Hermann Stegemann
Daniel Junt / Die Himmelspacher
Hermann Stegemann

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Die Frühlingssonne lockte die Gräser aus dem feuchten Grund, die Stiefmütterchen schnitten lustige Fratzen auf der übergrünten Schutthalde vor Jahrtausenden hingeschmolzener Gletscher, weiße Sommervögel mit Blutstropfen auf den breiten Flügeln gaukelten darüber hin, und im Mai füllten sich die Fermen diesseits und jenseits des Grates. Aus den deutschen Tälern und von den welschen Hügeln zogen sie zur Höhe, Tag und Nacht klangen die Herdenglocken über die Kuppen, und wenn die Melker des Abends in die hohlen Hände und die Hörner aus Baumrinde tuteten, dann jauchzten die Gipfel, daß die Sterne am Himmel die Augen aufschlugen und in der blauen Ebene erschreckte Lichter durcheinanderliefen.

Es war noch nicht Pfingsten, da brachte die Post schon eine Anmeldung nach der anderen ins Haus am Paßweg, auf den Sommer bis tief in den Herbst mußte Daniel Zimmer und Kammern versprechen, und bald schrieb er die ersten Absagen. Es war kein Platz mehr, 56 und wenn das Gesind' auf dem Heuboden und der Wirt in der Geschirrkammer hätte schlafen müssen.

Das war ihm ein bitterer Stachel und trieb ihn vorwärts.

»Wie ist's mit dem Pfingstbier, M'ssieu Daniel? Ihr habt doch nicht vergessen, die Brasserie zu avisieren?« fragte Nanette wenige Tage vor Pfingsten.

»Pfingstbier? Wo kein Tanz wird, braucht's kein Bier. Wer bei mir einen Liter Alten trinkt, kann dabei die Beine unter den Tisch strecken. Bier schenk' ich nur, wenn Tanz ist.«

»Aber –« stammelte das Nettele.

»Ich halt' keine Pfingstkilbe, fertig,« schnitt ihr Daniel das Wort ab.

»Aber – seit Jahr und Tag ist bei uns getanzt worden am Pfingstmontag.«

Er antwortete gar nicht mehr.

Am anderen Tage wußten sie es in La Motte und so weit sich Kunde schicken läßt von Ferme zu Ferme, daß auf dem Florimont keine Kilbe sei.

Am Freitag vor dem Feste kam der Maire auf den Berg.

»Bonjour, Daniel. Ich komm' expreß von unten herauf. Ihr wisset warum.«

Daniel saß ihm gegenüber am langen Wirtstisch.

»Nein, das weiß ich nicht, aber weil Ihr just da seid: ich hab' die Assekuranz gekündet.«

»Was? Die Assekuranz aufgekündet!« schrie der Maire.

»Ja, sie steht mir nicht mehr an. Wenn die Gemeind' will, daß der aigle d'or weiternistet da oben, so soll sie ihn selber füttern. Ich zahl' keine einzige Prämie mehr.«

Der Wiesbauer krampfte die Fäuste zusammen:

»Die Gemeind' zahlt keinen Sou dran.«

»Auch gut, monsieur le maire, dann sind wir quitt.«

Nach einer Pause, die beiden gleich lang vorkam, sagte der Maire mit scheinbarer Gelassenheit:

»Ihr haltet auf Euer Sach', n'est-ce pas?« 57

Daniel füllte ihm das Glas und sprach dabei:

»Ihr fragt wie der Pfarrer im Beichtstuhl.«

»Und Ihr bleibt bei dem, was Ihr gesagt habt?«

»Gesagt? Mais quoi donc?«

»Spielt nicht den imbécile, Daniel. Also frank heraus: ja oder nein?«

»Eh bien – nein!« antwortete Daniel ruhig.

Da schrie der Maire auf einmal wild über den Tisch:

»Ihr haltet keinen Tanz ab?«

Daniel blieb ruhig. Er lehnte sich zurück, stemmte die Fäuste gegen die Tischkante und erwiderte:

»Hängt Ihr denn dran?«

Der Maire war aufgestanden.

»Daß ich nicht mit den Mägden auf den Tanzboden geh' und hinter dem Hag lieg', das greift ein Blinder. Aber wir halten auf unsere Sach', und seit Jahr und Tag wird am Pfingstmontag auf dem Florimont getanzt, da hat der Wirt dazu zu stehen. Voilà!«

»Ihr trompiert Euch, monsieur le maire. Das hält der Wirt, wie er will.«

»Ah, bläst der Wind aus dem Loch! Wegen dem Gemeinderatsspruch bockt der Fermier? Ich sag' Euch, Junt, macht den Buckel grad, sonst seid Ihr zum letzten auf dem Hof gewesen!«

Jetzt stand auch Daniel auf, langsam, ein böses Licht in den Augen. Sie waren allein in der Stube, nur hinter dem Schenkverschlage hockte die Catherine und duckte sich, damit keiner auf sie achte. Sie war wie gelähmt vor Angst, aber als der Maire drohend auf den Tisch geschlagen hatte, da wäre sie beinahe aufgesprungen, dem Daniel zu Hilfe.

Der Klang seiner Stimme scheuchte sie wieder tief unter die leere Bierpumpe. Jedes Wort fiel wie ein Stein aus seinem Munde.

»Herr Maire, ich will Euch etwas sagen: Der Spruch der Gemeind' ist so wenig in meinem refus wie Wasser in meinem Wein. Ich hab's geschworen vor einem 58 Jahr, als sie mir den Douanier über den Haufen gestochen haben, daß hier nimmer getanzt wird. Bei dem bleibt's.«

Einen Augenblick blieb der Maire stumm, dann nahm er die Kappe vom Tisch.

»Gut, so schick' ich Euch mit dem Waibel und vom Tribunal den Befehl. Und wenn am Montag nicht getanzt wird, hernach seid Ihr um die Pacht.«

»Probiert's, aber ich hab' die Schrift im Kopf, es steht nichts drin vom Pfingsttanz. Mein Vater selig hat die erste Kilbe gehalten, als die Gemeind' den grand prix bekommen hat auf der Exposition zu Straßburg, und so ist's dann geblieben. Ein Recht darauf hat die Gemeind' nicht.«

Der Maire war stutzig geworden, aber er faßte sich.

»Gut, spielt nur den König und urteilt, wie Ihr's haben wollt. Ihr seid feist geworden auf dem Hof, jetzt meint Ihr, die Gemeind' muß Euch die Hemden waschen.«

Da fuhr Daniel aus der Ruhe:

»Feist geworden! Nundedie, ihr seid für keinen Sou in unserm Speck, ihr zu La Motte! Wer hat den Weg gekarrt und die Weid' gerodet seit bald hundert Jahren! Die Stein' gesprengt und den Zins gezahlt und die assurance obendrein! Ja, jetzt ist's ein warmes Nest hier oben, da möcht' mancher drein sitzen, aber Anno dreißig und vierzig, da ist der Fermier hier gehockt als ein Aussätziger. Da sind die Schratzen aus dem Moor gestiegen, daß kein Knecht und keine Magd geblieben ist, weil sie ihnen des Nachts auf die Brust gesessen sind und das Fieber ins Gebein gehext haben. Bis das Wasser aus dem Loch getrieben war und kein Frosch mehr darin geplärrt hat. Meine Mutter selig ist noch am Schleimfieber gestorben, aber jetzt, da wir's heraufgeschafft haben, da der Florimont die fetteste Weid' hat bis zum biantsche mâts hin, jetzt kommt die Gemeind' und will dem Junt einen Tritt geben vor 59 den Hintern! Gut, Herr Maire! Lüpft nur den Fuß, aber gebt acht, daß Ihr nicht hinterzu in den Mist fallt, wenn Ihr den Schuh streckt. Den Bau habt Ihr mir abgesprochen, das ist ein Schlag gegen mein Recht –«

»Was Recht! Ein Dreck ist's!« blitzte der Wiesbauer gereizt.

»Ja, gegen mein Recht, wie ich's versteh',« donnerte Daniel nach, »denn ich hab's mit meinem Schaffen und Werken verdient, ich erstick' in der Baracke und hätt' Euch und der Gemeind' zum Nutz gebaut, aber tant pis – ich fütier' mich drum! Aber das andere, das, mit dem Ihr heut kommt, ist ein Spritz auf meine Ehr', und Gott verdamm' mich, wenn ich das hocken laß.«

»Das Gericht wird jügieren, der Pfingsttanz kostet Euch die Pacht.«

Ohne einen Gruß verließ der Maire das Haus.

Der Wein war in den Gläsern stehen geblieben.

Daniel goß die Neige seines Glases auf die Dielen und murmelte:

»Jetzt ist's heraus, was mich gewürgt hat die ganze Zeit. Geh's, wie's will, ich steh' dazu.«

Mehr tot als lebendig kauerte die Magd hinter dem Schenktisch und schielte durch ein Astloch, und als sie allein war, schlich sie davon, das Nettele zu suchen.

»Jesus Maria, so hab' ich den Herrn noch nicht gesehen, da war der blutige Pfingsttag ein Spaß dagegen.«

Nanette strich den zahnenden Léon, der wild an ihren Röcken riß, über den heißen Kopf.

»Ja, ja, er brennt wunderselten auf, aber dann lüpft er auch gleich das Dach ab. Das glostet bei den Junt und frißt sich langsam durch, und auf eins fahren sie los, und wer ihnen dann in den Weg kommt, was es sie auch kostet, sie gehen mit dem Kopf durch die Wand. So hat's der Vater selig gehabt, so hat's der Daniel, und der da, der wird kein Haar anders.«

Sie hob den Knaben in die Höhe. 60

 

Am andern Tage fuhr Daniel nach Kolmar und holte Floflo heim über die Pfingstzeit.

Das Kind war ernst und blaß und suchte unterwegs die Hand des Vaters. Erst als sie auf dem Florimont ankamen, löste sich ihr Wesen, und dann erzählte sie bis spät in die Pfingstnacht von dem Pensionat und den guten Schwestern. Etwas Ekstatisches war in diesen Erzählungen, die Augen leuchteten, die Finger bebten. Und als das Kind zu deklamieren anfing, fromme Gedichte, und französisch, alles französisch, mit einem feinen Stimmchen, da horchten das Nettele und die Mägde und verwunderten sich laut über das, was sechzig Tage in der Klosterschule aus dem wilden Bergkind gemacht hatten.

»Nun sag' auch dem Vater so ein schönes Sprüchle,« mahnte Nanette und stupfte es, bis es sich ein Herz faßte und zu Daniel hinüberging an den Tisch, wo der Wirt über Papieren und Rechnungen saß.

Er horchte, ohne es sich merken zu lassen, und als Floflo die Sprüche vom »petit Jésus de mon cŒur« und vom »ange gardien, qui descend des étoiles« gesagt hatte, da fragte er:

»Weißt du sonst keins, nur solche vom Herrn Jesus und der sainte vierge

»Que penses-tu!« antwortete Florence, machte ein ernstes, begeistertes Gesicht, hob den Kopf, stellte den rechten Fuß vor, so wie sie es der Schwester und den anderen abgeguckt hatte, und begann:

»Ne demandez pas à l'Alsacienne
Pourquoi elle pleure
« . . .

Alle hörten zu, sogar der Sepple strich sich über die Schwelle in die Stube, drückte die glühende Asche in der Pfeife mit dem Daumen, damit kein Räuchlein aufsteige, und lauschte auf das Lied der Elsässerin, die um Frankreich weint.

Daniel starrte still vor sich hin. 61

Da legte Florence ihm die Hand auf das Knie und sprach leise:

»Ich weiß noch eins, das Allerschönste.«

»Eh bien, sag's,« erwiderte er mechanisch und blickte nicht einmal auf.

Das Kind zögerte ein Weilchen, dann drängte es sich leicht an ihn, rieb die Backe an seiner Schulter und sprach mit einer Stimme, die ganz leise zitterte vor innerer Erregung und mit einem tiefen, glücklichen Ausdruck:

»Mon plus tendre ami, c'est mon père« . . .

Sie saßen alle ohne sich zu rühren, und als es fertig war, schneuzte sich das Nettele mit lautem Schall und seufzte:

»Jesus, wenn das die Frau noch erlebt hätt'! Das Kind, das sie auf der Holzbeige« –

Tief erschrocken brach sie ab. Es hätte keines Hustenanfalls von seiten des Sepple mehr bedurft. Sie hätte sich die Zunge abbeißen mögen, und als der Herr rauh sagte: »Allez, Catherine, bring' das Kind ins Bett,« da schlich das Nettele zerknirscht hintendrein.

In der Kammer, wo die Mamsell mit dem Léon schlief, wurde es zur Ruhe gebracht. Als es schon im Nachthemd war, verlangte es noch einmal ans Fenster. Der Himmel war voller Sterne und glänzte silberhell, die Kuppen schimmerten, soweit die glatte Weide reichte, und zwischen den Felsbrocken lagen kleine, dunkle Klumpen, bewegten sich hier und da schwarze Schatten, die Kühe der Fermen von La Motte. Verschlafene, blecherne Glockentöne zitterten durch das Schweigen, und als Catherine den Riegel zog und eine Scheibe öffnete, drang das Rauschen des Wassers herein, das in der Ferne über die Felsplatte in die Tiefe sprang. In der Weite, dort, wo die Bergseen lagen, zog ein Gespinst einher und glitt langsam ins Tal hinab.

»Die Erdwibele, sie ziehen immer noch um,« flüsterte Floflo, und als irgendwo im Tannenwald der Kauz lachte, drückte es sich an die Magd und sagte: 62

»Und das ist ein Schratz, gelt, Catherine?«

Da kam Daniel die Treppe herauf und ging in seine Kammer. Das Kind schlüpfte ins Bett, und Catherine nahm das Licht und ging. Nebenan schritt der Vater auf und nieder. Jetzt öffnete er die Tür, horchte ins Zimmer, wo der Léon schnarchte wie ein Alter, trat ein, blieb einen Augenblick im Dunkel stehen und kehrte dann in sein Zimmer zurück.

»Vatterle!« klang's hinter ihm.

»Schlaf', Floflo,« antwortete er.

»Nein, erst hör' zu! Madame Berthe ist auch bei mir gewesen. Und sie kommt auf den Berg.«

»Hat sie dir's gesagt?«

Seine Stimme klang gepreßt. Er war wieder näher gekommen. Floflo tastete nach seiner Hand.

»Ja freilich. Und einen großen schwarzen Schleier hat sie an.«

Er strich ihr über den Kopf.

»Schlaf' jetzt!«

Floflo schlief in den hellen Tag. Dann strich es im Haus herum. Da fand es im Hof zwischen dem Scheitholz eine Blechtafel mit einem goldenen Vogel darauf. Die Nägel waren herausgerissen. »Aigle d'or« buchstabierte es mühsam mit Hilfe der Catherine und zog alsbald mit dem goldenen Adler hinaus auf die Weide. Unter dem rocher du moine grub sie ein Loch und legte den aigle d'or hinein. Dann kniete sie hin und sang ein Marienlied, blickte mit feierlichen Augen in den blauen Himmel und tat, als ob sie etwas Heiliges begraben hätte. Um sie her geschäftete der frische Wind, und vom Sträßchen herüber kam Peitschenknall.

Zwei Breaks fuhren schon am Vormittag über den Berg, am Nachmittag kehrte eine Gesellschaft aus Kolmar im Hause ein, Deutsche, Herren und Damen, die die Mägde in Atem hielten. Dann kam die Fanfare von Schlettstadt, en grande tenue, mit der Fahne, und die Weide hallte von ihren schmetternden Märschen. Es war 63 ein Laufen und Rennen, Absträngen und Anschirren den ganzen Tag, bis spät in die Nacht. Erst als der Mond hinter dem Wald hervorkam und ein Trüpplein verspäteter rosiger Wölklein vor sich hertrieb, wurde es still auf dem Florimont. Aus allen Fenstern war der Lärm entwichen, jetzt brannten die Lampen ruhig, und in der Küche klapperten die Catherine und die Sommermagd mit Tellern und Gläsern.

»Und ist gewiß kein Tanz morgen?« fragte das Salmele.

»Wenn's der Herr gesagt hat, dann ist keiner,« antwortete Catherine kurz.

»Ja, der Herr, das ist einer,« murrte die andere. »Aber wenn sie kommen und die Musik mitbringen, hernach tanzen wir doch noch. Der Jacques ist mir gut dafür.«

Catherine lachte spöttisch auf. Später aber raunte sie dem Nettele zu, was das Salmele ihr verraten hatte, und Nanette wurde besorgt. Daniel aber ließ sie gar nicht zu Worte kommen, als sie davon zu reden begann.

»Schweigt mir von der Geschichte. Bin ich der Herr da oben oder wer sonst!«

Der Pfingstmontag ließ sich übel an.

Als der Melker am Morgen das Vieh eintrieb zum Melken, brach die Bläß aus dem Weg, und da er roh mit dem Stecken hinter sie ging, rannte sie blind gegen den Hag und riß sich das Fell von dem Rist. Das Blut lief aus der häßlichen Wunde. Der Louis aber fluchte und trat das Tier mit dem plumpen Schuh gegen das Hinterteil, daß es klaschte. Daniel kam dazu, und ehe sich der Melker dessen versah, hatte er ihm den schweren Stock aus der Hand gerissen und überm Knie zerbrochen.

»Von Rechts wegen sollt' ich Euch das Holz aufbrennen, bis der Saft herausspritzt,« sagte er mit ruhiger Stimme, aber wer ihn kannte, sah, daß er mit Gewalt an sich hielt.

»Ja, das fehlt mir noch! Wegen einem Stück Vieh!« brummte der Knecht. 64

»In acht Tagen seid Ihr abgelohnt. Hier ist eine Ferme und keine Metzig, fuhr Daniel fort.

Da brauste der Melker auf und spie Schimpfreden aus.

»Das hat man mir doch gesagt, daß auf dem Florimont der Teufel regier'! Der Stall erstickt und in der Schlafkammer bläst einem der Wind das Kerzenlicht aus. Sacré mâtin, verbengeln lass' ich mich noch lang nicht.«

Daniels Gesicht war fahl geworden. Aber ohne ein Wort zu erwidern ging er ins Haus.

Der Melker schimpfte hinter ihm drein und schlurfte in die Käshütte, wo der Sepple just die Abendmilch in den Kessel geschüttet hatte und das Lab rührte. Wüste Reden quollen aus dem Maul des Burschen, er trat gegen den großen kupfernen Kessel, in dem kniehoch die Milch stand. Das Erz dröhnte, und die Kette, an der es über dem schwarzen Feuerloch hing, klirrte laut.

Da klang die Stimme Junts hinter dem Melker.

»Ein Schinder ist kein Melker. Wer kein ehrlicher macar ist, den leidet's nicht im Stall und nicht auf der Weid'.«

»Was, ich kein ehrlicher Melker!« schrie der Knecht.

»Da ist der Lohn und dort der Weg. Zieht ab!«

»Ich klag' vor der ganzen marcarie! Auf acht Tage ist gekündet, Fermier!« trotzte der Melker und schob die Fäuste in den Sack.

»Hier,« wiederholte Daniel und hielt ihm das Geld auf der flachen Hand hin.

Nach einem Zaudern, Schlucken und Schnaufen nahm der andere die Talerstücke, doch als Daniel sich von ihm abwendete und zum Sepple sagte:

»Geh' in den Stall und schick' die Käsmagd her, die Bläß muß gepflastert werden,« da lachte der Melker roh hinaus.

Und auf einmal packte ihn eine sinnlose Wut, er zog den Speichel zwischen die Zähne zusammen, und ehe der Sepple dazuspringen konnte, reckte er sich, und über den Rand des manneshohen Kessels spie er in die fette Milch.

»O du Lauskaib, elender,« eiferte Sepple. 65

Aus der Brust des Daniel aber kam ein ungefüger, rauher Schrei. Ein roter Brand tanzte vor seinen Augen, wilder Grimm schüttelte seine Glieder, und von rasendem Ekel gepackt, schlug er plötzlich die Arme um den Leib des Mannes, der das Ärgste getan, was einem Fermier zwischen Himmel und Erde angetan werden kann, der in die Gottesgabe, in die fette, quellende Milch gespien hatte, schlug die Arme um die knochigen Hüften des Lästerers, stieß ihm den Schuh gegen das Schienbein, daß er zusammenknickte, drängte ihn hintenüber, und wie er sich auch wehrte, keuchte und geiferte, dem Wirt die Hände um den Hals warf, ihn zu würgen, hoch über den Rand des Kessels und hinein in die verschimpfte weiße Flut stürzte Daniel Junt den viehischen Kerl.

Dreimal tauchte Daniel den Knecht in die Milch, so wild der auch tobte. Der Kessel dröhnte, die Hütte hallte, der Hüterbub', Floflo, die Catherine, das Salmele und die Köchin kamen gestürzt, und als der erste Schrecken sich gelegt hatte, schrien sie vor Lachen, und Floflo vergaß auf einmal ihre stille Art aus der Klosterschule und tanzte wie ein Kobold um den Kessel, in dem der Louis plätscherte und gurgelte.

»Laß die Kette ab,« rief der Daniel dem Sepple zu, und dieser zog am Ring, bis der Kessel, der knapp über dem Feuerloch schwebte, aufsaß und sich seitwärts neigte.

Nun riß Junt den Melker mit einem Ruck aus dem Gefäß und stieß den Taumelnden zur Tür.

»So, jetzt fort mit dir! Du bist kein ehrlicher Melker gewesen von Anfang an. Denn wenn einer dem Bauer in die Suppe und dem Fermier in die Milch speit, so speit er unserm Herrn Jesus ins Gesicht.«

Sie waren still geworden, als der Herr den Melker aus dem Kessel hob, und seine Worte klangen wie in einer Kirche.

Ohne Atem, blind und trunken taumelte der Louis über die Schwelle. Aber draußen, da schüttelte er die Faust und tat einen greulichen Fluch. Dann schob er sich davon. 66

Auf den roten Backsteinen der Käshütte stand die weiße Milch in Lachen, die ganze Abendmilch, die schon im Kessel bereitgestellt war, um mit der Morgenmelke gewärmt und gekäst zu werden.

»Rangiert mir das,« sagte Daniel und verließ die Hütte.

Floflo schlich hinter ihm drein.

Als Catherine dem Nettele die Geschichte erzählte, wurde die Mamsell besorgt.

»Mon Dieu, auch das noch! Der Louis ist rein wie vom Galgen abgefeilt, und wenn der jetzt auch noch hetzt, gibt's ein Unglück heute. Lauf' zu den Douaniers, Tatine, sie kommen um Zwölf über den Weg, und frag' sie um Hilfe.«

Die Magd tat so, und die beiden Grenzwächter versprachen ihr, dem Gendarm einen Wink zu geben, wenn sie abstiegen nach La Motte.

»Werd's 'mal meinen Kollegen sagen, die auf den Abend die Ronde haben,« rief ihr der eine noch nach, »der Wirt hat ja für den Wilkens vom letzten Jahr her noch 'was zugut bei uns. Wird prompt bezahlt, Fräulein! Allemal!«

Daniel Junt machte an diesem Tag den Melker. Noch ehe das Vieh wieder auf der Weide war und der Stall besorgt, begann sich die Gaststube mit Pfingstfahrern zu füllen. Junge Damen in engen Kleidern, mit sieben Volants und hochgeschnürten Korsetts, den haubenförmigen Strohhut mit Bändern unterm Kinn geknüpft und durchbrochenen weißen Strümpfen, stiegen aus den Breaks und tänzelten dann zum Grat hinauf, wo sie ebenen Weges auf dem Kamm stundenweit dahinwandeln konnten. Es war ein Brausen wie in einem Bienenkorb. Am Nachmittag wurde es wieder stiller.

Daniel saß in seinem Bureau. Er hatte nach Münster um einen Melker geschrieben. Drüben im leeren Tanzsaal knisterten die Dielen, die Sonne schien darauf, und da arbeitete das alte Holz. Zum offenen Fenster schwoll der würzige Hauch der Berge herein, über dem 67 Goldlack, der im Gärtlein an der Hausmauer wuchs, schwirrten plumpe Schmetterlinge mit dicken, behaarten Bäuchen und großen Augen, Holztauben riefen im Kiefernbusch, und fernher klang helles, abgerissenes Gelächter.

Daniel blickte in den Kalender, in dem er die Ankunft der Sommergäste notiert hatte. Am letzten Junisonntag kam Monsieur Grosjean mit Berthe. Er warf den Kalender in die Lade, wo eine Handvoll alter Patronen für die Jagdflinte lag, und stand auf. Der Lump, der Louis! Sie hatten ihm die Ohren voll geblasen, aber nom de Dieu, den Respekt ließ er sich nicht abkaufen! Den Deckel konnten sie ihm über den Kopf schlagen, daß er in dem alten Gemäuer hocken bleiben mußte wie in einer Grabkiste, ihn schikanieren mit Flicken und ihm den Käs zehnmal auf die Wage legen und dran kratzen, ob er recht in Gewicht und Gehalt, aber bodigen ließ er sich nicht. Ums Verrecken nicht!

Er hatte dem Gemeinderat Anzeige gemacht von der Aufhebung der Assekuranz und daß nur noch seine Fahrhabe um ein weniges versichert sei. Sie konnten ihm nichts anhaben, diese Versicherung hatte er sich vom Notar schon damals geben lassen, als er vom Maire wegkarriolt war. Nun wartete er, ob der aigle d'or von Gemeinde wegen wieder nistete auf dem Florimont. Er wartete in der Gewißheit, daß sie keinen Sou an eine Assekuranz wagen würden.

Sie kamen ihm mit anderen Dingen.

Da lag schon wieder eine Anzeige, daß die Weide übersetzt sei mit Vieh und der Fermier auf dem Florimont gehalten werde, keine Kuh mehr einzustellen im Stall. In dem Stall, wo sie sich aneinanderrieben und eine trächtige kaum durch die Tür ging! Ihm Vorschriften machen vorn und hinten, als ob's noch nicht genug wäre daran, daß er nicht auf eigenem Grund stand! Er hatte es von Jahr zu Jahr stärker empfunden, daß das der Fluch war, der auf dem Hof lag. Die Junt waren die Herren auf dem Berg durch ihr Schanzen und Schaffen, 68 durch bald hundertjährigen Besitz. Aber der Grund gehörte der Gemeind', es war ein Lehen, an dem alle sich letzten und von dem nur einer steuerte. Aber wenn's auch so war nach den Buchstaben, die auf der Kanzlei lagen, den Junt war's doch so gut wie eigen. Und er, der Daniel, er hätte es sich nicht mit Gewalt aus den Zähnen reißen, und von keinem Tribunal der Welt absprechen lassen! Die Junt auf dem Berg, so hieß es von Rappoltsweiler bis ins Münstertal und nach Gérardmer hinüber. Die Junt auf ihrem Berg!

Er pochte mit der Faust auf den Tisch, als müßte er in seiner stillen Kammer noch dazu auftrumpfen.

»Daniel, Monsieur Daniel?«

Eine ängstliche Stimme, er fuhr auf.

»Was ist, Nanette?«

»Geschwind, Daniel, die Burschen von La Motte und die macars von den Fermen!«

Und da hörte man auch schon ihre Stimmen und jetzt ihre Füße auf der Treppe.

»Ich komm',« entgegnete Daniel ruhig und ging durch den Saal auf den Flur.

Sie saßen in der Gaststube im Erdgeschoß und bis auf den Gang hinaus. Vor dem Hause hockten sie auf den Bänken, die Mädchen gingen Arm in Arm auf der Straße auf und ab. Der Xaveri Haberacker hatte die Ziehharmonika umhängen. Als Daniel nach ihm hinblickte, schob er sie verlegen hinter den Rücken. Das machte den Wirt argwöhnisch.

Tiens, tiens, sie wollten also doch tanzen! Der Weibel und der Gerichtsbote waren ausgeblieben und hatten das Tanzgebot nicht gebracht, das der Maire ihm avisiert hatte, aber hinten herum wollten sie auf dem Florimont ihre Pfingstkilbe etablieren! Der Florimont war groß, drei Stunden breit und sechs Stunden lang, bei viertausend Schuh über dem Rhein. Da hatten sie Platz zum Gaukeln, so viel ihrer waren, nur nicht in dem Haus hier, in dem Saal über ihren Köpfen, wo die 69 Diele noch rostete von dem Blut. Und jetzt erst recht nicht. Ums ganze Elsaß nicht! Sein' Sach' war's und dabei blieb's! Einen Eid drauf!

Eine Stunde ging hin. Sie saßen und tranken, traktierten einander und machten ihre Späße. Aber Daniel merkte, daß sie sich gegenseitig Mut zusprachen. Der Melker des Maire warf Stichelreden aus wie Fußeisen, und sie lachten dröhnend zu seinen Worten.

»He, Xaveri, sitz' auf den neuen Grenzstein, mit dem Hinterteil fest auf das Schwobenzeichen, und spiel' auf. Auf dem rocher du moine wird's wohl erlaubt sein zu tanzen. Dort regiert keiner.«

Den Xavier verlangte nach Revanche für die Verlegenheit, in die ihn der Blick des Bergwirtes versetzt hatte, und so antwortete er hastig:

»Ich will auf dem Bänkle hocken und nicht auf dem Stein. Los, Buben!«

Und trotzig nahm er sein Instrument zur Hand und begann zu spielen und zu singen nach der Melodie der Marseillaise:

»Allons enfants de la marcarie,
Le jour de boire est arrivé.
«

Dann ging er in eine Polka über, und die Mädchen begannen verlangend stehen zu bleiben. Schon waren ein paar Burschen zu ihnen hingeschlichen, jetzt quietschte eine, die ihr Schatz zärtlich in die Hüfte gepfetzt hatte, laut auf. Und auf einmal erhob sich alles, was in der Stube saß, schoben sich die anderen zur Tür herein, und aus dem Haufen schrie eine Stimme:

»Wo ist der Wirt? Den Saal auf, wir wollen unsere Kilbe.«

»Allez, en avant, die Stiege hinauf,« drängten andere, und sie polterten der Treppe zu.

Da stand Daniel auf den oberen Stufen und rief hinab:

»Macht keine Viehheiten, Buben! Es wird nicht getanzt bei mir. Draußen ist Platz genug. Auf allen 70 chaumes vom col du Bonhomme bis zum Ballon d'Alsace wird getanzt in der Sonne. Macht's auch so!«

Sie zögerten. Plötzlich schrie einer:

»Der kommandiert ein' nicht schlecht. So einer, der der Gemeind' zuleid lebt.«

Und dann ein anderer – es war dem Maire sein Melker; Daniel sah seinen roten Kopf, als er das Maul aufriß und schrie:

»Wem gehört denn das Haus? Dem Junt, der von der Gemeind' draufgesetzt ist, oder der Commune? Gemeind'land ist's, uns gehört's. Vive la marcarie!«

Sie riefen es nach, und wieder begann die Ziehharmonika ihr nervenerregendes:

»Allons enfants de la marcarie-e-e!«

Die Catherine riß den Vordersten am Hosenbund von der Treppe herunter, aber dann griffen die anderen nach ihr, und nur mit Mühe entkam sie den gierig wühlenden Händen, die ihr unter die Arme und in die Röcke fuhren.

Daniel hatte noch den ersten lärmenden Ruf auf die marcarie gehört, dann sprang er mit einem Satz die Stufen hinauf, war im Nu in seinem Zimmer, riß die Flinte von der Wand, die Schublade auf, stopfte ein paar Patronen in den Sack und rannte zurück. Gerade als er wieder auf seinem Posten war, lag die Kartusche im Lauf.

Catherines Dazwischenkunft hatte ihm Zeit gelassen, eben stürmten sie herauf. Er trat auf die oberste Stufe.

»Halt, oder ich schieß'!«

Schmetternd flog der Ruf über sie hin, und als die ersten, die vor dem Flintenlauf zurückgeprallt waren, von den Nachdrängenden gehoben und geschoben, wieder aufwärts strebten, wiederholte Daniel noch einmal:

»Halt, sag' ich! Wenn der erste vor dem Rohr ist, brenn' ich ab.«

Er hielt das Gewehr in Brusthöhe, das schwarze Flintenloch starrte den Heraufsteigenden ins Auge. 71 Dahinter der Wirt, halb im Licht, halb im Schatten, den Finger am Drücker, breitbeinig. Schwarz stand das buschige Haar über dem erdfahlen, trotzigen Gesicht. Leise bebte das Rohr unter den heftigen Atemzügen seiner Brust. In seinem Aug' saß etwas, das schreckte die tollen Buben: der schoß, der trieb keine Possen.

»Er hat Schnupftabak im Lauf,« spottete einer aus dem Haufen, aber die vordersten, die das schwarze Auge brennen und den stählernen Büchsenlauf im Zwielicht glänzen sahen, duckten sich unwillkürlich und drängten nach hinten.

Und der erste rief mit heiserer Stimme nach rückwärts, ohne den ängstlichen Blick von der Mündung losreißen zu können:

»Merci! Wenn du eine Prise von dem Daniel seinem Schnupftabak riskieren willst – ich bin nicht Liebhaber!«

Das klang so überzeugt und zugleich so komisch, daß sich die Spannung in einem unterdrückten Gelächter zu lösen begann, aber auch das klang noch drohend und gereizt.

Daniel stand unbeweglich. Auf seiner Stirn spürte er feuchten Schweiß, der Luftzug von der offenen Zimmertür her strich kalt darüber hin. Er hatte grobes Schrot im Lauf und, so wahr er lebte, wenn der erste an den Lauf stieß, brannte er ab.

Da rief eine atemlose, triumphierende Stimme:

»Aus dem Weg, ihr Narrenbuben, die Gendarmen kommen!«

Und im Hui rannte die Catherine die Burschen über den Haufen und fiel mehr als sie lief die Treppe hinan. Zwischen den Buben und dem Daniel stand sie plötzlich auf der Stiege, und ihr breites Gesicht flammte, ihre pralle Brust stieß keuchend den Atem aus, mit dem nackten roten Arm wies sie über die Köpfe weg zur Haustüre.

»Vorwärts, lüpfet Eure Bein', sonst päckeln euch die Schwoben.«

Und »Platz gemacht« schnarrte eine Stimme von außen, ein Helm flimmerte, grüne Mützen daneben, der 72 Gendarm von Hachimette und zwei Zollwächter standen draußen, die Gewehre handgerecht, mit hochgezogenen Ellbogen, die Rechte am Stecher.

Einen Augenblick schwankte der Knäuel unsicher hin und her, dann begann er sich zu lösen, einzelne schoben sich an den Gewehren vorbei hinaus, die anderen drängten nach.

»Ihr seid wohl verrückt, Kerls! Raus und fort!« polterte der Gendarm noch einmal und warf sich in die Brust, den roten Schnauzbart sträubend, des Erfolges stolz.

Aber da rief die Catherine, indem sie heftig mit dem Arm winkte:

»Nein, nein, nicht so pressiert! Die wenigsten haben ja schon bezahlt.«

Sie stutzten, die Beamten wußten nicht recht, was sie tun sollten. Da stellte Daniel schnell die Flinte hinter sich in den Winkel und legte der Magd die Hand auf den zerzausten Kopf.

»Schenk's ihnen, Catherine, der Wein war umsonst, der Tanz hätte mehr gekostet.«

Unter der Berührung seiner Hand wurde sie auf einmal schwach.

»Jesus, Maria, meine Bein',« murmelte sie und ließ sich schwer auf die nächste Stufe fallen. Ihr gutmütiges Gesicht war ganz blaß geworden, ihr großer Mund lächelte, und als Daniel ihr noch einmal, diesmal fest, ins Haar griff und dann die Finger über ihren warmen Nacken gleiten ließ, da sank sie gegen sein Knie, daß er kaum an ihr vorbeigelangen konnte, um dem Gendarm unten Rechenschaft zu geben.

Auf dem Talwege plärrte die Ziehharmonika, ein paar verhallende Scheltworte, ein Jauchzer – sie waren abgezogen.

Aber in Daniel Junt war der Stachel ihrer höhnischen Reden zurückgeblieben. Als er am Abend die Flinte über den Schreibtisch hing, ließ er die Ladung darin. Für alle Fälle. 73

 

Berthe stand auf dem Mönchsfelsen. Der sanfte Luftzug, der über dem freien Gebirgsgrat wehte, strich ihr das leichte schwarze Kleid glatt und spielte im blonden Haar. Den Rücken nach Westen gekehrt, stand die schlanke Gestalt auf dem dunkeln Stein, der mit plumpem Bauch und einem dicken runden Kopf auf dem First hockte und über die grünen blumengesprenkelten Alpweiden, die schwarzen Tannenwälder und die weißen glänzenden Wasser in die Täler und hinab in die farbige Ebene schaute.

Blauschwarze Wälder stiegen ins Tal, Stamm an Stamm gedrängt, helles Laubholz dazwischen, das den reisigen Tannwald begleitete, um, in den Tälern vorauseilend, alle Hügel und Hänge mit lichten Farben zu überfluten. Berthe sah die Rebengelände in die Ebene ziehen, weiße Straßen knüpften sie zusammen, Dörfer und Städtchen schliefen in der Sonne, und noch weiter weg vom Gebirge glänzten gelbe Kornfelder, rollte die Ebene ihren bunten, unendlichen Teppich aus. Dort lag Kolmar. Ein zarter Duft darüber, der Dächer und Türme umwob, Reben ringsum, eine Wolke dunklen Waldes und pfeilgerade dahinschießende Chausseen. Dahinter schimmerte als silbernes Band zwischen zwei Reihen schlanker Pappeln der Rhein. Und ganz in der Ferne eine bläulich schimmernde, auf- und niedersteigende Linie, die den Blick festhielt, der Schwarzwald, der dort wie hingehaucht mit dem blauen Himmel zusammenfloß.

Berthele hatte die Hand über die Augen gelegt. Ihr Sonnenschirm war am Fuße des Mönchfelsens liegen geblieben, nun machte sie sich mit der Hand ein Dach und spähte nach Süden. Unwillkürlich, als ob dort in dem zarten, bläulichen Duft etwas zu sehen wäre, als schöben sich nicht Meilen, Berge und Täler zwischen sie und die kleine Stadt, wo Joseph Alleman auf dem Gottesacker lag.

Es war ihr, als sänge seine lustige Tenorstimme: 74

»O ma charmante,
Ecoute ici
L'amant qui chante
Et pleure aussi.
«

»Pauvre Joseph,« murmelte Berthe und ließ mit einem leichten Seufzer die Hand sinken.

Das Leben hatte ihm wohlgewollt. Seinem Vater war er als agent générale des Aigle d'or nachgefolgt, und als er in ihr Haus kam, da brauchte man nicht viel zu tun, und sie fanden Gefallen aneinander. Eines Tages waren sie versprochen. Es gab keine große Erregung der Gefühle, sie ließen sich führen, und als Berthe Hochzeit machte, tat sie es mit stillem Herzen, nicht anders, als sie einst zur ersten Kommunion gegangen war. Und Joseph blieb der leichtlebige junge Mann, immer die Hand in der Tasche, der an Geschäft und Pläsier mit der gleichen sorglosen Leichtigkeit und Geschicklichkeit heranging.

»Un cœur mauvais, mais pas un mauvais cœur« das war der melancholische Ausspruch des alten Arztes, der jedes Kind im Städtchen unter den Händen gehabt hatte und den Joseph binnen drei Tagen an einem hitzigen Fieber verlor.

Wie weit das alles schon hinter ihr lag! Sie stieg langsam herab von dem rocher du moine.

Als Berthe um den von Steinbrech überwucherten Felsen bog, rief unten die Mittagsglocke.

Schnell rannte sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer, schaute in den Spiegel und ging dann hinab. Sie war die letzte. Daniel saß zu oberst am Tisch, er hatte gewartet, bis sie eintrat. Jetzt blickte er zu Nanette hinüber, die am Nebentisch vor der mächtigen Suppenschüssel stand, um auszuschöpfen. Das Salmele trug die Teller auf.

»J'ai vu votre charmante silhouette, Madame, vous faisiez le guet sur le rocher du moine,« sagte Herr Jenny, der dicke Epicier aus der rue Turenne in 75 Kolmar, der zwei Stühle von Berthe entfernt an der anderen Seite der Tafel saß.

Berthe lächelte. Ein goldenes Fünkchen sprang aus ihren Augen.

»Et moi, j'ai vu votre panama ombrager le jardin,« erwiderte sie.

Ein beifälliges Gelächter lief um den Tisch. Da wurde Berthe befangen und blickte schnell zu Daniel hinunter. Auch er lächelte über die kleine Neckerei, aber in seinen Augen glomm ein heißes Feuer, und Berthe fühlte, daß sie errötete.

Es war nur ein einziger Altdeutscher am Tisch, der Regierungsbaumeister Mastorf. Er saß ein bißchen einsam unter den ditsch und französisch durcheinander redenden Elsässern, aber man vertrug sich zur Not.

»Er ist gar kein so übler Herr, er embêtiert einen doch nicht mit dem Bismarck und striegelt einen nicht gegen den Strich wie die anderen, die einem immer wieder erzählen, wie froh die Elsässer sein müssen, daß sie wieder deutsch sind. Aber steif ist er wie alle. Sie haben alle eine baguette verschluckt, die Sakramentsschwoben.«

Das war Jennys Urteil gewesen, das er einmal bei einer Partie Pikett zu den anderen Herren geäußert hatte. Als der Baumeister jetzt nach dem Käse aufstand, sich knapp verbeugte, »Mahlzeit« schnarrte, und aufgereckt, mit prallsitzenden, durch Stege über den Röhrenstiefeln festgehaltenen Hosen aus dem Zimmer schritt, da sagte Monsieur Kaltenbach, der Direktor der Spinnerei Kestner in Gebweiler:

»M'ssieu Jenny, Ihr habt recht gehabt wie noch nie in Eurem Leben. Er hat einen Ladstock im Rücken, ce pauvre ingénieur des ponts et chaussées.«

Daniel legte Kaltenbach, der neben ihm saß, die Hand auf den Arm:

»Excusez, aber der Herr ist mein Gast.«

Der Fabrikdirektor zog heftig den Arm zurück und erwiderte schroff: 76

»Leider. Je sais cela, monsieur.«

Er warf die Serviette hin und verließ mit einem kurzen Gruß die Stube.

Seine Haltung bekümmerte Daniel nicht. Der Regierungsbaumeister war ein Preuß', er hatte sich vor vier Wochen bei ihm einquartiert, und der Florimont stand trotzdem noch. Mastorf war nicht zur Erholung auf dem Berg, sondern im Dienst. Er baute den großen Weiher, den die deutsche Regierung drüben im Tal anlegte, um die Wasserkräfte für die Fabriken zu fassen. Sie waren erst am Vermessen und Grundsuchen für die große Sperrmauer, aber das gab einen See zwischen den Hängen, wo jetzt die Quellwasser von den moorigen Wiesen verschluckt wurden. Da bauten sie ein paar Jahre dran, sie bauten, wie wenn das Elsaß für ewige Zeiten ihnen gehörte!

Daniel war in Gedanken an dem leeren Tisch sitzen geblieben, als die Gäste schon lange gegangen waren.

Die Mamsell trat zu dem Wirt.

»M'ssieu Daniel, da ist der Zettel für den Epicier.«

Daniel nahm Nanette das Papier ab und rechnete die Posten zusammen. Die Vorräte mußten erneuert werden. Er ging ins Bureau und setzte die Bestellung auf. Dann starrte er lange auf das Briefblatt, ohne Blick für das Geschriebene. Neue Bestellungen, und doch kam die Zeit nicht vom Fleck.

Der August stand vor der Türe. Daniel war's, als hätten die Tage Blei unter den Sohlen, so schlichen die Wochen. Und jeder Tag stieß ihn an und drängte ihn vorwärts, langsam Schritt für Schritt. Die Bläß war krepiert, über Nacht war auf einmal das Hinterbein, wo die alte übelheilende Wunde sich verkleisterte, rot angelaufen, daß die Adern blau durch die Haut traten. Er hatte sie anfeilen, einen Sack unter ihr durchziehen und sie darin hochheben lassen. So hing sie mehr als sie stand in dem leeren Stall. Der Sepple hockte neben ihr und tätschte ihr Wasser mit abgesottenen Heublumen 77 auf den Rist. Am anderen Morgen hing ihr die Zunge aus dem Maul.

In La Motte machten sie ein großes Wesen um den Kadaver, bis der Veterinär aus Türkheim kam und erklärte, es wäre keine Seuche. Auch keine Vernachlässigung. Schlechte Heilung, eine Infektion, der Stall war nicht verseucht, die Weide nicht in Gefahr. Aber Daniel nahm's als ein Zeichen. In dem alten Gemäuer hockte ein böses Gift. Es war nur noch gut, verbrannt zu werden, wie die Betten, in denen ein Blatternkranker gestorben ist.

»In ein paar Jährchen, da haben Sie hier oben ein Hotel ersten Ranges. Lassen Sie nur erst mal den Weiher fertig und die Straße gebaut sein. Müßte ja mit dem Deubel zugehen, wenn da nicht ein spekulativer Kopf ein Berghotel hinsetzte, mitten rin in die herrliche Gebirgswelt.«

So hatte Herr Mastorf zu ihm gesagt, als sie auf dem Grat standen und in das Tälchen sahen, wo die Arbeiter mit den roten Meßstangen und den blitzenden Instrumenten arbeiteten.

»Das wagt keiner,« hatte Daniel zwischen den Zähnen hervorgestoßen.

»Erlauben Sie mal, Herr Junt! So ein großes Wagnis ist das nicht. Sie erleben's noch, daß Engländer und Berliner hier Sommerfrische halten. Bei Ihnen nicht, das ist denen nicht dekorativ genug, überhaupt eine Mottenkiste, Ihre Bude, wenn auch riesig nett, so alte, deutsche Art, aber wenn da unten einer in der Sonne baut, dicht am Wald, und ein bißchen Reklame macht, dann regnen ihm die Taler durch den Schornstein. Mit dem nötigen patriotischen Empfinden natürlich. Kein Protestlerwirt, der lieber die Zimmer leer läßt, ehe er einen Preußen beherbergte.«

Daniel hatte die Zähne zusammengebissen und geschwiegen. Da war dem Baumeister ein Gedanke gekommen. 78

»Wissen Sie was, bauen Sie doch. Sind ja prädestiniert dazu. Ihre alte Klitsche ist den Abbruch wert.«

»Man baut nicht in den Tag hinein,« hatte er kurz erwidert.

Daniels Mißtrauen war damals rege geworden. Was wollte der Preuß'? Ihn aushorchen, ihm einen Floh ins Ohr setzen? Dort, wo er mit dem Finger hingezeigt hatte, war die Kälbermatte und die Ferme Hirth; er kannte die schwarze Spur, die dort ins Alpgras getreten war vom Sträßlein her. Dahinter stieg der Herrenwald nach La Motte hinab. Wußte Herr Mastorf, daß er auf dem Gemeindeland saß als Pächter? Das ging den Fremden einen Dreck an. Daß er nur der Pächter war, das rieben sie ihm ja unter die Nase, die Buben, die ihm den Pfingsttanz abtrotzten, der Gemeinderat, der ihm die Weid' sperren wollte. An den gemeinen Weidgrund hatte er kein anderes Recht als die im Dorf, aber das Haus und das Gartenland und soweit sein Hag lief über die Matte, von den krummen Kiefern bis zu den schwarzen Steinen, das war sein. Hundert Jahre sind drei Geschlechter wert, und drei Geschlechter hatten aus der alten Ferme, wo ein Unterstand, aber keine Herberge gewesen war, aus dem abwärts moorigen, zum Grat hin steinigen dürren Boden das gemacht, was sie heute waren. Wenn das kein Recht war, hernach hatte auch der Herrgott kein Recht an der Welt, die er selber gemacht hatte.

»Das ist's, justament, das ist's.«

Er schlug mit der flachen Hand auf das Blatt Papier.

Die Tinte war schon lange getrocknet.

Ja, das war's. Er tat einen tiefen Atemzug, der hob ihm die Brust so frei, als wär' auf einmal Luft geworden darin für alle Zeit.

Er nahm den Brief für den Epicier vom Tisch und ging hinunter. Berthe war mit dem Kinde über die Matte gelaufen und saß mit ihm unter der Arve, die als Wächter vor den Hochwald gestellt war. 79

Nanette wies Daniel die Gruppe.

»Sie ist ganz vernarrt in das Büble. Eine zweite Mutter, wenn sie nicht so zart wäre wie eine demoiselle,« sagte sie, als sie mit dem Finger auf die schwarze Gestalt zeigte, die unter dem Baume saß. Ein krähendes Jauchzen des Léon drang zu ihnen herüber durch die klare Luft. Daniel erwiderte kein Wort, aber ein starker Zwang kam über ihn, er ging über die Weide, die unter den Schritten schwoll und ihre Düfte in die Sommersonne sandte, auf den Baum zu.

Berthe schlug schnell das Kleid über die Füße, aufstehen konnte sie nicht, denn der Léon kletterte auf ihr herum und trat ihr in den Schoß.

»Er fatiguiert Euch, der polisson,« sagte Daniel.

Sie hielt den Kleinen fest, von dem er sie befreien wollte.

»Laßt mir das Pläsier, Monsieur Daniel, wir sind ja so gute Freunde, der Léon und ich.«

In ihren Augen tanzte das goldene Fünkchen, ein rosenroter Schein war über ihr Gesicht gebreitet. Sie trug keinen Hut, und die Finger Léons hatten in dem feinen blonden Gespinst arg gehaust. Es ringelte sich wild um Stirn und Schläfen. Das eine Ohr war purpurrot, als hätte der Léon es geschulmeistert.

Daniel streckte ihr die Hand hin.

»Wollt Ihr aufstehen, Berthe?«

Das »madame« brachte er nicht mehr über die Zunge. Und trotzig ließ er es aus, obwohl er sah, daß die kurze, vertraute Anrede sie unfrei machte.

Als sie zauderte, nahm er den Léon beim Wickel und schwenkte ihn neben sie ins Heidekraut. Da ergriff sie seine Hand, und er zog sie empor. Aber kaum stand sie aufrecht, so klammerte sich der Léon wieder an sie und wehrte den Vater, der ihn wegziehen wollte, mit Händen und Füßen und mörderischem Geschrei ab. Berthe bückte sich, um ihn zu beruhigen, und im Eifer streifte ihr zerzaustes Gelock Daniels Gesicht.

Da riß sie den Kleinen plötzlich empor und stammelte: 80

»Laßt mir den Kleinen. Je cous en prie, Daniel.«

Wie einen Schild hielt sie ihn gegen die Brust gedrückt.

Daniels Hände glitten von dem Knaben ab.

»Er hat Angst vor seinem Vater, der Zwerg. Ihr macht mich jaloux, Mamsell Berthe.«

Ein heißes Leuchten war in seinen Augen, er hätte sie samt dem Léon in die Arme nehmen mögen. Es war ihm, als wär' sie noch das blasse Kind, das vor Jahren auf den Florimont kam, bald still und verträumt auf den Steinen und unter den Brombeeren saß, bald leicht und luftig in dem alten Haus herumstrich.

Sie wandte sich zum Gehen.

»Berthe,« stieß er leidenschaftlich hervor.

»Daniel, monsieur Daniel, laissez-moi passer,« bat sie mit erlöschender Stimme.

Einen Augenblick noch sperrte er ihr den Weg, dann trat er beiseite, stumm, schwer atmend.

Sie drückte das Bübchen an sich und lief über die Wiese, aber das Kind war schwer, sie mußte langsamer gehen, immer langsamer, und die Last zog sie schier zu Boden. Doch sie hielt es fest.

»Sitz still, Léon, ich trag' dich. Ja, ja, du bleibst bei mir,« sprach sie ihm zu und küßte ihn mit heißem Mund auf den nackten, blanken Hals, unter das Ohr, daß er, gekitzelt von ihren brennenden Lippen, laut auflachte und ihr, in das lose gesteckte Haar fahrend, Nadeln und Knoten löste.

Schwer fielen ihr die blonden Strähnen in den Nacken und rollten über das schwarze Kleid bis auf die Hüften. Der leichte Wind fing sich darin, die Sonne webte ihre Strahlen hinein, und Daniel schien es, als wallte das goldene Gespinst über die ganze Alpweide und deckte die Gräser, die Steine, die Höhen, den Florimont, so weit er Namen hatte, und ein Duft stieg auf, der machte ihn trunken wie alter Wein.

Sie verschwand hinter der Hausecke, mit ihr der goldene Glanz. Windschief und grämlich hockte die Ferme 81 mit dem angebauten Wirtsstock unter dem blauen Himmel und brannte ein schwarzes Loch in den grünen Weidgrund. Und der Daniel sah sie auf einmal, sie, das Berthele, in ein neues, zweistöckiges Gebäu treten, mit blitzenden Fenstern und rotem Dach, mit weißen hohen Mauern, brausend von Schaffen und Leben, ein Haus, sein Haus, eins wie keins auf den Bergen, auf diesem seinem Berg, dem blühenden, gesegneten Florimont.

Dann trieb er sich ingrimmig die Fäuste in die Augenhöhlen, als müßte er das Bild zerschlagen da drinnen, und ging zu den Kühen.

Dem Berthele zitterte das Herz noch vor Schreck und Scham in der Brust, als es seine Haare längst wieder in Ordnung gebracht hatte, und so oft es in den nächsten Tagen dem Daniel begegnete, fiel eine heimliche Angst über es, daß es darin flatterte wie in einem Vogelnetz. Am Tisch wagte sie kaum aufzusehen, nur zuweilen streifte sie ihn mit den Blicken, und dann sanken ihr die Arme unter der Last der Gabel. Den Léon ließ sie nicht mehr von sich.

Eines Abends aber gab es kein Entrinnen. Sie waren sich nach dem Nachtessen im Flur begegnet, und Daniel ergriff ihre Hand.

»Kommt mit zu den Steinen, da oben am späten Abend, das ist das Schönste auf dem Florimont. Das wißt Ihr ja noch, Mamsell Berthe?«

»Sagt madame,« murmelte sie hilflos und folgte ihm hinaus.

»Madame? Nein, es gerät mir nicht,« erwiderte er heftig.

Schweigend gingen sie das Sträßchen entlang und auf die Höhe. Bei jedem Schritt reckten sich die Steine höher aus dem Boden, zuletzt drohte nur noch der rocher du moine über ihnen. Dann waren sie oben und standen auf dem Rücken des Berges, der langgestreckt dalag, das schwarze Haupt im Tannenwald begraben, mit übereinandergeschlagenen Armen, und schlief. 82

Sie sahen zuerst vom Aufstieg her ins Welsche, wo blaue Schatten alle Hügel und Täler zudeckten. Ganz hinten zitterte noch ein blutiger Streif am Himmel. Als sie sich umdrehten, kroch die Nacht aus der Rheinebene herauf und löschte alle Zeichen. Ein feiner, weißer Dunst schimmerte noch einen Augenblick aus der Gegend, wo das Münstertal in die Berge schnitt, dann verschluckte die Finsternis den letzten Hauch.

Lange standen sie schweigend und um sie her strichen die Schatten.

»Es macht einem angst da oben,« sagte Berthe, und ihre Stimme klang so klein und dünn in der Stille, daß sie noch mehr erschrak.

Da kam ein geisterhaftes Läuten vom Mönchfelsen her, und eine große Gestalt, noch schwärzer als die Finsternis, wandelte an ihnen vorüber.

»Daniel!« rief sie ängstlich und warf sich in seine Arme.

Er lachte leise und hielt sie fest.

»Aber Berthele, das ist ja ein Vieh, das noch in der Nacht herumstoffelt, statt abzuliegen und zu käuen.«

Und er versetzte der Kuh, die dicht an ihnen vorbeistapfte, einen Schlag mit der flachen Hand. Mit einem Schnaufer verschwand sie in der Nacht.

Mit dem anderen Arm aber hielt Daniel Berthe fest, so sehr sie sich jetzt auch sträubte, nachdem sie sich beruhigt hatte.

»Berthele, schau, dort gehen der Nacht die Augen auf,« flüsterte er und zeigte auf die Ferme, in der gelbe Lichter glänzten. Der Höhenwind hatte sich aufgemacht und strich über die grasigen Kuppen der Vogesen; in der Tiefe, wo die Wälder waren, rauschte es leise.

Berthe hatte keine Worte bereit, ein Gefühl köstlicher Ermattung und zugleich eine geheime Angst machten sie wehrlos.

Da raunte er ihr zu: 83

»Berthele, was meinst du, tät's dir gefallen auf dem Florimont? Bei mir, bei dem Léon? Und weißt du, daß ich dich das schon lang hab' fragen wollen?«

»Daniel, ich bin im Leid,« stammelte sie.

»Ich kann warten, Berthele, hab' ich so lang gewartet, daß ich schier zu spät gekommen bin, so wart' ich leicht auch noch einen Winter. Und dort, Berthe, dort kommt später ein Haus hin, groß wie ein Hotel, wo's eine Lust ist drin zu schaffen. Dann wird die Straße breit und der Aufstieg leicht, dann gibt's Leben auf dem Berg. Da drüben im Welschen, da stehen sechzig Kühe in einer Ferme, warum soll's auf dem Florimont weniger haben! Hab' keine Angst, Berthele, du sollst Knecht' und Mägde haben, ich brauch' dich nicht zum Geschirren und Geschäften. Dafür bin ich da und du für mich. Für mich allein, Berthele!«

Sie stemmte die Hände gegen seine Brust, aber unwiderstehlich zog er sie an sich.

»Daniel, ich schrei' um Hilf',« stieß sie endlich hervor; da knickten ihre Arme, und sein Mund brannte auf ihren Lippen.

Sie wollte es wahr machen und schreien, aber über seinen wilden Küssen verging ihr die Kraft dazu und mit der Kraft auch der Wille. Nun hing sie in seinem Arm, und das blasse Licht, das vom gestirnten Himmel in die Finsternis sickerte, floß über ihr weißes Gesicht. Sie hatte die Arme um seinen Hals gelegt und wußte nicht, ob ihre Füße sie noch trugen.

Erst als er sie noch einmal an sich preßte, stammelte sie abgebrochen:

»Du tust mir weh.«

Er lachte, es war ein mitleidiges zärtliches Lachen, und ließ sie frei. Aber ihre Hand hielt er fest, und Berthe war froh, ihre Finger in der starken Faust zu fühlen. Daniel schöpfte die Brust tief voll Atem, ein mächtiger Drang war in ihm, am liebsten hätte er in die stille Bergwelt hinausgeschrien, daß der Schall 84 über die Weiden geflogen wäre vom Col du Bonhomme bis zum Kahlen Wasen. Dort unten hockten sie im Tal, feige Lichtlein blinzelten von La Motte durch die Nacht, und auf der Allmend, in den Fermen, lagen sie auf dem Ohr und schliefen. Da kamen sie acht Tage vor Pfingsten herauf und zogen auf Michaeli wieder hinab, nutzten die Weid', grasten und butterten und kästen, mieteten ihr Vieh für den Sommer, um es im Winter wieder den Stallbauern im Tal heimzuführen, und er, er war auf dem Berg geboren, saß Sommer und Winter auf der Weide, ob sie blühte und grünte oder rostete und gefror, er hatte keine fremde Klaue im Stall und riß seine Kälber selbst auf die Welt. Und die da unten wollten ihn meistern, ihn und den Berg!

Er lachte dumpf, ein grimmiges Gelächter, vor dem das Berthele zu Tod erschrak. Dann packte er die schlanke, jüngferlich zarte Gestalt plötzlich um den Leib und hob sie in die Höhe.

»Siehst du, Berthele, das alles ist mein, von den Steinen bis hinab zum Wald. Hier tanzen die Erdwibele, und dort unten, wo der Schlatten sich durch den Wald gefressen hat, haust noch ein Schratzmännle. Aber sei still, mir tun sie nichts.«

»Jesus Maria, Daniel, was redest du da!« unterbrach sie ihn und strebte hinab.

Aber er schwang sie noch höher, daß seine Arme ihre Knie umspannten und sein Ohr an ihrer Brust lag und das ängstliche Pochen ihres Herzens hörte, und fuhr fort:

»He, ihr Stein' und Küh' und Kälber, und Wald und Weid', seht ihr sie, die da, sagt ihr, wem ihr seid und wer Herr ist da oben!«

Seltsam hallten die Worte in der stillen Nacht.

Und dann dämpfte er die Stimme:

»Berthele, so wahr ich leb' und dich lieb hab', die Lotterfalle da unten, die soll das Feuer fressen, eh' ich drin erstick'.« 85

»Daniel, komm heim, du machst mir Angst mit deinen Reden,« sprach das Berthele und strebte aus seinen Armen.

Aber schon bei den ersten Schritten stolperte sie und glitt aus im kurzen Alpgras.

Da riß er sie wieder empor und trug sie hinab, zwischen den Steinen hindurch, die sich um sie drängten. Und Berthe schien es, als machten sie plumpe Verbeugungen vor ihr, dem Daniel zu Gefallen.

Unten auf der Straße stellte er sie ab. Er hatte kein Wort mehr gesprochen, sie floh ins Haus und in ihre Kammer. Das Fenster stand offen, sie schloß es schnell, ängstlich, als könnte die Nacht hereinkommen mit ihren Düften und Gestalten. Und sie weinte in die Kissen. Aber als sie einschlief, lächelte sie und über ihren Mund huschten süße, brennende Schauer.

 


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