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Ich bewohnte eine möblierte Stube in der Knauerstraße, einer nicht zu breiten Gasse jenes Teiles von Wirbnitz, der noch etwas von dem alten Wesen der Stadt bewahrt hatte. Obwohl nicht weit das rauchgeschwärzte Ungeheuer einer Porzellanfabrik mit riesigen Häuserklötzen sich über einen breiten Raum ausdehnte, so störte sein stillerer Betrieb das geruhige Leben der gewundenen Gasse nicht sonderlich, und die Leute saßen wie in allen Kleinstädten am Abend vor den Türen, plauderten mit halber Stimme, ließen die Kinder vor sich spielen und versanken von Zeit zu Zeit in melancholisches Horchen. Denn über die Dächer der Porzellanfabrik schwangen sich die Laute des freien Feldes, ganz weiches Fließen von den Ährenbreiten her, leises Sausen der Hecken, und die ganz Feinhörigen, jene, deren Sehnsucht so lauter war, daß sie sich durch die Hoffnung auf Erfüllung nicht mehr verunreinigte, jene ganz Stillen, erlauschten wohl auch manches, für das das Ohr eines Menschen zu grob ist, das nur mit der Seele wahrgenommen werden kann: es klang ihnen wohl der geheimnisvolle Ton, den etwa ein Baum hervorbringt, der einsam, ohne sich zu rühren, auf dem Felde steht; fern von den tausend geselligen Genossen des Waldes die grüne Wolle seiner Krone vertrauensvoll dem Himmel entgegenträgt.

Das Haus selbst war ein großer, ungeschlachter Bau mit einem gewölbten Tor in seiner Mitte, das auf einen geräumigen Hof führte. Der lag, auch zur Mittagszeit, in stetem Dämmern, denn er glich mehr einem Schacht, der von den fensterlosen Brandgiebeln zweier benachbarter Mietskasernen und einem dreistöckigen Hinterhause begrenzt war. Immer erfüllte ihn eine wirre Menge durcheinandergefahrener Wagen verschiedener Gattungen bis auf einen schmalen Gang zur Tür des Hinterhauses. Da standen Jagdwagen, Landauer, Cabs, Gesellschaftswagen und Geschäftsvehikel für allerlei Betriebe, denn der Besitzer stand einem schwunghaften Wagenbau vor. In seiner Abwesenheit strömte das mit kleinen Leuten bis unters Dach vollgestopfte Hinterhaus seine hundert Kinder aus, die sich sofort über die Wagen hermachten, um in ihnen allerhand imaginäre Reisen, Geschäftsfahrten und Familienausflüge zu unternehmen. Die Kutscher auf dem Bock trieben mit lautem Geschrei die eingebildeten Rosse an, und die Herrschaft im Wagen vollführte eine Konversation, deren einziger Wert im Lärm bestand. Tauchte der Wirt im Tore auf, so ergriff die Schar schleunigst die Flucht, der Bierkutscher ließ seine Fässerfuhre im Stich, die gräfliche Familie verschwand mitten auf der Landstraße aus dem Landauer, und die Taufgesellschaft rannte unter Zurücklassung des schreienden Säuglings davon.

Nach solchen Austreibungen lag der Hof dann doppelt schwer und düster, und sah ich zur Abendzeit auf die Verdecke der Wagen hinab, so brauchte ich nur geringe Vorbehalte, um mich in den Gutshof meines Vaters zu versetzen, wenn er zu einem Familienfest von den Wagen der Gutsnachbarn fast bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Dies hatte mich auch bestimmt, die Wohnung in der kleinen, abgelegenen Arbeitergasse zu wählen. Den Zustand, dem ich nach dem traumhaft wirklichen Besuch Wanda Methners unterworfen war, können nur jene Menschen höheren Alters verstehen, denen es gelingt, durch die Erinnerung in die Zeit ihrer Jugend zurückzuschlüpfen. Sie wissen, daß man in den schwersten und glücklichsten Perioden jener herrlichen Jahre seine Erlebnisse tiefer und schmerzvoller empfindet und zugleich auch über sie hingetragen wird, als schwebte man auf einem Luftschiff entrückt in der Höhe, und das, was uns die Brust einpreßt, schauen wir zugleich wie eine fremde, bunte Einbildung, die uns nur durch den Rausch der Sehnsucht gehört, denn nie sind wir weiter von den Dingen entfernt als in jener Zeit, da wir den Zauber der Wirklichkeit am tiefsten und lebendigsten an uns erfahren. Und nach Momenten solch höchster Traumgenüsse überkommt uns ein willenloses, elegisches Geschehenlassen, wie Kranke, die aus einer Narkose erwachen.

In dieser Gemütsverfassung saß ich nach dem Tage der halluzinatorischen Nähe Wanda Methners bald an dem einen, bald an dem anderen Fenster meiner Wohnung und schaute mit leerer, leidender Neugier hinunter in den Hof. Wie ein Taumel war mein Schlaf gewesen, mein Wachsein bestand nur in einer anderen Form des Versinkens. Alle Ereignisse der letzten Tage lagen wie erblassende Bilder weit draußen in meiner Seele, alle Entschlüsse in mir erschöpft wie exaltierte Pläne, die in der Trunkenheit geschmiedet worden sind. Das beste wär's, sann ich, wenn man sich den Rucksack auf den Rücken würfe und ins Gebirge stiege. Aber diese Überlegung sank als undeutlicher Ton an mir vorbei. Ich blieb indessen ruhig auf meinem Stuhl am Fenster und verfolgte das Leben und Treiben im Hofe. Aus der Wagenbauwerkstatt, die das ganze Erdgeschoß des Hinterhauses einnahm, schoben vier Gesellen einen neuen halbgedeckten Wagen, der dunkelgrün gestrichen und mit schmalen hellgrünen Streifen abgesetzt war, reinigten seine Polster mit Bürsten, wischten den Staub von den Radspeichen und steckten die Deichsel in die Gabel. Dann gingen sie um ihr schönes Werk herum und betrachteten es von allen Seiten. Die Kinder, die mit gefüllten Körben und Taschen vom Einholen zurückkehrten, traten vor die lackierten Seiten und bespiegelten sich lachend darin. Darauf verschwanden sie durch den schmalen, seitlichen Aufgang im Hinterhause. Frauen mit Kuchenblechen unterm Arm rannten in Eile über den Hof. Kleine Kinder drehten sich auf dem schmalen Gange zwischen den Wagen, in einem Kreis verschlungen, und sangen mit dünner, fröhlicher Stimme ein kurzes Liedchen, bis sie vom Wirt vertrieben wurden.

»Was für ein Tag ist denn heute?« fragte ich mich dumpf, mochte mir aber weder eine Antwort geben, noch brachte ich es fertig, mich umzudrehen und nach dem Kalender zu sehen, der über der Kommode hing. Eine erschöpfte Scheu hielt mich zurück, einen Blick über meine behagliche Wohnung zu werfen. Denn ich hütete mich, an das Schicksal Brindeiseners zu denken, der zerstört, zerlumpt und hungernd draußen umherirren mußte, während ich stumpf und bequem hier saß, ich, der doch eigentlich eine Schuld an dem Hereinbrechen seines Unglücks auf mich geladen hatte.

Im zweiten Stock des Hinterhauses riß jetzt eine junge Frau leidenschaftlich das Fenster auf und begann überlaut zu einer anderen zu reden, die drunten im Hofe mit einem Einkaufskorbe am Arm neben dem neuen Wagen stand.

»Er hot mr meine Brote au verdorben, der meschante Kerl«, schrie sie.

Von drunten aber antwortete es: »Na ja, mei Kuchen is an eener Seite schwarz wie Kohle und hart wie ein Brett. Das wird ein schönes Ostern werden morgen.«

Das Hin- und Widerschimpfen dauerte noch eine Weile. Ich aber hörte nicht mehr darauf, sondern ging mißmutig vom Fenster weg, an dem ich seit Stunden gesessen hatte, und legte mich auf das Sofa mit dem Gesicht gegen die Lehne.

Gleich einem grauen, flordünnen Schleier stand es um meinen Kopf.

So, so, sagte ich träge zu mir, also Ostersonnabend ist heute! Was wird denn Brindeisener diese Nacht tun, wenn er nicht mehr auf der Flöte blasen kann? Da wurde es noch dunkler um mich, und aus den Schatten spürte ich etwas wie den gespannten Blick unsichtbarer Augen auf mich gerichtet. Zugleich klang das Lied, das die Kinder vorhin im Hofe gesungen hatten, in mir wieder, aber jetzt, als würde es von einer einzigen Stimme zitternd in eine weite Öde geschickt. Es wurde immer schwächer, und meine Gedanken verloren sich an seiner verschmachtenden Melancholie ins Pfadlose.

Als ich aufwachte, waren beide Flügel eines Fensters herumgeschlagen. Die Wirtin mußte sie während meines Schlafes geöffnet haben. Der Ton von verklungenem Glockengeläut summte aus der hohen Luft in den Schacht unseres Hofes, und darin klang, wie rätselhaft eingesargt, der Schatten jenes Kinderliedes, an dem ich mich in den Schlaf verloren hatte. Ich zog die Uhr und sah, daß sie die fünfte Stunde zeigte. Das Summen, das nun ganz erloschen war, rührte also von dem Geläut der Auferstehungsprozession her, die in Wirbnitz zu dieser Stunde um die Kirche geführt wurde.

Im Hofe herrschte fast vollkommene Stille. Auch das Hinterhaus lag lautlos. Von der Höhe her streiften die ersten Schimmer des Abends über seinen grauen Bewurf und hauchten einen schwachen Glanz feiertäglicher Heiterkeit um das kahle, freudlose Gebäude.

In der Tiefe des Hofes herrschte die immer gleiche mürrische Dämmerung. Die Wagen waren enger zusammengerückt und auf jeder Seite in dichtgeschlossene Doppelreihen geordnet, so daß aus dem schmalen Zugang zum Hinterhaus etwas wie ein bequemlicher Platz geworden war. Nur der neue Halbgedeckte war dieser feiertäglichen Ordnung nicht eingefügt worden. Er schien zum Abholen bereit gehalten zu werden und streckte ungeduldig seine Deichsel nach dem Tore aus. Der Meister stand davor in blütenweißen Hemdärmeln, mit einer grünen Tuchschürze umgürtet, betrachtete geruhig das saubere Gefährt, wedelte da und dort mit der Schürze ein Stäubchen fort und wurde von Zeit zu Zeit durch Ungeduld, die ihn unversehens überfiel, aus seinem wohligen Trödeln gerissen und unter die Torfahrt getrieben. Als er, ich weiß nicht nach wieviel solcher Absprünge, wieder einmal zu dem Halbgedeckten zurückkehrte, stand ein fremder Mann neben ihm. Ich hatte nicht genau achtgegeben, deswegen war es mir entgangen, von woher, ob aus der Torfahrt oder dem Hinterhause, der Fremde herzugetreten war. Es waren nach meinem Dafürhalten keinerlei Verhandlungen zwischen dem Meister und ihm vorhergegangen. Regungslos, die Hände auf der Krücke eines Stockes gefaltet, dessen Spitze er in eine Fuge zwischen zwei Steinplatten gestemmt hatte, den ganzen Körper versunken, etwas vornübergebeugt, stand er da. Er befand sich auf der linken Seite vom Meister und würdigte weder den Wagenbauer noch den Halbgedeckten eines Blickes, sondern starrte vor sich hin zu Boden. Man ist imstande, aus der Haltung eines Menschen seine Seelenverfassung zu erkennen. Dieser geheimnisvoll aufgetauchte Kunde machte den Eindruck eines Ratlosen, Vertriebenen. Eine graue Jacke war um seinen ungewöhnlich langen Oberkörper gewürgt, und die Hosen lagen in vielen Falten, als seien sie für die Beine viel zu lang, auf den großen, ausgetretenen Stiefeln.

Gott, der Meister mußte doch auf den Mann aufmerksam werden! Aber als sei er ganz allein in dem Hofe, fuhr er fort, an dem Wagen wie vorher herumzubasteln. Da er jetzt von dem Hinterrade, zu dem er sich niedergebeugt und die Kapsel geprüft hatte, zurücktrat, bewegte er sich auf den Fremden zu. In dem Augenblicke, als er hätte an ihn stoßen müssen, war der seltsame Mann verschwunden, so wie der Schatten eines vorüberfliegenden Vogels an der Wand auftaucht und erlischt. Der Meister stand genau an der Stelle, an der der andere noch eben seinen Stock zwischen die Fugen gestemmt hatte, und keine Spur einer Erregung war an ihm zu bemerken.

Ich wollte mich eben zum Fenster hinausbeugen, um den Wirt zu fragen, was der Mann da neben ihm gewollt habe, da ging wie ein schmerzlich reißender Schlag die Erkenntnis in mir auf, daß das ja der Buchhalter Brindeisener gewesen sei. Dies empfinden und an die Erzählung meiner Mutter denken, daß sie an seinem Todestage ihren Vater auf der Türschwelle hatte stehen sehen, war eins. Ich drehte mich um, ergriff Stock und Hut und eilte die Treppen hinunter, um Brindeisener, der noch nicht weit fort sein konnte, einzuholen. Denn ich hatte im nächsten Augenblicke den Glauben an das spukhafte Erlebnis meiner Mutter verworfen und war überzeugt, der Buchhalter habe in Person mich aufsuchen wollen und sei im letzten Moment vor Scheu und Scham davongetrieben worden. So erklärte sich ja auch sein grübelndes Dastehen und fluchtartiges Verschwinden. Im Tor stieß ich auf die zurückkehrenden Besucher der Auferstehungsfeier, geputzte Frauen und Kinder, die mit hellen, glücklichen Stimmen sangen: Christ ist erstanden! Die Straße war auch erfüllt von Scharen froher Kirchenbesucher, unter denen sich Bergleute und Fabrikarbeiter befanden, die mit den blauen Kaffeekännchen in der Hand nach Hause strömten.

Eilig wand ich mich durch das Gedränge und spähte indessen fortwährend über die Köpfe der Menge nach Brindeisener aus. Nichts war zu sehen. Auf dem Ringe spielte, in eine Wolke von Gaffern eingekeilt, eine Musikkapelle vor einem Hause das Lied an den Abendstern. Gedankenlos summte ich im Lauf einige Töne mit. Da, als ich aufblickte, stand Wanda Methner vor mir. Wenn ich achtlos weitergelaufen wäre, hätte ich sie umgerannt. Ich sehe, wie sie bei meinem Anblick schmerzlich betroffen erbleicht, erbebe bis in die Fußspitzen, reiße meinen Hut, stürme weiter, rufe ihr aber nach einigen Schritten zu: »Warten Sie eine Weile auf mich, Fräulein Wanda, ich komme bald zurück.«

Aber kaum waren diese Worte heraus, so schämte ich mich auch schon zum In-den-Boden-Sinken. Denn noch nie hatte ich mit dem Mädchen ein Wort gesprochen, sondern war ihr im Gegenteil, wenn es sich nur irgend tun ließ, ausgewichen, um den Gruß zu vermeiden. Und jetzt hatte ich sie angesprochen, als sei mein Herz mit dem ihren seit langem auf dem sicheren Wege verliebten Einverständnisses.

»Um Gottes willen, Kerl, was machst du für Dummheiten?« sagte ich entsetzt, nein, fast verzweifelt zu mir selber, »sie muß dich ja für komplett verrückt halten.«

Dabei rannte ich wie gehetzt weiter, von Straße zu Straße, einem Ziele zu, das nirgendwo in der Welt, sondern nur allein geheimnisvoll und rätselhaft, zwingend in mir lag. Denn alle Richtungen in der Welt sind wohl nur in uns. Und je weiter mich meine Füße auf dem Wege vorwärts trugen, desto mehr verwandelten sich Schreck und Scham über meine Dummheit geradezu in ein Glänzen, das am fernen Horizont meines Gemütes aufstieg.

Die letzten Häuser der Stadt lagen hinter mir. Die Straße ging in die Chaussee über. Neben mir breitete sich ein Zimmerplatz aus, in dessen Baracke gerade die elektrisch betriebene Säge die letzten Ächzer ausstieß. Ein Mann trat unter die Tür des Holzbaues, schob die Mütze zurück und strich sich mit der Hand über die Stirn. Er musterte mich eilig Dahingehenden kritischen Blickes und trat dann pfeifend in das Dunkel des Sägewerkes wieder zurück. Eben wollte sich meiner wieder der Zweifel bemächtigen, ob es einen Sinn habe, aufs Geratewohl weiterzulaufen, als ich, die lange Baumreihe der schnurgerade hinziehenden Chaussee hinunterspähend, vielleicht dreihundert Meter vor mir, undeutlich, gleich einem Schattenfleck, einen Mann schleichen sah. Sofort fiel ich aus dem zögernden Schritt in die alte schnelle Gangart zurück. Ich sah mich um. Die ganze Straße war wie ausgestorben. »Brindeisener!« rief ich gedämpft, »Herr Brindeisener!« wiederholte ich lauter, und mein Lauf artete in ein förmliches Jagen aus. Der Mann war nicht einzuholen. Da tauchte der Tolkebusch vor mir auf, und durch die leeren Kronen der Bäume sah ich den Spiegel des dahinterliegenden Teiches in rötlich angelaufenem Silber schimmern. Jetzt bog sich die Chaussee in einer weiten Kurve. Auf einer kleinen Anhöhe rechts lag das Vergnügungslokal, in dem ich den Buchhalter das letztemal gesehen hatte. Der Schatten vor mir, den ich für ihn gehalten hatte, war nicht mehr zu sehen. Erschöpften Schrittes, den Hut in der Hand, näherte ich mich dem Tolkebusch, der sich in der weiten, flachen Mulde links von der Straße angesiedelt hatte und gegen die Stadt hin mit niedrigem Gesträuch in eine große Wiese endete.

Solange ich auf der Straße ging, hielt ich noch, aus welchem Grunde weiß ich freilich nicht, krampfhaft in mir die Hoffnung aufrecht, Brindeisener zu treffen. Als ich aber auf dem schmalen Pfad über die steile Böschung der Chaussee hinab, in der Wiese entlang, an dem geduckten Rande des Busches angekommen war und mir zu Häupten das feine, klingende Sausen anhob, das der Frühling aus knospenden Baumkronen zu hauchen weiß, beruhigte sich in mir dies unterirdische Zucken, dieser, vielleicht trifft dies meinen Zustand, jenseitige Taumel, von dem ich seit Wochen beunruhigt worden war. Von dem erhöhten Standpunkt auf der Chaussee hatte ich durch das Gewirr der Zweige den Spiegel des Teiches schimmern sehen, der nach der Sage der Leute in der Mitte so tief sein sollte, daß der Kirchturm von Wirbnitz bequem aufrecht stehend, von dem Glöcknerpförtchen bis über den Knopf hinaus, darin Platz habe. Jetzt, da ich zwischen den Bäumen dahinging, sah ich wie durch ein durchbrochenes Gewebe hin nur die fröhlich geschwungene Kuppe des Hochwaldes und seiner spielerisch angereihten Vorberge in einem Blau, über dem, wie ein dampfender Schleier, das letzte satte Licht der untergehenden Sonne lag. Die frühlingsfeuchten Wege des Tolkebusches schimmerten auch in seinem Widerschein, daß sie, schmalen blitzenden Wasserläufen gleich, geruhig nach allen Richtungen zwischen den Bäumen hinzogen. Ich muß sagen, ich atmete auf, wie einer peinigenden Haft entronnen, da ich wahrnahm, daß ich an den Stämmen emporblicken, das leichte Gaukeln der Knospen betrachten, an freieren Stellen die Schneeglöckchen begrüßen konnte, ohne geheime Bedeutung oder verborgene Anzeichen wittern zu müssen, und faßte den Entschluß, dieses gesunde Gefühl so tief als möglich auszukosten, um, wenn's gut ging, von all diesen schattenhaften Bedrängnissen frei, recht als ein Auferstandener nach Hause zurückzukehren und vielleicht doch noch auf zwei Tage zu meinen Eltern fahren zu können. Dem klaren Vorfrühlingsabend hingegeben, geriet ich ohne zu wissen von Pfad in Pfad, überwand die schwache Bodenwelle, die den Tolkebusch quer durchzieht, und befand mich bald auf jener höchsten Stelle, wo sechs oder sieben uralte Buchen, weit auseinander gestellt, dem ziemlich ungepflegten Waldgrundstück etwas von dem Wesen eines Parkes verleihen. Ein gerader, ziemlich breiter Weg führte von hier in kaum empfindlichem Fall an das Ufer des Teiches hinunter.

Gerade als ich auf diesen freieren Plan heraufgestiegen und, den Weg hinunter, den abendstillen Teich erblickte, in dem das Abbild der Ufergesträuche und hohen Bäume wie eine drängende Verheißung schimmerte, wurde ich die rätselhaften Bedrängnisse ganz los, die mich durch die Stadt und die Chaussee hingejagt hatten. Auf dem Wipfel einer halbhohen Fichte flötete eine Amsel durch fortwährend abgebrochene Variationen, eine melancholische Melodie, die auf eine rätselhafte Weise aus der abendlichen Gebärde der ganzen Landschaft auf mich eindrang. Man weiß, daß dieser Vogel von Zeit zu Zeit von der Willkür krauser Kadenzen in langen, sehnsüchtigen Tönen ausruht, die sich wie das Pfeifen eines Einschlafenden anhören. Eben sang er so, und sein Lied sank traumvoll durch die Luft. Ich weiß nicht, was meine Augen sahen, ich glaubte wirklich das Niederschweben des Liedes zu erblicken, und jetzt, da es meinem Empfinden nach den Spiegel des Teiches berührte, entstanden schwache Kreise und liefen verhauchend über das stille Wasser, als sei etwas unendlich Zartes darin untergetaucht.

»Brindeisener«, sagte ich vor mich hin, ohne zu wissen, was ich sprach. »Guten Abend«, antwortete eine Stimme aus der Nähe, aber so leise, daß ich einen Augenblick meinte, nach diesen Tagen der Einbildungen narre mich eine Antwort, die aus dem eigenen Innern an mein Ohr klinge.

Doch als ich mich umsah, gewahrte ich zu meinem Schrecken wirklich den Gerufenen. Er saß auf einem Baumstumpf in der Haltung eines Menschen, der, von langer Wanderung ermüdet, sich nur mit Anstrengung aufrechterhält. Sein Rücken war gebeugt. Die Hände hielten in krampfhaftem Griff den Stock zwischen den lang hinliegenden Beinen. Das Gesicht trug den Ausdruck betroffener Gespanntheit, fast vor Furcht. Stürmisch atmend, wie nach schnellem Lauf, den Mund halb geöffnet, betrachtete er mich mit ungläubigen Augen, die noch tiefer in den Höhlen lagen als sonst.

Meine Überlegenheit, die ich eben aufgerichtet zu haben glaubte, war wie weggeblasen. Ein leichter Schwindel fiel mich an. Aber ich riß mich auf. »Guten Abend, Herr Brindeisener!« sagte ich tapfer, »das nenne ich eine Überraschung! Sagen Sie bloß, wie kommen Sie hierher?«

Während dieser Worte war ich zu ihm getreten und streckte ihm die Hand zur Begrüßung hin. Er suchte aufzustehen, ließ sich aber sogleich wieder nieder und reichte mir seine Rechte herauf, die welk und kalt vor Erregung war. Dann, ohne zu antworten, senkte er seinen Kopf und bewegte ihn einigemal hin und her.

»Ich bin nicht verwundert«, sagte er dann vor sich nieder, und seine Stimme klang gesammelt. »Gar nicht.«

»Nun, es ist doch mindestens sonderbar,« sprach ich, »daß ich Ihre Absicht verstanden habe.«

»Habe ich etwas dergleichen Ihnen zu verraten Gelegenheit gegeben?« fragte er erstaunt und sah mich groß an.

»Nun, das ja nicht,« antwortete ich. »aber ich habe mir Ihren Besuch im Hofe unseres Hauses wenigstens so gedeutet.«

»In Ihrem Hofe? – Ich?«

»Nun, Sie haben doch ... das heißt, ist es Ihnen unangenehm? ...«

»Wie sollte es denn? Ich bitte, fahren Sie ruhig fort.«

»Sie haben doch in unserem Hofe auf der Knauerstraße vor einer halben Stunde neben dem Wagenbauer vor dem neuen Wagen gestanden.«

»Vor einer halben Stunde?« fragte er, besann sich und schüttelte dann den Kopf.

»Jawohl, Sie trugen das gleiche graue Jackett, dieselben Hosen, kurz, alles stimmt bis auf den Hut, der mir Ihr Gesicht verdeckte, und zudem erhoben Sie auch den Kopf nicht.«

Brindeisener sprang leidenschaftlich auf und ging mit leichten, flüchtenden Schritten dem Wege nach dem Teich hin zu, als wolle er davonlaufen, blieb aber plötzlich stehen und sah lange wie spähend über das Wasser hin. Dann kehrte er mir sein Gesicht zu, fuhr sich durch den fast weiß gewordenen Bart und sah mich forschend an, so, als sei ich durch meine Worte vor ihm verändert worden.

»Das haben Sie gesehen? – Wahrhaftig und wirklich? – nicht bloß im Schlafe?«

Auf all diese Fragen brachte ich nichts über mich als ein Neigen des Kopfes, dermaßen ergriff mich die Verwandlung, die nach jedem der leisen Ausrufe immer tiefer über den alten Mann kam. Der Schrecken hatte ihn von mir weggescheucht, und nun wand er sich durch ein Grauen, das seine Augen noch tiefer in den Höhlen sog, über die tiefen Erschütterungen zweifelnden Glaubens in ein leidvolles Strahlen. Jawohl, wie qualvolles Glück kam es über Brindeisener, der irgendeine Unsicherheit in sich zur Klarheit geläutert fühlte.

Er sah verjüngt aus in der schmerzvollen Heiterkeit seines asketisch mageren Gesichtes, in der Gerecktheit seiner Haltung, in den weichen, leichten Schritten, mit denen er sich jetzt mir wieder näherte. Er streckte mir seine Hand hin und senkte den Blick tief in meine Augen.

»Sie?« sagte er in glücklichem Staunen, »gerade Sie? Ich hatte das nicht gedacht. – Aber, setzen wir uns dort auf die Bank, so will ich Ihnen erzählen, was es mit meinen rätselhaften Ausrufen für eine Bewandtnis hat.«

Er schritt vor mir der morschen Lattenbank zu, die vor langer Zeit wohl irgendein schwärmerischer Forstadjunkt an dem Stamm einer der uralten Buchen hatte errichten lassen. Während ich ihm dorthin folgte und die Leichtigkeit seines Ganges bewunderte, die durch diesen ehedem plumpen, verdrückten, aber überwüchsig hohen Körper spielte, zweifelte ich, ob dieser

energische Mann und der verstört-dumpfe Buchhalter von ehedem ein und dieselbe Person seien. Aber als Brindeisener sich auf die Bank niederließ und in der alten Art seinen Oberkörper ineinanderschob, erkannte ich, daß eine Täuschung ausgeschlossen sei.

Er blickte eine Weile hinunter auf den Teich, dessen Spiegel man ganz überschauen konnte, und sagte dann:

»Wissen Sie, in den Auf- und Abstiegen unseres inneren Lebens geraten wir in die Gebiete immer anderer Seelen. Als ich um genau dieselbe Zeit, in der Sie in dem Hofe Ihres Hauses mich leibhaftig neben dem Wirt haben stehen sehen, droben im Walde über der Friedrichshöh, Wirbnitz und den ganzen rauchigen Kessel übersah und den Menschen nachsann, die in den Jahren meines Aufenthaltes hier an mir vorübergeglitten sind, trat aus dem Zug der Schatten nur Ihre Gestalt allein deutlich vor mich hin. Ich sah Ihr Gesicht bis auf den leisesten Zug genau, vor allem aber die Augen, die gar nichts mehr von der abweisenden Gleichgültigkeit an sich hatten, mit der Sie bei unserer letzten Zusammenkunft im Herbst von mir gingen. Nein, ich bemerkte den Ausdruck bedrängter, ratloser Sympathie nicht nur in Ihrem Blick, nein, im ganzen Gesicht. And wissen Sie, da war ich noch nicht so weit wie jetzt. Ich steckte noch in Finsternissen, vor denen Sie Gott verschonen möge, mein junger Freund ...«

Brindeisener brach ab und schaute blicklosen Auges über sich ins Leere.

»Der Himmel liegt erschöpft,« sagte er dumpf, »sehen Sie nur, wie er blaß und durchsichtig ist wie die Haut eines Sterbenden. Jetzt werden gleich die Fieberröten des Abends ... des Todes ... über ihn zu jagen beginnen.«

Die Amsel hatte wieder ihren Platz auf dem Wipfel der Fichte eingenommen und begann zu pfeifen. Brindeisener wandte den Kopf nach der Richtung, aus der die Töne kamen, und sagte:

»Klingt das nicht wie der Ton einer Flöte, die ein Lebenseinsamer verlassen spielt? ... Nun, da stimmt ja auch das ...«

»Wir haben heut Ostersonnabend«, sagte ich, um ihn weiterzuführen.

Brindeisener fuhr herum und sah mich betroffen und verfinstert an.

»Warum sagen Sie das?« fragte er.

»Ach, ich meinte nur so«, erwiderte ich ausweichend, weil ich die Empfindung hatte, daß ich von meinen Erkundigungen noch nichts sagen durfte.

Er beruhigte sich und kehrte zu seiner unterbrochenen Erklärung zurück.

»Hm, hm,« sagte er, »also, wie ich so Ihr Gesicht deutlich vor mir sah, fühlte ich mich innerlich erleichtert und nahm wahr, daß sich ein Strömen in mir aufmachte und Ihnen entgegenfloh. So war mir, als folgte meine Seele einem Rufe, der unhörbar in den langen Monaten vor mir in der Luft gelegen habe. Dieses Hinströmen zu Ihnen hat dann meine Gestalt vor Ihren Äugen erstehen lassen. Nicht? Man kann es doch nicht anders begreifen.«

»Sind Sie nicht auf der Chaussee hierhergelangt?« fragte ich. »Denn ich sah Sie doch vor mir hingehen.«

»Nein, nein,« antwortete er, »ich bin da auf dem Fußstege hinter der Friedrichshöh hierhergekommen und dachte mir, wenn all das, was vorgegangen ist, etwas zu bedeuten hat, muß ich Sie hier treffen. Ach mein Gott, wie feige sind wir Menschen! Nun sich alles nach meiner Sehnsucht fügte und die Notwendigkeit des endlichen Austrages mit Ihrem Erscheinen vor mir erwiesen war, bebte ich davor zurück. Sahen Sie nicht, daß ich bei Ihrem Anblick erbleichte, daß mir der Atem förmlich aus der Kehle rauchte?«

Brindeiseners anfängliche schmerzliche Heiterkeit war ganz geschwunden. Er rang mit lodernden Worten gegen ein Verzagen in sich.

»Lieber Herr, beruhigen Sie sich,« sagte ich, »ich denke, nun wird sich alles zum Guten wenden. Ich weiß ja nicht, was Sie zum plötzlichen Aufgeben Ihrer Stelle in der Zündholzfabrik gebracht hat. Aber, ich verstehe nicht, weshalb Sie die Wohnung bei der Frau Wengen aufgeben und in jenes furchtbare Haus draußen neben der Roßschlächterei ziehen mußten. Sie konnten doch ruhig in der alten Wohnung bleiben, bis sich eine passende Beschäftigung für Sie fand.«

»Woher wissen Sie das alles?« fragte er fremd und kalt.

Da erzählte ich ihm von allen Bedrängnissen, die auf unwiderstehliche Weise mich seinethalben befallen hatten, und da ich im Reden war, erwähnte ich auch des Mannes, den ich in der Nacht vor den Haustüren hatte kauern sehen.

»Waren Sie das, Herr Brindeisener?« fragte ich, da er nichts verneinte und nichts zugab, sondern mit geschlossenen Lippen und starren Auges vor sich hinsah.

Statt zu antworten, schleuderte er seinen Stock von sich, bedeckte eine Weile die Stirn mit der Hand und sagte mit Worten, die unsicher klangen wie die Schritte eines Menschen, der in finsterer Nacht etwas sucht:

»Das, was den eigentlichen Inhalt unseres Lebens ausmacht, lassen fast alle Menschen vor ihren Türen draußen schwanken wie einen ungewissen Traum. Sie fürchten sich, es zu sich hereinzuziehen oder zu ihm hinauszugehen, vertrösten sich immer auf Tage entschiedener Stärke und häufen auf diese Weise den Wust und Schutt halber Erkenntnisse, lahmer Absichten und verrotteter Vorsätze vor alle Ausgänge in ihre Welt, daß sie am Ende nicht mehr wissen, wie ihr Wille aussieht.«

Nach diesen Worten sah er wartend auf mich. Aber vor dem unbestimmten Mitleid um diesen offenbar ins tiefste Unglücklichen kam ich nur zu dem Wunsch, den Alten um die Schulter zu fassen und ihn sacht und sanft aus dem Walde hinaus den Menschen zuzuführen. Als er einige Augenblicke so umsonst auf eine Entgegnung gewartet hatte, stand er auf, suchte den weggeworfenen Stock, zerbrach ihn übers Knie und schleuderte die Stücke in verschiedenen Richtungen von sich. Dann nahm er unter einem tiefen Atemzug wieder neben mir Platz.

»Ich weiß, Sie verstehen nicht, was ich eben gesagt und getan habe«, begann er dann wieder. »Ja, vielleicht bin ich ... aber, was haben solche Erwägungen jetzt für einen Sinn ... jetzt?! – Die Telepathie der Lebenden kann nicht geleugnet werden. Nein! Aber wir sind auch mit den Toten verbunden. Nicht mit allen. Aber nicht alle, die eingesargt liegen, sind uns gestorben.«

Nach diesen rätselhaften Worten blickte er hinunter auf den Weiher. Ich folgte seinen Augen und sah an der Stelle, wo das Amsellied vorher untergetaucht war, den Schein eines feuerfarbenen Abendwölkchens gleich einem roten Schleier schimmern und langsam im Wasser untersinken.

Ich hatte wohl acht auf Brindeisener. Als der Abendschein in die Tiefe gesogen wurde, sah ich, daß ein Beben durch seinen ganzen Körper rieselte.

Darauf lehnte er sich zurück, hob sein Gesicht zur Höhe und deckte die Augen mit der Hand zu. Seltsam. Er glich jetzt einem Menschen, der durch das Fenster Ausschau in eine endlos lange Gasse hält.

Als er die Hand von der Stirn sinken ließ, nahm sein Körper eine Haltung ein, aus der jede Spur der Aufregung verschwunden war, und deren Geschlossenheit etwas wie die Bereitschaft einer Seele ausdrückte, sich der Nacht tiefer Musik anzuvertrauen.

»Sie und mancher Jüngling aus dieser Stadt haben zu wiederholten Malen von mir eine Geschichte anhören müssen«, begann er dann mit einer völlig freien Stimme, einem tiefen, bronzenen Tenor, der bei großer Fülle unendlich weich und biegsam klang, so, daß ich mich vorneigen und dem Buchhalter verblüfft ins Gesicht schauen mußte.

Brindeisener duldete die jugendliche Taktlosigkeit, lächelte unmerklich und setzte nach kurzer Pause wieder ein:

»Wenn Sie und die anderen daraus nicht recht klug geworden sind, so wundert mich das nicht. Denn sehen Sie, ich habe Ihnen die Geschichte durch die Geschichte verheimlicht.«

»Ja«, sprach ich und schob mich überstürzt in den Fluß der Mitteilung, die von kurzer Erwägung unterbrochen wurde.

»Wenn Sie uns die Geschichte vorenthalten wollten, und ich sage, daß es Ihnen bei mir durchaus gelungen ist, also wenn Sie schweigen wollten, warum haben Sie den Umweg übers Reben gemacht?«

»Einmal,« erwiderte Brindeisener, »weil diese Art Schweigsamkeit die gebräuchlichste und sicherste ist, mit der Menschen sich vor anderen verbergen. Und dann erwägen Sie das andere, daß Erzählungen nicht durchaus das Interesse des Zuhörers als Absicht haben müssen. Nicht immer, meine ich.«

»Ja, aber ich, wissen Sie, Herr Brindeisener«, sprach ich in der Leidenschaft eines Zweifels, der mir aber entschlüpfte, so wie ich ihn ausdrücken wollte.

Der Buchhalter fuhr unbeirrt fort, indem er den Arm weisend nach dem Weiher ausstreckte.

»Sie sehen da drunten einen Schatten über dem Teich liegen, der uns das Wasser verdeckt.«

»Gewiß, aber ich weiß doch, daß das der Tolketeich ist.«

»Freilich. Doch nur aus einer früheren Kenntnis. Wenn es Ihnen aber gelänge, das geläufige Wissen auszuwischen, so müssen Sie zugeben, daß Sie durch nichts gehindert würden, den Weiher für eine Wiese in der Dämmerung zu halten. Nicht wahr?«

»Ach ja, das könnte man schon. Aber ich verstehe nicht, in welchem Zusammenhange das mit Ihrer Geschichte steht.«

»Nun, denken Sie sich den Fall, der Schatten stiege nicht von außen, zufällig über den Weiher, sondern er würde mit Absicht von den Wassern selbst erzeugt, damit der Teich nichts mehr von sich wüßte oder wenigstens sich über sich täuschen könnte, so haben Sie den Sinn mancher Erzählungen.«

»Da bin ich mit meiner Ansicht doch nicht fehlgegangen.«

»Welche Meinung hatten Sie?«

»Na, Meinung? Nein. Überzeugung! Es konnte ja auch nicht anders sein, daß Sie nämlich, Herr Brindeisener, zu Ihrer Geschichte in gar keiner Beziehung stünden. Denn, ich habe nicht nur jedesmal sofort alles vergessen, was Sie erzählten, sondern Ihre Persönlichkeit wurde mir sogar durch die Geschichte so verwirrt, daß es eine Unmöglichkeit war, mir von Ihnen eine Vorstellung zu bilden.«

Der Buchhalter bemühte sich nicht, die Entgleisung meines Scharfsinns richtigzustellen, sondern nickte nur in tiefem Sinnen. Ohne mir aber beizustimmen oder mir zu widersprechen, nahm er nach einigen Augenblicken wieder das Wort.

»Ein Geigenspieler kann uns dadurch um etwa das Violinkonzert von Beethoven bringen, daß er es uns vorträgt. Und vielleicht nur einmal in seiner Künstlerlaufbahn, einmal in seinem Leben erreicht seine innere Erhobenheit jenen Grad und jene Fülle, die der göttlichen Weihe nahekommt, in der der Meister das Werk geschaffen hat. Sonst stümpert er nur. Sonst, das heißt die anderen Male.« Nach diesen Worten sah er mich behutsam an.

Aber ich ahnte nur dunkel den Zusammenhang seiner Darlegungen und schwieg in einer geheimen Beklommenheit. Darum begann er von neuem:

»Sie sind offenbar berufen, berufen meine ich, nicht etwa von einer Nacht, die die Menschenleben durcheinanderschiebt gleich Spielsteinen, nein, berufen durch Ihr Wesen, in meinem Dasein eine Rolle zu spielen.

Denn dazumal, als Sie mich in der Kneipe, da auf dem Abhang über uns, so schnöde verliehen, öffneten Sie mir den Zugang zu meinem Leben.«

»Herr Brindeisener, nehmen Sie es mir nicht übel, ich bin ja noch sehr jung. Aber das nennen Sie einen Zugang, die Stellung aufgeben, in ein verrufenes Haus ziehen, in Nächten auf fremden Schwellen zu sitzen und an fremden Türen Einlaß zu begehren? In Finsternissen, in Sturm und Schnee schutzlos umherirren?«

»Noch mehr, mein lieber, junger Mensch, in Gräben schlafen, vor Kälte an den Gittern Schutz suchen, die den Ausfluß des heißen Grubenwassers verwahren. Hunger ertragen, Verachtung in jeder Form. Jawohl. Aber doch war es ein Zugang. Denn in den Jahren meiner scheinbaren Lebenssicherheit lag ich als Geschiebe unter den Wogen meiner Schicksalsgewässer und kam mir verloren und begraben vor für immer. Aber als ich den Mut fand, mich fallen zu lassen, durch die niedrigsten Formen des Lebens hindurchzusinken, stieg ich empor, und heute sehen Sie mich bereit zum letzten, was von Menschen gefordert werden kann, unbeschwert, ja in einer Art tiefster Freude.

Da ich nun schon ein unverbesserlicher Geschichtenerzähler bin und auch nichts besitze als das, nichts, rein gar nichts, so will ich Ihnen die Ereignisse erzählen, die Sie sooft von mir gehört und immer wieder vergessen haben. Aber heute will ich nicht das Wasser sein, von dem ich Ihnen vorhin gesprochen habe, sondern der Geigenspieler in seinem höchsten Moment. Das heißt, wenn Sie einverstanden sind. Sonst, es bleibt Ihnen freigestellt, dürfen Sie sich ruhig entfernen, denn der Tag liegt in den letzten Zügen. Ja, wenn Sie wollen, gehen Sie ruhig. Ich bin Ihnen wahrhaftig nicht böse, bleibe allein hier sitzen, sinne alles, was ich zu sagen habe, vor mich hin, einsam und still und ... na, wollen Sie?«

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