Mitreisenden mit dröhnendem Baß zu singen: ›Der Sang ist verschollen, der Wein ist verraucht, stumm irr' ich und trauernd umher.‹;

Zuletzt hatte ich mich zum offenen Fenster hinausgelehnt. So fuhr ich singend in den Marburger Bahnhof ein und wurde mit Hallo von den Freunden empfangen, die mich erwarteten.

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