Hermann Stegemann
Daniel Junt / Die Himmelspacher
Hermann Stegemann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Am anderen Morgen schrieb Berthe an ihren Vater, die sechs Wochen seien um, er solle sie holen kommen. Den Léon aber gab sie nicht mehr von sich, fütterte ihn und saß bei ihm, wenn er schlief. Daniel ließ sie gewähren. Wenn er sie ansah, wurden ihre Wangen blaß und ihre Lippen rot, und auf seinem Gesicht wetterleuchtete ein Schein, von dem man nicht wußte, ob er gutes oder böses Wetter kündete.

Grosjean konnte nicht reisen. Er bat Daniel, seine Tochter ins Tal zu bringen.

Mit dem Brief in der Hand trat er zu ihr. Sie hatte den Kleinen auf dem Schoß und steckte ihm einen Löffel voll Mehlbrei nach dem anderen ins Mäulchen. Damit fuhr sie fort und wischte dem Léon die süße Pappe in ihrer Hilflosigkeit dick um die Nase. Es war in der Küche, durch die Gitterstäbe des niedrigen Fensterchens fiel ein matter Tagesschein. Im Zwielicht blitzten die Kupfergeräte und die weißgescheuerten Bänke. 86

»Du willst fort, Berthe?«

Wie schuldbewußt schwieg sie und sah nur flehend zu ihm auf.

Ein milder Zug erschien in seinem Gesicht.

»Ich halt' dich ja nicht. Noch nicht« – und nach einer Pause, als sie immer noch stumm blieb – »und der da, der kleine Knopf, was wird aus dem? Er kann's ja bald nicht mehr machen ohne das Berthele.«

Da preßte sie den Léon fest an sich.

»O den nähm' ich gleich mit, Daniel!«

»Ist das wahr?« fragte er leise.

Sie sah ihn an, über den braunen Kopf des Buben hinweg.

»Ganz gewiß, Daniel.«

»Und dein Vater?«

»Der sagt nicht nein, das weißt du doch.«

Noch einen Augenblick schwankte er, dann sagte er kurz und entschieden:

»So nimm ihn, Berthele, und pfleg' mir ihn in der Stadt bis ins andere Jahr.«

»Ich dank' dir, Daniel,« antwortete sie und küßte das Kind auf die Haare, die immer dunkler wurden. Schon glich er dem Vater mit den trotzigen Brauen und den kecken Augen.

Da legte ihr Daniel die Hand auf die Schulter, und sich über sie beugend raunte er:

»Das ist wie ein Versprechen, wie ein Pfand zwischen uns, Berthe. Vergiß das nicht!«

»Ja, ein Pfand von dir,« erwiderte sie, und ihre Augen wurden feucht.

»Und du bringst mir's zurück, du kommst, wenn ich ruf'?«

»Ja, Daniel!«

Der Léon fuhr mit den Händen in den Breinapf. Sie achteten nicht darauf. Berthe hatte die Augen in seinem Haar verborgen, und Daniels Hand strich ihr über das blonde Gelock, das sie am weißen Nacken krauste. 87

Und plötzlich wurde dem jungen Weib das beklommene Herz leicht, es blickte auf und sagte mit einem Versuch, zu scherzen, obwohl es nach ihrem innersten Gefühl kein Scherz war, sondern ein letzter Versuch, die Herrschaft abzuschütteln, die der Mann auf ihre Sinne und ihr Wesen ausübte, sagte mit einem Versuch zu lächeln:

»Und wenn du nicht rufst, Daniel?«

Da warf er den Kopf in den Nacken:

»Wenn ich nicht ruf', Berthele, nun, was dann?«

Eine gutmütige Überlegenheit war in seinem Ton. Er gab sich zu der kindlichen Frage hin und zahlte sie mit einer Frage zurück.

»Dann,« stotterte sie, »dann« – und auf einmal rasch, mit einem befreienden Atemzug – »dann behalt' ich dein Kind!«

Und noch enger umfaßte sie den Knaben, der ihr den Kreppeinsatz mit weißem Brei betupfte.

»Dann behältst du das Kind,« erwiderte er langsam.

Sein Gesicht war ernst geworden, ein Schatten lag in seinen Mundwinkeln.

Jählings nahm er ihren blonden Kopf zwischen beide Hände und sagte:

»Berthele, sag's noch einmal, daß du ihn behältst.«

Sie erschrak.

»Was ist dir, Daniel?«

Er sah sie überredend, befehlend an und küßte sie zwischen die Augen.

»Sag's!«

Und sie wiederholte mit bebenden Lippen, indem sie unwillkürlich die rechte Hand erhob:

»Bei Jesus, dann behalt' ich dein Kind.«

»Ich dank' es dir, Berthe!«

Das klang wieder ruhig, zuversichtlich, ein stählerner Klang, ein bißchen spöttisch zugleich, als hätte er es nicht anders erwartet. Er holte sie wieder, den Léon und das Berthele! Er holte sie heim – nur keine Angst! 88

 

Die Sommergäste verwunderten sich über die Abreise der blonden Madame Alleman nicht wenig, denn Mamsell Nanette saß samt dem Léon auf dem Break, und hinten war ein großer, alter Koffer aufgeschnallt.

Das Nettele hatte sich noch einmal umgesehen und gewinkt. Jetzt war das Haus hinter den Bäumen verschwunden, und die alte Mamsell tat einen tiefen Seufzer. Den Léon hielt sie auf dem Schoß. Neben ihr saß Berthe im schwarzen Witwenschleier, vor ihnen auf dem Bock der Daniel, der selber kutschierte.

Als sie an der großen Kehre angelangt waren, begannen die Bremsen aufzufliegen, und je tiefer sie ins Tal hinabrollten, desto schwüler wurde der Tag. Die Luft zitterte, betäubend zirpten die Grillen, müde, rote Schmetterlinge hingen an den Disteln am Straßenbord, und der Staub stieg als goldene Wolke hinter dem Wagen in die Höhe. La Motte lag tot in der Sonne; im Tal, wo die Chaussee anfing, saßen die Steinklopfer am Rain, und das eintönige Klopfen ihres Hammers klang hart und trocken in der Glut des Septembertages. Die Reben strotzten, die Traubenkerne schielten schon durch die klaren Häutchen.

Als sie die Stadt erreichten, sagte Daniel:

»Ich geh' noch zu den Schwestern. Komm mit, Berthe. Das Nettele bleibt an der gare mit dem Léon. Es ist noch eine gute Stund', bis der Expreß von Straßburg kommt.«

Berthe wagte nicht Nein zu sagen. Grau im Staub lag das Marsfeld, und in den Gassen flimmerte die heiße Luft. Die Sonne sog weiße Dünste an sich und ihre Strahlen waren entfärbt, aber um so schwüler legte sich die Glut über die Stadt. Wie Blei wog die Luft. Die Gassen waren ausgestorben.

Als Daniel die Glocke zog, die im Häuschen des Portiers anschlug, atmete Berthe wie erlöst.

»Nein, die Hitze,« sagte sie und sah auf ihr schwarzes Kleid, das einen braungoldenen Staubschimmer hatte. 89

Sie mußten im Vorraum warten. Hier war es kühl und dämmerig. Von der alten efeuüberwachsenen Stadtmauer, die den Garten abschloß, sickerte kühler Schatten, und auf dem Quittenbaum vor dem Fenster schrie der Regenpfeifer.

Schwester Amélie trat ein, hinter ihr Florence.

Aber noch ehe Floflo zu ihm geeilt war, rief Daniel:

»Was ist mit dem Kind? Es hat ja gar keine Farb' mehr im Gesicht.«

»Es ist nichts,« sprach die Schwester schnell mit leiser, sanfter Stimme. »Das Kind ist nur ein wenig streng gewachsen.«

Floflo war wirklich in wenigen Monaten aus den Kleidern gefahren, und Berthe fühlte sich ganz beengt, als sie das schlanke Kind sah mit dem klaren, wachsfarbenen Gesicht, in dem die schwarzen Augen leuchteten. Ein gerades Näschen mit bebenden Flügeln, feine, zuckende Brauen und ein blasser Mund, der jetzt zu lächeln begann. Das war das Gesicht einer kleinen Mutter Gottes.

Daniel hatte Florence an sich gezogen. Aber auf seine kurzen, scharfen Fragen, die sich um die sanft plätschernden Antworten der Schwester nicht kümmerten, entgegnete Floflo, wie es gerade kam:

»Oui, mon père« oder »non, mon père«. Manchmal auch »pardon, mon père«, wenn sie etwa dem grollenden Vorwurf widersprechen wollte.

Da sagte Daniel plötzlich:

»Du kommst mit, Flo, ein paar Wochen auf dem Berg, und du siehst wieder anders aus. Müd bist du? Das bläst dir der Bergwind vom Leib. Mach' dich fertig!«

Die Schwester hob vorwurfsvoll die Hände, aber Daniel hatte schon seinen Hut in der Hand und schnitt ihr das Wort ab.

»Erst zum Doktor und hernach auf den Berg, ich will's.«

Mit Küssen und Segenswünschen nahmen die Schwestern Abschied von Floflo. Still ging das Kind neben Vater und Berthe her. 90

»Wir haben noch Zeit,« sagte Daniel, als sie über den Peterswall dem Bahnhof zuschritten.

Unter den Linden spielten die Mücken in der heißen Luft. Die Schwüle hing sich den rasch Dahinschreitenden wie eine schwere, drückende Last an die Schultern. Berthe hatte noch kein Wort zu Florence gesprochen, und das Kind sah mißtrauisch zu ihr hinüber.

»He, Floflo, kennst du Madame Berthe nicht mehr?« fragte Daniel schroff.

Floflos Wangen überzogen sich mit einer flüchtigen Röte.

»Boujour, mademoiselle Berthe,« sprach sie leise, ohne sie anzublicken.

Berthe wußte nicht, was sie antworten sollte, Daniel aber legte Floflo die Hand auf die Schulter.

»Der Léon geht mit dem Nettele zu Madame Berthe. Ostern kommen sie dann heim auf den Berg, alle drei, und Madame Berthe bleibt auf dem Florimont. Tu comprends?«

Floflos Schultern bebten, sie sah immer geradeaus, ohne es zu wissen. Ihr Herz klopfte ganz schnell, sie mußte immer den Mund aufmachen, wenn sie so geschwind ging wie jetzt.

Als das Kind keine Antwort gab, zog Daniel die Brauen zusammen.

»Floflo, gib jetzt der Madame Berthe die Hand,« stieß er heftig hervor.

Florence drückte die rechte Hand tief in die Falten ihres Kleides und ging hastig weiter. Sie war wieder blaß geworden, ihre Nasenflügel zitterten bei jedem Atemzug.

Da sagte Berthe leise:

»Laß das Kind, Daniel, das kommandiert sich nicht.«

Daniel aber blieb stehen, mitten auf der Straße, vor ihnen lag der Bahnhof unter dem gelbroten Himmel, an dem die Sonne einen blutigen Brand entzündet hatte, und er faßte Floflos Arm, zog die kalten, feuchten 91 Finger aus den Kleiderfalten und fügte sie in die ihm schnell entgegengereichte Hand Berthes.

»So, und jetzt vorwärts!«

Er ging voraus, um die Karten zu besorgen.

»Kennst du mich denn nicht mehr, Floflo?« fragte Berthe leise und mitleidig.

Florences Lippen zuckten, sie antwortete nicht. Jetzt waren sie auf dem Bahnsteig. Auf einer Bank saß das Nettele und hielt den schlafenden Léon auf dem Schoß. Da schoß Floflo auf einmal auf die beiden zu und erstickte sie fast mit Liebkosungen. Der Léon, aus dem Schlaf geschreckt, brüllte aus Leibeskräften, und als gerade der Zug fauchend und spuckend in die Halle donnerte, brüllte er noch lauter.

»Nanette, laß mir den Léon da,« schluchzte Floflo und wollte den Strampeler nicht loslassen.

Daniel machte dem ein Ende. Sie stiegen ein.

Schon gellte die Glocke und schmetterten die Schaffner die Türen zu, da sprang Daniel noch auf den Wagentritt: »Auf Wiedersehen, Berthe! Halt' ihn mir gut, den Buben, und du weißt, im Frühjahr« –

Die Signalpfeife schrillte. Der Schaffner zerrte Daniel herab. Berthe gab keine Antwort mehr. Der Pfiff der Lokomotive und das Kreischen der Räder erstickten Floflos letzten Schrei nach dem Léon und dem Nettele.

Als der Zug über die Weichen fuhr und nur noch der letzte Wagen sichtbar war, wandte sich Daniel ab.

»Komm, Floflo, jetzt gehen wir heim.«

»Ja, Vatterle,« antwortete das Mädchen und atmete tief auf.

 

Herbstnebel wogten in den Tälern, auf den Höhen war Sonne.

Das Bergwirtshaus sah keine Gäste mehr. Der kühle, herbstliche Hauch, der nach dem Abschiedsgewitter des Sommers über die Kuppen flog, hatte alles ins Tal geweht. 92

Floflo strich wieder über die Weide und um die Steine, aber nicht wie früher, sondern unruhig, suchend, als ob es etwas verloren hätte. Der Léon und das Nettele fehlten, und nur die Catherine war noch da und der lahme Sepple.

Eines Tages saß Flo unter dem Eichbaum auf der Herrgottsweid'. Von der Ferme Hirth herüber riefen kreischende Stimmen.

Da kam der Vetter aus La Motte. Mit den langen Beinen stieg er gebückt bergan. Jetzt blieb er schnaufend vor dem Kind stehen.

»Oho, Florence, du bist eine Stadtmamsell worden. Da kommst du nimmer zum Jaköble, so eine noble Demoiselle. Aber sag', ist der Vater daheim?«

»Ja,« antwortete Floflo und wich hinter sich.

Der Bauer ging weiter.

Daniel kam aus der Käshütte, als er die hagere, gebückte Gestalt des Vetters über den Wiesenpfad stackeln sah. Er wußte, warum der den Weg auf den Berg gefunden hatte.

»Tag, Daniel.«

»Tag, Vetter.«

Sie waren vor dem Hause zusammengetroffen.

Nun saßen sie in der leeren Stube vor einem halben Liter. Der Vetter zog mit seinem knochigen Zeigefinger auf der gelben Tischplatte feuchte Kreise im vergossenen Wein.

Dann und wann fiel ein Wort. Über das Wetter, die letzte Leich' im Dorf, den Käspreis und den Viehstand.

»Du hast chance, du,« sagte der Vetter, und seine hervorstehenden Backenknochen wurden noch spitziger, so bitter zog ihm das Wort den Speichel zusammen.

»Ja, sie erwürgt mich schier!« entgegnete Daniel trocken.

»Dir kann keiner das Dach ablüpfen, wenn du brav zahlst.«

»Ablüpfen! Das fehlt einem just noch,« grollte der Bergwirt. 93

Da hob der Vetter das Glas, schielte über den Rand weg in Daniels Gesicht und fuhr fort:

»Dagegen bist du assekuriert mit deiner Erbpacht, aber wenn einer eine eigene Hütte hat und der Jud' spuckt hinter die Tür, so fressen einen die Zinsen.«

»So ist's,« sagte Daniel ruhig.

»Erst greift er aufs Vieh, hernach aufs Haus.«

»Wer ist's, der Schmuhl von Ingersheim?« fragte Daniel gleichgültig.

Aber der Bauer tat, als hätte er die Frage überhört.

»Tiens, das hätte ich schier vergessen,« sprang er auf einmal ab, »der Maire schafft dran, daß die Herrgottsweid' und die Kälbermatt aufgeteilt werden.«

»Was gilt's?«

Daniel nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel und den Ellbogen vom Tisch.

»Er meint, sie gehör' nicht grad zur Gemeind'weid'. Der Schmuhl ist in der affaire

»Und die anderen, was sagen die dazu, der Loriot und der Ricklin, der Laugel, der Jerry, der Storkenhans, der Gemeinderat enfin

Der Vetter zuckte die Achseln.

»So red' doch, Nundedie!« stieß Daniel heftig hervor und füllte dabei dem Cousin das Glas unwillkürlich bis zum Überlaufen.

»Wo der Schmuhl dabei ist! Ma foi, das ist so ein' Sach'. Mir kniet er auch auf. Wenn ich morgen nicht zahl', lüpft er mir's Dach von der Hütte und schirrt mir den Ochs ab.«

»Aber die Gemeind' ist ihm nichts schuldig.«

»Das nicht. Aber bar Geld ist rar, und die Gemeind' will bauen.«

»Bauen!«

Daniel fuhr auf. Bauen! Die Gemeind' wollte bauen! Auf dem Florimont am End'! Er hatte dem Dorf den Rücken gekehrt seit der Sitzung, wo über die Ferme abgestimmt worden war. Jetzt wollten sie auf einmal 94 bauen! Ein wilder Schwall drängte ihm in die Schläfen; es klang heiser, als er fragte:

»Ist's soweit? Sie wollen mir mein Recht geben?«

Der Vetter wischte sich mit dem Handrücken die Lippen und rückte auf dem Bänklein hin und her.

»Daniel, du hast halb Kolmar bei dir gehabt, und es macht dir nichts aus: Zweihundert livres muß ich morgen zinsen und zahlen, ich geb' sie dir Michaeli übers Jahr zurück.«

Daniel stützte die Hände auf den Tisch und neigte sich zu ihm.

»Mir wachsen die livres nicht am Hag, aber du sollst sie haben. Und jetzt red': Was ist mit dem Bau?«

»Also zweihundert livres, du bist mir gut dafür,« antwortete der Vetter, und als er zögerte, weiter zu reden, schlug Daniel auf den Tisch.

»Zum Donner auch, was ich sag', steht für einen Eid.«

Da fuhr der Vetter fort:

»Der Vikar hat reklamiert, weil's beim letzten Wetter das Kirchendach abgedeckt hat, und im Pfarrhaus fallen, scheint's, die Mauern zusammen.«

»Und dafür muß die Gemeind' Geld aufnehmen?« fragte Daniel blaß.

»Und bauen.«

»Und ich erstick' hier oben. Mir fault die Diele in den Grund, schau her!« – Er stieß mit dem Fuß auf den Dielenspalt neben dem Tisch, daß das zerfressene Holz wie Mehl aufstäubte und der Absatz tief in das brandige Loch fuhr. – »Ich sitz' hier und wart' und petitionier' und leih' mein Geld dazu, daß sie bauen, daß ich werken kann da oben, ich will's mit Zinsen heimzahlen, und da heißt's, das geht die Gemeind' einen Dreck an! Aber wenn der curé und der abbé hinter die Weiber hocken und ihnen einheizen, dann ist's ein ander Ding. Dann baut die Gemeind'!«

Er lachte wild auf.

»Ja, und der Maire, weißt du, was der gesagt hat – aber bring's nicht aus, daß ich dir's gesteckt hab' –, der 95 Daniel Junt, hat er gesagt, der hockt nicht auf dem Eigenen, den brennt's nicht. Der kann einem nur die Pfingstkilbe verwehren, aber der Pfarrer sperrt einen aus dem Himmel aus.«

Daniel biß die Zähne zusammen. Schwer ließ er sich auf die Bank fallen. Eine Zeitlang starrte er stumm ins Glas, dann schob er es von sich und stand auf.

»Wart', ich hol' dir die zweihundert Livres,« sagte er mit unnatürlich ruhiger Stimme, so daß der Bauer ihn erstaunt anblinzelte.

Als der Vetter allein war, trank er langsam sein Glas aus und schenkte sich dann ebenso langsam den Rest aus der Flasche ein.

Daniel ging ins Bureau und zählte das Geld ab. Er hatte die zweihundert Livres mit dem Maul verdient, der Cousin Antoine, aber dreihundert wären dem Daniel nicht zu viel gewesen für das giftige Lab, das ihm der Cousin aus La Motte auf den Berg gebracht hatte. Just das hatte ihm noch gefehlt, das käste ihm alles um und um, was er seit Jahr und Tag geschluckt hatte. Seine Hände zitterten, fettige Fünflivres, rauhe neue Markstücke und glatte, abgeschliffene Taler klirrten zwischen seinen Fingern.

Er trug sie hinunter.

»Zähl's nach. Eine Schrift braucht's nicht,« sagte er heiser, und der Vetter zählte, erst die Franken, dann das deutsche Geld, zuletzt eins zum anderen und packte alles umständlich ein.

»Bien merci, Daniel. Also eine Schrift willst du keine. Gut, es gilt auch so. Auf Michaeli im anderen Jahr.«

Daniel sah ihm nach, wie er gebückt, mit krummen Knien über das Sträßlein und die Matte hinunterging. Der glaubte nun, er habe ihm die zweihundert Livres durch seine Schlauheit abgedrückt. Pah, was fragte er danach! Als ob er nicht von Anfang an gewußt hätte, was der Toni wollte! Und nicht von Anfang an entschlossen gewesen wäre, ihm hundert Livres in den Sack 96 zu geben. Nun waren's zweihundert gewesen. Sie waren es gewohnt, er und der Vater selig, daß die Freundschaft auf den Berg kam, wenn der Donner in die Milch geschlagen hatte. Und die Junt hatten noch keinen hocken lassen, solang er schaffte und rechttat.

Aber was hatte ihm der Antoine ins Ohr gesetzt? Das waren keine Lügereien, das böse Maul des Maire hatte einen Giftzahn, den kannte er am Biß. Und die anderen? Die taten's doch nicht dem Junt zum Trotz? Die wußten's einfach nicht besser, flickten das Kirchdach und ließen das Haus auf dem Berg verfallen, weil der Vikar mit dem Höllenfeuer einheizte. Freilich, er, der Daniel, hatte nur sein Recht bei der Hand und den allgemeinen Vorteil. Von dem verstanden sie nicht mehr als ihre Ochsen. Ein paar tausend Livres in die Hand nehmen und ein rechtes Haus auf den Berg stellen, an das Sträßlein, das hinüber ins Frankreich zog, wo seit dem Krieg eher mehr gefuhrwerkt wurde als vorher, ihm Luft machen, daß er ein halbes Hundert Sommergäste herbergen konnte statt einem Dutzend, das taten sie nicht, und er war ein Narr gewesen, ein Simpel, daß er ihnen so viel raisonnement zugetraut hatte. Er hatte sie zwingen wollen, ihnen ein paar Livres Pacht zedieren, quelle bêtise! Damit lockte er ihnen keinen Sou aus dem Sack, keinen Gemeinderatsbeschluß aus der Lade! Sie ließen alles an sich ablaufen wie Wasser, und die Zeit lief mit.

Der Maire, der saß und lachte sich einen Kropf . . . Herrgott im Himmel, jetzt war es mehr als sein Recht, was er tat. Er konnte sie zwingen, nicht mit Klagen und Gründen, mit ein paar Livres in den und jenen Sack, aber wenn er selbst das Dach ablüpfte, unter dem er erstickte, dann mußten sie bauen, dann baute er auf dem Florimont. Und dann – er warf den Kopf in den Nacken, zog den Atem tief in die breite Brust und schaute frei über die welligen Matten, die dunklen Wälder und die grün und gelb gesprenkelten Täler – dann gab's Luft! 97

Die Courage hatte er, den Willen auch und, Sakrament, auch das Recht dazu!

Er drehte sich um und ging ins Haus. Es war ihm noch nie so eng, so düster und baufällig, so müde erschienen wie heute. Es roch nach Ruß, nach faulem Holz, die Kammern waren leer, die Dielen knackten, eintönig surrten die Mücken. Wenn der Joli schnaubte, lief's wie ein Stöhnen durch die Ferme. Ein Huhn hatte sich in die Küche gewagt und rannte plötzlich wild schreiend mit roten Augen und gespreizten Flügeln an ihm vorüber ins Freie.

Da dachte er an den aigle d'or, der nicht mehr über der Türe hing.

Als Grosjean ihm geschrieben, daß die Assekuranz gelöscht sei, hatte er ihn herabgerissen. Und jetzt – ein Schauder packte ihn – statt dem Adler den Gockel! Aber festen Schrittes ging er in sein Bureau und machte Ordnung in seinen Schriften.

Ein Daguerreotyp vom Vater selig lag zwischen den Papieren. Von der Mutter war nur der Totenschein da. Das Meßbuch der Louise und die Urkunde über die Adoption Floflos. Und im Sparkassenbuch Léons Geburtszettel. Nun lag alles sauber beisammen. Er sah sich um. Die Flinte, die hing noch am Haken, sonst war nichts an den Wänden außer einem Diplom von der exposition agricole in Straßburg und einem stockfleckigen Stich: La prise du Malakoff. Mechanisch nahm er das Gewehr herunter und legte es an die Backe. So blinzte er durch das offene Fenster nach dem rocher du moine, als wüßte er dem Rohr ein Ziel. Plötzlich setzte er heftig ab, denn eine Gestalt bewegte sich um den Felsen, Floflo. Er stellte die Flinte in die Ecke und griff zur Feder. Er schrieb an den Gemeinderat, daß er protestiere gegen den Pfarrbau, solange er da oben ersticke. Schrieb und schickte den Brief nach La Motte.

Am anderen Tage fuhr er nach Kaysersberg, um die Rechnung mit dem Weinsticher ins reine zu bringen. 98 Noch waren die Weiden voll Vieh, die Fermen bezogen, aber in vierzehn Tagen war das Engelfest, und dann rüsteten sich die Melker zur Talfahrt.

Die Tage gingen, aber aus La Motte kam keine Antwort.

Auf der Ferme Florimont regierte die Catherine. Daniel fand sie schon auf den Beinen, wenn er mit den Hühnern aus dem Bett stieg, und abends, wenn er stillbrütend vor dem Schreibtisch saß, kesselte sie noch unten in der schwarzen Küche mit dem Geschirr. Der Sepple lag dann schon im Stroh, und der Melker schnarchte über der Käskammer. Floflo strich um den Vater herum. Er war hinter ihr her mit Milchtrinken, und sie schluckte und schluckte, bis ihr die Augen übergingen – ihm zuliebe.

Die Tage wurden Daniel so lang, daß er die Sonne hätte vom Himmel herabreißen können. Nun waren es zwei Wochen, aber die Gemeind' schwieg. Der Vetter schickte seinen Buben, der Daniel hätte nichts zu erwarten. Nichts? Auch gut.

Daniel sagte kein Wort und schickte den Jakob mit einem großen Sou heim.

Es ging auf den Abend. Die Ferme legte sich langsam die Schatten um, die von der Nacht aus dem Tal heraufgebracht wurden. Graue Flöre hingen in den Schluchten, die Dämmerung lief über die Weiden. Das Vieh war gemolken und wieder hinausgetrieben worden. In der Küche war abgegessen, der Melker schlurfte in die Kammer, der Sepple hockte noch eine Weile auf dem Hackblock im Hof und rieb sich den Buckel an der Stallwand. Drinnen schnaubte der Joli.

Floflo huschte die Treppe hinauf, und als die Magd ihm nachrief, antwortete das Kind:

»Ich muß dem Vater noch Gut' Nacht sagen.« Und es flog unhörbar, wie eine Fledermaus, durch den dunklen winkligen Gang und klinkte die Tür auf.

»Wer ist da?« 99

Daniel warf die Lade zu und steckte die Patrone, die er hervorgeholt hatte, hastig in den Sack der Jacke. Vor ihm lag das Journal de Colmar, das der Bote im Sommer alle zwei Tage auf den Berg brachte.

»Ich bin's, Vatterle.«

Sie schmiegte sich an ihn, hüpfte auf einmal zu ihm auf und preßte ihm die Lippen auf den Schnurrbart.

»Du Grashüpfer,« murmelte er halb spöttisch, halb zärtlich. Die Berührung ihrer weichen Lippen war ihm ins Blut gegangen.

Als sie schon wieder an der Tür war, rief er sie zurück.

»Florence, denkst du noch an den Léon?«

Sie nickte und drückte ihre Backe an die seine.

»Und Madame Berthe?«

Da antwortete das Kind mit leiser Stimme:

»Die Catherine, die hat's mir gesagt, das ist jetzt unsere –« Sie brachte das Wort nicht über die Lippen. Er hörte ihr Herz hämmern.

»Eure Mutter,« sprach er statt ihrer kurz und bestimmt.

Flo zuckte zusammen und wich von ihm zurück.

»Halt, Florence,« er faßte sie am Arm, »sie steht für deine erste Mutter ein, verstehst du das?«

»Ich will keine andere,« preßte das Kind noch leise hervor.

»Du willst nicht! So, so, aber ich will, und wenn ich will, mußt du auch wollen.«

Er faßte ihren Arm fester, als er wußte.

Floflo stieß einen einzigen kleinen Schrei aus, einen heiseren klagenden Ton, wie damals, als die Louise Prajé in Nöten lag und das Kind dem Schlitten in die Quere lief.

»Geh' schlafen,« sagte Daniel rauh und ließ sie los.

Aber sie blieb stehen, zitternd, blaß, rote Striemen liefen um ihr Handgelenk.

»Geh' ins Bett,« wiederholte er. Das Blut brauste ihm in den Ohren, er fegte mit der Hand über das 100 Journal, als könnte er etwas vom Papier wischen, das ihm in die Augen brannte.

Endlich gehorchten Florence die Füße. An der Tür zauderte sie, schluckte und sagte dann mit einem um Verzeihung bittenden Stimmchen, als wäre es ihr furchtbar leid, daß sie nicht anders konnte, daß sie keine zweite Mutter wollte:

»Gut' Nacht, Vatterle.«

Daniel bewegte sich nicht, ein Luftzug, die Tür klappte, er war allein.

Er hörte die Magd mit dem Kinde reden und wie sie ihm das Bett zurecht klopfte; dann klapperte sie noch eine Stunde in der Küche. Jetzt stand er auf und ging hinunter.

»Mach', daß du ins Nest kommst,« sagte er im Vorbeigehen und trat unter die Tür.

Die Nacht war dunstig, ein warmer Wind kam in Stößen über die Berge, am Himmel war ein Laufen von hellen Wolken, durch die der Mond seine volle Scheibe trieb.

Die Catherine blieb mit dem Kerzenstock in der Hand auf der Treppe stehen. Sie wäre gern noch um den Daniel gewesen. Sie hatte ihn allein, seit die anderen alle fort waren. Sie schaffte jetzt allein für ihn, und wenn sie kochte und wischte und bettete und melkte, immer gingen ihre Augen nach ihm.

Er achtete nicht darauf.

»Gut' Nacht, M'ssieu Daniel,« sagte die Catherine.

Er kehrte sich nicht um.

»Gut' Nacht.«

Sie tappte die Stiege hinauf. So hatte sie ihn schon oft stehen sehen, wenn sie schlafen ging. Er ließ dann den Bello in den Hof, schloß die Tür, und alles war still. Das war der Lauf auf dem Florimont.

Nun war ihr Tritt oben verhallt.

Daniel stand und sah immer noch unverwandt in die Nacht. In der Ferme Hirth erlosch das Licht, das Brausen 101 des Wassers klang lauter aus dem Schlatten, der Laufbrunnen gurgelte am Straßenbord, eine Kuhglocke schlug an, ein einzelner Ton irrte klagend über die Bergweide. In der Wirtsstube hob rasselnd die Gewichtuhr aus und schlug Elf. Daniel zählte die Schläge, sie tropften, der letzte schwirrte langsam nach, die Gewichte hingen auf die Dielen. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und stand unbeweglich, fest auf beiden Beinen ruhend. Sein Hals war trocken, sonst war er wie immer.

Als es auf Mitternacht ging, wandte er sich und zog die Schuhe von den Füßen. Ein warmer Wind hauchte ihm in den Nacken und ging hinter ihm drein die Stiege hinauf. Und doch hatte er die Tür ins Schloß gedrückt.

Im Bureau zündete er eine Kerze an und setzte sich an den Schreibtisch. Den Kopf in die Hände gestützt, starrte er auf die Zeitung. Da stand von dem Stauweiher zu lesen. Der Bau war beschlossen. Im Frühjahr begannen die Erdarbeiten, und da unten war eine Notiz, die meldete, daß die Gemeinde La Motte die sogenannte Kälbermatte, ein Stück Weidland am Herrenwald, verkaufen wolle. Man sage, es sei eine Gesellschaft im Werden, die ein Hotel darauf errichten wolle.

Die Kerze tropfte im Wind, der vom Fenster herkam.

Daniel erhob sich.

Er nahm eine Patrone aus dem Sack, riß sie auf und streute das Pulver über die Zeitung. Die Hülse steckte er wieder ein, die Kugel flog zum Fenster hinaus. Dann ballte er das Journal zusammen, nahm es und stieg mit der Kerze die Treppe hinab. Alles war still, nur die Dielen knarrten. Er ging so sicher und unbewegten Gesichts wie ein Nachtwandler.

Als er den schmalen Gang zur Küche durchschritt, knackte im Oberstock eine Tür. Der trockene Ton drang an sein Ohr. Einen Augenblick zögerte er, dann krampfte sich seine Faust noch fester um den kupfernen Lichtstock, und er ging weiter. 102

In der Küche hüpften gelbe Lichter und schwarze Schatten vor ihm her, Der Zug im Kamin war offen. Die Kerzenflamme wies mit spitzer Zunge darauf hin. Daniel schob das zerknüllte Papier in den Sack, nahm die Petrolkanne vom Küchenherd und stieß die niedere Türe zum Verschlag auf, wo die Erdäpfel lagen. Da war auch das Reisig, waren Scheitholz, gelbe Hobelspäne und braune Lohkäse geschichtet, Zwiebelkränze und alte Körbe hingen an den Wänden des engen, wie ein Kamin in den Oberstock ziehenden Gelasses. Daniel ließ das Öl über die Späne und die dürre, gepreßte Eichenrinde laufen. Dann steckte er das mit Pulver gefüllte Zeitungspapier mitten hinein.

Nun war er fertig.

Sein Schatten fegte an den Wänden hin im Schein des gaukelnden Lichtes. Er hielt den Leuchter in die Höhe und sah sich um.

»Meine Sach' ist's, die ich verbrenn',« murmelte er und stieß die Kerze heftig in die Späne. Mit einem puffenden Geräusch fing das Papier Feuer.

Er lehnte die Tür locker auf die Falle und verließ die Küche. Hinter ihm zischelte es, ein Knistern und Flimmern rief ihm nach, aber bald erreichte ihn nichts mehr von dem geschäftigen Wesen.

Auf der Stiege blies er das Licht aus. Er stieg schwerfällig hinauf, die Füße waren ihm wie Blei, schwer und gefühllos. In seiner Schlafkammer warf er Jacke und Weste ab und setzte sich auf das Bett. Er war im Dunkeln. Nur der fliehende Mond geisterte zuweilen durch die Wolken herunter. Nebenan schlief Florence. Über ihm in der Dachkammer Catherine, im Schopf über dem angebauten Stall der Sepple und in der Kässtube überm Hof drüben der Melker. Die Tür, die auf den Flur führte, war nur angelehnt.

Er horchte, aber nichts regte sich, kein Geräusch, nichts war zu spüren; auch kein Qualm. Jenseits der Treppe lief das Gelaß zwischen den Wänden bis zu den hinteren 103 Kammern. Nichts. Er stemmte die Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf zwischen die gespreizten Hände. Auf seiner Stirn stand ein feuchter Schweiß, der ihm an den Fingern kleben blieb.

Er hatte Feuer gelegt an das alte Haus. Ein dumpfer, heißer Schwall stieg ihm aus der Brust in die Kehle. Wie Blut. Trocken quoll ihm die Zunge hinter den Zähnen. Keine zehntausend livres war die Baracke wert mit ihrer einzigen Stube und der Küche im Erdgeschoß, den paar Schlafkammern und dem großen Saal im Oberstock. Und die Ferme, die Käserei, die war ein leeres Dach über einem Backsteinboden, der Stall ein Bretterverschlag, an dem er gezimmert hatte seit Jahr und Tag. Morsch alles, schlecht im Gemäuer und faul im Holz. Und irgendwo saß nun der Brand darin. Ein paar Kommoden, ein paar Kästen voll Wäsche, ein Dutzend Betten, und das war nußtrocken von der Mutter her – er stöhnte leise. Aber wenn's ihn die rechte Hand dazu gekostet hätte, er hätt' es getan. Die da unten in La Motte, die hatten ihm die Gedanken angeblasen, bis Rauch kam und aus dem Rauch die roten Funken sprangen. Er atmete schwer, hastig zog die gepreßte Brust den Atem ein, und da, er fuhr empor, er hielt die Bettkissen gepackt, wie etwas Lebendiges, da roch er den Brand.

Das Herz schlug ihm dumpf gegen die Rippen. Er tappte vom Bett weg mitten in die Kammer. Immer noch kein Knistern, nichts, gar nichts, nur ein schleichender, den Wänden nachkriechender Geruch. Er schmeckte ihn auf der Zunge. Unter dem Bett standen ein Paar Schaftstiefel. Er bückte sich danach, da schwoll der Brandgeruch stärker zu ihm empor. Wenn er jetzt Fürio rief, war es noch Zeit. Fast ohne es zu wissen, war er tastend in die Schuhe gefahren und, horch – jetzt war draußen ein Trippeln, ein Scharren zwischen den Wänden, unter den Dielen, ein leises Pfeifen, ein Huschen und Hasten – die Mäuse fuhren durchs Haus. Und dann 104 auf einmal unten ein Poltern und danach ein Knistern und Knacken, ein Schnarchen und Schlürfen, ein Säuseln, das aus den Wänden kam, und dazwischen ein lautes Schmatzen und Schnalzen, jetzt ein Feuerschein, und nun wälzte es sich braun herein, Qualm und Rauch, es brannte.

»Nundedie, Nundedie!«

Seine Stimme klang heiser, er stürzte zur Tür. Da rief's in der Kammer nebenan. Das war das Kind.

»Vatterle!«

Das Kind, das zuerst! In diesem Augenblick wußte er gar nicht mehr, daß er den Brand selbst gestiftet hatte. Er riß die Tür auf und lief über den verqualmten Gang.

»Catherine, Catherine, Fürio, es brennt!« schrie er die Bodentreppe hinauf und stürzte zu Floflos Tür.

Der Mond lag in der Kammer, und das Kind stand aufrecht in seinem Bett.

Er warf die Decke um es und riß es auf den Arm.

Und da kreischte auch schon oben die Magd. Ein zuckender Feuerschein, ein Schlag, wie wenn das Pulver die Felsen sprengt, laut brüllte plötzlich die durchgebrochene Brunst.

»Vatterle, Vatterle, die Erdwibele tanzen, die Schratzen kommen!«

Die kühlen, mageren Arme lagen um seinen Hals, er stürzte zur Treppe.

Die Catherine rannte ihm blind in den Weg.

»Daniel, M'ssieu Daniel!«

Sie klammerte sich an ihn.

»Mach zu!«

Ein Stoß mit dem Knie warf sie köpflings die verqualmte Stiege hinab. Und nun heulte im Hof der Hund auf, grausenerweckende Töne quollen aus seinem Rachen.

An der Flurwand blätterte das Getäfel, die Stiege fing Feuer. Daniel riß die Magd mit der einen Hand empor, als er unten ankam, und zerrte dann an den 105 Riegeln. Schon keuchte die erstickende Lunge, das Kind wimmerte, da sprang das Schloß, sie taumelten ins Freie.

»Da, Catherine, das Kind! Fort mit ihm in die nächste Ferme!«

Er reichte ihr Floflo und rannte zum Stall. Der Sepple kam schlaftrunken, wie verblödet vom Heuboden herab. Im Dunkel prallten sie aneinander. Aber jetzt zuckte es rot über sie hin. Und da schrie auch drüben der Melker »Fürio«, und »Fürio« gellte die Catherine in die Nacht hinaus.

»Das Roß aus dem Stall!«

Daniel packte den Joli an der Mähne, aber an der Tür warf sich der Gaul schnaubend zurück. In seinen entsetzten Augen spiegelte sich die Glut, er wieherte und drängte zurück in den dunklen Stall. Der Knecht griff zu, sie rissen, sie stießen ihn, der Daniel schlug ihm die Hände über die Augen, jetzt war er über die Schwelle. Aber da donnerte hinter ihnen der Grund von stampfenden Hufen.

»Jesus Maria, das Vieh kommt,« schrie die Catherine, die noch kein Bein zur Flucht gefunden hatte und mit dem Kind am Hag hockte.

Die Leitkuh voran, kamen die geängstigten Tiere mit dumpfem Brüllen und schlagenden Flanken über die Weide. Die Schellenbänder tönten, die Augen glänzten im Feuerschein. Sie kamen, prallten an der Stalltür zurück und rasten wieder davon, die Stangen krachten, hinter ihnen splitterte der Hag. Und der Joli stieß ein Wiehern aus, das klang wie ein Todesschrei, riß sich los und jagte hintendrein.

Hart vorüber an der Magd ging ihr Weg, die stürzende Querstange traf sie auf den Kopf, daß sie mit einem Seufzer das Kind aus den Armen ließ und auf den Boden schlug.

Daniel rief dem Melker zu, die Melkeimer aus der Ferme zu holen, und der Sepple half ihm den kleineren Kupferkessel ins Freie schleppen. 106

»Schlag' drauf los, was du magst,« schrie er ihm zu und drückte ihm den Feuerhaken in die Hand.

Und der Sepple schlug auf das Erz, daß ein dröhnender Hall wie Glockengetön über die aufgeschreckte Weide fuhr. In den Fermen wurde es lebendig, Lichter gaukelten, weiter und weiter klang von einer Melkerei zur anderen der Notruf der macars, das volle donnernde Echo der kupfernen Kessel.

Der rechte Flügel des Bergwirtshauses brannte lichterloh. Ein Wirbel glühenden Rauchs drehte sich über dem grünen Dach. Die Fenster des Tanzsaales lagen noch dunkel, nur der Widerschein spiegelte sich in den Scheiben, daß sie aufglänzten wie verstört blickende Augen.

Aus der Ferme Hirth, der Ferme Kalblin und der großen marcarie Hüß kam die erste Hilfe. Vom Laufbrunnen bildeten sie eine Kette und schwenkten die Melkeimer, aber die Glut fraß das Wasser und spie es als Dampf wieder aus.

Jetzt sprang die Flamme auf den Stall. Schreiend stoben die Hühner aus den Luken, eines flatterte blind mitten in die Brunst.

Da warf Daniel plötzlich den Eimer beiseite. Seine Schriften! Seine Papiere, Geld und Titel! Er hatte sie vergessen. Mit einem Satz sprang er über die Schwelle und hinein in den Funkenregen. Sein weißes Hemd glänzte einen Augenblick im roten Qualm, dann war er hinweg.

»Vatterle!« schrie eine helle Stimme.

Eine schmächtige, weiße Gestalt huschte zwischen den Männern hindurch und verschwand im Flur.

»Haltet sie, haltet sie,« jammerte die Catherine und taumelte dem Kind nach, brach in die Knie und schrie und schluchzte zum Erbarmen. Wirr rannten die Männer durcheinander.

Im selben Augenblick splitterte oben ein Fenster und Daniel Junt glitt an den Jalousieläden herab, ein Sprung, er strauchelte, fiel und schnellte wieder in die Höhe. 107

Da schrie ihm die Magd entgegen:

»Ich kann nichts dafür, es ist mir aus den Händen geschlüpft, sie ist drin, sie ist Euch nach.«

Er ahnte mehr, als er verstand, ließ Schriften und Geldkasten fallen, riß sich los und sprang mit angehaltenem Atem zurück ins Haus. Dicht hinter der Tür, am Fuß der Treppe stolperte er über etwas Weiches. Er griff danach. Er wollte es aufheben, da fühlte er, wie ihm die Kraft aus den Armen schwand und ein glühender Hauch das Haar sträubte.

Ein Funkenschwarm um ihn her, die Flammen schossen die Stiege herab. Glocken, donnernde Glocken läuteten in seinem Hirn, die Beine schmolzen unter ihm weg. Aber noch einmal zwang er den Leib zu einem letzten Dienst und kroch wie ein Tier, das Kind, das die Arme krampfhaft um seinen Hals geschlagen hatte, mit sich schleppend, zur Tür. Hinter ihnen stürzte die Treppe, das Dach des Stalles krachte zusammen, ein wilder Schwarm feurigen Hafers stieg singend in die Luft. Daniel fühlte die steinerne Schwelle unter den Händen, ein frischer Luftzug drang in die versengte Lunge. »Nundedie« röchelte er trotzig, warf Arme und Beine um den nackten, im zerfetzten Hemd an ihm hangenden Kinderleib und wälzte sich über die Vortreppe hinab, hinaus ins Freie.

Ein Jauchzer aus rauhen Kehlen übertönte die Feuersbrunst. Und ehe die Melker noch bei ihm waren, raffte sich der Daniel in die Höhe. Das Hemd hing ihm brandig zerfetzt um die Schultern, das Haar war versengt, ein blutiger Schmarren lief über die weiße Schulter und färbte die behaarte Brust.

»Floflo!«

Er wühlte das Gesicht in das lockige Haar und taumelte weiter über das Sträßlein zum Brunnen hin.

»Vatterle, lieb's Vatterle!«

Es war ein Hauch gewesen, er hatte ihn mehr geträumt als gehört. 108

Eulalie Hirth nahm ihm das Kind aus den Armen, schlug ihren Oberrock um die nackten Glieder und trug es im Schoße davon wie eine Katze.

»Und jetzt ist's an uns, Buben! Wer tanzt mit mir im Daniel seinem Saal heut nacht die Pfingstkilbe?«

Das war der Xavier von der Ferme Kalblin, dem er damals die Flinte auf die Rippen gesetzt hatte. Sie hatten Leitern herbeigeschafft und rannten jauchzend die Sprossen hinan. Die Scheiben krachten und klirrten, in den dunklen, nur vom Flackerschein der nebenan wütenden Brunst erfüllten Saal sprangen sie, und die Eimer flogen in die Glut. Und da klang in der Ferne eine helle Glocke, schrill und laut, ein Fackellicht wehte durch die Nacht, tutende Hörner und stampfende Hufe, die Feuerspritze von der großen welschen Marcarie de la Belbrioche jagte über den Berg und die neue Grenze und rasselte vor das brennende Haus.

»Au feu, pompiers, au feu, pompiers,
Aux maisons qui brûlent,
«

schmetterte die Trompete des fils de la Belbrioche, und im Hui waren die Gäule abgesträngt, die Schläuche gelegt bis zum Quellbach im Grund, und gurgelnd, zischend, knatternd sprang der Strahl aus dem gelben Rohr.

All das brach so auf eins herein, daß von dem Augenblick an, da Daniel zum ersten Male ins brennende Haus gestürzt war, noch keine Minute vergangen schien.

»M'ssieu Daniel, jetzt ist alles gut,« schluchzte die Catherine an seiner Seite.

Es war ein Augenblick der Erstarrung gewesen, er stand noch dort, wo ihm die Lalie das Kind abgenommen hatte. Seine Zähne waren aufeinandergeschmiedet, ein Krampf saß in seinen Kiefern, mit starren Augen blickte er in die wilde Glut, die schwelend zusammensank, vom Wind nach Osten geweht, daß die Käshütte verschont blieb.

Auf einmal löste sich der Krampf, er stöhnte wild, wandte sich und schaute hinunter, über den massigen 109 Wald hinweg, der schwarz aus der Nacht stach in der zuckenden Brunst, hob langsam die geballte Faust und schüttelte sie in der Richtung, wo in der Senkung vergraben La Motte schlief, und röchelte:

»Die sind's schuld, und es ist gut so. Und wenn ich dran krepier'!«

Jetzt wußte er auf einmal wieder, daß der Brand gelegt war, daß er ihn gelegt hatte. »Laßt brennen,« wollte er den Nachbarn zurufen, aber er brachte nichts mehr über die Lippen, sein Hirn war wie ausgeräumt, als hätte ihm das Feuer alles aufgefressen da drinnen, als wäre das der letzte Funken gewesen, den er nach La Motte hinabgeschleudert hatte.

Er knirschte noch einmal:

»Und wenn ich dran krepier'!«

 


 << zurück weiter >>