Hermann Stegemann
Daniel Junt / Die Himmelspacher
Hermann Stegemann

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Daniel Junt

Auf den Höhen der Vogesen lag neuer Schnee. Der Rauch, der aus dem schwarzen Kamin des Bergwirtshauses quoll, stieg als bläuliche Wolke steil in die Luft, bis er über den Grat gelangte. Dort zerriß ihn der Nordwind und schleuderte die Strähnen in den verschneiten Tannenwald.

»Vollmond, heut nacht tanzen Schratzmännele und Erdwibele,« sagte die Magd und starrte über den kupfernen Kessel ins Freie.

»Die Schratzmännele?« fragte ein ängstliches Stimmlein.

»Ja, Kind, Unholde, die im Grund hocken am Krottenloch und in den Höhlenlöchern bei der Glashütte. Sieht sie keiner, aber wer's Ohr an die Steine legt z' Nacht um zwölf, der hört sie schnaufen und scherbeln.«

»Und die Erdwibele, die streichen herum, das weiß ich, Tatine, sie haben lange, weiße Hemden an.«

»Still, Florence, das sind gute Geister. Wo sie ums Haus ziehen, geht der Pferdefuß einen anderen Weg, wenn die feurigen Hunde bellen und die große Jagd vom Hohnack kommt mit Blitz und Wetter.«

Eine Weile war es still in der dunklen Küche. Im Kamin polterte der Wind, wenn er mit einem Schnaufer sich über den Grat schwang und schnell einen wilden Lauf auf das Haus tat, das er nie recht erreichen konnte. Dann duckte sich die Rauchwolke und rannte in einem langen Wurm über das Dach hinunter, eine graue Furche in die Schneedecke fressend.

»Sie tanzen um die Stein', n'est-ce pas, Tatine?« flüsterte die Kleine und kletterte auf die Geschirrbank, klammerte sich an die Gitterstäbe des Küchenfensters und 4 schaute zu den Granitfelsen hinauf, die auf der ansteigenden Matte zerstreut lagen. Der Wind hatte sie blankgefegt, und sie krochen schwarz aus dem Schnee und hockten als riesige plumpe Kröten in der Sonne.

»Ja, um die Stein', Floflo, und auf dem rocher du diable sitzen sie im Ring und« –

»Und?« fragte das Mädchen, und seine großen Augen hingen an den Felsbrocken und suchten die Erdweiblein, während sein heißer Atem als Räuchlein durch das offene Fenster in die kalte Luft hinausflog.

»Und halten Gericht über Mörder und Brandstifter und Schelme und alles, was untreu ist.«

»Brandstifter, was sind das, Tatine?«

»oh, comme tu es innocente, Florence! Die anderen Leuten die Häuser anzünden, voilà

»Und zu denen kommen dann die Schratzmännele?«

»Ja, und sitzen ihnen nachts auf der Brust, dann träumen sie wild, und es stößt ihnen schier 's Herz ab. Und am Tag, wenn sie zur Weid' gehen, kommen die Erdwibele und machen, daß sie kein gesundes Gras finden und keinen geraden Weg und gar zu Tod fallen.«

»Bien vrai, Tatine?« fragte die Kleine scheu und rutschte von der Bank.

Die Magd scheuerte den Kessel und antwortete nicht.

Florence blieb noch ein Weilchen stumm neben ihr stehen, dann zupfte sie sie am Rock.

»Zeigst du mir sie heut nacht, wenn sie tanzen?«

Ihr Gesicht war blaß, der rote Mund war leicht geöffnet, und das kurzgeschnittene, schwarze Haar krauste sich an den bläulich-geäderten Schläfen.

Catherine lachte und fuhr ihr mit der feuchten Hand durch die Haare.

»T'es trop petite, Floflo. Wenn du ein Jüngferle bist, danach kommt's anders.«

»Dann zeigst du mir sie aber.«

Die Magd nickte, fuhr wieder mit starkem Arm in die Gelte und rieb den metallenen Boden, daß er funkelte 5 wie pures Gold. Das Kind blickte wie zuvor durch das Fenster in den Himmel, wo das Gewölk in lange Strähnen zerpflückt dahintrieb. Wenn Catherine einen Atemzug ruhte, hörte man den Wind im Kamin singen und die dumpfen Schläge, mit denen der Knecht unter dem Vordach des Stalles die Tannenklötze spaltete.

Es ging auf den Abend. Die Sonne stach durch das Gewölk und zog silberne Streifen im Niedergehen. Schon schlug der Schatten des Grenzgrates über die Weide, und zarte Dünste begannen sich dort zu kräuseln, wo der Weg im Kieferngestrüpp verschwand.

Da rief auf einmal ein Weheschrei durch das einsame Bergwirtshaus, lief an den alten Mauern hin, durch alle Ritzen und Fugen, schlug zu den Fenstern hinaus und verlor sich in der stillen Weite.

»Jesus Maria!« stöhnte die Magd und ließ den Kessel auf die Fliesen gleiten, wo er grell tönte, als riefe das Geschirr dem menschlichen Schrei eine Antwort.

»Tatine, sind's die Erdwibele?« stammelte die Kleine und krampfte sich an die nasse Schürze der Magd. Die aber löste ihr rauh die zitternden Finger und stob aus der Küche, polterte über den dunkeln Flur und die Stiege hinauf und prallte dort an den Bergwirt.

»'s ist an der bösen Stunde, Catherine,« sprach der Mann mit heiserer Stimme. »Ich will nach La Motte hinab.«

»Aber 's ist vierzehn Tage vor der Zeit!«

Da lief ein Zucken über sein hartes Gesicht.

Er schob sie gegen die Tür, hinter der wimmernde Laute klangen, leise, unterdrückt, kaum vernehmbar. Doch als die Magd die Klinke bewegte, da klemmten sie sich hindurch und erfüllten den Flur und verstummten erst wieder, als die Tür sich schloß.

Einen Augenblick hatte der Bergwirt gezögert. Aber nur einen Augenblick.

»Und wenn's mit seinem Weh 's Haus abdeckt, ich bin nichts nutz da oben.« 6

Er riß die Pelzkappe vom Nagel und ging in den Stall.

»Spann ein, Sepple,« schrie er dem Knecht zu und stieß den Schlitten selbst ins Freie.

»Bei dem weichen Schnee kommt Ihr nicht weit,« meinte der Knecht.

»Mein' Sach',« antwortete er rauh und zog den Riemen fester zu.

Schon hatte er Zügel und Peitsche in den Händen, da schoß Floflo aus der Tür.

»Vatterle, nimm mich mit,« schrie sie mit ihrer hellen Stimme und war ihm blind vor das Roß gelaufen.

Mit einem Fluch setzte er den Gaul auf die Hinterfüße, um sie nicht zu überfahren. Dicht vor dem unruhigen Tiere kam das Kind zu Fall. Der Knecht packte es am Bein und riß es zurück. Das rote Röcklein flog ihm über den Kopf, mit dem Gesicht fegte es den Schnee und focht wild mit den Armen.

»Du wüste Krott,« schrie der Bergwirt und schlug im jähen Zorn mit der Peitsche nach ihr. Die Schnur zuckte ihr blitzschnell über die nackten Beine, und ein zündrotes Schlänglein erschien auf der weißen Haut.

Das Kind stieß einen einzigen, kleinen Schrei aus, einen heiseren, klagenden Ton, dann warf es sich herum und starrte stumm, totenblaß dem Schlitten nach, der lautlos über den weichen Schnee schoß. Glitzernd stob es auf unter den Kufen, ein rötlicher Schimmer huschte hinter ihm drein, und jetzt tauchte das Gefährt in den verschneiten Tannenwald.

Weither ein Peitschenknall, dann war alles still.

Das Kind starrte immer noch mit einem seltsamen wehen Ausdruck in den schreckhaft weit geöffneten Augen ins Weite. Es hockte noch auf den Knien, die Arme in den Schnee gestützt, ein verängstigtes, verwirrtes Geschöpf. Das Herz sprang ihm fast aus dem Hals.

Der Knecht stellte es auf die Füße, klopfte ihm das Kleidchen aus und sagte gutmütig: »Wenn's dich vertrampt hätt'! Komm jetzt ins Haus.« 7

Bei den ersten Schritten fuhr Floflo mit der Hand nach den Beinen, um die sich die Peitsche geringelt hatte. Ein Schluchzen erschütterte die Kleine, aber sie weinte nicht.

»Ja, warum hast auch so kurze Strümpf' an,« lachte der Alte, der die Bewegung gesehen hatte. Aber als er das Schluchzen hörte, tätschelte er ihm den schwarzen Krauskopf: »Er ist vif, der Vater, und was ihm in Weg kommt, das muß auf die Seite, aber wenn man ihn machen läßt, so läßt er einem auch das Leben. Und weißt du, Flo, jetzt holt er dir ein Brüderle oder Schwesterle, da hat's halt pressiert.«

Florence blieb plötzlich stehen, dicht vor der Haustür.

»Ein Schwesterle, ein recht's Schwesterle?«

Es schluchzte noch zwischen den Worten, aber in seinen Augen war ein anderer Glanz.

»Ein recht's?« wiederholte der Sepple und kraute sich den Wuschelkopf, und als hätte er ein Erwachsenes vor sich, zwinkerte er mit den Augen und fuhr fort:

»Ob's just dein rechtes Geschwister ist, steht nicht im Kalender.«

»Allez donc, Sepple, was berichtest du dem Kinde da!« rief eine dünne, leise zitternde Stimme aus dem Flur.

Der Alte sah einfältig drein.

»Nichts für ungut, Mamsell, es ist mir nur so zum Maul herausgewischt. Aber verstanden hat's es ja nicht.«

»So ein Kind begreift geschwinder als ein alter Esel,« antwortete das Nettele und zog dann die Kleine mit ihren mageren Händen an sich. »aViens, Floflo, du bist auch ein recht's Kind.«

»Wer hat denn's Contrari gesagt,« murrte der Sepple und stieß grimmig die Schneestollen an der Schwelle ab. Da schob das Nettele das Kind in die Küche und kehrte sich noch einmal dem Alten zu:

»Tenez, Sepple, Ihr seid nicht jünger als ich, aber 's Maul verbrennt ihr zehnmal geschwinder. Das Kind ist 8 ein angenommenes, eh bien, bis heute weiß es das noch nicht. Und wenn jetzt der Herrgott ein rechtes Kind ins Haus bringt, so merkt Flo das noch mehr als früh genug, da braucht's Euch nicht dazu. Und jetzt blaset mir in die Schuh.«

In der Küche saß das Kind und folgte dem Nettele, das auf dem Herde die Glut anfachte, mit fragenden Blicken. Endlich zupfte es die eifrig Beschäftigte am Rock und drückte, als ob es etwas sagen wollte.

»Still, Flo, ich hab' mein' Seel für keinen Batzen Zeit. 's Mütterle hat kalte Füße, und ich muß ihm doch 's Bett wärmen, wenn's G'schwisterle kommt.«

Da schlich Floflo wieder auf das Geschirrbänklein und hockte dort wie ein Kätzchen. Unverwandt folgte es mit den Augen dem Treiben des Nettele, das eifrig mit den Herdringen klirrte. Es war dämmerig geworden. Das Feuer stach rot aus dem Dunkel, und die Funken sprangen aus dem Reisig, wenn ein Windstoß den Kamin herabblies.

Angestrengt blickte Floflo in den Himmel, bis es die Sterne selbst sah, einen nach dem anderen, wie sie langsam aus dem grauen Grund traten.

Es war Nacht geworden, der Mond stand hoch, und um die schwarzen Steine, die auf den verschneiten Matten lagen, huschten weiße Flöre und drehten sich im unsteten Winde hierhin und dorthin.

»Die Erdwibele!«

Floflos Herz klopfte wie ein Hammer.

Es war von der Bank gerutscht, aber die Fäuste umklammerten noch die Gitterstäbe. Vor seinen Augen war die Matte versunken, nur den Himmel sah es noch hereinlugen zu dem kleinen Fenster.

Und jetzt hörte es plötzlich ferne Vogelstimmen, die kamen aus der Höhe und klangen und schrien und verloren sich dann allmählich in der Weite.

Da stieß das Kind einen Schrei aus, fuhr von der Bank und zur Türe hinaus, mit vorgestreckten Händen und krampfhaft geschlossenen Augen, tastete und tappte 9 durch den Flur, die Stiege hinauf, und fiel oben der Catherine, die just aus dem Zimmer der Wöchnerin trat, in die Arme.

»Die Wildgäns' kommen, Tatine, und die Erdwibele hab' ich auch gesehen. Sie tanzen um die Stein'. Wo ist's Mütterle? Ich will zum Mütterle! Tatine, ich will zum Mütterle!«

Und »Mütterle, Mütterle,« schluchzte es und riß sich los und hing sich wild an die Türklinke. Die Magd hatte keine Hände, es zu halten, sie lehnte weinend an der Wand und ächzte vor Weh wie ein Schwerkrankes.

Floflo hatte die Tür geöffnet. Plötzlich verstummte es und stand regungslos in der Stube. Lichter brannten, zwei Kerzen und die große Petrollampe aus der Wirtsstube, und ehe es noch wußte warum, kam das Nettele auf den Filzsohlen leise auf es zu und schlug ihm die Schürze über den Kopf.

»Non, laissez, Nanette, laissez la!«

Die Stimme war nur ein Hauch, und ein blasses Gesicht hob sich mühsam aus den Kissen, zitternde Finger strichen die feuchten, blonden Haare aus der Stirn und dann bat sie mit schmerzerstickter Stimme noch einmal: »Bringt's mir her, mais vite, ich bin pressiert.«

»Pressiert? Madame Junt, das ist ein dummes Wort,« murmelte die alte Mamsell und dabei rieb sie dem Kind das Gesicht mit der Schürze und fuhr ihm durch das Haar, als müßte sie es waschen und strählen zu einem Besuch bei fremden Gästen.

Floflo war verstummt. Als sie ans Bett kam, wollte sie sich über die Mutter werfen, aber das Nettele hielt sie fest, faßte sie um den Leib und hob sie in die Höhe. Die kleinen Hände nestelten sich um den Hals der Mutter, das Gesichtchen wühlte sich neben ihr in die Kissen.

»Weiß es?« fragte Frau Junt leise.

Das Nettele nickte.

»Und du bist froh, Flo, dis moi ça, du bist gewiß froh über ein Geschwisterle!« flüsterte ihm die Mutter ins 10 Ohr und küßte es mit ihren kalten Lippen, als müßte sie ihm etwas abbitten.

Da schüttelte Florence jäh das Köpfchen.

»Non,« stieß sie heftig hervor.

»Kind!« rief Nanette empört.

»Non, non, ich will keins,« trotzte es in die Kissen, und dabei schluchzte es wild auf.

Über das schmerzlich gespannte, todblasse Gesicht der Kindbetterin huschte ein gramvoller Zug.

»Und du willst es gar nicht gern haben?«

»Non.«

»Und der Vater, hast du den auch nicht gern?«

Einen Augenblick schwieg Floflo, dann schüttelte sie wiederum den Kopf, und ein Zittern lief durch ihre Glieder, daß es sie schüttelte wie ein Fieber.

»Madame Louise, je vous prie,« murmelte das Nettele, das die Tränen aus den müden Augen der Frau quellen sah.

Da ging ein Krampf durch den Körper der Leidenden, und fester schlossen sich ihre Hände um das Kind.

»Und mich, Floflo, mich, dein Mütterle, hast du am End' auch nimmer lieb!«

»Doch, doch, dich hab' ich lieb,« schluchzte das Kind und drückte seine nassen Bäckchen an die magere Wange der Mutter.

Ein Lächeln flog über die zerstörten Züge und blieb in den Augen haften.

»Dann mußt du auch dein Geschwisterle lieb haben, denn das ist wie ein Stück vom Mütterle,« sprach sie mit einer so seltsam klaren Stimme, daß das Nettele erstaunt auf die Frau blickte, die da in bösen Wehen lag.

Das Kind schwieg eine Weile, dann hob es den Kopf.

»Ein Stück vom Mütterle?«

»Ja, ein ganz geringes und kann nicht laufen, kann gar nichts, und da mußt du mir helfen, dann bist du auch sein Mütterle.«

Die letzten Worte hatte sie nur noch hauchen können, ein Schrei zerriß den Satz in zwei Teile. Nanette löste 11 das Kind von ihrem Hals. Die Magd kam wieder herein und nahm es der Mamsell ab. Doch die Frau meisterte den Schmerz und langte noch einmal nach dem Kinde.

Dann trug die Magd Floflo hinaus. Sie hielt es ungeschickt, und das heraufgerutschte Röckchen ließ die nackten Beine sehen. Der Peitschenhieb brannte rot auf der glatten, weißen Haut.

Und die Frau, die in ihren Schmerzen die Hände der Pflegerin fast zerdrückte, wandte sich in einem stilleren Augenblicke zu der alten Nähterin, die seit Jahr und Tag auf dem Florimont saß und sagte.

»Ja, ja, Nettele, die Wildgäns', als die im Spätherbst übers Dach zogen, da lag das Kind auf der Holzbeige unter dem Vordach, als hätten sie's gebracht, die fremden Vögel. Und nach langem Wehren hat's der Daniel zugegeben, daß ich's behalten durfte als mein eigenes. Sieben Jahr sind's bereits und ein halbes. Und jetzt, da wir elf Jahre verheiratet sind, jetzt kommt doch noch eins aus dem eigenen Bett.«

»Das ist's auch, was dem Daniel Junt gefehlt hat,« entgegnete Nanette.

Da richtete sich Louise auf.

»Ihm? Mir hat's gefehlt. Er macht aus allem, was er will. Was er will, daß es sein soll. Aber ich, Nanette, saget's selbst, hätt' ich nicht schon am Tag nach der Hochzeit eins haben müssen, um für ein Lebendiges allein auf der Welt zu sein? Nur für es! Und um über ihm zu sein! Vielleicht wär' der Daniel dann nicht der Eulalie Hirth ins Garn gegangen.«

Erschöpft sank sie zurück.

Nanette antwortete nicht, wusch ihr die Stirn mit Essigwasser und horchte angestrengt, ob der Schlitten noch nicht heimläutete.

»Auf der Kilbe in Türkheim hab' ich ihn zuerst gesehen, den Dani Junt . . . und dann in Münster am Liebenherrgottstag . . . da war er mit dem Geschirr über den 12 Berg gekommen und zur Nacht hat er mich nach Sulzern kutschiert, und ich war mit ihm selbzweit auf dem char-à-bancs, wenn auch der Vater selig und die anderen hintenauf hockten. Damals hat er mich schier zerdrückt vor Liebe, der Daniel. Und dem Vater aufgetrumpft, bis er die Fünflivres aus dem Sack langte für den mariage . . .«

»Lieget still, Madame Louise,« flüsterte das Nettele in das undeutliche Gestammel.

Und es brach ab, um nach einer Weile wieder zu beginnen.

»Nanette, ich hab' keine Füße mehr,« klagte sie auf einmal.

Das Nettele rückte ihr die Krüge.

Mitten in der Nacht, sie war schon so schwach, daß sie die Hand nicht mehr heben konnte, und sie rieben ihr die Herzgrube mit heißen Tüchern, flüsterte sie noch einmal:

»Ein eigenes Kind, und sie wird's schon auch lieb haben. Pauvre petiote, jetzt ist sie nicht mehr allein.«

Der Sepple war schon zweimal mit der Laterne bis ans letzte Wegkreuz im Tannenwalde gewesen, aber Daniel Junt kam immer noch nicht. Als er um ein Uhr zum drittenmal ins Freie trat, hauchte ihn ein warmer Atem an; der Mond war zwischen schwarze Wolkenbänke getreten, die in Scharen über die Bergkämme herüberkamen, und in den Talschluchten kochte und brodelte der Nebel und stieß ganze Fetzen von sich. Der Wind war umgesprungen, es taute.

Da tat der Sepple einen Fluch und schaute bekümmert zu den Fenstern im oberen Stock empor, und als sich ein Flügel öffnete und die Catherine herausblickte, rief er mit gedämpfter Stimme:

»Das Wetter hat sich gekehrt, jetzt stellt's den Schlitten zehnmal für eins im nassen Schnee.«

Dann stampfte er wieder das Sträßlein hinab und juchzte mit seiner rostigen Stimme, so laut er konnte. Aber kein Peitschenknall gab ihm Antwort. 13

Die Catherine hatte das Kind in Schlaf gebracht und fuhr leise heulend durch das Haus auf den wollenen Schuhen. Im Flur traf sie den Alten.

»Nimm dem Herrn seine Flinte, Sepple, und brenn' sie los, daß er pressiert.«

»Er hat's Pulver verwahrt, und der pressiert auch ohne einen Schuß. Wenn's einer schafft bei dem Wetter, so ist's der Junt,« erwiderte der Knecht, und sie hockten selbander auf der Schwelle in der hellen Nacht und lauerten und lauschten.

Das Nettele war allein geblieben mit der Meisterin.

Floflo schlief in Nanetteles Bett. Die Wildgänse, die in Geschwadern nach Norden ruderten, schrien im Morgengrauen noch einmal über dem Dach, aber es hörte sie nicht. Auch die Frau in Nöten hörte die hellen Stimmen nicht mehr.

Um sechs Uhr schlich der Schlitten aus dem Tannwald. Der Tauwind warf ihm warmen Sprühregen entgegen, und das Wasser quoll aus den Gleisen. Der Daniel führte den Joli und dampfte von Schweiß. Der Gaul stolperte keuchend die Halde hinan.

Als die Hebamme ins Haus trat, fand sie die Magd weinend auf der obersten Treppenstufe hocken.

Der Bergwirt schleuderte die nasse Kappe weg und fragte mit heiserer, erschöpfter Stimme:

»Catherine, was ist?«

Da öffnete Nanette die Tür, und im trüben Licht des Flurlämpchens erblickten sie ihr spitzes Gesicht mit den geröteten Augen.

»Für eins kommt Ihr zu spät, Meister Daniel,« sprach sie leise.

Und ehe sie noch ausgesprochen hatte, erhob sich in der Stube ein krähendes, unartikuliertes Geschrei. Die Hebamme trat rasch hinein. Daniel aber stand einen Augenblick reglos und hielt mit den Fäusten das eichene Treppengeländer umklammert. Und schon erschien die Mutter Loriot wieder auf der Schwelle und winkte ihm. 14

»Venez, monsieur Daniel, embrassez votre fils.«

Da griff er so fest in das Geländer, daß die Stäbe knackten, dann tat er die Holzschuhe von den Füßen und trat in die Stube, wo sein Weib still, mit einem unendlich müden Zug in dem kleingewordenen wächsernen Gesicht in den Kissen lag. Mit gefalteten Händen, tot.

Lange stand er am Fußende des Bettes und sah in das stille Gesicht, die breiten Schultern wie unter einer Last gebogen, dann richtete er sich auf und suchte das Kind mit den Blicken. Aus dem Nebenzimmer klang sein krähendes Stimmchen.

Er zögerte noch einen Augenblick, legte seine braune Hand auf die blutleeren Finger der Toten, murmelte ein paar Worte und ging dann zu dem Kinde hinüber.

Die Tote blieb allein.

Im Stall aber schüttelte der Sepple die Ketten, hieß die Tiere aufstehen, die sich niedergetan hatten, und verkündete ihnen mit wunderlich verschnupfter Stimme:

»Horchet, Kühe und Kälber, eure Meisterin ist gestorben und ihre Seel auf der Fahrt.

Walt Gott, der heilig Sankt Antoni,
Walt Gott, die heilige Sankt Anna,
Und die Jungfrau Maria, Amen!«

 

Das Grab auf dem kleinen Gottesacker in La Motte war schon mit einem Stein geschmückt, auf dem stand zu lesen:

Marie Louise Junt née Prayé.
17 Mai 1838 – 20 Mars 1874.

Und auch die Bergveilchen, die das Nettele im Gärtlein des Bergwirtshauses ausgehoben und nach La Motte hinabgetragen hatte, waren schon angewachsen. Der gelbe Immortellenkranz aber lag entfärbt und verwahrlost im frischen Grün. 15

Daniel Junt zögerte einen Augenblick, dann ergriff er das modrige, aufgequollene Gebinde und warf es auf den Schutthaufen an der Mauer. Die Prayés von Sulzern hatten es geschickt, und er sah mit einem abschätzigen Blick auf den auseinandergefallenen Kranz. Mit dem Batzenzeug hatten sie sich losgekauft, die Sulzerner. Durch weichen Schnee und im ärgsten Sturm und Regen waren die anderen von La Motte und Hachimette, von Labaroche und aus dem deutschen Tal heraufgekommen zur Leich', aber die Sulzerner, die Freundschaft der Frau, die waren in ihren Stuben geblieben und hatten ihm mit dem Boten von Labaroche die gelbe Wurst geschickt. Sie hatten ihr im Leben nichts gegönnt und im Tod nichts gegeben, der Louise.

Er lachte grimmig auf.

Daniel Junt trat noch eine der blanken Scherben fest, die rings um das Grab gesteckt waren, um das lockere Erdreich zu halten, dann verließ er den Gottesacker.

Die Aprilsonne schien kräftig vom klaren Himmel, und in der Dorfgasse schoß das Quellwasser aufgeregt dahin. Ein Geruch nach frischem Dung war in der Luft, an einem verkümmerten Pfirsichbaum waren ein paar rosenfarbene Blüten aufgesprungen, und hinter dem kahlen Buchenwald stand der Tannenforst in glänzender Schwärze.

»Jetzt können wir bald austreiben, Daniel,« rief der Pfeifermatthis, der eben den Mist aus dem Stall karrte.

»Die Kühe bringen sich schier um an der Kette.«

»Ja, solange kein Wetter aus dem Frankreich kommt,« antwortete Daniel Junt.

Der andere ließ den Karren stehen, zog die Beinkleider höher und kam auf ihn zu.

»Hast du's gehört, jetzt haben wir den Gendarm nimmer weit; einen von den Prussiens. Dort« – er wies nach Schnierlach hinüber – »ist er stationiert. Der Kerl sauft Schnaps wie Wasser, aber stramm ist er und reden tut er, da kann das geschliffenste welsche Maulwerk einpacken.«

»Um so schlimmer für dich.« 16

»Hein?« fragte der Matthis und schluckte, als wär' ihm ein Bissen in den Sonntagshals gekommen.

»Ich mein', dann regiert er euch allesamt.«

»Der! So ein Schwob, so ein Hungerpreuß! Franzosen sind wir, des vrais Français, Kreuzdonnerwetter, und wenn der clairon erst einmal zur Revanche bläst, hernach legen wir den Monsieur in seinem grünen Rock zuallererst auf den Rücken.«

Der Matthis reckte sich und wiederholte noch einmal:

»Des vrais Français, sacré fromage de Brie!«

Und er gluckste vor Stolz.

»Man sieht, daß du nicht dabei gewesen bist, bei Fröschwiller und bei Sédan, wo sie den empereur in den Sack gesteckt haben, die Prussiens,« erwiderte Daniel.

»Was? Hein?« Dani, willst du mich foppen?«

»Nein, Dissele, ich mein' nur, wenn du dabei gewesen wärst, so hätten sie's gewiß gewonnen, die Franzosen.«

Daniel hatte die Hände in die Hosentaschen versenkt und sah dem anderen ernst ins Gesicht. Nur sein Schnauzbart zuckte auf der Oberlippe, und in den Augen saß ein Spotteufel.

Dem Matthis lief der Blähhals dick auf.

»Himmelherrgottsakrament, Dani, so kannst du mit den Frauenzimmern reden, aber das sag' ich dir, noch einmal und –«

»Was dann?« warf Daniel ein, als er abbrach und Atem holte.

Einen Augenblick tat der Pfeifermatthis, als wollte er die Fäuste lüften, dann besann er sich und brauchte wieder das Maul.

»Du bist mir überhaupt viel zu gering. Der Louise Prayé hast du einen mordsdicken Stein aufs Grab gesetzt, ja, aber deswegen brauchst du anderen noch lange keine in den Garten zu werfen.«

Auf Daniels Stirn wuchs eine blaue Ader, aber er schob die Fäuste mit einem Ruck tiefer in die Taschen und antwortete: 17

»Mist' aus, Dissele, und verbrenn' dir's Maul nicht. Es braucht keinen Gendarm, um dir's zu stopfen.«

Er wandte ihm den Rücken und ging weiter.

Die Matten, die sich rings in großen, welligen Flächen dehnten, hatten schon einen grünen Schimmer, und die zerstreuten Anwesen lagen mit ihren bemoosten, niedrigen Dächern, den weißen Mauern und dicht geschlossenen kleinen Fenstern wohlig in der warmen Sonne. Nur im Gemeindehaus hatte ein fremder Geist die Frühlingsluft in die Stuben gelassen. Eine Halbchaise stand vor der Tür, und gerade, als der Daniel sich die Erdklumpen von den Schuhen trat, kam ein Herr die Stufen herab und stieg in den Wagen. Jetzt erblickte er den Bergwirt.

»Ah, c'est vous, monsieur Daniel, enchanté!«

Er streckte ihm die Hand entgegen, während der Kutscher den Radschuh unterlegte.

»Bon jour, monsieur Grosjean! Ihr seid früh in den Bergen.«

»Que voulez-vous! Jetzt heißt's beizeiten aufstehen, wenn der goldene Vogel da noch mitkonkurrieren soll.« –

Er wies auf das Schildchen mit dem Adler, das über der Tür der Mairie angebracht war.

»Ja, ja, Monsieur Grosjean, die deutschen Agenten sind wie die Bienen hinter den Policen her. Und zäh wie Ochsenleder.«

»Ah oui, le bon temps est passé!« seufzte Grosjean und fuhr mit zitternden Fingern über den grauen Kinnbart. »Früher, da hat man das Geschäft cavalièrement gemacht, so en passant bei einem Glas Wein, en amis. Comme avec votre père, Daniel. Wißt Ihr's noch, wie wir eingeregnet waren auf Euerem Hof? Ich und der cousin Luthringer und mein Berthele. Il y a vingt-quatre ans.«

»Fünfundzwanzig,« berichtigte Daniel ruhig, »es war an meiner ersten Kommunion.«

»Richtig, am Weißen Sonntag und ein Jahr vor der Revolution. Da ist der aigle d'or bei einer Partie 18 Pikett ausgespielt worden. Il a perdu, ton père, und wie wir's abgemacht hatten: am selbigen Tag hab' ich's der Assekuranz in Paris angemeldet, das Hotel auf dem Florimont.«

»Ein nett's Hotel,« erwiderte Daniel und zuckte die Achseln. »Und hernach der Prozeß mit der Gemeinde, weil wir nur die Pacht haben und sie Angst gehabt haben, sie müßten die Prämien zahlen. Bis der Vater selig schriftlich gegeben hat, daß er die Kosten trägt.«

Grosjean klopfte ihm lächelnd auf die Schulter.

»Ihr habt Ambitionen, Daniel, je le sais. Wer weiß, was aus der alten Taverne auf dem Berg noch wird! Sie ist ja gelegen wie ein Paradiesgarten, und als das Berthele das Schleimfieber gehabt hat, was hat ihm wieder auf die Füße geholfen? Sechs Wochen beim père Junt.«

Der Kutscher hatte die Bremse gelockert und sah sich fragend um. Als das Wägelchen schon in Bewegung war, fragte Daniel noch:

»Et mademoiselle Berthe? Sie ist gesund?«

»Merci, merci,« rief Grosjean zurück – »gesund und Hochzeiterin. Elle se marie dans quinze jours. Und mein Sohn, wisset Ihr, was der macht? Er ist ins Frankreich hinüber. Er hat optiert.«

Schon war die Chaise im Lauf, da rief der alte Herr auf einmal:

»Halt, Fritz, halt, sag' ich!«

Der Wagen hielt. Grosjean schob schon das Bein unter dem Spritzleder hervor, als Daniel hinzutrat und ihn zurückhielt.

Da klopfte er ihm nochmals auf die Schulter:

»Ich hab' ganz vergessen, daß Ihr im Leid seid. Votre bonne femme, cette chère Louise! Toujours aimable, avec son sourire pâle et ses cheveux blonds! Votre main, Daniel!«

Er schüttelte ihm die Hand, und seine freundlichen Augen blinzelten gerührt. 19

Daniel sagte kein Wort.

»Aber ein Sohn ist da. Das ist ein' récompense. Haltet ihn brav, Daniel. Wie heißt er?«

»Léon!«

»Léon? Ah, je comprends!« Noch einmal drückte er fest die Hand, die ihm Daniel gelassen hatte. »Ihr habt an Monsieur Léon Gambetta gedacht. Très bien ça. Nun, so lang wird's nicht dauern, bis Euer Sohn die Flinte auf den Buckel nehmen kann. Bis dahin ist das Elsaß wieder, was es war. Nur die république, die gibt's noch drein. Und dann schlägt man keine anderen aigles mehr an als den aigle d'or de l'assurance contre les incendies. Au revoir, Daniel!«

Das Pferd zog an, Daniel trat zurück, und das Wägelchen glitt, mehr als es fuhr, den steilen, von den Radschuhen ausgeschliffenen Weg hinunter und war ihm bald aus den Augen.

Aber er stand noch eine geraume Zeit und blickte mit scharfen Augen hinter ihm drein.

Also das Berthele heiratete! Er sah ihr weißes, schmalwangiges Gesicht noch vor sich, der Mund war wie ein rotes Mal, das Geäder schimmerte bläulich an den feinen Schläfen, und in den großen, goldfarbigen Augen saß immer ein Fünkchen, das fuhr darin auf und ab wie ein Fischlein im klaren Wasser. Ein Püppchen zum Zerbrechen. Er entsann sich ihrer gut. Drei-, nein viermal war sie auf dem Berg gewesen, um ihre Gesundheit zu stärken . . . Als sie zum letztenmal oben war, da war sie siebzehn Jahre alt gewesen, und jetzt – er rechnete – ja, jetzt zwanzig. Und er war den Vierzig nahe. Sie war zu jung, er wußte es, aber – – Er atmete tief und wandte sich zum Gehen. Den Pachtzins zahlen. Heiraten – pah, warum. Das Nettele war dem Léon eine gute Mutter, und die Amme von Labaroche war da, und dann auch noch das Kind da: Floflo, die mochte ihm die Hosen knöpfen. In ein paar Jahren war sie alt genug dazu. 20

Der Maire hatte alle Fenster wieder geschlossen, die auf Grosjeans Bitte geöffnet worden waren, und lief unwirsch die Gemeindestube auf und ab, als Daniel Junt eintrat.

»Enfin, nichts für ungut, Daniel, aber der Mist erstickt im Stall. Ich hab' noch keinen Knecht eingestellt.«

Er hatte es eilig, tat wenigstens so.

»Bonjour, Herr Maire,« antwortete Daniel lakonisch, zog die französischen Banknoten aus der Weste und ein paar preußische Taler aus dem Hosensack und legte alles auf den Tisch.

»Das ist ein Kaib mit dem Schwobengeld,« fluchte der Wiesbauer und rechnete mühsam die Taler in Franken um.

»Die Quittung, s'il vous plaît,« sagte Daniel.

»Und die Prämie für die Assekuranz ist bezahlt?« fragte der Maire, während er in den Papieren fingerte mit den gelbbraunen Händen.

»Mein' Sach'.«

»Man wird doch noch fragen dürfen.«

»Es wird viel gefragt heute, Herr Maire. Aber ob ich versichert bin oder nicht, das geht die Gemeind' nichts an. Sie hat sich ja gesperrt dagegen.«

»Ja, aber wenn das Haus abbrennt, danach muß die Gemeind' bauen. Das ist ein altes Beding, daß dort am Paß ins Frankreich ein Gasthaus steht, und die Schwobenregierung hat's approuviert und der Gemeind' noch besonders rekommandiert.«

»Das glaub' ich,« entgegnete Daniel trocken. »Und die Gemeind' fährt gut dabei. Der Zins ist ihr sicher.«

Der Maire erhitzte sich.

»Den bezahlt jeder, der die Pacht bekommt.«

Da flog ein kaltes Leuchten über Daniels Gesicht. Er wußte, daß der Wiesbauer, der jetzt zum Maire gewählt worden war, gern selbst auf den Hof gezogen wär', und erwiderte:

»Aber es bekommt sie keiner. Auf neunundneunzig Jahr' ist sie den Junt zugeschlagen, solang noch einer lebt. Ich hab' noch einundvierzig zugut, et après on verra. 21

Der Maire zog den bartlosen, eckigen Kopf tief zwischen die Schultern.

»Oui, c'est ça. Aber es steht auch noch im procès-verbal, daß der Fermier das Gebäu instand halten muß. Kein Ziegel darf vom Dach fallen, kein Laden aus dem Angel.«

Da schlug der Daniel plötzlich mit der Faust auf den Tisch, daß die Taler hoch aufsprangen.

»Solang Flickzeug hält, wird geflickt. Aber fünfhundert Livres zahl' ich mehr, wenn die Gemeinde den Krempel zusammenschlägt und neu baut.«

Der Maire fuhr auf. Sein Hals war lang geworden, als er entgegnete:

»Die Gemeind' hat kein Geld zum Verspekulieren. Baut selbst.«

»Ihr wißt, daß ich das nicht kann und nicht darf. Und verspekuliert ist das Geld noch lange nicht. Ich hab' noch keine Kammer leer gehabt all' die Jahre. Und was der Ausspann bringt, das wisset Ihr am besten, Ihr seid ja fünfzehn Jahr' als Bote gefahren von La Poutroye über den Berg ins Frankreich.«

»Gebaut wird nicht,« wiederholte der Maire und rieb sich mit den harten Fingern das Kinn, daß die Stoppeln knisterten.

Daniel hatte sich wieder bemeistert. Es war nur ein Funken, der zuweilen aus dem Feuerberg in seiner Brust sprang, aber rasch schlug er selbst stets die Hand darüber. Seine Stimme klang ruhig.

»Es hat noch Zeit. In ein paar Jahren bring' ich's vor den Gemeinderat.«

»Der weist's zurück.«

»On verra.«

»So sagt man in Frankreich, wenn die Hühner Eier legen. Und am End' sind alle taub.«

Daniel vergalt den Spott noch unter der Türe:

»Macht nicht, daß ein Drach' drin hockt, wenn's ans Ausschlüpfen geht.« 22

So schieden sie voneinander.

Durch den schwarzen Tannenwald, wo es feucht und modrig roch und die schweren Tritte dumpf hallten, ging der Gemeindepächter bergan.

Ein rotes Eichhorn fuhr über ihm durch die Wipfel, eine Elster schrie und strich zu Tal.

Dem Daniel war das Herz eng in der Brust, die Leber stach ihn, als er ausschritt. Wenn er an den Gemeindezeichen vorbeikam, Holzbergen und Marksteinen, zuckte ihm die Bitternis um den herrischen Mund.

Sie hatten die Junt auf das Paßwirtshaus gesetzt, das, wie der ganze Weidgrund, der Gemeinde gehörte, und strichen den Pachtzins fröhlich ein. Aber daß sie in einen Aufbau des alten, kleinen Gewesens gewilligt hätten, das hatte schon der Vater nicht durchgesetzt. Und selbst als Anno 1867 der Kaiser von Contrexéville über die Vogesen kam, und sie weiter abwärts die große Straße über die Schlucht bauten und Gérardmer und Münster an ein weißes Band knüpften, das über die Berge, an den Schlatten und Schrunden hin, durch Wald und Fels lief, als die Höhen von Fremden summten wie die Linden von Bienen, selbst damals hatte der Gemeinderat keinen Sou daran gewagt, das Haus auf der Höhe wohnlicher zu machen.

Daniel war auf die Höhe gekommen. Er hörte in der Ferne das Wasser brausen, das über den hohen Stein in die Tiefe sprang. Und als er an der Ferme Hirth vorbeiging, sah er, daß dort schon auf den Einzug gerüstet wurde. Der Stall war gelüftet, und die Mägde lärmten wie die Stare in den Reben, während sie den großen kupfernen Kessel sauber fegten. Der Hund schlug an, und der Melker rief dem Bergwirt einen Gruß herüber. Es war einer von den Welschen aus Labaroche, schwarz wie ein Zigeuner, mit funkelnden Augen und goldenen Ringlein in den Ohren. Und da trat auch die Fermière, die Lalie, unter die Tür.

Sie hob die Hand über die Augen und blinzelte unter dem Dächlein zu ihm herüber. 23

Er wandte hastig den Kopf. Mit der war er fertig. Schneller stieg er bergan.

Die Sonne schien hier oben noch einmal so hell und warm, und das würzige Gras reckte sich verlangend aus dem Boden. In den Granitfelsen, die auf der Allmend zerstreut lagen, funkelten die Kristalle, und flinke Eidechsen huschten durch das leere Brombeergerank, das die Scheidmauer der Weiden überspann. Der Frühlingswind sang im Tannenwald, und die dürren gelben Blätter der Eiche, die einsam auf der Matte stand, zischelten. Der Baum hatte sie festgehalten im harten Winter. Hier und da fuhr eines, von einem plötzlichen Tod erfaßt, aus der mächtigen Krone auf den glatten Boden, den seit Jahr und Tag die Herden bei Blitz und Hagelschlag gestampft hatten, Zuflucht suchend unter dem ragenden Wetterbaum.

Daniel schlug mechanisch ein Kreuz, als er daran vorüberging, denn am rissigen Stamm hing ein Muttergottesbild und bat für die Sünder.

Noch einen Stich durch den Kiefernbusch, einen Gang über die grasige Kuppe, auf der die Stiefmütterchen leuchtendgelb aufblitzten, und Daniel Junt sah seinen Hof vor sich. Drüben kroch die weiße Straße aus dem schwarzen Tannicht und strich in sanften Windungen durch die Mulde, an dem Haus vorüber, um dann mit einem letzten kurzen Anstieg den Grat zu ersteigen, auf dem ein Pfahl mit einem rotgemalten D auf der einen und einem F auf der anderen Seite der aufgesteckten Tafel die neue Grenze bezeichnete. Das Anwesen lag in die Mulde geschmiegt, und die Winterstürme brausten unschädlich über sein niedriges Dach. Jetzt war der Frühling Meister, und ein hellblaues Räuchlein wirbelte aus dem schwarzgrünen Dach.

Daniel blieb stehen am Gatter des Hages, der sein Weidrecht von dem der Ferme Kalblin schied. Er stützte die Arme auf und sah lange auf das Haus, das er in Erbpacht hatte. Da lag's, nicht Fisch noch Vogel, mehr als Melkerei, weniger als Gasthof, kein rechtes Bauerngut 24 und kein Kurhaus. Das Dach saß ihm wie eine Haube schief, mit weit ausladenden Firsten, auf dem Oberstock, und der verschwand fast im Schatten; und Daniel zählte die kleinen Fenster, die rings um das Haus liefen und es doch nicht hell machten. Im angebauten Stall brüllte das Vieh, das die frische Weide roch, und der brünstige Ruf der Tiere drang durch das morsche Gebälk bis zu ihm herüber.

Zwölf Stück Vieh standen in dem dumpfen Stall, den er kaum noch luftig halten konnte, und jedes Horn und jede Klaue war sein. Sieben Kammern mit zehn Betten hatte er an der Sonnenseite des Hauses eingerichtet zum Aufenthalt der Sommergäste, die von Kolmar, Schlettstadt und Straßburg heraufkamen. Im Tanzsaal drehte sich am Pfingstmontag und zu Michaeli das Volk von allen Fermen und Weilern im Tanz, und jeder Fuhrmann, der aus dem Elsaß ins Frankreich hinüberfrachtete, jede Chaise, die auf dem glatten Sträßlein aus den Waldtälern der Abendseite heraufrollte und mit gesperrten Bremsen und schnaubendem Gaul ins Weinland hinuntertauchte, alles hielt an beim Daniel Junt auf dem Florimont und zog den Beutel.

Es hatte manchen Tag gegeben, da waren bei der Abrechnung die Fünffrankentaler aus der Schürze der Louise gesprungen, wie die Fische aus dem Wasser, wenn die Mücken fliegen. Aber das alles war ein Würgen und Kröpfen gewesen, und sie hatten die paar tausend Franken, die zu Kolmar auf der caisse d'épargne lagen, schwer genug verdient. Ja, wenn das Haus fünfzig Betten gehabt hätte, einen Stall für sich, eine Kässtube hinten am Hag, wo der Wind zieht, und eine Hofstatt für Roß und Wagen, dann wär' es ein besseres Schaffen gewesen. Da lag's vor ihm, ein ganzes Leben voll köstlicher Arbeit, und er konnte und durfte es nicht vollbringen!

Mit brennenden Augen starrte Daniel Junt auf das Gehöft, das sich in die grüne Mulde eingenistet hatte und so tief eingebettet, als wäre es aus dem Boden herausgewachsen und könnte so wenig verderben wie Kraut und 25 Stein. Seine breite Brust hob sich in schweren Atemzügen, die Fäuste griffen nervig in das schwarze Holzgatter. Tiefe Stille webte um ihn her, ein gelber Schmetterling gaukelte um den einsamen Mann und taumelte trunken von der linden Frühlingsluft über die sprossenden Gräser.

Die Sonne fuhr jetzt mit schrägen Strahlen in die Fensterscheiben des Tanzsaales im Oberstock des Pachthofes und entzündete darin einen lodernden Brand. Als wütete eine rote Brunst in dem alten Hause, so glühten die Fenster, und auch über das schwarzgrüne, bemooste Ziegeldach lief ein rötliches Licht. Der Rauch, der aus dem Kamin stieg, schien rosig durchglüht, als wälzte er sich aus feuriger Esse. »Wenn's an dem wär', dann müßten sie bauen,« sprach Daniel laut vor sich hin, und ein spöttisches Zucken vertiefte die Winkel des zusammengepreßten Mundes.

Er ging mit schnellen, dumpfen Schritten über die Matte und atmete immer noch schwer, als er ins Haus trat.

Floflo hockte neben dem Nettele, das Strümpfe stopfte. Die Amme ging mit dem Bübchen in der Stube auf und nieder. Als der Herr eintrat, lachte ihn die Nelie mit blanken Zähnen an. Ihre schwarzen Augen hatten einen zärtlichen Blick, und herausfordernd reckte sie die volle Brust, an der der Léon schlafend lag.

Daniel beugte sich über den Knaben. Er lag gesättigt, mit halboffenem Mäulchen, die großen, dunklen Augen waren noch glanzlos, die dünnen, blonden Haare zitterten unter dem Atem des Vaters, und der sah, wie unter dem Flaum das Leben in dem weichen Köpfchen pulsierte.

Scheu und doch verlangend blickte Floflo zu ihm auf.

 


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