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Siebentes Kapitel.

D Die Gnade, die Benjamin von Pius IV. nicht hatte erlangen können, spendete ihm Pius V. mit überschwenglicher Lust.

Kaum bedurfte es der Vermittlung Pater Juans, den Benjamin bald nach der Wahl des neuen Papstes in dessen Gefolge bemerkt, und der also längst seine Absicht, nach Rom überzusiedeln, ausgeführt hatte. Kaum bedurfte es seiner Fürsprache; denn sieben Jahre sind eine lange Zeit, und sieben Jahre hatte einst Michele Ghislieri den unbekannten Mönch aus Voghera auf betendem Herzen getragen, – wie sollte er nach vollbrachter Rettung seiner vergessen können! Dazu sah er nicht wie sein friedliebender Vorgänger eine Missionsreise als ein Werk der Zwietracht an, er vielmehr erblickte darin ein Werk höherer Friedensliebe, das zwar für den Augenblick das Schwert, für die Zukunft aber die große Eintracht brachte, um die auf Erden zu kämpfen Jesus Christus seine Kirche gestiftet hatte.

»Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe –« eingedenk dieses Heilandswortes, zögerte Papst Pius nicht, die Seinen mitten unter die Ketzer, die wohl zu Wölfen werden konnten, auszuschicken, – war er doch selbst als Pater Inquisitor der Schweiz gefangen und verwundet worden und erachtete die Narben jener Wunden bis zu seinem Tode als köstlicheren Schmuck des hageren, gottgeweihten Leibes als die Papstkrone auf dem ehrwürdigen Scheitel.

So entsandte er Benjamin mit heiliger Lust, verpflichtete ihn nur, in Gesellschaft eines Bruders aus Voghera zu reisen, um der mancherlei Nöte und Gefahren willen, die ihn auf der Wanderschaft ereilen möchten; – denn nicht freventlich soll der Christ das Leiden, das sein Herr und Meister zur Gnade verklärt hat, an sich reißen, sondern in Geduld ausharren, ob er von Gott selbst dazu gewürdigt wird.

Noch weilte Felice in Rom. Aber Felice war nicht der rechte Begleiter auf eine Missionsreise nach Deutschland.

Während er um den verstorbenen Papst, seinen freundlichen Gebieter, mit empfindsamer Seele trauerte, begann Rom, das aufs neue unter dem Zeichen des leidenschaftlichen Katholizismus stand, auch aufs neue sein beschauliches Gemüt zu ängstigen und zu verwirren.

Schmerzlich und vergeblich sehnte er die von einer milden Sonne beschienenen Tage Pius IV. zurück und verbarg sich in enge Wände vor den scharfen Strahlen des am Himmel aufgestiegenen Gestirns.

Auch gehörte er in die große Zahl der Diener, für die Pius V. keine Arbeit und keinen Sold übrig hatte. Andere Talente als die, mit denen Felice begabt war, waren es, die der neue Papst brauchte. Was kümmerten ihn, den Monumentalen, die »eiserne Säule«, unscheinbare Fresken und Ornamente, – ihn, dessen glühende Seele auch in der Sphäre der Kunst nur an überwältigenden Werken Genüge fand.

Felice fühlte bald, daß seines Bleibens in Rom nicht sein konnte, und verlangte innig, nach Voghera zurückzukehren, als in die immer bereite Heimat, in der Prior Balthasar wie im weltlichen Elternhause Vater und Mutter zugleich, das Herz offen hielt für die heimkehrenden Söhne.

Unendlich liebenswert tauchte vor Felices innerem Auge die Gestalt Prior Balthasars auf. Wie geborgen konnte eines jeden Menschlichkeit in des Priors verstehender Güte ruhen; er vermochte ungleichen Söhnen ein Vater zu sein, liebte die Eifrigen, ohne die Bescheidenen zu mißachten, förderte die Aktivität mit der Kontemplation zugleich, jene in Giorgio, diese in Felice, beide in Benjamin, und gönnte ihnen allen, allen ihren besonderen Platz unter der Sonne des Himmels und an der treuen Flamme seines liebevollen Herzens.

Recht von Heimweh erfüllt begehrte Felice, die Stadt der wechselnden Leidenschaften hinter sich zu lassen und die freundliche Erinnerung an musische Nächte, in denen der Vollmond über dem Kasino gestanden, in denen die Brunnen gerauscht und der Marmor geleuchtet hatte, rein mit sich nach Voghera zu nehmen.

Prior Balthasar würde ihm seine Mitfreude nicht versagen, wenn ihm nach der römischen Schule die aufgetragenen Arbeiten glücklicher gelangen als vor Jahren, ja, er würde helfen und sorgen, daß adlige Herren der Lombardei bei ihm Bilder bestellten, wodurch er denn sich zur Seligkeit und dem Kloster zum Nutzen leben könnte.

Schon blühten in den etrurischen Bergen die Zyklaminen, als Benjamin und Felice sich gemeinsam auf den Weg nach Voghera machten, – Benjamin, um sich Giorgio zum Geleit nach Wittenberg zu erbitten, Felice, um heimzukehren.

Die ungleichen Brüder, als die sie vor mehr als einem Jahrzehnt nach Rom gezogen waren, waren sie bis zu diesem Tage, und jeder sich selbst gleich geblieben; aber wie denn beide mit Rom versöhnt waren, ein jeder der Tiefe seines Wesens gemäß, wanderten sie duldsamer, ehrfürchtiger einer gegen den andern nordwärts als dazumal südwärts von Voghera nach Rom.

Auch lebte Benjamins Geist nur wenig in Erinnerungen vergangener Tage, sondern strebte unablässig in Träumen voraus zur Zukunft, Träumen, die, wenn Felice sie hätte anschauen können, ihm die alte Scheu entlockt haben würden vor des Bruders unstäter, verlangender Seele. Zu Zeiten freilich überkam ihn eine Ahnung von Benjamins innerlichem Leben, wenn er ihn nachts ruhelos wie nur jemals vom Lager auffahren und in die Sterne starren sah.

Dann war es wohl die greifbar deutliche Vision von einem schönen, deutschen Jüngling gewesen, die Benjamin aus dem Schlafe aufgeschreckt hatte, – einem Jüngling, der unter blonderem Haar Benjamins eigenes Angesicht trug, – und der, von der himmlischen Gnade überwältigt und in aller Demut von dem geführt, der ihm in Sünde und Abfall Vater geworden war, zu des heiligen Papstes Füßen niederkniete. –

Hier verklärte sich Benjamins Antlitz, als halte er schon des Sohnes gerettete Seele in seinen zitternden Fingern.

Andere Nächte zeitigten andere Gesichte; Benjamin steht auf dem Wittenberger Marktplatz, Margrete hat ihm in alter Herbheit ihr Haus verschlossen, der Knabe ihn verachtet, und im Gespött der Menge, und ihren Hohn übertönend, predigt er die Mysterien der heiligen Messe, die Gnaden Roms, die Wunder der Gottesmutter; da wandelt sich der Spott in Unmut, der Unmut in Flüche, – feindliche Hände füllen sich mit Steinen, Steine fliegen, treffen – dunkel fließt der Purpur des Blutes Benjamin um Haupt und Schultern, und also königlich gekleidet tritt er vor seinen Herrn und Erlöser.

Stöhnend griff sich Benjamin, der zwischen Traum und Wirklichkeit befangen war, in die Brust und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

Es drängte ihn vorwärts, jede Rast war Aufschub der Taten, die seiner warteten und deren Vollendung ihm verborgen in Gottes Hand beschlossen lag.

Als die Mönche von Voghera ihr heimatliches Kloster erreichten, empfing sie der Prior mit weit geöffneten Armen, in denen er nur zu gern Benjamin mit Felice zugleich festgehalten haben würde.

Auch machte er, nachdem Benjamin seine vatikanischen Erlebnisse getreulich berichtet hatte, einen Augenblick das Verbot Pius IV. für sich geltend; Benjamin aber hielt ihm sanftmütig entgegen: »Vater, der neue Papst ist Fra Michele Ghislieri –«, womit er denn Prior Balthasars schüchternen Einwand unwiderleglich zurückschlug.

Der sich am hellsten freute, war Bruder Giorgio. Länger, als es seiner Abenteuerlust lieb war, hatte ihn der Prior seither in den Klostermauern zurückgehalten, ihm nur hin und wieder einen spärlichen und ach! völlig gefahrlosen Auftrag erteilt. Da sah sich eine Reise nach Deutschland, auf der Festungen gestürmt und Attacken geritten werden sollten, denn doch ganz anders an.

»Heiliger Georg, jetzt leih mir dein Schwert und dein Streitroß!« rief Giorgio laut und fröhlich, daß es von den stillen Wänden widerhallte und daß der Prior sich beeilen mußte, den aufschäumenden Übermut seines kriegerischen Sohnes mit christlichen Ermahnungen zu dämpfen.

Benjamin urteilte bald, – sei es laut oder leise, – daß es eine Lust für den Vorwärtsstrebenden sei, mit Giorgio zu wandern; Giorgio, immer fröhlich zum Ausschreiten, immer bereit, einen winkenden Kirchturm, ein von roten Dächern leuchtendes Dorf noch vor Sonnenuntergang zu erreichen, setzte freilich Benjamins Drang und Eile nicht die Verzögerung entgegen, die Felices Beschaulichkeit unter dem Himmel Italiens verursacht hatte.

Giorgio bedurfte keiner Zeit und Weile, um auf der Fahrt mit offenen Augen um sich zu blicken. In Deutschland angekommen bemerkte er bald mit Staunen, mit Bewunderung und Besorgnis, – denn was er bemerkte, schmälerte die katholische Hoffnung, das Land jenseits der Alpen mit den Waffen einer überlegenen Sittenreinheit zurückzuerobern, – bemerkte die außerordentliche, aufbauende Arbeit, die hier von der deutschen Nation geleistet worden war.

An Stelle des reformatorischen Chaos, dessen Hochflut Benjamin und Giorgio vor zwanzig Jahren noch bis an die Brust gestiegen war, waren wohlgebettete Ströme von Gesittung und Volkserziehung getreten. Die junge, in der Lutherkirche großgewachsene Generation strotzte von kräftigen, hochherzigen Idealen, glühte für Gott, die Freiheit und das Vaterland, schöpfte ihre Ethik aus einer edlen Menschlichkeit und verachtete die katholische Kirche, die sie nicht kannte, als das Knechtische, Vaterlandsfeindliche, Gott und der Mutter Natur Widerstrebende.

Diese Verachtung, dieser blinde Haß, den einst Luther gesät und der tausendfältige Frucht getragen hatte, erschreckte Giorgio bis ins Innerste seiner Seele.

Benjamin vermochte, je näher er den sächsischen Gefilden kam, um so weniger Sinn und Gedanken auf das ihn umgebende Deutschland zu richten; ihm sollten Giorgios erschreckende und erstaunliche Entdeckungen – denn aus welcher Kraft war diesem abgefallenen Volk das sichtbare Gute gekommen? – erst bei dem Anblick seines herrlichen Knaben aufgehen.

Einstweilen – und täglich qualvoller – beunruhigten ihn ängstliche Träume, Martin könne längst gestorben, Margrete gestorben oder in eine unbekannte Stadt gezogen sein …

Margrete! – Ob sie ihm vergeben haben würde? Ob er eine Feindin, eine Löwin, die ihr Junges verteidigt, in ihr finden würde? Oft klang ihm in den Ohren, wie sie Giorgio entgegengerufen hatte:

»Räuber! Brichst du wie ein Wolf in meinen Frieden ein?«

Jetzt wohl hatte sie sich mit Martin ein Stücklein Frieden eingezäunt, – würde sie, wenn Benjamin an der Gartenpforte stand, »Räuber!« rufen und die Arme schützend vor ihrem Sohne ausbreiten?

Es war ein warmer, wonnevoller Augusttag, der sich neigte; – die späten Feldfrüchte reiften ihrer Ernte entgegen, die üppigen Wiesen des Lutherlandes wogten in blühenden Gräsern und farbenfrohen Blumen, die kaum bewegte Luft, die sie ausatmeten, schwirrte vom sommerlichen Getön der Grillen.

Giorgio und Benjamin standen auf der Elbbrücke, Benjamin fest an das Geländer geklammert, denn seine Füße schwankten, der ganze Leib zitterte, als sträubte er sich, den Weg zu gehen, den die Seele ihn führen wollte.

Giorgio sah seinem Bruder voll Mitgefühl ins Gesicht. Wahrlich, Benjamin war ein frommer, aber ein alter Mann geworden. Tief hatte die Reue, die Buße, die Abtötung ihm Stirne und Wangen gefurcht; ein grauer Bart war ihm gewachsen, und auch die Locken, die Margrete in ihrer braunen Fülle so geliebt hatte, zogen sich grau und spärlich von der Tonsur bis zu den Schläfen.

»Benjamin,« sagte Giorgio aus ehrlichem Herzen, – »wie –, wenn wir noch in dieser Stunde umkehrten? Mir graut vor Wittenberg. Gedenke deines schmerzensreichen Lebens und ermiß, was wir gespart hätten, wenn diese Brücke nie unter unseren Schritten gedröhnt und das Wittenberger Pflaster nie davon widergehallt haben würde.«

Benjamins in sich gesunkene Erscheinung streckte sich bei Giorgios Worten; einen glühenden Blick heftete er auf seinen Begleiter und sagte:

»Giorgio, Gott verzeihe mir, wenn ich frevle, doch kann ich die Sünde auf meinem Wege zu ihm nicht missen. War mein Leben, wie ich es verschuldete, schmerzensreich, so war es doch auch gnadenreich wider alle Gerechtigkeit. Aus diesem Bewußtsein quillt meine Liebe, mein Glaube, meine Hoffnung. Laß mir die Schmach, und laß mir die Gnade, und laß mir alle, alle Schmerzen im Buche der Erinnerung. Voll beschrieben von dunklen Wüstenwegen und hellen Gottesführungen will ich es vor meinen Herrn und Heiland tragen; der mag darin löschen mit seinem großen Glanze, daß mir vor Licht und Seligkeit die Sinne schwinden und mit ihnen das Gedächtnis.«

»Wohl,« antwortete Giorgio entschieden, indem er schon einen Fuß vorwärts setzte, »so laß uns gehen. Aber mir graut vor Wittenberg, – und mir ahnt nichts Gutes.«

Schweigend schritten die Brüder von Voghera die Elbgasse hinauf bis zur Apotheke am Markt, wo sie mit ungleichen Absichten stehen blieben.

»Wir sollten zuvor das Haus des Tischlers Lukas heimsuchen –« sagte Giorgio.

Aber Benjamin fiel ihm in die Rede:

»Nicht ich,« entgegnete er, »du, Giorgio, nächtige bei Lukas! Mich laß meinen Weg und mein Ziel finden. Die Sonne sinkt, – ich eile.«

»So eile mit Gott«, rief Giorgio Benjamin nach, der sich schon zur Schloßvorstadt gewendet hatte.

Als er im Abendrot des freundlichen Hauses, vor dessen Fenstern die roten Kressen blühten, ansichtig wurde, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen, als er auf der Schwelle Margrete stehen sah, die die Augen mit der Hand schattete und nach einem ausschaute, der wohl ihr Hausherr sein mochte.

Einen Augenblick hielt Benjamin inne und fühlte eine kalte Hand nach seinem Herzen greifen. Sollte Margrete einen andern Gatten genommen haben, und würden nun gleich fremde Kinder, die Martin verdrängt hatten, aus dem Hause springen?

Da ließ Margrete die Hand sinken und schien den Ankömmling zu erkennen, forschend, wie sie oft blickte, und ernst, aber ohne Strenge sah sie Benjamin an, der durch den langen Blick, der keinem andern als ihm galt, befreit, ihr mit beschleunigten Schritten entgegenging.

Nur ein Gruß, keine Klage, aber auch keine Frage kam über Margretes Lippen. Sie nötigte Benjamin herein und fing bald an – immer ernst, aber immer freundlich – ihn zu bewirten, ihn nach seinem Ergehen auszufragen und von ihrem eigenen Geschick zu erzählen.

»Vor zehn Jahren starb der Vater –« erzählte sie; »seit der welsche Priester mich dazumal an das Krankenlager rief, ist er ein siecher Mann geblieben, der meine Tage reichlich füllte. Nachmals füllte sie der Knabe –«

Ein unendlich weicher Zug verschönte Margretes Gesicht, als sie von Martin sprach, und Benjamin begriff, was ihn anfangs verwundert hatte, – warum sie so jung und blühend geblieben war, während er gealtert und verwittert vor ihr stand: sie hatte täglich aus dem Jungbrunnen einer erwachenden Kinderseele getrunken, die ihr rein wie Quellwasser aus den Bergen zuströmte.

»Martin ist ein gelehrter und ein schöner Jüngling geworden,« erzählte Margrete weiter; »er studiert die Gottesgelehrtheit mit großem Eifer …«

Während sie noch von ihm sprach, hörte sie seine Tritte im Kies vor der Haustür, heftete ihre Augen auf die Stubentür und sah, als er eintrat, ihren Sohn mit glänzenden Blicken an.

»Martin, dein Vater ist gekommen,« sagte sie einfach.

Helle Röte stieg dem Knaben ins Antlitz, aber freimütig reichte er Benjamin die Hand und mit ihr das Herz zugleich.

Benjamin weidete indessen die Augen auf Martins Gestalt. Größer, breitschultriger, – deutscher, als er selbst in seiner Jugend gewesen war, stand der Sohn vor ihm, aber mit dem gleichen edlen Gesicht, das Benjamin als Jüngling im Kloster getragen hatte, – wo er es freilich nicht hatte bespiegeln dürfen, – das tat er erst, als Margrete ihm willig den Stern ihrer Augen zum Spiegel lieh.

Als nun die drei miteinander am Tische saßen, fuhren sie fort, vertraulich zu reden, wie Benjamin und Margrete getan hatten, bevor Martin zur Tür hereingetreten war. Keiner rührte an die Religion, keiner an Schuld oder Schicksal oder sonst Erinnerungen, die den bitteren Nachgeschmack des Leidens auf die Zunge legten.

Nachdem die Nacht vollends hereingebrochen war, bemerkte Margrete die leibliche Abspannung in den Zügen ihres Gastes und Gatten.

»Du bist müde, Toni,« sagte sie ihm. »Wo richte ich dir dein Bett?«

»Willst du das alte Haus bewohnen?« fragte Martin, der das Giebelhaus vor dem Elstertor, in dem er geboren war, das »alte« nannte, während ihm dies in der frühen Kindheit ungekannte Haus seines Großvaters immer das »neue« blieb. –

»Die Mutter«, sagte er, »hat keinen Stuhl darin vom Platze geschoben.«

Margrete errötete, als Martin ihre Scheu aufdeckte, das Haus anzutasten, das ihr Glück und ihre Liebe gesehen hatte, und fürchtete, Benjamin möchte des Knaben Anerbieten ergreifen.

Aber auch Benjamin wechselte jäh die Farbe, – Ave, deren süßes Bild längst in seiner Seele verblaßt war, deren Namen er noch nicht genannt hatte, seit er in Wittenberg eingekehrt war, – Ave stand lieblich, wie sie durch jene Räume gewandelt war, vor ihm und machte ihn schaudern in der Vorstellung, das verödete Haus wieder zu betreten, aus dem sie selbst entflohen, in dem aber gewißlich, Benjamin zur Qual, ein Hauch, ein Schimmer von ihrer Süßigkeit zurückgeblieben war.

»Nicht dort,« sagte Benjamin beklommen, »die Dachkammer wäre mir lieb, die ich einst mit Giorgio bewohnte und in der ein Bildnis der heiligen Elisabeth …«

Benjamin stockte, denn ihm fiel ein, daß ja des Hauses katholischer Vater gestorben war und seine lutherische Herrin wohl mittlerweile das Heiligenbild von der Wand genommen haben würde.

Margrete ahnte Benjamins Gedanken, lächelte und sagte:

»Das Bild hängt an seinem alten Platz –« dann wandte sie sich zu ihrem Sohn:

»Martin, geh und leuchte dem Vater hinauf in die Kammer!«

Martin stand auf, und auch Benjamin erhob sich, machte Margrete das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn und ging, von seinem Sohne gefolgt, hinaus.

Wenig später lagen Vater, Mutter und Sohn, ein jeder in seiner eigenen, einsamen Kammer, ein jeder in seinen eigenen, einsamen Gedanken.

Martin saß aufrecht im Bett, stützte den Kopf in die Hände und stöhnte aus tiefer Brust. Nie hatte der Knabe Abgründe des Lebens ahnungsvoller empfunden als in dieser letzten Abendstunde.

Die Erinnerung an einen fröhlichen, freundlichen Vater war von Margrete sorgsam vor den eigenen Tränen oder vor Verunglimpfung durch den Großvater gehütet worden; der Gedanke, von einem Mönch abzustammen, war mehr Stolz als Schande, nur die Rückfälligkeit des Mönches zur klösterlichen Regel war ein Flecken auf des Hauses Ehre, den aber Martin nicht gewohnt war, sich deutlich und dunkel vorzustellen.

Was wußte er noch vom mönchischen Leben?

Die Legenden vom jungen Luther, wie er sich im Kloster geißelt, wie er wacht und fastet, um dem rächenden Gott im Himmel genug zu tun, waren wohl flüchtig und unbegriffen an sein Ohr gedrungen, – heute zum erstenmal drangen sie bis in seine Seele und wühlten darin wie der Strudel im Wasserbett.

Der Anblick des Vaters erregte Martins Liebe, sein Mitgefühl, – Mitgefühl auch für die Mutter, deren stilles, schweigsames Leben er plötzlich andächtig begriff, – und weckte seine jugendliche, leidenschaftliche Fähigkeit, anzuschauen, wie Benjamin gebüßt und gebetet haben mußte, um so schlicht rührend in seiner Kutte eintreten zu können und zu sagen: »Friede sei mit euch.«

Wie dem Knaben so die Liebe zu dem Dulder, der sein Vater war, im Herzen mächtig wuchs, wuchs mit ihr auch der Groll gegen die, welche, wie er gelernt hatte, Mensch vom Menschen scheidet, statt sie zusammenzuschließen, die den Vater von unmündigen Kindern abruft, die die Kinder aus der Hut ihrer Eltern fortlockt, die, um den einen seltsam ergreifend zu gestalten, Tausende verkümmern und verschmachten heißt in ihrer Menschlichkeit.

Es war der Groll gegen die Kirche, der ihm in der Dunkelheit dieser Nacht deutlich in die Helle des Bewußtseins aufstieg. Gedachte Martin des Vaters, so weinte er wie ein Kind in seine Kissen, – dann, wenn der Schmerz in die Lust an der Rache überging, wenn der Jüngling, der Mann in ihm erwachte, fuhr er in die Höhe und ballte zähneknirschend beide Fäuste.

Auch Margrete lag in Tränen, – aber in lösenden, wohltuenden Tränen, die die letzte Härte des Herzens wegschwemmen und den Menschen gut und milde machen. Ihre Seele war voll Dank gegen Gott, der ihre Gebete erhört und sie nicht abgerufen hatte, bevor Benjamin noch einmal zu ihr zurückgekehrt war, der ihr gegeben hatte, alle wilde Heftigkeit und Anklage in der Stunde des Wiedersehens zu vergessen und nur die liebe, lang entbehrte Nähe dankbar als einen süßen Trost zu empfinden.

So hatte sie denn nicht vergeblich in einsamen Jahren gegen ihr aufbegehrendes Blut gerungen. Sie sah den Geliebten und ließ sich an seinem Gruß und Segen genügen; sie sah den Gatten und wußte gewiß, daß sie ihn in Wahrheit Gott, dem sein erster heiliger Schwur gegolten, zurückgegeben hatte. – Gott aber hatte ihr seinen Frieden dafür geschenkt.

»Herr, bleibe bei uns!« flüsterte sie in Lächeln und Tränen.

Dem seit Jahren stiller, nahezu glücklicher Gewißheit noch einmal der Zweifel den Schweiß auf die Stirne trieb, war Benjamin.

Regungslos lag er da, – die schmalen Hände ungefaltet auf der Decke, die Augen mit glühendem Blick in der Finsternis festgesogen und den Angstschweiß in dicken Perlen auf Stirn und Schläfen.

»Mensch sein – Mensch sein« – ächzte er inwendig, ohne die Lippen zu bewegen.

»Bei Weib und Kind aus- und eingehen, schaffen und feiern, leben und sterben, – Mensch sein, – nur Mensch sein.«

Um Mitternacht wurde er ruhiger, legte leise die Hand auf sein Herz und fragte sich, ob er denn – ein Mensch und nur ein Mensch – heute bei Weib und Kind schaffen oder feiern würde? Er, der in Aves Armen geruht, der sein Herz an ihres gebettet hatte; er, der Margrete den Kelch des Leidens gereicht, der seinen Knaben als Mensch verlassen hatte, bevor er ihn als Christ verließ.

Als der Morgen kam – ein Sommermorgen, der, wiewohl ein Sonntag, dennoch schwül wie die Nacht, aus der er hervorging, aufdämmerte, erhob sich Benjamin vom Lager, immer noch schwer atmend, aber mit dem Ausdruck des Entschlusses auf dem ernsten Antlitz.

Die Arme vorgestreckt, schritt er auf einen kleinen Betschemel zu, der noch aus der katholischen Zeit im Stübchen verblieben war und dessen Umrisse sich jetzt tröstlich aus dem öden Grau der Dämmerung abhoben.

Bevor er niederkniete, umklammerte Benjamin einen Augenblick den Schemel mit beiden Händen, – sinnend, warum wohl die neue Zeit keines solchen Inventarstücks in ihren Häusern bedurfte, warum sie ihre Kirchen verschloß vor dem sehnsüchtigen Beter, der dem Geräusch des Tages entfliehen und an einem stillen, gottgegenwärtigen Orte seine Knie beugen und sein Haupt erheben will?

Gab es keine solchen Beter in der neuen Zeit? –

Mit dem vollen Aufgang der Sonne stahl sich Benjamin aus der Kammer, schlich auf leisen Sohlen durch das Haus und durch den Garten und entkam auf die freie Straße, ohne von Margrete oder Martin angerufen worden zu sein.

Beide hatten ihn entfliehen hören, beiden stockte der Atem in unbeschreiblicher Angst, aber beide ehrten seinen Willen.

Als die Gartenpforte sich hinter Benjamin geschlossen hatte, sprang Martin aus dem Bette und trat bei seiner Mutter ein, die ihm ihre Hände entgegenstreckte und ihn sorgenvoll anredete:

»Martin, geh ihm nach! Die gestrige Abendstunde war zu schön, als daß sie dauern könnte, – jetzt geht er hin und bekennt seinen Glauben öffentlich.«

Martin, bestürzt durch den prophetischen Ton seiner Mutter, aber auch belehrt und überzeugt, fühlte hundert schreckenerregende Vorstellungen zugleich auf sein Gemüt einstürmen und eilte zurück in die Kammer, um sich anzukleiden und Margretes Befehl unverzüglich auszuführen.

Er brauchte die Straße zur Stadt nicht weit zu verfolgen, als er seinen Vater erblickte und aus der Ferne dessen Absichten erriet.

Benjamin war am Portal der Schloßkirche stehen geblieben und schrieb eben irgendeine These, die Martin nicht entziffern konnte, mit weißer Kreide an die Tür, drehte sich danach um und schien die sonntäglichen Kirchgänger zu erwarten.

Da zögerte Martin nicht länger, auf den Vater zuzugehen. Noch war wohl eine Viertelstunde Frist bis zur ersten, angesetzten Predigt, noch war die Straße leer von Menschen bis auf einen neugierigen Posten, der grinsend herüberschielte, – noch konnte er wohl den Sendling von Voghera von dem rasenden Vorhaben abbringen, die Wittenberger an ihrer eignen Kirchentür abzufangen und sie zur Einkehr in sich selbst und zur Rückkehr in den Schoß der Mutterkirche aufzufordern. Denn welche andere Botschaft hätte Benjamin von jenseits der Alpen zu überbringen?

»Vater,« sagte Martin ebenso leise wie flehentlich, als er dicht bei Benjamin stand, »bei allem, was uns heilig ist, beschwöre ich dich, mir nach Hause zu folgen.«

»Bei allem, was uns heilig ist,« wiederholte Benjamin laut und eindringlich, ohne den brennenden Blick von den Wolken, auf die er gerichtet war, fortzunehmen und ihn Martin zuzuwenden, »beschwöre ich dich, mein Sohn, mir nach Hause zu folgen.«

Somit hatte Benjamin das Wort gesprochen, das Martin erwartet und gefürchtet hatte, und darauf er nicht gleich die rechte Antwort zu finden vermochte.

Denn so glühend und unwandelbar er sich dem Helden, dessen Namen er trug, zugeschworen hatte, so sonnenklar er wußte, daß er dem Vater um kein Gut der Welt auf seinem Wege folgen könnte, so hinderte ihn dennoch die Kindesliebe, die ihm fremd und wunderbar zärtlich aus dem Herzen quoll, Benjamin als Gegner, als entschlossener Lutherchrist und Mann gegenüberzutreten.

Er sah verwirrt zur Erde und wußte nichts Besseres, als von Margrete zu sprechen.

»Die Mutter wartet auf dich,« sagte er, indem er kaum die Augen zu Benjamin aufhob, – »sie besorgt, ein Leid könnte dich treffen.«

Benjamin erwiderte Martins schüchternen Blick mit einem flammenden.

»So verbiete ich ihr«, rief er mit bebender Stimme, »fürderhin Sorge um mich zu tragen. Einer sorgt für mich, dem ich mich befohlen habe – Jesus Christus.

Hier« – damit deutete er auf seine Schrift an der Kirchentür – »das ist meine Frage an dich, an mich selbst, an einen jeden, den meine Stimme erreicht:

›Begehrst du ein Mensch zu sein? Oder erwählst du ein Christ zu sein? Was willst du sein?‹«

»Bin ich nicht das eine mit dem anderen zugleich?« fragte dagegen Martin aufrichtig erstaunt.

»Heute,« entgegnete Benjamin, »wo der Kranz der Unschuld den Lenz deiner Tage ziert, heute kannst du wahrlich ein Mensch und ein Christ zugleich sein. Aber Margrete, deine Mutter, kann nicht menschlich und christlich zugleich sorgen, und ich, dein Vater, kann nicht menschlich und christlich zugleich lieben.

Die Stunde kommt, in der das Schwert Christi dem Menschen durch die Seele geht, – das messianische Schwert, das vor unseren trunkenen Augen Gott von der Schöpfung scheidet, und das auch in uns Unsterbliches von Kreatürlichem abtrennt.

Sei ein Mensch und wolle die Spaltung mit ihrem scharfen Schmerze nicht dulden, so wirst du nicht leicht das Ebenbild Gottes bleiben, nicht leicht ein unverzerrtes Antlitz vor deinen ewigen Richter tragen. Leicht wird der Sirenenarm der Natur dich umschlingen und dich in ihr bodenlos Unergründliches hinabziehen.

Sei ein Christ und dulde den scharfen Schmerz der Spaltung, so wird dein Göttliches langsam zwar, aber unaufhaltsam aus dem dunklen Brunnen des Blutes zum gottähnlichen Haupte aufsteigen, aber in Schmerzen, in täglichen Schmerzen, – denn nur der Heilige mag wohl jenseits der Spaltung, schon auf Erden in der seligen Einheit Gottes wandeln …«

Jetzt erst bemerkte Benjamin, daß eine stattliche Anzahl Wittenberger Frühkirchgänger bereits einen durch die Mauer geschlossenen Halbkreis um ihn gebildet hatte und ihm teils erstaunt und neugierig, teils unwillig zuhörte.

Anfangs wurden die Unwilligen von den Neugierigen im Zaum gehalten, zumal weder die einen noch die anderen recht verstanden, wo der Mönch mit seiner Rede hinauswollte. Als aber Benjamin das Wort »Heilige« gebraucht hatte, war der Angriff auf das Luthertum offenbar, und ein Studentlein, dem der Flaum zu sprossen begann, rief keck dazwischen:

»Hört, hört, der Papist will uns zu Heiligen machen!«

»Nicht zu Heiligen will ich euch machen, Bürger von Wittenberg,« sagte Benjamin mit laut tönender Stimme, »aber ich will euch einladen, euer Menschentum zu lassen und Christentum dafür zu tauschen.«

»Sind wir keine Christen? Sind wir vielleicht Heiden, Hunde oder Schweine?« schallte es empört aus der Menge.

Aber noch einmal konnte sich Benjamin Gehör verschaffen.

»Heute seid ihr Menschen und Christen zugleich,« rief er, »aber Gott muß abnehmen, wo der Mensch zu eigner Ehre wächst; hütet euch vor eurem Wachstum und verschmäht nicht das Gesetz Christi!«

»Gesetz, Gesetz!«

»Stopft doch dem stinkigen Mönch das Maul!«

»Was schert uns dein erlogenes Gesetz!«

»Es lebe die Freiheit!«

»Es lebe die Freiheit Doktor Martin Luthers!«

Während so die Stimmen des Unmuts immer lauter und dichter um Benjamin anschwollen, flog über die Köpfe der Vorderen, die kreischend auseinanderstoben, ein schwerer, gut gezielter Stein, traf Benjamin an der linken Schläfe, und lautlos sank der Mönch in seines Sohnes Arme, wo ihm die Sinne schwanden.

Als er wieder erwachte, fand er sich in einem kleinen Raum des alten Augustinerklosters, das schon zur mönchischen Zeit als Karzer verwendet worden war, und in dem nun Benjamin seinen ersten Versuch, die Wittenberger zu belehren, büßen sollte.

Eine fremde, harte Hand – die des herbeigerufenen Barbiers – war damit beschäftigt, dem Mönch aus Voghera den Kopf zu verbinden, und Martin stand mit sorglich gesenkter Stirn, mit teilnahmsvoll fragenden Blicken dem Vater zur Seite; nachdem Benjamin diese seine Umgebung erkannt hatte, schloß er noch einmal die Augen, und ein Zug schmerzlicher Resignation legte sich auf sein bleiches Gesicht.

Wie anders hatte er sich dieses Erwachen nach dem Wurf und Fall erträumt!

In seiner Glorie saß der göttliche Heiland zur Rechten des Vaters, und nur die Wundmale gemahnten an den leidensvollen Wandel auf Erden, durch den er die Welt erlöst hatte.

Aber er – Benjamin – brauchte die stumme Frage dieser Wunden: »dies tat ich für dich, – was tatest du für mich?« nicht zu scheuen; die Wunde auf dem Haupte zeugte für ihn so, wie er an der Schloßkirche von Wittenberg für den Heiland gezeugt hatte.

Ach, er war des Martyriums nicht für würdig befunden worden! Martyrium? Gäbe es leichteres, glücklicheres Sterben, als inmitten gläubiger Verkündigung von einem feindlichen Stein getroffen in den Schoß der heiligen Dreifaltigkeit zu versinken?

Was aber war das Kostbare, das Gott von ihm forderte, da er sein Blut verschmähte? Welches Kleinod besaß er denn über das Leben hinaus, da er doch Gott alles hingegeben hatte?

Fragend und blind sah er mit Menschenaugen zu seinem schönen, geliebten Sohne auf, der lächelnd und ahnungslos den Vater wiederum mit liebendem Blick umfaßte.

Indessen beschlossen die Wittenberger Stadtväter, Benjamin bis zur Heilung seiner Kopfwunde und darüber hinaus bis zum Ablauf einer gut gemessenen Bußfrist in Gewahrsam zu halten.

Da Martin als ein treuer Lutherchrist rühmlichst bekannt war, gestattete man ihm gern, bei dem Vater aus und ein zu gehen, sowie auch Margrete unschwer die Erlaubnis erhielt, den Gatten in seiner Trübsal zu besuchen. Konnten sie doch beide, wenn Gott gnädig war, das Evangelium in der Seele des Gefangenen erneuern, sanfter, unmerklicher erneuern als der geistliche Zuspruch Johann Bugenhagens, so christlich er auch sein mochte.

Nur Giorgio, der sich in der Sonntagsfrühe mit Vorbedacht im Hause gehalten, dann aber bald genug durch den Lehrbuben des Lukas erfahren hatte, daß Bruder Benjamins Wittenberger Schicksal bereits erfüllt war – gnädig erfüllt, denn konnte nicht Schlimmeres geschehen sein? – Giorgio klopfte vergeblich vor dem alten Augustinerkloster an die Tür; man besorgte, er werde mit Benjamin für den Tag seiner Entlassung eine neue Volksaufwieglung konspirieren, und verbot ihm unerbittlich den Einlaß.

Auch Lukas sah man seiner katholischen Gesinnung halber ungern kommen und lieber gehen, doch konnte man den redlichen Mitbürger keiner Verräterei zeihen und ließ ihn Benjamin sehen, so oft er es begehrte.

Der Anblick des Lukas war es, der in Benjamins Seele alle Wittenberger Gegenwart zurückdrängte und das Verlangen weckte, noch einmal irgendein Wort über Aves Schicksal zu erfahren. Hatte doch Lukas damals, als er entflohen war, sie in ihr Kloster begleitet, wußte also, ob man sie gütig aufgenommen hatte, ob sie verzweifelt, ob sie willig, ob sie sehnsüchtig diesen Weg der Selbstentäußerung gegangen war.

Dreimal schloß sich die Tür hinter dem scheidenden Lukas, daß Benjamin ihm nur mit brennendem Blick nachsah, daß aber die Scham seinen Mund verschlossen gehalten hatte und die Frage seines Herzens ungesprochen geblieben war.

Als dann Lukas eines Abends wieder die Dunkelheit des Gefangenen durch menschliche Gegenwart milderte, fragte Benjamin leise, als sprächen nicht die Lippen, nur die Seele:

»Meister Lukas, wie geht es Ave, die ich verließ?«

»Es geht ihr wohl,« antwortete Lukas ohne Zögern, so von einem sicheren Bewußtsein durchdrungen, daß Benjamin verwundert aufhorchte.

»Es geht ihr wohl,« sagte Lukas noch einmal und erzählte:

»Auf der Reise von Wittenberg zum Kloster bekümmerte mich der Glaube, sie könne voreilig in ihrer Verlassenheit den Entschluß zur Rückkehr gefaßt haben, und ich drang in sie, zu zögern, nachzudenken und sich zuvor mit mir oder mit Leuten, die es wissen müssen, zu besprechen; doch wies sie mich stets mit sanftmütigem Schweigen zurück, bis sie an der Pforte des Klosters ihren Mund auftat und aus ganzer Seele sagte:

›Kreuz, sei gegrüßt!‹

Da ließ ich sie ziehen und würde keine neue Sorge um ihr geistiges oder leibliches Wohl getragen haben, wenn nicht Margrete nach Verlauf von zwei Jahren kummervoll zu mir gesprochen hätte:

›Ich bin Ave von Brandenfels eine schlechte Mutter in der Welt, die sie nicht kannte, gewesen. Willst du mich von Reue befreien, so besuche ihr Kloster und frage, ob man daselbst mit ihr zufrieden ist, dann wird ja auch sie mit dem Kloster zufrieden sein. Spricht aber die Äbtissin hart und erbittert über Ave von Brandenfels, so sei versichert, daß diese ihren Schleier mit Verzweiflung trägt; wir aber müssen sinnen …‹

Weiter redete Margrete nicht zu mir, denn ich bin ein Katholik, und Nonnenraub ist mir ein Greuel. Aber ich versprach ihr zu reisen und säumte nicht, mich nach dem Kloster aufzumachen.«

Lukas stockte, legte seine Hand auf Benjamins Arm und fuhr fort:

»Benjamin, ich fand Ave wohl geborgen; denn sie war vom Frieden des Klosters in den Frieden Gottes eingekehrt.

Bevor die westliche Straße das Klostertor erreicht, führt sie den Wanderer an der Kirchhofsmauer entlang, und lädt eine kleine, offenstehende Eisenpforte ein, die Toten vor den Lebenden zu besuchen. Ich trat ein und ging mit stiller, meditierender Seele zwischen alten und neuen Gräbern umher, bis ich auf dem Kreuzlein eines früh geschaufelten Grabes die Inschrift las: ›Schwester Consolazione‹; da erinnerte ich mich, daß Ave diesen Namen im Kloster getragen hatte, sprach ein Vaterunser für ihre Seele und kehrte heim zu Margrete.«

Lukas schwieg, während die Nacht Benjamins Antlitz und das seine überschattete. »Ja, – wohl, – Consolazione –« seufzte Benjamin.

Als Margrete am nächsten Morgen den Gatten besuchte, fand sie sein Auge klarer, unverschleierter, als es ihr in der Zeit seiner Gefangenschaft zugekehrt gewesen war.

Teilnahmsvoll fragte er nach den kleinen Dingen des Tages, ja sogar die Leckerbissen, die sie ihm aus ihrer Küche mitzubringen pflegte, und die er sonst oft zurückgewiesen hatte, würdigte er eines freundlichen Blickes.

»Margrete,« sagte er lächelnd, »du bringst mich mit deinen gesottnen Würsten und deinen Fleischpasteten um den letzten kärglichen Ruhm, den ich mir durch diese meine Gefangenschaft um Christi willen zu erwerben hoffte. Statt zu darben, wie es einem eingesperrten Mönch geziemt, führe ich ein Wohlleben, um das mich mancher Prasser beneiden könnte …«

Ein Schimmer reinen, strahlenden Glückes überflog Margretes Gesicht, als sie den immer Geliebten so ohne Harm scherzen hörte. Benjamin aber, durch Margretes offen zutage tretende Liebe an tieferen Saiten des Herzens angerührt, fuhr nachdenklich fort:

»Margrete, woher kommt dir das? Irdische Liebe, wenn sie verraten wird, pflegt sich in Haß, in Bitterkeit, in Verachtung zu wandeln. Du aber grollst deinem Verräter nicht, sondern tust Gutes an ihm, – lauter Gutes. Dennoch hattest du von Natur ein stählernes Gemüt …«

Margrete traten Tränen in die Augen.

»Ja, das hatte ich,« antwortete sie, »und würde ich gegen dich allein gekämpft haben, ich zweifle, ob du mich besiegt hättest – Toni! Der mich besiegt hat, war mein großer Nebenbuhler, dem ich dich abwendig gemacht hatte. Er forderte dich zurück, ihm habe ich dich gegeben, – warum sollte ich dir länger zürnen?«

Benjamin stand von seinem Sitze auf und trat ans Fenster.

»Du hast Gott wider Luther Glauben geschenkt, Margrete,« sagte er, ohne sich umzuwenden.

»Luther ist ein Mensch,« entgegnete Margrete mit einem Anflug alter Herbheit, »er kann irren wie wir!«

»Weh euch, wenn er irren konnte!« sagte Benjamin inbrünstig.

»Ja, er konnte irren,« rief Margrete trotziger als das erstemal, »aber das schmälert nicht seinen Ruhm, uns die reine Lehre und die Befreiung von Rom gespendet zu haben.«

Bei den letzten Worten Margretes trat Martin in die Tür, grüßte, um die Eltern in ihrem Gespräch nicht zu stören, nur mit den Augen und nahm schweigend den von Benjamin verlassenen Platz ein.

»Die reine Lehre?« fragte Benjamin, der jetzt Margrete ins Gesicht sah, ungläubig, erstaunt, – »wer scheidet dir aus des irrenden Luthers reiner Lehre den Irrtum von der Wahrheit?«

»Ich selbst, mein Gewissen,« antwortete Margrete stolz.

»Du selbst,« wiederholte Benjamin, »und dein Sohn ihm selbst und dein Nachbar ihm selbst und ihm selbst dessen Nachbar und ein jeder ungleich dem anderen …«

»Ein jeder, wie er's versteht,« sagte Martin fröhlich; »Luther aber sei ewig gepriesen, der uns gelehrt hat, ein priesterlich Volk zu sein, als welches wir nun mit eigenen Augen das Wort Gottes anschauen dürfen, mit unserm eigenen Verstand das Heil begreifen sollen und unsere eigenen Hände zum Himmel aufzuheben gehalten sind!«

Benjamin schwieg während einiger kurzer Augenblicke, dann fragte er:

»Sie ist euch also von Herzen lieb, eure Lutherkirche?«

»Ja, von Herzen!« antwortete Martin begeistert.

Da ging Benjamin auf seinen Sohn zu, beugte sich über ihn, bis sein Atem sich mit dem des Knaben mischte, und redete mit den unruhigen, mageren Händen, mit der in Klang und Tiefe wechselnden Stimme nicht minder eindrucksvoll als mit der Wahrheit seiner Worte.

»Liebst du diese Kirche, mein Sohn,« sagte er, »wie sie dasteht mit Mauern und Türmen, so halte jeden Stein, aus dem sie gebaut ist, für einen köstlichen Jaspis, jeden Ziegel für einen Smaragd, jede Fließe, auf die du deinen Fuß setzest, für einen Sardisstein!

Liebst du diese Kirche, so greife nicht mit vorwitzigen Händen in ihr Gemäuer und entnimm ihr nicht einen unscheinbaren Stein; denn sieh, deine Mutter hat ihre Hand nach einem andern, unscheinbaren Stein ausgestreckt und dein Nachbar nach einem dritten, unscheinbaren Stein, und schon tritt an die Stelle der unscheinbaren Steine ein scheinbares Loch, durch das der Sturm ins Innere fährt und an den Altären rüttelt.«

Benjamin richtete sich auf und griff sich mit der Hand an die Stirn, bevor er fortfuhr:

»Luther hat euch gelehrt, ein priesterlich Volk zu sein. Aber er hat euch nicht gelehrt: ›Seid gleichgesinnt und haltet euch nicht selbst für klug!‹ Er hat euch Jesu Lehre nicht gelehrt: ›Jedes Reich, das wider sich selbst uneins ist, wird verwüstet werden!‹«

Martin lächelte unbeirrt.

»Gemach, Vater,« entgegnete er heiter, »mögen wir sächsischen Schädel auch über die Rechtfertigung spintisieren, ein jeder, wie es ihm beliebt, ein einiges Volk hat der Doktor Luther dennoch hinterlassen; denn einig und gleichgesinnt werden ewige Zeiten uns und unsre Kinder und Enkel in der Absage von Rom finden!«

Benjamin sah mit großen Augen auf seinen Sohn.

»Und wenn Rom,« fragte er, »wenn die katholische Kirche im Besitze der lauteren Wahrheit, des apostolischen Christentums wäre?«

»Rom,« sagte Martin verächtlich, »das verworfne Rom, das von geilen, gleißnerischen, herrschsüchtigen Päpsten ausgehalten wird …«

Michele Ghislieris erhabene Erscheinung hob sich vor Benjamins Seele aus dem von Martin mit groben Strichen hingeworfenen Bilde; aber zu schmerzlich getroffen, um den verehrten Namen zu Schutz und Trutz auszusprechen, fing Benjamin sanftmütig belehrend an zu reden:

»Ich weiß, es waren üppige Jahre, und die dunkelsten Roms erst eben einer schwachen Dämmerung zur Morgenröte gewichen, als euer Reformator die wunderbare Stadt betrat. Aber wenn ich dir nun erzähle, daß heute ein heiliger Mann auf dem Stuhle Petri sitzt, so solltest du doch bedenken, mein Sohn, daß Rom, um solches zu vollbringen, in die Tiefe der eigenen, unversieglichen Göttlichkeit hinabgestiegen ist, daß es sich mühevoll, aber unermüdlich aus sich selbst wahrhaft reformiert hat, ohne die Revolution, die wilde, die an den Felsen tastet, zu dulden. Sieh, nicht Deutschland, Rom hat die Reformation des Christentums erlebt, – wohl ihm! Wenn immer die Zeiten reif geworden sind, wird es aufwachen und sich reformieren!« –

Während Margrete den Kopf in die Hand stützte und, durch Benjamins Rede in ihrer Seele beunruhigt, vom Gatten zum Sohn blickte, sprang Martin von seinem Stuhl auf und durchmaß den kleinen Raum mit großen Schritten. Das Loblied auf die alte Kirche, das er nie zuvor hatte singen hören, fing an, Ekel und Alpdrücken in seinem Leibe zu erzeugen.

»Und wenn Rom mit Menschen- und mit Engelszungen zu mir redete,« rief Martin ungeduldig, »so wollte ich doch seine Musik für Teufelstrug erachten und mich von meinem Lutherevangelium nicht abwenden!«

Als Benjamin das hörte, begriff er, daß hier Worte, Belehrungen, Beweise nichts fruchten konnten. Er begriff, daß es nicht, wie er geglaubt hatte, galt, um die Erkenntnis der christlichen Wahrheiten, wie sie sich in der Bibel licht und dunkel darbieten, zu streiten, sondern daß der Haß gegen Rom, der in Benjamins eigener Jugend noch in den erhitzten Köpfen gesessen hatte, bereits im Fleische saß, – tief eingeboren im Fleische.

Es wurde still im kleinen Karzer des Augustinerklosters. Benjamin senkte das Haupt und mit ihm die Fahne der Hoffnung; Martin hob das seine triumphierend empor, und nur Margrete war von widerstreitenden Gedanken heimgesucht, ohne sich in einem beherrschenden Gefühl genug zu tun.

In der Nacht, als Benjamin allein und schlaflos lag, kam ihm plötzlich mit der Klarheit einer Eingebung der rettende Gedanke. Worte konnten nicht helfen; was durch den Verstand einging, konnte das trotzige Blut nicht besänftigen, aber was durch die Sinne einging, was man schaute mit trunkenen Augen, was das Ohr begierig aufnahm, dem das unbewußte Sein sich fraglos hingab, das Wunder allein, das Benjamin in Rom an unzähligen Protestanten hatte geschehen sehen, konnte auch Martin bezwingen.

O, es waren nicht zehn, nicht zwanzig, nein, Hunderte von Lutheranern, Calvinern, Zwinglianern, die bis in die Mauern Roms gelästert hatten, die mit frechem Spott die Porta Angelika durchschritten, mit keckem Lächeln den Petersplatz betreten hatten, und die durch ein Händeaufheben des heiligen Papstes, durch einen meerestiefen Blick aus seinen Augen zu Boden geworfen waren.

Nur der Anblick Michele Ghislieris konnte Martins Herz von einem deutsch-lutherischen zu einem weltumspannenden, christlich-katholischen umkehren.

Am anderen Morgen trieb Martin das Gefühl, den Vater gekränkt zu haben, früher als gewöhnlich in die Zelle des Gefangenen.

Das kam Benjamin eben recht, der die Stunde nicht erwarten konnte, in der er seinem Sohn von der Romfahrt sprechen würde. Und seltsam! So gründlich die Deutschen auch gelernt hatten, Rom zu verachten, Welschland, dem trügerischen, abzusagen, so unwiderstehlich war der alte Zug des Herzens, das Land der Wonne zu schauen, in ihnen zurückgeblieben. Martin zögerte keinen Augenblick, die Reisepläne seines Vaters erst mit Erstaunen und bald mit Entzücken zu teilen. Was Michele Ghislieri anging, so brauchte er – Martinus Eichler – sich nicht zu scheuen; ihm sollte nur in jeder römischen Gasse ein Heiliger begegnen, das würde seiner Luthertreue wenig anhaben. Benjamin hingegen trafen an diesem hoffnungshellen Morgen die lockren Reden des Knaben nicht tief; er, der Micheles Zauber kannte, glaubte lächeln und schweigen zu dürfen, bis jener wirkte.

So geschah es, daß, Margrete, als sie eintrat, zwei schwärmende Jünglinge im Augustinerkloster vorfand, an Stelle eines alten, eifernden Dominikaners und eines jungen Lutherchristen, der ihm männlich widerstand. Fragend und keiner Deutung fähig sah sie auf Benjamins und Martins gerötete Wangen, die nicht von einem hitzigen Gefecht herrühren konnten; denn beider Augen strahlten.

Auch endete Martin schnell diese Pein der Ungewißheit, umarmte Margrete stürmisch und rief: »Mutter, wir reisen nach Rom!«

Langsam wich alle Farbe aus Margretes Antlitz, – aus der Stirn und aus den Wangen; als auch die Lippen ganz erblaßt waren, bewegten sie sich kaum merklich und flüsterten:

»Geh' nicht nach Rom, mein Sohn!«

Martin, der den Schrecken der Mutter als Furcht vor Trennung deutete, ließ nicht ab von ihrem Halse und sagte:

»Mit dir, Mutter, du gehst mit! Du gehst gewißlich mit!«

Die zärtliche Sorglichkeit des Sohnes löste Margretes starres Entsetzen in schluchzende Verzweiflung auf.

»Sie werden dich greifen, binden,« jammerte sie; »sie werden dich in ihr dunkelstes, tiefstes Gefängnis stecken, das wie die Erde keinen jemals herausgibt.«

Benjamin schauderte. Hatte er denn die römische Inquisition und ihren finsteren Palast in Sankt Peters Schatten vergessen? Mußte Margrete, die Rom nie gesehen hatte, ihn an die Gefahren mahnen, die dem Sohn dort drohen konnten?

Aber Benjamins aufsteigende Angst konnte so wenig wie Margretes Ahnung des Knaben unbekümmerter Abenteuerlust standhalten.

»Sie werden mich nicht greifen,« lachte Martin; »sie verstehen ja noch nicht einmal deutsch, wenn mir vor empfindlichen Ohren ein kräftiges Lutherwort entfahren sollte.

Aber von ihrer Pracht und Herrlichkeit, von ihren schönen Palästen und kunstvollen Gärten, von ihrem süßen, starken Wein werden sie mir dennoch das Meine abgeben müssen; dafür können sie dann ihre Heiligen behalten, so abgezehrt und scheinfromm sie auch immer sein mögen!«

Schon achtete Margrete nicht länger auf die Stimme ihres Herzens, sondern folgte dem übermütigen Sohn auf die Gefilde Italiens. Auch spürte sie – anders als Martin, den nur der Süden und die Fröhlichkeit der Fahrt lockte, – einen unbestimmten Drang, an die Fragen der Religion zu rühren, über die sie als evangelische Christin bis zu Benjamins Wiederkehr sich beruhigt geglaubt hatte, die aber jetzt plötzlich wieder ungelöst genug erschienen, daß sie einer Prüfung bedurften. Warum nicht einer Prüfung in Rom?

So geschah es, als Benjamin einwandte, die weite Reise sei für eine Frau doch ein Wagnis sonderlicher Art, er habe geglaubt, nur Martin werde ihn begleiten, daß Margrete viele und triftige Gründe vorzubringen wußte, weshalb sie durchaus den Sohn nicht allein ziehen lassen würde. Nur den heimlichen Grund der Religionsprüfung verschwieg sie Benjamin, um sich nicht schon in Wittenberg völlig den katholischen Einflüssen auszuliefern, und verschwieg ihn Martin, um nicht seine lutherische Streitbarkeit voreilig herauszufordern.

Noch am selben Tage wurden Lukas und Giorgio von dem kühnen Plan der kleinen Familie unterrichtet. So lebhaft Lukas auf den Gedanken einging – seine in Wittenberg darbende Seele tat einen sehnsüchtigen Aufschwung bei dem Ruf: Nach Rom! zu Margretes Bekehrung, zur eigenen, überschwenglichen Erbauung nach Rom! – so heftig widersetzte sich Giorgio diesem Vorhaben. Er, als der einzig Nüchterne im allgemeinen Taumel, empfand die verdoppelte Pflicht, Margrete und ihrem Sohn die Gefahren groß und schrecklich vorzustellen, denen jeder Ketzer in Rom zum Opfer fallen konnte; erst als Lukas begann, seinen katholischen Eifer zu bezweifeln, erlag er der aus ungleichen Gründen einigen Überzahl und gab sich mürrisch zufrieden.

Nachdem Benjamin Johann Bugenhagen wegen seiner unbefugten und ruhestörenden Predigt vor der Wittenberger Schloßkirche öffentlich um Verzeihung gebeten und den Stadtvätern geschworen hatte, Sachsen in Gemeinschaft seines verdächtigen Bruder Dominikaners schleunig zu verlassen, öffnete sich sein Gefängnis, – ein Gefängnis, aus dem er mehr freundlich beschauliche Erinnerungen als etwa düstre mit sich hinwegnahm.

Die Brüder von Voghera, – um die geschworene Eile des Abzugs wahr zu machen, – brachen in der nächsten Morgenfrühe als Vortrab der kleinen Expedition auf und erwarteten in einem vor Bitterfeld gelegenen Gasthof Margrete, Martin und Lukas. Als dann dieser letzte wenige Tage später sein gesatteltes Rößlein aus dem Stalle führte und es, – mit geheimnisvollen Paketen beladen, – neben sich her durch die Wittenberger Straßen bis in die Schloßvorstadt traben ließ, erschien manch verwundertes Antlitz im Rahmen der Fenster. Was focht auch den Tischler Lukas an?

Aber die drei wittenbergischen Rompilger waren längst zum Tore hinaus, bis ihre Mitbürger begriffen, wohin die Reise gehen würde, und daß es die Verführung der Mönche war, die diese Fahrt, deren Ausgang bedenklich erschien, bewirkt hatte. Möchte nun Gott die redliche Margrete und den strebsamen Jüngling Martinus lutherisch, wie sie ausgezogen, aus der Stadt der päpstlichen Greuel wieder heimwärts führen!

*

Unendlich breitete sich das sächsische Land mit seinen winterlich verödeten Äckern vor den Wandernden aus. Margrete, die niemals den Umkreis von Wittenberg verlassen hatte, glaubte bis ins Grenzenlose so dem fernen Horizont entgegenzuschreiten, immer auf ebener, treuer Erde und allen vier Himmeln gleichmäßig entrückt.

Als es dann galt, Thüringen mit Berg und Tal zu durchwandern, zogen die wechselnden Bilder zeitweilig Blick und Gemüt von dem unsichtbaren Ziel ab, aber nicht lange vermochten die sehnsüchtigen Pilger in der bescheideneren Gegenwart zu wandeln; irgendein großes, schicksalschweres Erwarten, ein Vorgefühl, das Größeres verhieß als Glück oder Leid, wie es Menschen fassen können, und das sie sich als Himmelreich deuteten, lenkte immer von neuem ihre Seelen und Sinne in die in Raum und Zeit dunkel thronende Zukunft und machte ihre Zungen stumm, ihre Ohren taub, ihre Augen seltsam groß und schimmernd und blind für die Mildigkeiten des Tages.

Martin allein schritt mit offenen Sinnen einher, liebte es auch, sich von den Träumlingen abzusondern, bald, um an entlegeneren Stellen einen schöneren Ausblick zu gewinnen, bald, um ein Tier des Waldes zu belauschen oder ein Gestirn in neuer Pracht über die Berge steigen zu sehen. Seine Gefährten blieben indessen auf der großen Straße, – das Rößlein des Lukas in der Mitte, dem die Männer das Reisegepäck abgenommen und unter sich geteilt hatten, damit Margrete auf seinem Rücken müheloser reisen könnte.

So schwand der Winter, bis die Pilger die Schweiz, und der Frühling schwand, bis sie Rom erreicht hatten.

*

Papst Pio Quinto schritt in feierlicher Prozession von der Engelsbrücke her durch das Borgo dem Sankt Peter zu; das Allerheiligste trug er in seinen wachsbleichen Händen und es strömte aus diesen die geheimnisvolle Göttlichkeit Jesu Christi, durchglühte die zitternde, sommerliche Atmosphäre und senkte sich in die willigen Herzen der Menge.

»Heilig, heilig!« flüsterten bebende Lippen, während die Knie sich wankend zur Erde niederbogen.

Wo das Volk spärlich kniete, stieß der kleine Trupp deutscher Pilger auf die Prozession. Eben tauchte aus dem Strome der Farben der himmelblaue Baldachin auf, der das Gotteslamm und seinen Träger schattete. Da entfuhr Margrete der lang verhaltene Schrei ihres in seiner Tiefe aufgewühlten Herzens, – mit erhobenen Händen und stürzenden Tränen brach es sie in die Knie, und schauernd erwartete sie gesenkten Hauptes den Gnadenstrahl, der sie treffen sollte.

Aber Martin, dem in seiner freimütigen Sinnesart diese katholische Devotion seiner schweigsamen Mutter wie ein plötzlich und unerklärlich wirksamer Spuk der Hölle erscheinen mußte, riß Margrete in die Höhe und ihren flehentlich verzweifelten Blick mißachtend, rief er ihr zornglühend zu:

»Weib, – bist du des Teufels?«

Damit war der in Benjamins Busen und in dem des Lukas schon mächtig quellende Fluß andächtiger Erbauung auf das gewaltsamste zurückgedämmt; Lukas, der das Pferd am Zügel hielt, kniete von ferne und betrachtete Mutter und Sohn mit angstvollen Blicken; Benjamin aber warf sich bleich und zitternd, – denn schon murrte das gläubige Volk, das, wenn es auch die fremden Laute nicht verstand, doch des deutschen Jünglings Stehen und Streiten in Gegenwart des Allerheiligsten nicht anders als ketzerisch deuten konnte, – Benjamin warf sich Martin in die Arme und deckte, während Giorgio begütigende Worte redete, den Sohn mit seinem mönchischen Gewande.

Welch ein Anblick! – Margrete, von Empfindung überwältigt und nunmehr durch Martins rohen Griff gedemütigt und verwirrt, stand hilflos in der Umklammerung seiner Faust und seines Blickes, ohne sich zu regen; Martin aber, aller Schönheit und Unbefangenheit durch seinen jählings ausbrechenden Haß bis zur Verzerrung beraubt, keuchte um Atem und Gedanken.

Gott, Gott, die Mutter, die verehrte, hatte vor dem götzendienerischen Symbol der Katholischen gekniet!

Mit dem Glauben an ihre Treue schien der Boden unter seinen Füßen zu wanken; ja, hätte er sich nur aufgetan und ihn und sie und die ganze äffisch aufgeputzte Klerisei mit Kling und Klang verschlungen.

Wild rollten dem noch bis zur Stunde sonnenklar dreinschauenden Jüngling die Augen in den Höhlen, und Benjamin empfand mit Entsetzen: hätte ich ihn nie an diese Stelle geführt, – hätte ich ihn in seiner Heimat gelassen, wo er grünte wie eine Eiche, wo er Früchte wie ein Apfelbaum getragen haben würde.

Während die Prozession sich langsam aus der Gasse in den offenen Petersplatz ergoß, ließ Martin endlich die Hand seiner Mutter fahren, die Zornesröte in seinem Antlitz wich einer fahlgrauen Blässe, und mit finster zusammengezogenen Brauen und grübelndem Blick ging er langsam vorwärts, der Prozession nach.

Versunken war die Freude an der Fahrt, die Begierde, Roms Schätze und Wunder zu schauen. Margretes Verrat brannte in der Seele des Sohnes und füllte sie bis zum Rande mit Schmerz um die Mutter und mit Zorn gegen die buhlerische Roma, die nur ihr gleißendes Gewand ein wenig gelüftet und unverzüglich eine Seele darin gefangen hatte, die wahrlich größerer Standhaftigkeit würdig gewesen wäre.

Mittlerweile gewann auch Benjamin wieder Muße, dieser Seele zu gedenken. Er näherte sich Margrete und versuchte, ihr durch Martins Härte niedergeschlagenes Gefühl wieder zu beleben und aufzurichten, indem er anfing, von der Heiligkeit des Papstes zu sprechen und von der Allmacht Gottes, die die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche.

»Der Prophet Jeremias«, sagte er, »betet zu Gott: bekehre mich, so werde ich bekehrt sein; warum sollen wir nicht für unseren Sohn bitten: bekehre ihn, so wird er bekehrt sein!«

Da antwortete Margrete:

»Martin ist edel und gut, er braucht keine Bekehrung,« und Benjamin erkannte, daß die Anbetung des Sakramentes zwar Margretes Sehnsucht offenbart hatte, daß aber ihr Herz verwirrt, ihr Urteil herbe und die Sprache ihres Mundes lutherisch geblieben war, und daß sie seines treuen Gebetes und seiner fleißigen Belehrungen bedürftig sein würde, um einmal eine rechte Katholikin zu werden.

Wiewohl die Prozession durch den Auftritt der Deutschen ungestört ihren Verlauf genommen hatte, waren diese doch von mehrerlei Augen nicht unbemerkt geblieben.

Pater Juan, der als neu ernannter Kommissarius der Inquisition in geringer Entfernung hinter dem Papst einherschritt, hatte Benjamin erkannt und Margrete und den Knaben nach ihrer Person und nach ihrer Gesinnung erraten.

Aber auch sein eifriger Gehilfe Messer Vincente hatte scharfe Blicke auf den blonden Ketzer, als auf ein ersehenes Opfer entsendet, Blicke, die Pater Juan bei sich selbst beschließen machten, diesen Ungeschlachten deutschen Burschen, der das Herz auf der Zunge, im Antlitz und auf den Händen trug, aus Rom zu entfernen, ehe Messer Vincente ihn der Inquisition zu einem förmlichen Verhör eingeliefert haben würde, und also der Gerechtigkeit zuvorzukommen.

Zu diesen beiden Beobachtern gesellte sich ein dritter, der aus dem umknienden Volk mit lässigen Bewegungen aufgestanden war und nunmehr halb neugierig, halb belustigt Martin auf dem Fuße nachfolgte. Er war ein Schwabe von Geburt, jetzt freilich schon lange ein Vagabund, der in jedes Landes Sprache sein Pater noster zu beten verstand.

Als die Deutschen vor der Peterskirche angekommen waren, blieb Martin trotzig stehen, entschlossen, bei ihrer Schönheit ungerührt zu verharren; Margrete aber strebte mit allen Fasern hinein; das Heiligtum, das die Kirche barg – das Grab des heiligen Petrus – dazu dessen wunderberühmte, von den Gläubigen hochverehrte Statue, wollte auch sie auf sich wirken lassen.

Bittend wandte sie sich nach ihrem Sohne um und sagte:

»Martin, begleite uns.«

»Soll ich auf den Knien zu dem bronzenen Götzen heraufrutschen?« knirschte Martin wütend; denn im Aufgang die Treppe mit Füßen zu betreten war als Heiligtumsschändung untersagt.

Schon erklomm Margrete, von Benjamin, Giorgio und Lukas gefolgt, demütig die flachen Stufen, die zur Kirche führten, als Martin noch zwischen den Zähnen murmelte:

»Ich knie vor meinem Gott; Stein, Erz, Gemaltes, und –« hier ballte er die Fäuste – »Gebacknes beten die Heiden an!«

Da machte sich der Schwabe an den Christen der »lauteren Lehre« heran und sagte spöttisch:

»Es würde doch die Mühe des Kniefalls verlohnen, Herr Landsmann, wolltet Ihr im Inneren der Kirche sehen, was allhier zu Rom aus der Gewissensangst unsrer Eltern und Voreltern geworden ist; sie hat sich sehr verwandelt; war sie drüben eine tränentriefende, elendige Hökerin, so erblickt Ihr nun ein schmuckes Frauenzimmer, dem es nicht an Liebhabern mangelt …«

»Was schwatzest du?« entgegnete Martin unwirsch, ohne die Worte des Schwaben recht zu verstehen.

Der fuhr indessen unbeirrt in seiner stachlichten Rede fort, bis das sächsische Blut an seiner Seite anfangen würde zu sieden.

»Nun,« sagte er, »hat nicht die deutsche Gewissensangst Blut, Gold und Silber ausgeschwitzt, daß es eine Lust war? Sieh' die Pracht und Üppigkeit aus der offnen Türe schimmern, – jener lächelnde Engel im Strahlenkranz wurde mit dem letzten Dukaten einer armen Seele jenseits der Alpen bezahlt, dieser Marmor, auf den eben deine Mutter fürchtig ihre Schritte setzt, mit dem Bissen Brot, den sich ein Bettler vom Munde, mit dem Rock, den er sich vom Leibe riß, um aus den gekrümmten Fingern eines hartherzigen römischen Händlers den Ablaßzettel zu kaufen …«

»Himmel und Hölle«, rief Martin wild, »halte dein Maul, oder ich würge den nächsten Geschornen, der mir in die Straße läuft …«

»Der ist auf diesem Pflaster nicht weit,« antwortete der Schwabe, indem er sich an Martins losbrechender Wut ergötzte; »du brauchst nur neben dich … hinter dich … zu sehen …«

Während der Schwabe bei diesen zögernd ausgesprochenen Worten selbst den Kopf zur Seite drehte, begegnete er dem forschenden Blick Messer Vincentes, der eben den widerstrebenden Pater Juan in Martins Schatten führte, und sagte:

»Ihr versteht, Herr Kommissarius, die Sprache dieses ungebärdigen Menschen; was streitet er schon wieder angesichts der herrlichsten Kirche der Welt, nachdem er sich nicht entblödete, in Gegenwart des Allerheiligsten zu streiten …«

»Er ereifert sich um ein Weib,« antwortete Pater Juan kühl; »ich versichere Euch, Messer Vincente, es handelt sich um eine Liebesgeschichte, an die wir nicht unser erhabenes Amt vergeuden wollen …«

»Das Weib sah einer treulosen Geliebten wenig gleich,« wandte Messer Vincente ungläubig ein; »es war offenbar, daß der Jüngling sie von den Knien riß, auf die sie sich vor ihrem Erlöser geworfen hatte!«

Wiewohl der Schwabe verstand, daß Pater Juan aus irgendeinem Grunde den deutschen Lutherchristen vor der Gefangennahme des Messer Vincente schützen wollte, hielt er es doch für geraten, sich aus der Nähe des Sachsen wegzustehlen, bevor dieser die gefahrdurchschwängerte Luft des Petersplatzes mit einem neuen, unvorsichtigen Ausbruch seines kindischen Zornes angefüllt haben würde. Der aber schwieg und heftete finstre Blicke auf das Portal der Kirche, bis Margrete in dessen Rahmen eintrat; als er sie ansah, stöhnte Martin aus tiefer Brust, denn ein Ausdruck seliger Hingabe lagerte wie der Schimmer des Abendstrahls auf ihrem Antlitz und kündete innig empfundene Andacht an dieser Gnadenstätte des Antichrist.

Indem Benjamin und Margrete, beide noch befangen von der Weihe der Stunde, sich ihrem Sohne näherten, trat Pater Juan, der wie zu Martins Rückendeckung steif neben Messer Vincente stehen geblieben war, auf sie zu und sagte zu Benjamin:

»Bruder, sei du gegrüßt in Rom, aber eile, deine lutherische Freundschaft aus unseren Mauern zu entfernen. Eile sehr, – wenn dir das Leben deines Sohnes lieb ist.«

Benjamin war durch diese Anrede aufs äußerste verwirrt und bestürzt.

»Martin entfernen …« antwortete er stammelnd, und ergriff hilfesuchend Pater Juans Hand. »Herr, rettet seine Seele, Euch wird es gelingen.«

»Seine Seele?« entgegnete Pater Juan mit hochgezogenen Brauen, »ich sinne darauf, seinen Leib zu retten.«

»Um Christi Barmherzigkeit willen rettet seinen Leib!« rief Benjamin leidenschaftlich, jetzt erst die Nähe der furchtbaren Gefahr ganz begreifend.

»Ruhe, Ruhe«, sagte Pater Juan für den Augenschein gleichgültig, denn Messer Vincentes mißtrauische Blicke ließen weder ihn noch Benjamin los, um den Sinn der Rede, die er nach der Sprache nicht verstehen konnte, aus den Gebärden untrüglich herauszulesen.

»Ruhe, Benjamin, und laß dir kein italienisches Wort entfahren; es würde deinen Sohn noch in dieser Stunde verderben.«

»So muß er noch in dieser Stunde Rom verlassen,« entgegnete Benjamin tonlos, und ging nahe auf den Knaben zu.

»Martin,« flüsterte er, während sein Gesicht von Angst und Empfindung zuckte, »laß uns Rom den Rücken kehren; auch finde ich innerhalb der Tore keine Herberge für die Nacht; auf der Höhe der Via Cassia weiß ich einen Gasthof …«

Da hob Margrete, die dem Sohn zunächst gestanden hatte und der wie diesem das Gespräch zwischen Benjamin und Pater Juan entgangen war, flehentlich ihre Hände zu dem Gatten Dominikaner auf und sagte:

»Bruder Benjamin –« es war das erstemal, daß sie, im verwandelten, mächtigen Gefühl, ihm in Christo Schwester geworden zu sein, ihn bei seinem mönchischen Namen anredete, – »Bruder Benjamin, führe mich hinein in die heilige Kirche, auf deren Schwelle ich stehe; bis hierher hast du mich geleitet, willst du mich nun zurückstoßen?«

»Barmherzigkeit!« ächzte Benjamin, denn er fühlte sich plötzlich vor dem Gerichte Gottes stehen, das Rechenschaft für eine verlorne Seele von ihm forderte. Er aber hatte Margretens Unsterbliches der schönen Leiblichkeit seines Sohnes geopfert.

Auch Pater Juan erwog unverzüglich die Schwere der Verantwortung, Margrete mit Martin zugleich in einem Augenblick aus Rom zu vertreiben, in dem sie begehrte, zu der seligmachenden Kirche zurückzukehren.

War nicht Margrete, ob sie gleich Martins Mutter war, ein verirrtes Kind wie er? Und liebte nicht Christus, liebte nicht die Kirche ihre Kinder alle mit gleicher, mütterlicher Liebe, bis sie geborgen waren in ihrem Schoß?

Der herbe Zug der Entschlossenheit legte sich um Pater Juans schmale Lippen. Margretes Seele durfte nicht verloren werden; für den Kühnheit strotzenden jungen Ketzer aber würde er heimliche Häscher dingen und ihn in einem verborgenen Verließ des Inquisitionspalastes in Sicherheit halten, bis Messer Vincente seine Spur entschwunden wäre; dort könnte Benjamin den Sohn besuchen und nach vollbrachter Rettung Margretes eines Nachts hinausführen, ohne daß Messer Vincentes Betriebsamkeit einen öffentlichen Prozeß gefordert haben würde.

Die Spanne Zeit – betende Lippen hätten ein Ave-Maria darin gesprochen – in der Benjamin vergeblich gegen Christenpflicht und Vaterliebe rang und Pater Juan kluge Mittel erdachte, Martin zu retten, ohne Margrete preiszugeben, – diese kurze Spanne Zeit steigerte Martins Empörung über den von ihr selbst bekannten Abfall seiner Mutter zur Raserei.

Mit hartem, herrischem Griff zwang er Margretes zu Benjamin erhobne Hände gegen die eigene Brust und schrie:

»Widerrufe! Widerrufe dein ekles Ansinnen, dich Christi Widersachern gemein zu machen! – In diese Kirche begehrst du Einlaß, die mit dem Blute unserer Väter aufgebaut und mit ihren Seufzern und Tränen geschmückt ist? Und dir grinst kein Satan aus ihrem Golde entgegen? Und du hörst kein Gelächter der Hölle aus ihren Winkeln kichern? Fort von hier!!« Damit ließ Martin seine Mutter fahren, die erblassend und wankend sich an Benjamins Schulter lehnte, und wandte sich zum Gehen; doch kehrte er – indem er drohend beide Fäuste ausreckte – sein zornbebendes Angesicht noch einmal der Peterskirche zu und fluchte in das ihre, olympische:

»Daß du vom Erdboden vertilgt würdest, daß ich dich erdrosseln könnte wie die feile Metze, der du gleichst …«

»Martin, Martin –« stotterte Benjamin, von Entsetzen gelähmt.

Als Martin seine aufgehobenen Fäuste schwerfällig sinken ließ, fühlte er die Handgelenke in heimlich bereitete Schlingen geraten, durch die ihm die Hände gewaltsam auf den Rücken gezogen wurden. Wild drehte er den Kopf nach seinen Angreifern um; die gehorchten dem Befehle eines Menschen, der Martin mit schneidender Schärfe anredete.

» Che maledite in faccia della Santa chiesa?« fragte Messer Vincente.

» Maledico,« entgegnete Martin wütend, »bei Gott im Himmel – maledico!«

»Herr Kommissarius,« wandte sich Messer Vincente eisig an Pater Juan, »Ihr werdet endlich mit Hilfe der deutschen Sprache verstanden haben, was mir ohne dieselbe niemals fragwürdig war. Die Flüche dieses Menschen gelten nicht einem alternden Weibe, das seine Mutter sein könnte, sie gelten der heiligen Kirche selbst.«

»In der Tat,« antwortete Pater Juan gemessen, »ich habe mich geirrt; das Weib ist seine Mutter, und er flucht der Kirche.«

Feucht und kühl und fiebergesättigt stieg die Dämmerung aus den Niederungen des Tibers und durchrieselte die Bewohner Roms.

Martin schritt mit gefesselten Händen aber trotzig erhobenem Haupte und stumm gewordener Seele seinem Kerker zu; noch war ihm verborgen, in welche Ängste der Sterblichkeit dieser Weg mündete, – demjenigen mündete, der gewillt war, ihn bis zum Tode getreu zu wandeln; nur das dumpfe Gefühl, aus dem Licht in die Nacht zu gehen, umdüsterte sein Gemüt, wiewohl ihm ein tief inneres Bewußtsein stolzer Kraft die Stirn zum Firmamente kehrte.

Messer Vincente ging dem Gebundenen mit eiligen Schritten voraus, Pater Juan folgte mit langsamen, zögernden.

»Dies hätte ich gern gehindert, – – gern gehindert!« meditierte er unablässig und trostlos.

Benjamin und Margrete knüpften indessen des Herzens ganze Hoffnung an Pater Juans einflußreiches Amt im Inquisitionspalast, ohne in ihrer hoffnungsbedürftigen Seelenstimmung zu bemerken, daß mit dem Einfluß auch die Verantwortung und die Gerechtigkeit in ihrer vollen Schwere in des Priesters Hände gegeben war.

Giorgio, der in Wittenberg das Unglück am klarsten vorausgesehen und die Reise am entschiedensten widerraten hatte, konnte sich jetzt nicht genug tun im Aufrichten der niedergeschlagenen Eltern, im Glauben an die Rettung, und sie zu prophezeien.

»Er wird, er muß befreit werden,« rief er und übertönte mit lauter Begeisterung die heimlich grauenhafte Angst, vor einem Vater und einer Mutter zu stehen, die den gerichteten Sohn beklagen.

»Pater Juan wird sich dem Papst zu Füßen werfen, – du, Benjamin, wirst dich für Martin verbürgen, – der Papst wird Gnade vor Recht gehen lassen –.«

»Das wolle der allmächtige Gott bescheren,« antwortete Benjamin, dem der Atem stockte.

*

Die hereinbrechende Nacht brachte dem von der Reise und aufgepeitschtem Gefühl erschöpften Wanderer den Schlaf der Jugend; ruhig und friedlich träumte er von weiten, sächsischen Feldern der Morgenröte Roms entgegen, schlug er die hellen Augen zum erstenmal zu vergitterten Fenstern auf.

Im kühlen Lichte dieses anbrechenden Tages und im Vollbesitz seiner schlafend gesammelten Kräfte erkannte Martin deutlich die Gefahr, in die er so blindlings, nur dem wild aufbegehrenden Schmerz um die Mutter nachgebend, hineingeschritten war, und in der es nun galt, sich zu bewähren.

Sich bewähren! Ja, wahrhaftig!

»Und wenn die Welt voll Teufel wär'
Und wollt' uns gar verschlingen,
So fürchten wir uns nicht so sehr …«

Die Schmach wollte er Gott, dem Reformator und dem Vaterland nicht antun, daß ein evangelischer Christ im Dunkel der Gefangenschaft das Licht des Evangeliums nicht mehr leuchten sieht, daß er in den Schrecken des Todes sich seines Heilandes nicht mehr getröstet und das frohe Gotteswerk des Reformators für sein Teil zuschanden macht.

Entschlossen sprang Martin auf die Füße, griff nach seinem deutschen Bibelbuch und las sich in der Apostelgeschichte die Gefangennahme des heiligen Paulus.

So lesend fand ihn Pater Juan, als er den Knaben am Morgen besuchte.

»Gott zum Gruß, Martin Eichler«, sagte der Priester. »Ich bin deines Vaters Freund und komme dich zu bitten: mache mich nicht zu seinem Feinde.«

Martin sah Pater Juan prüfend an, legte das Lutherevangelium zur Seite und antwortete:

»Ihr vergeßt, Herr, daß dieser mein Vater ein Mönch ist; es gibt Stunden, und die sind nah, in denen wird Feindschaft gegen den Vater meine Pflicht und mein Ruhm sein.«

Schwerer, als Pater Juan gefürchtet hatte, begann dieses Gespräch.

»Knabe,« sagte er, »wenn dich das Gedächtnis deines Vaters nicht rühren kann, so erinnere dich deiner unglücklichen Mutter!« –

»Schweigt mir von meiner Mutter,« rief Martin mit schmerzverzogenem Gesicht und griff nach seinem Herzen.

Pater Juan trat ans Fenster und blickte über die niedrigen Dächer einiger kleiner Bürgerhäuschen hinweg auf den Petersplatz, der, vom blauen Himmel überspannt und nur vom Schatten einer weißen Wolke belebt, menschenleer dalag.

»Einen anderen Grund kann niemand legen, als der gelegt ist, Jesus Christus«, sagte Pater Juan nach langem Stillschweigen und ohne den Kopf zu Martin umzuwenden. »Auch dein Wittenberger Reformator gründet sich auf ihn.« –

»Auf ihn allein«, warf Martin scharf dazwischen.

»Knabe, wollen wir doch alle durch Jesum Christum selig werden, und hat doch die heilige Kirche seit der Apostel Zeiten ewiglich ihre Kinder diese Hoffnung gelehrt; eine andere Botschaft hat auch Luther nicht der Welt verkünden können –.«

Martin horchte auf. Was redete dieser Priester? Wollte er ihm beweisen, daß da kein Unterschied sei zwischen einem lutherischen und einem katholischen Christen?

»Du glaubst wie wir an Gott den Vater, Gott den Sohn und Gott den Heiligen Geist, der von beiden ausgeht. Halte diesen Glauben vor Augen in allen Fragen, die ich gezwungen sein werde dir vorzulegen, und bewege in deinem Herzen, daß niemand anders als die heilige Kirche, gegen die du dich erbitterst, dem Menschengeschlecht unveränderlich den dreieinigen Gott zu glauben vorgestellt hat, – den Gott, auf den du hoffst und den du nicht kennen würdest, stünde nicht der Felsen im beweglichen Meere der Zeiten.«

Martin lachte höhnisch.

»Herr,« sagte er bitter, »Ihr gleicht den Magistern von Löwen, die die zwei jungen evangelischen Märtyrer zu Brüssel inquirierten, wie ein Fuchs den Brüdern Füchsen –

Sie sungen süß, sie sungen sauer,
Versuchten manche Listen,
Die Knaben stunden wie ein' Mauer,
Verachten die Sophisten …

Daß Ihr's nur wißt, Herr Kommissarius, dieser Knaben will ich gedenken und will meinen Vater und meine Mutter vergessen und will Eure ›heilige Kirche‹ vergessen, außer es gälte, sich ihrer großen Schande und Verderbtheit zu erinnern, und will wie die Märtyrer von Brüssel ohne Decke noch Mantel bekennen: Es ist ein Ungleiches, katholisch oder lutherisch, bis ins Mark ein Ungleiches; ich aber bin lutherisch; dazu wolle mir Gott seine Gnade geben, die er auch meinem Vaterland nicht versagt hat, wo es durch ihn und seinen Propheten Frühling geworden ist, weshalb denn der Reformator fröhlich aussagen darf:

Der Winter ist vergangen,
Der Sommer steht hart vor der Tür,
Die zarten Blümlein gehen herfür;
Der das hat angefangen,
Der wird es wohl vollenden.«

Pater Juan, der nun schon lange sein Gesicht dem Jüngling zugekehrt hatte, hörte mit immer wachsendem Anteil, mit immer wärmer quellender Sympathie für den schönen, untadligen Sohn Benjamins dessen Bekenntnis an. Aber je höher ihm das Herz für Martin schlug, um so haltloser wankte die Willensanstrengung, den als Mensch Geliebten dennoch als Ketzer gerecht zu richten, und drohte völlig in sich zusammenzubrechen.

Pater Juan streifte noch seinen freimütigen Gefangenen mit einem halben, unsicheren Blick, dann verließ er ihn in Eile, schob auch die auf der Gasse harrenden Eltern und Freunde wortlos zur Seite und begab sich in den Vatikan.

Dort warf er sich dem Papst zu Füßen und flehte inständig:

»Heiliger Vater, nehmt das Amt von meinen Schultern, die es nicht tragen können; macht mich selbst zum Schuldigen, einen anderen zum Richter, ich kann nicht richten!«

Der Papst, der außerordentliche Audienzen als beinahe etwas Zügelloses ungern gewährte, runzelte die Stirn und sagte:

»Stehen Sie auf, Kommissär! Ich verlasse mich auf Ihre Inquisition, die ich durchaus nicht entbehren kann. Erklären Sie, was für gewichtige Geschehnisse im Begriff sind, Ihr Urteil zu verwirren!«

Schwerfällig hob sich Pater Juan von den Knien auf und sah den Papst wahrhaft beklagenswürdig an.

»Der Sohn des Benjamin,« sagte er heiser. »– Heiligkeit! wiewohl nach seiner Erziehung ein Ketzer, doch edel und liebenswert wie nur irgendeiner – ist mir durch Messer Vincente eingeliefert worden –«

»Und Benjamin?« fragte der Papst.

»Er und Margrete,« entgegnete Pater Juan, »die sein Weib war, nun aber bereit ist, sich zu bekehren, weichen nicht vom Portal des Palastes und hoffen auf mich Elenden.«

Der Papst schwieg und atmete schwer wie ein Schlafender. Endlich sprach er mit seltsam hellklingender Stimme:

»Wir wollen gnädig sein, kraft unseres heiligen Rechtes zur Gnade, – bis an die Grenze, auf welcher Gott, der ein eifriger Gott ist, Gnade verwirft; jenseits dieser Gnade stärke er unsre Herzen mit Gerechtigkeit und Heiligkeit, und geschehe sein Wille.«

Michele Ghislieri hielt einen Atemzug inne, dann fuhr er tiefer tönend zu reden fort:

»Ihr werdet den Jüngling nicht Messer Vincentes hartem Gericht überantworten, Pater Juan. Der Jüngling soll mit Andacht die heilige Messe besuchen und das Apostolikum beschwören; das Tridentinum wollen wir ihm um seines lieben Vaters willen und aus dem Reichtum unsrer Gnade erlassen. Ihr werdet uns berichten, ob er diese unsre Gnade annimmt oder verachtet. Sofern er sie verachtet, bescheidet Benjamin zu uns, denn sein Gemüt ist von zarter Art und möchte im Übermaß des Schmerzes verzweifeln, wenn ihm nicht sonderliche Hilfe zuteil wird.«

Als Pater Juan zum Inquisitionspalast zurückkehrte und Benjamin und Margrete sich aufs neue mit Bitten und Beschwörungen an ihn hingen, blieb er stehen und überbrachte ihnen, ohne der Botschaft ein Urteil aus seinem Eignen hinzuzufügen, die Entscheidung des Papstes.

»Er soll das Apostolikum beschwören und die heilige Messe mit Andacht besuchen,« sagte der Priester und ließ die Eltern mit diesem schicksalschweren Spruch allein, daraus sie sich nun Hoffnung oder Furcht oder Verzweiflung gewinnen mochten.

Benjamin frohlockte. Das apostolische Glaubensbekenntnis konnte, mußte jeder Christ aus aufrichtigem Herzen nachsprechen; o Fra Michele, – Bruder, – Vater! sei gesegnet für die Milde dieser Inquisition.

Margrete dagegen bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte herzzerbrechend: »Hätte ich ihn gelehrt, die katholische Kirche hochzuhalten! Weh mir, ich habe ihn gelehrt, sie zu hassen!«

Indessen legte Pater Juan auch dem Gefangenen die Forderung des Papstes vor und versuchte noch einmal eindringlich, wiewohl im Herzen ohne Hoffnung, ihn auf das gemeinsame Fundament katholischen und evangelischen Christentums hinzuweisen. Feierlich sprach er ihm das Kredo vor, das Martin gesenkten Hauptes anhörte und dessen erstem und zweitem Hauptstück er, wenn immer eines vollendet war, mit ernstem, inbrünstigem » credo« zustimmte. Pater Juan fuhr fort: »Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige, katholische Kirche –«

Martin warf den Kopf in den Nacken.

»Nein!« rief er blitzenden Auges, »ich glaube nicht an eine heilige, katholische Kirche!«

Es war die Reihe an Pater Juan, dem Richter, die Augen vor seinem Opfer niederzuschlagen, als er sagte:

»Worte, Knabe, Worte! – du wirst nicht um eines Wortes willen dein junges Leben hinopfern wollen. Auch gefällt es einigen Reformatoren, dieses durch die heiligen Apostel selbst gewählte Wort in ihrem Bekenntnis stehen zu lassen und ihm jenen Sinn der Lehre und Gemeinschaft Christi zu geben, allgemein zu sein, keinem Lande, keinem Volke allein anzugehören.«

»Dennoch«, entgegnete Martin, »wissen du und ich und Gott, der unser Zeuge ist und den wir über den Sinn unsrer Herzen und unsrer Sprache nicht betrügen können, daß ›katholische Kirche‹ die unter der Tyrannei des Papstes versammelte Menge verführter Christenmenschen bedeutet, an deren Heiligkeit ich bei Gott im Himmel nicht glaube.«

»Willst du klüger sein als dein Meister?« begann Pater Juan aufs neue; »auch Martin Luther pflegte Priestern oder Mönchen, die den Eid ablegen sollten, anzuraten, sich unter den ewig bindenden Worten des Schwures im Herzen Bedingendes, für mögliche Fälle Loslösendes zu denken, um nachmals, wenn sie den Eid brechen wollten, vor Gott in ihrem Gewissen frei zu sein; denn Gott, der die Gedanken der Menschen kenne, höre nicht nur auf den blöden Schall der Worte …«

»Priester,« rief Martin, indem er bedrohlich einen Schritt auf Pater Juan zu tat, »willst du das Andenken des Reformators beschimpfen?«

»Gemach, Knabe,« antwortete Pater Juan mit kaum merklich huschendem Spott um die schmalen Lippen, »ich bin ein alter Mann, aber mein Gedächtnis hat sich für dieses und jenes erstaunlich frisch gehalten. Auch habe ich den Reformator zu seinen Lebzeiten gekannt.«

Damit wandte sich der Inquisitor zur Tür. »Dich«, sagte er Abschied nehmend zu Martin, »überlasse ich nun der Einsamkeit und dem Nachdenken sowie der Fürbitte derer, die um deine Rettung bangen. In der Frühe des kommenden Morgens lade ich dich zur Feier der heiligen Geheimnisse.«

Der Tag lastete mit Juliglut auf den Dächern Roms, und die Nacht, als sie endlich hereinbrach, spendete keine Kühlung.

Martin lag mit brennenden Augen ohne Schlaf und Frieden auf seinem Lager und hielt stöhnend den Kopf in die von Tränen durchnäßten Blätter seiner Bibel vergraben.

»Du Buch, du Rätselbuch, was soll ich tun?« grübelte er; »deutsch, durch Luther deutsch und dennoch unbegreiflich? O Luther, Luther, steh mir bei in meiner großen Not! – Sollte der Priester, der ihn gekannt hat, wahr reden? Würde Luther, gefangen und inquiriert wie ich, das Wörtlein ›katholisch‹ auslegen, wie es ihm beliebte, und damit den Kerker sprengen, seiner Feinde spotten und die himmlische Freiheit zur Ehre Gottes genießen? … Und die zwei jungen Märtyrer von Brüssel? Konnten die keinen Schwur in seine evangelische Deutung verkehren und ungekränkt an ihrem Leibe aus dem Gefängnis hervorgehn? … O Gott, Erkenntnis! Erkenntnis!! Du erwählst dir solche Diener, die in der Tat und im Leben, und andere, die im Leiden und im Tode für dich zeugen sollen … Wie zeuge ich für dich? – O Gott, im Leben, im Leben … nicht im Tode …«

Schon hob sich die frühe Sonne nach kurzer Abkehr wieder über den Horizont, da verfiel Martin, von Kampf und Angst erschöpft, in einen ruhelosen Morgenschlummer; als der Schlüssel im Schlosse knarrte und Pater Juan eintrat, fuhr er erschrocken daraus empor und folgte dem Priester mit verwüstetem Kopf und Herzen zur Messe.

Noch lagerten Benjamin und Margrete, Lukas und Giorgio auf der Schwelle des Portals, wohin sie sich auch nachts gebettet hatten, um die Dunkelheit und Härte, davon der Sohn und Freund umgeben war, zu teilen und um ihm nah zu sein. Wie nun Martin die Treppe hinabstieg, standen sie alle wortlos auf und schlossen sich ihm und dem Priester auf dem Gang zur Kirche an – ein Häuflein Verzweifelter.

Es war die erste Messe seines Lebens, der Martin beiwohnte. Auf der Wanderschaft durch Italien war er, so oft seine Reisegesellschaft den Gottesdienst besucht hatte, unter Oliven und Feigenbäumen gewandelt und hatte im Anblick des schimmernden Himmelszeltes zu seinem deutschen Gotte gebetet.

Jetzt stand er blöde staunend in der Kapelle des Santissimo Sacramento der Peterskirche inmitten der Gläubigen, die des stillen Meßopfers harrten. Die Augen heftete er auf den bronzenen Papst, der da begraben lag und dessen harte, alttestamentliche Züge ihn mit heimlicher Furcht erfüllten. Bald aber wich die Furcht der Neugierde, die heidnischen Gebräuche der Katholischen, die er zu tief verachtete, als daß er freiwillig die Sinne an ihnen geärgert hätte, mit eigenen Augen anschauen zu sollen; denn eben trat der Priester zum Altar.

War es möglich? Es geschah nichts, allem Warten und Aufmerken zum Trotz geschah nichts, mit Ausnahme einer lächerlichen Abwechslung von Stehen und Knien, Murmeln und Küssen und Vertauschen der Seiten des Altars. Wie konnte ein Mann, und für den Augenschein ein wohlgebildeter an Leib und Seele, sich zu so viel Torheit hergeben? Fast dünkte Martin die Würdelosigkeit solchen Gebarens größer als das Verbrechen!

Und aus welchem Brunnen des Aberglaubens schöpfte das Volk die Geduld, solch geistverlassenes Treiben mit ehrfürchtiger Miene teils auf den Priester, teils in sich selbst blickend anzuhören? Kopfschüttelnd und endlich gelangweilt kehrte Martin die Augen von dem Schauspiel ab und sah zur Erde nieder. Da zwang eine Bewegung unter den Gläubigen und ein gleichzeitig tönendes helles Glockenklingen seine Blicke wieder aufwärts zum Altar, vor dem der Priester die Hostie hochhielt. Und was taten die Gläubigen? Galt wirklich ihre Bewegung diesem Stücklein Brot? Sie lagen auf den Knien, schlugen sich die Brust, und Benjamin, auf dessen Antlitz Martins Auge rastete – Benjamin rannen die Tränen, und wenn sein Anblick nicht täuschte, so war der betende Mönch nicht länger von dieser Welt …

Martin schüttelte sich vor heftigem innern Widerstreben – aber nicht lange blieb ihm Zeit, allem Teil an dem hier dargebrachten Opfer im Herzen abzusagen; ein flacher Lanzenschlag, den ein Schweizer geführt hatte, traf ihn mit solcher Wucht in die Kniekehlen, daß er gezwungen war, für die Dauer eines Augenblicks auf die Knie hinzufallen; von denen raffte er sich freilich sogleich wieder auf, kehrte das zornige Gesicht dem Schweizer zu und rief:

»Knie wer mag, ich bin lutherisch.«

Da ließ Pater Juan ihn binden und führte ihn hinaus, während der Priester am Altar das heilige Blut aufhob und dem Himmel vorstellte.

Somit hatte Martin die Gnade des Papstes verachtet, durch andächtiges Mitfeiern der heiligen Messe und durch Beschwören des Apostolikums sein Dasein als Ketzer, aber Christ bewahren zu dürfen, und Michele Ghislieri beschied den unglücklichen Benjamin zu sich, um mit ihm gemeinsam der väterlichen Liebe das Opfer abzuringen, das die Heiligkeit der Kirche zu fordern schien.

Wankend näherte sich Benjamin dem an seinem Arbeitstische in Betrachtung versunkenen Papst, kniete nieder und bückte den grauen Kopf bis zur Erde.

»Heiligkeit,« stammelte er, »nehmt dies unselige Haupt an meines Sohnes Stelle …«

Der Papst stand auf, hob Benjamin von seinen Knien in die Höhe und sagte langsam:

»Gott hat seinen einzigen, makellosen Sohn nicht geschont –«

Aber Benjamin stotterte, von Tränen halb erstickt:

»Gott! – aber ein Mensch, aus Fleisch und Blut und Sterblichkeit geboren, kann nicht – kann nicht … den geliebten Sohn … hingeben –«

»Der Mensch ist das Ebenbild Gottes«, entgegnete der Papst, »nicht im Angesicht allein, sondern auch in der Stärke der Seele.«

»Ich nicht, ich nicht,« stöhnte Benjamin, »mich hat Gott … verlassen; aber erbarmt Ihr Euch meiner Schwachheit und gebt meinem Sohn Gnade.«

»Was forderst du von mir?« antwortete der Papst. »Ich habe ihm Gnade geboten, und er hat sie verworfen; glaubst du, wenn ich einem unter seinen Mitgefangenen gnädig wäre wie ihm, daß er nicht an seine Brust schlagen würde und reuig bekennen: Vater, ich habe gesündigt, im Himmel und vor dir –? Ja, müßte ich nicht, wenn ich ihn frei und los ließe, alle Türen öffnen? …«

»Öffnet alle Türen, Herr der Christenheit, laßt alle Gefangenen los, denn sie sind alle Menschenkinder.«

Der Papst runzelte die Stirn. »Es hat Heiden gegeben, die also ihre Gerechtigkeit nicht im Glauben an den Erlöser begründen und die dennoch von göttlicher Kraft beseelt, aus Ehrfurcht vor dem Gesetz ihre irdische Liebe verleugnen konnten; erinnere dich der spartanischen Mütter, die ihre Söhne dem Vaterland mit Freuden opferten, gedenke auch des Römers Manlius Torquatus, der seinen aufrührerischen Sohn gerecht richtete – – –, du aber, ein Christ, gespeist mit himmlischer Kraft und Nahrung, du trägst dem Nachfolger Petri, der Jesu Lämmer weiden soll, an: Offne alle Türen, sprich zu den Wölfen, die in deine Hand gegeben waren: Stürzt hinaus und zerreißt meine Schafe, lästert den dreieinigen Gott, flucht der heiligen Kirche, verlacht das Sanktissimum, höhnt die Heiligen … Benjamin, Benjamin, das kann nicht deines Herzens Meinung sein!«

»Herr! –« schrie Benjamin verzweifelt, »spottet meiner nicht! Ich weiß nicht, welcher Geist jenen Römer beseelte – das aber weiß ich, daß Ihr keines Menschen Vater geworden seid.«

Da senkte der Papst das Haupt und schwieg lange. Nein, er kannte die schmerzlich süßen Empfindungen menschlicher Liebe nicht; nie hatte ein geliebtes Weib sein Kind im Schoße getragen und in Schmerzen zur Welt geboren; niemals hatte er im Antlitz eines Sohnes sein eignes Bildnis erkannt, nie im Herzschlag einer Tochter des eignen Blutes Wallung empfunden; – wohl hatte er bis in die reifen Mannesjahre Eltern besessen, die mit Zärtlichkeit des Herzens um sein Schicksal bangten, das keines Menschen Schicksal war; aber zu völlig hatte die Sehnsucht nach Vollkommenheit seine Seele erfüllt, als daß Vater oder Mutter darin Raum gefunden hätten.

Michele Ghislieri seufzte, denn die Liebe der Menschen steigt glutvoll nieder von Geschlecht zu Geschlecht, und was hinaufsteigt, ist nur ihr Abglanz, der vor strahlenderen Gestirnen bald verbleicht.

Kummervoll erkannte der Papst, daß er von Benjamin ein Opfer forderte, dessen Tiefe und Furchtbarkeit er selbst nicht ermessen konnte.

Mit müden, schlürfenden Schritten näherte sich Michele Ghislieri seinem Betschemel, kniete seufzend nieder und begann zu beten, – anfangs leise und mit gesenkten Lidern, nachmals laut und eindringlich und die Augen zu dem Kruzifix erhoben – zu dem schwarzen Kreuz aus Ebenholz und dem schimmernden, elfenbeinernen Leibe des Gekreuzigten.

»Du, der du die Schmerzen des Menschengeschlechtes gefühlt hast, wiewohl du Gott warst, du, der du den Kelch des Leidens trinken konntest, ohne unsre Schwachheit zu teilen, du, der du die Schrecken des Todes duldetest, wiewohl du König bist über Leben und Tod, – Jesus Christus, bei deinen heiligen fünf Wunden beschwöre ich dich – verleihe meinem abgestorbenen Herzen die Liebe des Vaters zu jenem gefangnen Jüngling und den Schmerz des Vaters und die hundertfältige Qual des Vaters in seinem Gericht. Laß mich nicht in Schmach erglühen vor den Leiden dessen, der dem Knaben leiblich ein Vater ist, laß mich aus Kraft und Fülle der Gottesliebe jenen einen lieben, wie nur Blut das eigne Blut zu lieben vermag, – dann sieh, Vater im Himmel, ob ich richten, ob ich verdammen kann um deines heiligen Namens willen.

O Gott, du Schöpfer alles Irdischen und Himmlischen, – zeuge mir im Geiste, – im Abgrund des Schmerzes bilde mir einen Sohn, den mein Herz lieb hat; und der Sohn steht auf wider dich und verführt deine Auserwählten, – mich aber hast du zum Hirten der Herde bestellt, – Gott der Barmherzigkeit, der Hirtenstab wankt in meinen Händen, – ich fühle meine Seele in der Tiefe ihrer Menschlichkeit erbeben.«

Schwer sank Micheles Haupt auf die Kante des Schemels; Benjamin aber glaubte seinem Schmerz, ging hinaus und weinte bitterlich.

Ein schwüler, vom heißen Dunst des Scirocco verhüllter Morgen dämmerte auf. Benjamin und Margrete hockten auf der Schwelle des Inquisitionspalastes zu beiden Seiten des Portals, die Häupter gegen den Stein gedrückt, daß das Blut von den Schläfen tropfte, die Nägel in die Mauer gekrallt, daß Haut und Fleisch zerrissen. So harrten sie des Sohnes, um ihm die Füße zu küssen, die auf diesen Stufen den Marterweg antreten sollten.

Aber während sie noch warteten, führten Pater Juan und Giorgio den Gefangenen durch eine hintere verborgene Tür des Palastes hinaus.

Giorgio, dessen kriegerisches Herz wohl ehrlichen Soldatentod durch Schwert oder Lanze zu fassen vermochte, dem aber das Gedankenbild eines gemeinen Ketzertodes in den Flammen die Eingeweide zerfleischte, hatte durch hinreißende, kniefällige Bitten vor dem Papste Martins Begnadigung vom Feuer zum Schwert erwirkt; auch hatte Michele ihn ermächtigt, noch im letzten Augenblick den Lutherchristen zum Widerruf aufzufordern und ihn in die Arme seiner Eltern, in des Papstes Arme zu führen, sofern er angesichts des Todes das Kredo beschwören würde.

Martin ging mit erhobenem Haupte, aber bleich, wie aus Marmor gemeißelt, seinen Weg. Giorgios inbrünstige Vorstellungen schienen nicht bis zu seiner Seele durchzudringen, die sich wohl schon in der Dunkelheit des Kerkers vom Leibe gelöst hatte.

Pater Juan schritt ihm zur andern Seite; das todbringende Urteil hielt er gegen die Brust gepreßt, die Augen suchten von Zeit zu Zeit halb flehentlich, halb bewundernd den Gerichteten. Ihm folgten Messer Vincente und zwei Polizeibeamte. Die römische Bevölkerung nahm nur geringen Anteil. An das Schauspiel von Ketzergerichten gewöhnt, schien dies zu erwartende, dem sogar der Brandgeruch fehlen würde, kein sonderliches Grauen zu verheißen. Nur auf der Engelsbrücke, wo das Gerüst aufgerichtet war, sammelte sich die Menge dichter, staute sich am Brückenkopf und ließ auch das Geländer und die Statuen der Apostel Petrus und Paulus nicht unbesetzt.

Und wahrlich! wer sich trotz der spärlichen Aussicht auf ein prunkendes, schauervolles Ketzergericht dennoch aufgemacht hatte, den deutschen Lutherchristen sterben zu sehen, fand sich schon mit Martins Erscheinen auf der Brücke für seine Mühe belohnt.

Staunend bemerkte er, als der Verurteilte das Gerüst bestiegen hatte und allen Blicken preisgegeben war, daß sein edles Gesicht keine jener scheußlichen Verwüstungen verriet, die, wie man sagt, die Ketzerei in der Seele des Menschen anrichtet; auch schien der Himmel selbst für die Reinheit des Gerichteten zu zeugen, denn eben siegte die Sonne über den schweren Dunst der Atmosphäre und warf von ihrem goldnen Glanz auf Martins schimmerndes Haupthaar, das ihn wie ein Heiligenschein umkränzte.

Giorgio glaubte bei diesem Anblick verzweifeln zu müssen. »Ein Märtyrer, ein Märtyrer!« schrie es in seiner Seele, »ein Blutzeuge, dessen Krone die Engel schon bereithalten!« – Leidenschaftlich flüsterte er Martin zu: »Beschwöre das Kredo, – beschwöre es und richte uns nicht!«

Martin sah befremdet auf den Mönch nieder, dann sagte er inbrünstig: » Credo!«

Giorgio, der wohl wußte, daß dieses Kredo kein Zugeständnis an die katholische Kirche enthalte, schlug die Hände vor das Gesicht, als könne er den Gang der Geschehnisse dadurch aufhalten, daß er selbst die Augen davor schloß.

Indessen faltete Pater Juan das Todesurteil mit zitternden Händen auseinander und begann zu lesen; aber seine leise, bebende Stimme trug die verdammenden Worte nicht bis zu den Ohren der Aufhorchenden.

»Lauter!« erscholl es aus der Menge, die anfing, den schönen Verurteilten mit Sympathie und seine Richter mit Mißtrauen zu betrachten.

»Wir wollen hören!« »Wir wollen wissen!«

Da reichte Pater Juan Messer Vincente das Urteil hin, das dieser selbst verfaßt hatte, und darin die Anklage, die er jetzt scharf und schneidend gegen Martinus Eichler vorbrachte, deutlich genug ausgesprochen war.

So hörte es denn auch das Volk, das etwa nicht zugegen gewesen war, als der Deutsche die Andacht der Prozession gestört und die Erhabenheit der Peterskirche gelästert hatte, hörte, daß der Verurteilte, wenn er schon sich selbst den Heiden und der unvernünftigen Kreatur beigesellen wollte, indem er das apostolische Symbolum verwarf, sich auch nicht entblödete, seiner Mutter das Heil ihrer Seele streitig zu machen. –

Mit der Nennung von Margretes Namen kehrte Leben in Martins todesblasse, erdentrückte Züge zurück. Funkelnd sah er seinen Häscher und Richter an, der pathetisch vorlas:

»Gott hat das Herz jenes Weibes bekehrt und den lutherischen Unrat von ihrer schon der Verdammnis verfallenen Seele abgewaschen, da will sie der eigne Sohn, ein Auswurf der Menschheit, von den Pforten des Paradieses hinwegreißen und in die Hölle hinunterstoßen …«

Schaudernd glaubte das Volk den Kampf der guten und bösen Geister um die Seele der Mutter dieses gerecht Gerichteten vor sich zu sehen; aber damit war Martins Schuld nicht erschöpft; er hatte sich widersetzt, im feierlichsten Augenblicke der heiligen Messe, da sich Brot und Wein in den Leib des Erlösers verwandeln, seine Knie zu beugen, hatte öffentlich im hellen Schein der Sonne, verborgen im Gefängnis unter den Augen seines Inquisitors und heimlich im verschwiegenen Herzen, immer aber im Angesichte Gottes die heilige katholische und apostolische Kirche verflucht.

»Die heilige Kirche,« hob Messer Vincente seine Stimme hoch auf, »die auf den Felsen gegründet und vom Heiligen Geiste geleitet ist, – die Mutter der Verirrten, die Führerin der Heiligen, die Trösterin der Unglücklichen …« Da umfaßte Martin das zu seinen Füßen ausgebreitete Rom mit einem Blick, der wilden, ungemessnen Schmerzes voll war.

Von dem marmornen Engel auf der Burg über die gelben Wasser des Tibers hinweg ging der Blick bis hinüber zum alten Rom jenseits des Flusses, kehrte zum Borgo San Pietro zurück und blieb auf der die Dächer der Häuser überragenden Kathedrale haften. Noch einmal drängte sich alle Verachtung für Rom und römisches Wesen – durch Messer Vincentes Anklage und durch den Anblick der verhaßten Stadt aufgereizt – in Martins letztem Herzschlag zusammen; noch einmal übermannte den scheinbar schon in der Ewigkeit Wandelnden der zeitliche Zorn seines jungen stolzen Lebens, das hier an dem Felsen scheitern mußte.

» Ich protestiere!! – –« rief er glühend zum Vatikan hinüber, dann legte ihm der Henker die schwarze Binde vor die Augen, und während noch sein Bekenntnis in der Luft nachzitterte, war schon das blonde Haupt durch einen einzigen Schwertstreich gefallen.

Somit war der Gerechtigkeit Messer Vincentes genug getan, und das Volk, das die Blasphemie auf der Schwelle zum Gericht Gottes gehört hatte, ging in seinem religiösen Bewußtsein beruhigt und gestärkt auseinander. Nur Giorgio kniete bei der Leiche des Jünglings, liebkoste das abgeschlagene Haupt und weihte ihm heiße Tränen.

Pater Juan wandte sich indessen weg von der Richtstätte dem Inquisitionspalast zu, wo er Benjamin und Margrete immer noch in stummer Qual das Entsetzliche erwarten fand.

»Lege mir, o Gott«, betete er im Herzen, »Trost auf die Lippen, gieße Balsam in meine bittre, bittre Rede …«

Als Margrete dem Priester ins Gesicht sah, fuhr sie mit einem gellenden Schrei von ihrem Platz auf den Stufen in die Höhe und warf sich schluchzend und halb betäubt von der Schärfe des Schmerzes Pater Juan in die ausgestreckten Arme.

Benjamin fand keinen Schrei und keine Träne. Schweigend faßte er seinen Stecken fester, schlich um die Ecke des Palastes und durch die Gassen Roms in die offne Campagna, wo er überwältigt zusammenbrach.

*

Nachdem Giorgio dem Sohne Benjamins ein Grab in römischer Erde bereitet und Margrete an die Stelle geführt hatte, die nun für immer ihres Daseins Freude und Qual umschlossen halten sollte, ging er zum Papst, um ihm die Hinrichtung des Ketzers und Benjamins Verschwinden aus den Mauern der Stadt anzuzeigen.

Die Augen mit der hageren Hand beschattet, hörte Michele Ghislieri Giorgios finstere Rede an, schwieg zu den Vorgängen auf der Engelsbrücke und sagte von Benjamin:

»Wir wollen ihm die Einsamkeit gönnen, deren er bedarf. Forsche nicht nach ihm, Gott spricht in der Stille; in Wochen und Monden, vielleicht in Jahren wird er seine Stimme hören und mit verklärter Trauer in sein Kloster zurückkehren.

Du aber, Giorgio, gehe aus und ein bei mir und bei dem unglücklichen Weibe, das hier zurückbleibt; ich will wissen, ob der Schmerz ihr Gemüt läutert oder verhärtet.«

Pater Juan befahl der Papst nicht zu sich, denn er mied das Angesicht seines Großinquisitors, der den Knaben gerichtet hatte. Dazu hatte er Gefallen an Giorgios soldatischem Wesen im Gewande des Dominikaners gefunden, und war gesonnen, ihn zu mehrerlei Aufträgen in der großen Sache der heiligen Liga zu verwenden, die gegen die Türken zusammenzuschließen er eifrig bemüht war.

So fand sich Giorgio aller mönchischen Bescheidenheit zum Trotz in die Geschicke der Welt verwickelt, bis ihn der Papst nach dem großen Siege von Lepanto in Gnaden zur Heimat entließ.

Dort traf er an einem stillen Winterabend ein, als Prior Balthasar friedlich im Refektorium mit seinen Mönchen das Nachtmahl hielt.

Als der schrille Ton der Torglocke erscholl, schreckten sie alle aus ihrer Beschaulichkeit empor, der Prior hielt mit der Lektüre der vita sancti Ambrosii inne, und wortlos verließ der Bruder Pförtner den Saal, um ein wenig später in Giorgios Begleitung zurückzukehren.

Giorgio küßte dem geliebten Vater die Hand und sagte strahlenden Auges:

»Herr, erbarmt Euch meiner Lust, mir das Herz von seinen Neuigkeiten freizureden, und entbindet meine Zunge …«

»Du kommst von Rom,« entgegnete der Prior sorgenvoll, das Gesicht Benjamins im Kreise der Mönche suchend.

Aber Benjamin verfärbte sich nicht, sah Giorgio mit Augen der Weltüberwindung an, mit Augen, die sich gewöhnt haben, die irdischen Dinge im Himmel zu betrachten, und sagte:

»Erzähle von Rom, Bruder Giorgio, wenn unser Vater es gestattet!«

Der Prior nickte, und Benjamin ergriff noch einmal die Rede, um Giorgio das Aussprechen der Namen, vor denen er sich scheuen mochte, leicht zu machen.

»Erzähle«, sagte er, »von dem Grabe meines Sohnes, von Margretes Schicksal und von Fra Michele, der ein Heiliger ist!«

»Bruder,« entgegnete Giorgio, »dein Sohn liegt unweit der Ruhestätte der Deutschen im Schatten einer Eibe begraben; ich selbst bettete ihn dorthin, unter reichlichen Tränen und Gebeten. Margrete aber pflegt sein Grab. Der treue Lukas hat sie nicht verlassen, hat vielmehr die heimatlichen Besitztümer in Wittenberg verkauft, also daß er und Margrete in Rom, das ihre Seele speist, auch ihr Leben fristen können, und ihre Tage mit Gebet und Betrachtung und im Andenken an den Toten dahinfließen.

Der Papst,« – hierbei drehte sich Giorgio mit einer schnellen Wendung zu Prior Balthasar, »der Papst ist wahrlich ein Heiliger; Benjamin vermag das sonder Zweifel auszusprechen, ich aber stehe und staune: Fleisch und Blut hat ihm das nicht geoffenbart; denn Fleisch und Blut hat der heilige Papst in das Dunkel der Verzweiflung gestürzt.

Herr, Ihr seht mich an, denn ich rede verworren –« Giorgio zog sich einen Schemel heran und setzte sich dem Prior zur Seite.

»Mein Vater,« fuhr er zu sprechen fort, »als der Knabe Martin, für jeden Christen ein Vorbild, edel und gläubig in den Tod gegangen war, kehrte sich mir das Herz um, wendete sich im Groll von dem Papst, der die Ketzer blutig richtet, und von der heiligen katholischen Kirche, der der Geist Gottes innewohnt. ›Wehe uns,‹ schrie meine bedrängte Seele, ›wir machen Christen zu Märtyrern,‹ und ich zweifelte, ob Fra Michele gerechtermaßen im Geruch der Heiligkeit stehe. Mir mußte Gott mit der Kraft des Mirakels den Glauben zurückgeben, denn ich bin mitleidig und trotzig zugleich und minder lenkbar durch die himmlische Gnade, die sich in brünstiges Gebet ergießt, als Bruder Benjamin.«

Bei diesem Lobspruch Benjamins spendete der Prior dem Sohne seines Herzens einen liebevollen Blick, und Giorgio, der dem Blicke vom Vater zum Sohn mit den Augen gefolgt war, bemerkte mit Rührung, daß der Sohn durch Schicksal und Leiden ein verwitterter Greis geworden war, während der Vater unter schneeweißem Haar die milden Züge eines langen, aber sanften Lebens bewahrt hatte.

»Das Mirakel!« mahnte der Prior, als Giorgios innere Betrachtung anfing, lang zu werden.

»Herr,« setzte der Heimgekehrte wieder ein, »ich weiß nicht, wieviel von den großen Ereignissen der Zeit im entlegenen Voghera Euch zu Ohren gekommen ist –.«

»Wir vernahmen«, entgegnete der Prior mit Würde, »von dem heiligen Bündnis, das der Papst mit Spanien und Venedig abgeschlossen hat, und dessen Schiffe er mit reicher, dem Halbmond schrecklicher Besatzung gegen die Türken entsendete; auch murmelt man von einem großen, unerhörten Sieg –«

»Er ist Wahrheit, dieser Sieg!« fiel Giorgio dem Prior in die Rede. »Höret, mein Vater, meine Brüder, und erhebet eure Seelen: Die siebente Oktobersonne leuchtete in ihrer Mittagshöhe über Rom, da saß der Papst mit einigen Vertrauten, darunter auch ich unwürdig Beglückter mich befand, in seinem Arbeitszimmer, schrieb und redete und regierte den Weltkreis. Da stockt ihm das Wort im Munde, der Kiel entfällt seiner heftig zitternden Hand, und die Augen tauchen in ein Unsichtbares, dessen Gestalt und Art er uns lange nicht vermittelt.

Herr, wir vergaßen Zeit und Weile, Hunger oder Erschöpfung angesichts des verzückten Papstes, der unbeweglich stand und nur die Arme zum Himmel aufgehoben hielt. Auch bemerkten wir, daß von Zeit zu Zeit seine Leibeskraft nachließ, und stützten wechselnd je einer einen der wankenden Arme; dazu begann der Papst abgerissene Sätze auszustoßen, die wir ehrfürchtig untereinander verbanden, und die unsern Geist auf den Inhalt des Gesichtes lenkten, das der Heilige sah.

›Christus in den Wolken,‹ rief er, ›alle Engel und Heiligen mit ihm – Petrus ergreift sein Fischernetz – die Flotte der Türken gefangen – hinab, Ali Pascha, hinab, – geselle dich zu den der Hölle entstiegenen Dämonen – Herbei, Marc Antonio Colonna –‹ und, mit einem überschwenglich dankbaren Blick zum Himmel:

›Es war ein Mensch, gesandt von Gott, des Name ist Johannes!‹

Damit, mein Vater, sprach er von dem herrlichen Sieger, Herzog Johann von Österreich, Kaiser Karls Sohn.

Schon dämmerte der Abend, als der Papst die Arme schwer am Leibe herunterfallen ließ, sich den in Strömen rinnenden Schweiß trocknete und seine Umgebung aufs neue erkannte. Sieg leuchtete und Freude aus dem Brunnen seiner Seheraugen, als er jeden einzelnen unter uns gütig anblickte und endlich sagte:

›Meine Freunde, Gott hat uns den Sieg über die Türken geschenkt; das Kreuz hat den Halbmond überwunden. Auf, laßt uns danken und Jubelfeste feiern, denn die Zeit dazu ist gekommen!‹

Mein Vater, als der Morgen anbrach, verwandelte sich Rom in einen Garten der Wonne; alle Glocken läuteten, Fahnen flatterten, Teppiche bedeckten die Straßen, und Blumenkränze wanden sich von Haus zu Haus. Seitdem rast das Volk in einem heiligen Taumel, und der Papst wehrt ihm nicht.

Mir aber« – damit sprang Giorgio von seinem Sitze auf – »schwoll die Sehnsucht im Herzen, Euch, teurer Vater, den Jubel der Christenheit mitzuteilen. Seht, solange es draußen Streit und Widerstreit die Fülle gab, spürte ich das Heimweh minder, nun aber – im Glücke – wer möchte das allein in der Fremde tragen!«

Der Prior drückte Giorgio die Hand, und dieser fuhr zu reden fort:

»Vor der Porta del Popolo stieß ich auf einen staubbedeckten Reiter, dem der schwarze Kragen der Venezianer um die Schultern flatterte. Keuchend war er die Via Flaminia heruntergesprengt; aber im Angesicht des bekränzten Tores blieb er plötzlich wie ein gegossenes Reiterbild stehen. Ich betrachtete ihn verwundert; da sprang er vom Pferde, packte mich wild bei der Kutte und schrie: ›Seid ihr Römer von Sinnen, Mönch? Gibt es einen beflügelten Boten? Ich bin, seit ich den Fuß an Land gesetzt habe, mit meinem Gaul zusammengewachsen, und Nacht und Tag romwärts, romwärts, romwärts geritten, – – – wer meldete euch den Sieg von Lepanto?‹

›Der Papst ist ein Heiliger‹, antwortete ich ohne Zögern; ›er bedurfte des Boten nicht, – auch nicht des beflügelten! Er hat den Sieg im Gebet erfochten und im Gesicht gesehen.‹

Da bekreuzte sich der Venezianer und ritt ohne Eile in die festliche Stadt hinein.

So, mein Vater,« sagte Giorgio langsam beschließend, indem er den Kopf senkte, »lehrte mich Gott der Heiligkeit der Kirche und ihrem ehrwürdigen Haupte vertrauen, wenn ich auch Gottes Absicht im Gedächtnis des toten Knaben nicht fasse.«

Auch der Prior sah lange gedankenschwer in seinen Schoß nieder. Kaum wagten die Mönche zu atmen, um die Stille nicht zu stören, und nur das Knistern und Flackern der Öllichter unterbrach die Lautlosigkeit, die Giorgios Erzählung folgte. Endlich hob Prior Balthasar den milden Blick zu Giorgio auf und sagte:

»Ich kenne aus Benjamins Munde die wunderliche Prophezeiung jenes Sterndeuters, der fast ein Vatermörder geworden wäre, und der geweissagt hat: ›Rot wie die Farbe von Blut und Feuer wird der Stern des heiligen Papstes leuchten, dem die Türken nicht widerstehen und die Ketzer nicht widersprechen können‹ – sieh, Giorgio, keiner unter uns Nachgebornen hat den Stern von Bethlehem am Himmel glänzen sehen. Die Beschaffenheit meines Gemütes begreift wie das deine leichter, daß er in sanftem, tröstlichem Lichte geleuchtet habe, als daß die rote Fackel des Krieges darin gelodert hätte; dennoch – wir wissen es nicht. Unser Herr und Meister hat furchtbar genug gesprochen: ›Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.‹ Vielleicht, – und wenn ich diesen glorreichen Sieg recht verstehe, – gewiß ist die Zeit, in der Blut und Feuer die Erde röten mußten, erfüllt. Wir aber dürfen ein süßeres Heilandswort in unseren Herzen blühen lassen:

›Stecke dein Schwert in seine Scheide!‹«


Berichtigungen eingearbeitet. joe_ebc für Gutenberg


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